Die Revision

Dem König Heinrich II von Frankreich und VI. von England hatte sehr daran gelegen, daß die Pucelle der Hexerei überführt würde und ihre Irrtümer eingestand. Nicht weniger lag Karl VII. daran, daß sie eine >Magd Gottes< gewesen war und folglich das Urteil gegen sie aufgehoben würde. Tatsächlich ließ die Revision auf sich warten. Sie wurde langsam geführt, in drei Etappen.

  1. Karl VII. zieht im November 1449 endlich in das befreite Rouen ein. Drei Monate später beauftragt er Magister Guillaume Bouillé, Doktor der Theologie und Mitglied seines Rats, eine Ermittlung über den Prozeß von 1431 einzuleiten. In diesem Prozeß, so heißt es in dem Bestellungsschreiben, sind mehrere Fehler und Regelwidrigkeiten begangen worden, und aus tiefem Haß, ... widerrechtlich und überaus grausam, haben die Feinde des wahren Königs Johanna sterben lassen. Was es klar und deutlich festzustellen gilt. Daraufhin wird eine erste, sehr kurze Untersuchung geführt: nur sieben Personen werden verhört, die in Rouen anwesend sind und von denen sechs an der Verurteilung beteiligt waren. Weiter geht man nicht.
  2. 1451 wird Kardinal d'Estouteville von Papst Nikolaus V zu Karl VII. geschickt; es geht darum, den Krieg zwischen den Königen von Frankreich und England zu beenden, damit die vereinte Christenheit den Türken entgegentreten kann. Der Kardinal ist Normanne. Sein Bruder hat den Mont Saint-Michel gegen die Engländer verteidigt. Er will dem Hof gefallen. Von Amts wegen nimmt er die Angelegenheit wieder auf, tut sich mit Bouillé und Magister Jean Bréhal, Dominikaner und Inquisitor von Frankreich, zusammen. Man will systematisch vorgehen, diesmal anhand einer Fragenliste. Die in Rouen geführte Ermittlung wird am 10. Mai 1452 abgeschlossen. Bouillé und Bréhal übergeben den Text dem König. Die Angelegenheit schläft ein. Um den Revisionsprozeß führen zu können, bedarf es der Zustimmung des Papstes: doch der Papst hält sich zurück.
  3. Am 7. November 1455, in Notre-Dame zu Paris, vor Jean Jouvenal des Ursins, Erzbischof von Reims, Guillaume, Bischof von Paris, und Jean Bréhal, erscheint Johannas Mutter Isabeau, begleitet von ihrem Sohn Pierre. Weinend und stöhnend wirft sie sich ihnen zu Füßen und bringt ihre Klage vor. Aus ihrer rechtmäßigen Ehe hatte sie eine Tochter, die getauft, firmiert, in der Furcht Gottes und zur Ehrfurcht vor dei Kirche erzogen war. Obgleich sie auf den Feldern lebte, besuchte Johanna die Gottesdienste, empfing die Sakramente, fastete, betete und hatte Mitleid mit den Armen. Ein ungerechter Prozeß hat sie grausam verurteilt und ihre Familie mit Schande bedeckt. Sie hat sich an den heiligen Stuhl gewandt, Quelle der Gerechtigkeit, der ihre Klage annahm. Tatsächlich weist sie ein Schreiben von Calixtus II. vor, der, vielleicht von Jean Brihal gedrängt, der 1454 nach Rom geschickt worden war, schließlich die Erwartung des Königs von Frankreich erfüllt. Pierre Cauchon und Jean le Maistre, die beide verstorben sind, haben falsche Zeugnisse angenommen, die der ebenfalls verstorbene Jean d'Estivet vorgelegt hatte; sich Zuständigkeit anmaßend, haben sie Johanna eingekerkert, obgleich weder ein begründeter Verdacht auf Ketzerei noch öffentlicher Aufruhr vorlag; ohne ihrer Bitte nachzukommen, ihre Taten und Worte dem Heiligen Stuhl zu unterbreiten, haben sie sie verurteilt. Der Papst beauftragt daher den Erzbischof von Reims sowie die Bischöfe von Paris und Coutance, sich einen der Glaubensinquisitoren im Königreich beizuordnen und den derzeitigen stellvertretenden Inquisitor sowie den Promotor in Strafsachen der Diözese von Beauvais und alle anderen vorzuladen.

Ein Inquisitionsprozeß also, wie der erste. Und wie der erste ein politischer Prozeß. Mit aller Gewalt wird man beweisen, daß die Richter von 1431 die Vorschriften nicht eingehalten haben, daß die Pucelle eine gute Christin war, ohne sich bei den vielen Wunderdingen aufzuhalten, die sich inzwischen um sie ranken. Das einzige Ziel: der Verdacht, der König von Frankreich habe sich einst einer Hexe bedient, muß endgültig aus der Welt geschafft werden. Der Prozeß wird am 12. Dezember in Rouen eröffnet, im erzbischöj7ichen Palast. Gestützt auf ein Gutachten von Guillaume Bouillé, legt man die Mängel des Verurteilungsprozesses dar, unterbetonung desjugendlichen Alters der Angeklagten: jedes Urteil gegen ein Individuum von unter fünfundzwanzig Jahren, das nicht verteidigt wurde, ist null und nichtig. Guillaume Manchon bringt das Register der französischen Minute herbei, desgleichen erhalten die Richter die Akte der Untersuchung von 1452. Am 20. legt der Promotor das Klagebegehren vor. Nach der Clementina Multorum ist es sehr schlimm, die Ketzerei nicht zu verfolgen, aber nicht weniger schlimm ist es, aus Bosheit einen Unschuldigen der Verderbtheit anzuklagen. Die Gegenpartei wird vorgeladen. An jenem Tag erklären sich Cauchons Neffen an der Sache uninteressiert und verschanzen sich hinter dem Begnadigungserlaß Karls VII. Am 16. Februar 1456 weist der neue Bischof von Beauvais in seinem Namen und dem des Nachfolgers von Jean destivet im Amt des Promotors für Strafsachen die Artikel, welche die inhaltlichen undfonnalen Mängel darlegen, zurück und läßt durch Magister Renaud-Bredouille, seinen Stellvertreter, erklären, daß er nicht erscheinen werde. Für das Kloster der Predigerbrüder von Beauvais versichert Bruder Jacques Cordonnier, Prior von Evreux, daß es in diesem Kloster keinen stellvertretenden Inquisitor gibt und die Brüder nicht länger behelligt werden dürfen. Am 10.Juni werden diese drei wegen Fernbleibens ausgeschlossen. Der Prozeß wird ohne sie statffinden, was in diesem Fall von geringer Bedeutung war. Von diesem Rehabilitationsprozeß gibt es keine Originalakten mehr, jedoch ein offizielles Dossier, welches das Gericht von zwei Kanzleischreibern anfertigen ließ. Diesef aßten die Schriftstücke zusammen, versuchten, sie zu ordnen, und übersetzten jene, die in der Volkssprache abgefaßt waren, schlecht und recht ins Lateinische. Zu den Akten des Verurteilungsprozesses fügten sie die Ermittlungen von 1452 hinzu, acht konsultative Gutachten - darunter das von Gerson -, ausgewählt unter denen, die von überall eintrafen, schließlich den schrecklich langen Fall selbst. Es wurden zwei Fassungen erstellt. Die eine, in Form einer offenen Urkunde, im Namen der Richter - deshalb >bischöfliche< Fassung genannt - von Pater Doncoeur und Pierre Tisset ausgehändigt; das Urfé-Manuskript liefert die einzige Version davon. Die andere, endgültige Fassung, von der die Kanzleischreiber drei Ausfertigungen erstellten; zwei davon sind erhalten; das schönste der Manuskripte ist das der Bibliothique Nationale, lateinisch, Nr. 5970, auf dessen letzten Seiten ein Gedicht zu Ehren der Pucelle aufgenommen wurde. Ein riesiger Wust, wirr, schwerfällig, voller Unkorrektheiten, mit dem sich der gelehrte Quicherat jahrelang tapfer abmühte, ohne ganz damit zu Rande zu kommen. Doch die Nachlässigkeit der Schreiber hat einen Vorteil. Naiv niedergeschrieben, wie er aus der Feder floß, läßt der Text der Aussagen, die Sprache jedes Einzelnen, seine Ausdrucksweise und schließlich sein Wesen durchscheinen.