Zwischen Erwerbsfleiss und Bildungsreligion - Mädchenbildung in Deutschland

Deutschland gilt im Gegensatz zu England als Musterland eines bereits früh im 19. Jahrhundert geregelten und normierten öffentlichen Schulwesens. Das Volksschulwesen für die Töchter und Söhne nichtbürgerlicher Schichten wurde ebenso wie das höhere Knabenschulwesen in den meisten deutschen Staaten unter staatlicher Regulierung früh als öffentliche Aufgabe begriffen. DerBlick auf das weiterführende Mädchenschulwesen im 19. Jahrhundert bietet jedoch ein ganz anderes Bild. Auffallend ist nicht nur seine späte staatliche Normierung, sondern auch die hohe Zahl privat finanzierter Mädchenschulen mit unterschiedlicher Zielsetzung, lehrplanmäßiger Ausprägung und in unterschiedlicher Trägerschaft bis zum Ende des deutschen Kaiserreichs 1918. Eine Darstellung der Geschichte der Mädchenschulen, die darauf zielt, die Normierung und Angleichung des Mädchenschulwesens an die Regelungen und Berechtigungen der Knabenschulen zu beschreiben, würde deshalb nicht nur eine große Gruppe von Schulen, die überwiegend von Mädchen aus den Mittelschichten besucht wurde, stiefmütterlich behandeln, sie könnte auch kaum den eigenständigen Beitrag von Frauen der Frauenbewegung zur Mädchenbildung im 19. Jahrhundert hinreichend würdigen. Diese Schulen, zunächst oft Töchterschulen, später höhere Mädchenschulen genannt, waren zum Teil allgemeinbildend, zum Teil berufsbildend und in ihnen wurden die Trägerinnen der weiblichen Sozialreform wie der weiblichen Bildungsreform des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ausgebildet.
Höhere Mädchenschulen ermöglichten den Eintritt der Frauen der Mittelschichten in das Erwerbsleben oder verschafften ihnen einen Wirkungskreis, der über den der Familie hinausging. So unterschiedlich sie von ihren Veranstalterinnen und Veranstaltern auch konzipiert gewesen sein mögen, gemeinsam war ihnen, daß sie die Verantwortung für eine weiterführende Mädchenbildung trugen, solange sich der Staat und lange Zeit auch die Kommunen zurückhielten, und daß sie zugleich einer großen Zahl von Frauen aus den Mittelschichten selbst zur Existenzsicherung dienten: sei es, daß sie als selbständige Unternehmerinnen arbeiteten oder als Lehrerinnen von privaten Stiftungen oder Vereinen angestellt waren, sei es, daß sie als Schwestern religiöser Frauengemeinschaften - katholischer Kongregationen und evangelischer Diakonissenverbände - wirkten.
1912, zwei Jahre nachdem auch in Sachsen als letztem deutschen Teilstaat eine staatliche Regelung der Zulassungen von Mädchen zu berechtigenden Schulabschlüssen erfolgt war, konnte Anna Schmidt, die Vorsitzende des Bundes privater deutscher Mädchenschulen in einem Bericht schreiben: »Die für die Mädchen geschaffenen Schularten (neuerdings Frauenschulen, Mädchengymnasien sowie die jetzt vom Staat übernommenen Gewerbeschulen für Frauen) sind fast ausschließlich Neuschöpfungen und private Arbeitsstätten weitblickender Frauen gewesen.«[1] Wie kam es zu dieser Ausprägung der Mädchen-und Frauenbildungseinrichtungen und welches waren ihre gemeinsamen und ihre unterschiedlichen Züge?
Waren in der Entstehungszeit der neuzeitlichen Geschlechteranthropologie auch in Deutschland durchaus kontroverse Positionen zur Bedeutung und Orientierung der Mädchenbildung zu hören, so hatte sich spätestens nach den Freiheitskriegen die Vorstellung durchgesetzt, daß eine über die Elementarbildung hinausgehende höhere Bildung von Jungen und Mädchen geschlechtsspezifisch differenziert werden müsse und daß Töchter aus bürgerlichen gebildeten Familien nicht auf außerhäusliche Erwerbstätigkeit und öffentliche Aufgaben durch eine am klassischen Bildungskanon orientierte sogenannte Allgemeinbildung vorbereitet werden sollten. Die Ziele der Mädchenbildung sollten vielmehr durch den späteren Beruf der Hausfrau, Gattin und Mutter und die damit zusammenhängenden Pflichten und Aufgaben bestimmt werden.[2] Die dieser Bildungskonzeption zugrundeliegenden Imaginationen und Konstruktionen von Weiblichkeit, die Begründungen und die Kontroversen um die Zielsetzung der Bildung unterschieden sich in den meisten europäischen Ländern, trotz konfessionell und politisch-kulturell unterschiedlicher Gegebenheiten, nur graduell.[3] Die feministischen wie die nichtfeministischen Stimmen in diesem Diskurs betonten mit wenigen Ausnahmen seit dem späten 18. Jahrhundert - seit Rousseau und Pestalozzi - die Bedeutung von Mutterschaft ebenso wie die von Mütterlichkeit, von »Häuslichkeit« als deutschsprachiger Variante der woman's sphere, und später im 19. Jahrhundert dann die Bedeutung des »weiblichen Kulturbeitrages« für die Ziele der Mädchenbildung.[4]
Wie das Bildungswesen für Mädchen auf dieser Grundlage in Deutschland im Verlauf des 19. Jahrhunderts gestaltet wurde, soll im folgenden erläutert werden. Die Darstellung konzentriert sich auf die Einrichtungen und Aktivitäten in der Mädchen- und Frauenbildung, die über die Elementarbildung hinausgehen, und legt damit das Schwergewicht auf die Mädchenbildung der Töchter aus gebildeten bürgerlichen Familien. Bildung und Ausbildung der Mädchen aus nicht- und kleinbürgerlichen Schichten kommen nur insoweit zur Sprache, als diese im Verlauf des 19. Jahrhunderts ebenfalls zunehmend vom pädagogischen Diskurs über Mädchenbildung geprägt wurden.
Für die Geschichte der deutschen Mädchenbildung im 19. Jahrhundert muß, ähnlich wie es Margaret Bryant für die private und halböffentliche Schullandschaft Englands festgestellt hat, der Beitrag von Frauen hoch veranschlagt werden.[5] Deren pädagogische Praxis führte schließlich dazu, daß Staat und Gesellschaft die Interessen von Frauen an Bildung und an qualifizierter Erwerbsarbeit als öffentliche Aufgabe erkannten. Und ähnlich wie Bryant es für die englischen Mädchenschulreformer und -refonnerinnen herausgearbeitet hat, kann auch für die deutschen Pädagoginnen gesagt werden, daß sich ihr Eifer aus verschiedenen, sowohl christlich-patriotischen, konfessionell-erwecklichen, aber auch romantisch-pestalozzianischen, nichtkonfessionellen Quellen speiste und religiöse Züge trug. Diese produktive Mischung aus praktischem Handeln und ideellem Eifer prägt die Geschichte der Mädchenbildung im gesamten 19. Jahrhundert. Die gegen große politische, soziale und ideologische Widerstände durchgehaltenen Bemühungen eröffneten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Mädchen in Schule und Berufsausbildung erweiterte Partizipationsmöglichkeiten und legten die rechtlichen Grundlagen für die Bildungsgleichberechtigung. Die ersten Töchterschulen wurden gegründet, um der allgemeinen Schul- oder Unterrichtspflicht, die um 1800 fast überall in Deutschland eingeführt war, mit standesgemäßen Einrichtungen nachzukommen.[6]
In einem ersten Abschnitt werden Frauenvereine, die während und nach den Freiheitskriegen entstanden, und Privatunternehmen, die häufig von Frauen geführt wurden, dargestellt, denn sie gründeten die ersten höheren Mädchenschulen. Die »Fröbelbewegung«, demokratische Kräfte der Zeit um 1848 und liberale Reformer und Reformerinnen, die sich für Frauenerwerbstätigkeit und die Übernahme von Erziehungsaufgaben durch Frauen einsetzten, aber auch christlich-konfessionelle Vereinigungen im Grenzgebiet zwischen Wohltätigkeit und Erziehung haben die Mädchenbildung im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts geprägt. In einem zweiten Abschnitt wird am Beispiel einer höheren Mädchenschulgründung aus den 1860er Jahren, der Hamburger Paulsenstiftschule, diese Entwicklung exemplarisch dargestellt. Neben der Durchsetzung von Zugangsmöglichkeiten zur Allgemein- und Berufsbildung für Frauen, die sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19- Jahrhunderts entwickelten, standen die Aktivitäten der Frauenbewegung um die Ddurchsetzung von Zugangsmöglichkeiten für Mädchen zum akademischen Studium zwischen 1890 und 1910. Beide Formen organisierter Bildungsreform bilden den Schwerpunkt des dritten Abschnittes. Die gesamte Darstellung betont den engen Zusammenhang von Sozial- und Bildungsreform, der den Auf- und Ausbau des Mädchenschulwesens durch das ganze 19. Jahrhundert geprägt hat.

Frühe Frauenvereine und private Mädchenschulen bis 1860

»Bei der Aufsicht über die Töchterschulen werden die Schuldeputationen die verständigsten und achtbarsten Frauen aus den verschiedenen Ständen zu Rate ziehen, ihnen wesentlichen Anteil an Schulbesuchen, Prüfung und Beurteilung der Arbeiten, der Erziehung und Unterweisung geben und die Hausmütter des Orts auf alle Weise für die Verbesserung der weiblichen Erziehung zu interessieren suchen (...). Die Spezialaufsicht dürfen sie Frauen, welche vorzüglich Sinn und Eifer an den Tag legen, übertragen und sie zu Mitvorsteherinnen desselben ernennen.«[7] Dieses preußische Ministerialreskript vom 26. Juni 1811, das als Ergänzung zur Steinschen Städteordnung noch 1902 Gültigkeit hatte, wertete Gertrud Bäumer 1902 zu Recht als Ausdruck eines in der Zeit der nationalen Neuorganisation Deutschlands lebhaften Interesses an der Einbeziehung von Frauen in die öffentliche Mädchenerziehung. Daß das Reskript »nirgendwo in irgendwie nennenswerter Weise zur Verwirklichung gekommen ist«, räumt die Autorin, die selbst am Anfang einer Karriere als Bildungspolitikerin stand, zwar ein, machte aber gleichzeitig anhand der staatlichen Verordnung darauf aufmerksam, welche Vorstellungen von öffentlichen Aufgaben für Bürgerinnen in der Zeit der nationalen Erhebung vorhanden waren. Ihren praktischen Ausdruck fanden diese Vorstellungen in der Gründung der sogenannten patriotischen Frauenvereine in den Notzeiten während und nach den Befreiungskriegen. Neben Armenfürsorge widmeten diese sich zumeist auch der Unterweisung von Mädchen  in Schulen, die zum Teil nach dem Modell der Industrie- und Spinnschulen, zum Teil aber auch als allgemeinbildende Fortbildungsveranstaltungen organisiert waren. In den deutschen Staaten, in denen es noch kein staatlich oder kommunal alimentiertes und geregeltes Volksschulwesen gab, wie beispielsweise in Bremen und Hamburg, boten sie als »Freischulen« auch armen Mädchen eine kostenlose Elementarbildung. Unter dem Stichwort »Frauenvereine« nennt der Brockhaus von 1834 und 1844 deshalb als Aufgabe der Frauenvereine neben der Armen- und Krankenpflege »die Erziehung armer Mädchen« und die »Unterhaltung von Kleinkinderschulen«.[8]
In den dreißiger Jahren entstanden in Anlehnung an die patriotischen Frauenvereine an vielen Orten als Antwort auf die schwierige wirtschaftliche und soziale Situation, die Frauen und Kinder besonders traf, neue Vereine, die sich der Armen- und Krankenpflege sowie der Ausbildung von Mädchen für diese Aufgaben widmeten. Die Motivationen der Gründerinnen waren häufig von der pietistischen Erweckungsbewegung geprägt und hatten eine strikt konfessionelle Färbung. Einflußreich wurde der Weibliche Verein für Armen- und Krankenpflege der Hamburgerin Amalie Sieveking (1794-1849), die vor allem in Norddeutschland rasch Nachahmerinnen fand und deren Bestrebungen ausdrücklich auf eine Erweiterung des Wirkungskreises von Frauen der höheren Schichten zielten.[9]
Etwa gleichzeitig entstanden Diakonissenverbände wie das Kaiserswerther Mutterhaus (1836) und katholische Kongregationen wie die Armen Schulschwestern (1835), die sich ähnliche Aufgaben stellten. Die kirchlichen Gemeinschaften unterschieden sich allerdings insofern von den Frauenvereinen, als sie unter männlicher Leitung standen und die subaltern dienenden Aufgaben von Frauen betonten. Sie entwickelten recht schnell Ausbildungseinrichtungen für Krankenpflege, Kinderwärterinnen, die katholischen Kongregationen vor allem für Elementarschullehrerinnen. Im Umfeld der 48er Revolution entstanden weitere ähnliche Vereine, die sich freireligiös, einem aufgeklärten, nichtkonfessionell verengten Christentum verpflichtet fühlten, wie der Hamburger Frauenverein zur Unterstützung der Armenpflege von Charlotte Paulsen. Trotz aller Unterschiede stand hinter diesen verschiedenen Gründungen als gemeinsames Merkmal, daß sie den Wunsch von Frauen nach außerhäuslicher Tätigkeit aufgriffen und in praktische Organisation umsetzten. Dieses war das entscheidende Antriebsmoment für die Entwicklung des Mädchenschulwesens im 19. Jahrhundert. Die religiöse Motivation wurde dabei in mehrfacher Hinsicht wirksam: sie bot kritische Distanz zu den bestehenden sozialen Verhältnissen, die die eigene Lage und die von Frauen armer Schichten bestimmten, sie verhalf zum notwendigen Durchhaltevermögen bei den Unternehmungen und sie legitimierte in höherem Sinn die praktische Arbeit. Die Überzeugung, im Dienst einer höheren Macht für Frauenbildung und Frauenarbeit einzutreten, prägte nicht nur in Deutschland die Tradition der Führerinnen der Frauenbewegung und hielt sich bis ins 20. Jahrhundert. Für die Ausgestaltung einer Bildungstheorie, die den moralischen Aspekt auch der intellektuellen Bildung betont und diese als weibliche Bildung bezeichnet, bildete dieses religiös gefärbte Selbstverständnis eine wichtige Grundlage.
Gleichzeitig gründeten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Frauen und Männer, letztere allerdings in der Minderheit und häufig gemeinsam mit Ehefrauen, zum ersten Mal in größerem Umfang als freie Unternehmen private Mädchenschulen. Da die rechtliche Stellung dieser Schulen auf einer staatlichen Konzessionsregelung beruhte, waren sie keineswegs nur Veranstaltungen von Privatpersonen. Ähnliches gilt auch für Privatschulen, die von Vereinen oder Stiftungen getragen wurden. Beide Typen von Privatschulen unterstanden der mittelbaren staatlichen oder kommunalen Kontrolle. Die privaten Mädchenschulen hielten sich durch das ganze Jahrhundert. Die bekannteren Vertreterinnen des Typs der unternehmenden Schulleiterin wie Betty Gleim (1771-1827) oder Tinette Homberg (1797-1877) waren gleichzeitig pädagogische Schriftstellerinnen. Als PestalozziAnhängerinnen übertrugen sie dessen Erziehungsvorstellungen auf die Mädchenbildung in bürgerlichen Kreisen. Andere entsprachen mehr dem Typ der »erwerbenden Frau«. Zu ihnen zählt Lucie Crain, Besitzerin eines aufgefächerten Mädchenschulunternehmens in Berlin, der Helene Lange in ihren Lebenserinnerungen ein kleines Denkmal gesetzt hat, wenn auch ganz im kritischen Licht der eigenen Anstrengungen und Leistungen für die Akademisierung der Lehrerinnenbildung.[10] In einer Stadt wie Frankfurt am Main besuchten die Mädchen aus bürgerlichen Schichten in den Jahren zwischen 1810 und 1870 ganz überwiegend solche privaten, vielfältig personell miteinander vernetzten Mädchenschulen." Ein erheblicher Teil des Unterrichts wurde dort von staatlich geprüften hauptamtlichen Lehrern der weiterführenden Jungenschulen gegeben. Diese Schulen waren, da nicht von konfessionellen Vereinen oder Schuldeputationen getragen, interkonfessionelle, christliche Schulen. Sie standen meistens unter der Leitung einer Frau und trugen im Zeitalter des immer stärker werdenden Konfessionalismus in den Kreisen ihrer Klientel zu religiöser Toleranz bei, zumal wenn eine Pensionsanstalt angeschlossen war. Im Vergleich zu den öffentlichen Volksschulen und den weiterführenden öffentlichen Jungen- und Mädchenschulen bildeten sie einen familienähnlichen, sehr intimen Stil aus, der für das höhere Mädchenschulwesen auch im Zuge seiner Normierung und Veröffentlichung prägend blieb.

»Das Recht der Frauen auf Erwerb«.
Weibliche Bildung zwischen Allgemein- und Berufsbildung

Als 1866 in Berlin der »Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts«, nach seinem Initiator Lette-Verein genannt, von einem Honoratiorenzirkel aus dem Umfeld des liberalen »Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen« gegründet wurde, erklärte seine Vereinssekretärin Jenny Hirsch: »Die sogenannte Frauenfrage ist für uns und für die Mehrzahl ihrer einsichtsvollen Vertreter vorläufig eine wirtschaftliche und erziehliche.«[12] Bereits 1865 war der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) gegrünciet worden, der vor allem Zugang von Frauen zu Bildung und Erwerb forderte. Im Zuge dieser sich neu organisierenden Frauenbewegung und neuer liberaler sozialpolitischer Tendenzen entstanden in den größeren Städten vieler deutscher Staaten Frauenbildungsvereine, die sich auf vielfältige Weise für eine Verbesserung der ökonomischen, sozialen, politischen und rechtlichen Situation von Frauen einsetzten. Die Frauenbildungs- und Erwerbsvereine organisierten Kurse und gründeten Schulen oder unterstützten die Gründung von Schulen mit dem Ziel, die »Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts« zu erhöhen. Dabei ging es ebensosehr um die Berufsqualifikation und Erwerbsförderung von Mittelschichtfrauen wie um die Vermittlung hauswirtschaftlicher Kenntnisse an Mädchen und Frauen der Unterschichten. Geboten wurden Kurse für erwerbstätige und nichterwerbstätige schulentlassene Mädchen, in denen neben gewerblich-technischem Unterricht, Ausbildung in Bürotätigkeiten, Buchführung etc. auch allgemeinbildende Fächer angeboten wurden. In Berlin wurde 1881 die Viktoria-Fortbildungsschule als Zweiganstalt des Lette-Vereins gegründet. Hier wurde das Ausbildungsprogramm zusätzlich um Seminarkurse für Lehrerinnen von Fortbildungskursen erweitert. Die Aktivitäten dieser Vereine, die an unterschiedlichen Orten auf verschiedene Weise dem gleichen Ziel dienten, erstreckten sich seit den 1880er Jahren häufig auch auf hauswirtschaftliche und an Familienaufgaben orientierte Kursangebote. Dieser Aufschwung des hauswirtschaftlichen Unterrichts war eine sozialpolitisch motivierte Maßnahme und sollte der Veränderung der Lebensverhältnisse durch Urbanisierung und Industrialisierung gerade in Unterschichtfamilien Rechnung tragen.[13] Der Hauswirtschaftsunterricht war durch die Frauenbildungs- und Frauenerwerbsvereine vorbereitet und wurde zum Teil von ihren Mitgliedern organisiert. Hedwig Heyl, Mathilde Weber, Mathilde Lammers, Helene Sumper und Ulrike Henschke haben Fortbildungsschulen mit hauswirtschaftlichen Kursen für schulentlassene Mädchen aus den unteren Sozialschichten initiiert und darauf hingearbeitet, diesen Unterricht in staatliche Programme umzusetzen. Da die Vermittlung einer hauswirtschaftlichen Bildung an junge Fabrikarbeiterinnen, die unter sozialreformerischem Aspekt die wichtigste Zielgruppe waren, auf freiwilliger Basis kaum Erfolg hatte, forderten die Reformerinnen, den hauswirtschaftlichen Unterricht für Mädchen in den letzten Volksschulklassen zu integrieren. Aus dem Dilemma, Mädchen im allgemeinbildenden Schulwesen gleichzeitig auf Erwerbstätigkeit und Familienpflichten vorbereiten zu wollen, erklärt sich die bis weit ins 20. Jahrhundert anhaltende merkwürdige Zwischenstellung des hauswirtschaftlichen und familienbezogenen Unterrichts als »weibliche Bildung« zwischen Allgemein- und Berufsbildung. Mit den Bemühungen um den hauswirtschaftlichen Unterricht im Pflichtschulwesen verbanden sich auch berufspolitische Interessen der Frauenbildungsbewegung. Der Unterricht erforderte hauswirtschaftliche Lehrerinnen und Hauswirtschaftlerinnen. Hauswirtschaftlich geprägte Bildungsgänge an allgemeinbildenden höheren Mädchenschulen mußten geschaffen werden, um diese Lehrerinnen auszubilden. Für die hauswirtschaftlich geprägte Variante von allgemeinbildenden Mädchenschulen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichte, liegen hier die Wurzeln.[14] Eine allgemeine staatliche Pflicht zum Besuch der Fortbildungsschule, die für Mädchen in den meisten Fällen hauswirtschaftlichen Unterricht vorsah, wurde erst in der Weimarer Zeit eingeführt.
Ein zweites weibliches Tätigkeitsfeld, auf dem schon die ersten Frauenvereine aktiv gewesen waren, war die Kleinkindererziehung. Sie war zwischen Wohltätigkeit, Frauenerwerbsförderung und Sozialreform angesiedelt. In diesem Aufgabenfeld entwickelte sich seit den 1840er Jahren eine eigenständige Bildungs- und Ausbildungstradition, die in der Reichsgründungszeit von Kreisen der Frauenbewegung organisatorisch umgesetzt wurde. Die »Allgemeinen Bestimmungen zur Neuordnung des Mädchenschulwesens«, mit denen 1908 in Preußen der Kampf der Frauen um gleichwertige Bildung und gleichberechtigte Zugangsmöglichkeiten zur Bildung einen vorläufigen Abschluß fand, nehmen diese Tradition der Frauenbildung auf. Mit der Reform von 1908 wird die Frauenschule als Oberstufe des Mädchenlyzeums eingeführt und noch die Frauenoberschule, ein Zweig der höheren Schule, der in Preußen nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen wird, steht in dieser Tradition.
Theodor Fliedner gründete 1836 das erste »Seminar für Kleinkinderlehrerinnen« im Mutterhaus der Diakonissen in Kaiserswerth. Die Armen Schulschwestern richteten 1843 in München einen ähnlichen Ausbildungszweig für ihre Nonnen ein. Auch Friedrich Fröbels »Entwurf eines Planes zur Begründung eines Kindergartens (...), den deutschen Frauen und Jungfrauen als ein Werk zur würdigen Mitfeier des vierhundertjährigen Jubelfestes zur Erfindung der Buchdruckerkunst zur Prüfung und Mitwirkung vorgelegt« (1840), diente einem ähnlichen Zweck. Die praktische Umsetzung fand dieser Entwurf in den Kursen über Kindergartenpädagogik, die Fröbel 1849 zunächst auf Einladung des »Allgemeinen Bildungsvereins deutscher Frauen« in Hamburg in der dort soeben gegründeten »Hochschule für das weibliche Geschlecht«, dann von 1849 bis zu seinem Tod regelmäßig in Bad Liebenstein hielt. Während Fröbel allerdings den Sinn eines Kindergartens im Kontext der pestalozzianischen Pädagogik und im Hinblick auf ein neu zu schaffendes demokratisches Schulwesen begründete, verstanden die kirchlichen Initiativen die Kindergärten als Armenhilfe und christliche Wohltätigkeitsveranstaltungen.
Zwei Schülerinnen Fröbels haben die Idee der weiblichen Erziehungsarbeit im Kindergarten in der zwreiten Hälfte des 19- Jahrhunderts transformiert, international verbreitet und in ein großangelegtes und einflußreiches Projekt weiblicher Bildung zur Staatsbürgerschaft einmünden lassen. Bertha von Marenholtz-Bülow (1810-1893) verschrieb sich als unermüdliche Propagandistin vor allem der Verbreitung von Fröbels Ideen. Fröbels Nichte Henriette Schrader-Breymann gehörte gemeinsam mit ihrem Mann, dem freisinnigen Reichstagsabgeordneten Karl Schrader, zum engsten Freundes- und Beraterkreis des Kronprinzen Friedrich und seiner englischen Frau Viktoria. Sie schuf durch den »Volkskindergarten« und noch stärker durch das 1872 gegründete Pestalozzi-Fröbel-Haus eine gänzlich neue Form der allgemein- wie berufsbildenden Mädchenerziehung, die zwar klassenspezifisch ausdifferenziert, aber vom Selbstverständnis her klassenübergreifend gedacht war. 1890, auf der Höhe seines Ausbaus, umfaßte das Pestalozzi-Fröbel-Haus einen Kindergarten für 150 Kinder, der für eine niedrige Gebühr besucht werden konnte, sowie einen Kinderhort. Angeboten wurden u. a. ein Zweijahreskurs für Kindergärtnerinnen, kürzere Kurse für Kinder- und Säuglingspflege, Kurse in Kochen und Hauswirtschaft, die auf die Aktivitäten von Hedwig Heyl zurückgingen, und ein Schulspeisungsprogramm für Kinder erwerbstätiger Mütter. Der Haushalt und die mütterliche Arbeit bildeten für diese weitgefächerte Bildungseinrichtung das bewußte Gegenmodell zur männlich-patriarchalen Schule. Von zentraler Bedeutung war das ethisch-pädagogische Konzept der »geistigen Mütterlichkeit«. Es war die Antwort der bürgerlichen Frauen auf die eigene Unselbständigkeit und auf die Herausforderungen durch Urbanisierung und Industrialisierung. Die Idee der »geistigen Mütterlichkeit« wurde zur Leitidee der in der deutschen Frauenbewegung effektiven Verbindung von Sozial- und Bildungsreform im Kaiserreich.[15] Ziel der Ausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus war es, junge Frauen der bürgerlichen Schichten auf ihre weiblichen staatsbürgerlichen und beruflichen Aufgaben vorzubereiten. Das Haus war in seiner Art einzigartig. Doch gleichzeitig entstanden, angelehnt an die Konzeption Schrader-Breymanns, in vielen anderen Städten Deutschlands Seminare zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen.
Die nichtkonfessionelle, freireligiös orientierte »Fröbelbewegung« stand zunächst im heftigen Kreuzfeuer der Frauendiakonie beider Konfessionen, denen die Idee der individuellen Verwirklichung in weiblicher Erziehungsarbeit geradezu sündhaft erschien. Dieselbe drang gleichwohl gegen Ende des Jahrhunderts in Kreise des protestantischen Liberalismus ein. Friedrich Zimmer, der Gründer des evangelischen Diakonievereins, dessen Satzung als Vereinszweck vorsah, »berufslosen Frauen durch Erziehung, Berufsbildung und genossenschaftliche Anund Sicherstellung für ihr Leben, Unterhalt und Rückhalt zu gewähren«,[16] gründete, nach dem Vorbild des Pestalozzi-Fröbel-Hauses in Kassel, ein Kindergartenseminar mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar. Um die Jahrhundertwende setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Entwicklung des Kindes ein. In Deutschland fanden diese Bestrebungen in der Zeitschrift für Kinderforschung (gegründet 1903) eines ihrer ersten Publikationsorgane, zu dessen Mitbegründerinnen Frauen aus dem Fröbelverband gehörten.
Drittens kam es gleichzeitig mit den verstärkten Aktivitäten von Frauen und den für Fragen der Frauenerwerbstätigkeit und Frauenbildung aufgeschlossenen Männern seit den 1860er Jahren auch zu einer Gründungswelle von kommunalen, öffentlichen und Stiftungsschulen für Mädchen. Die Lehrerschaft an diesen Schulen begann organisiert eine Normierung und Aufwertung der weiterführenden Mädchenschulen zu fordern.
Eine dieser Gründungen war die Paulsenstiftschule[17] in Hamburg, deren Träger der 1849 gegründete »Verein zur Unterstützung der Armenpflege« war. Der Verein hatte bereits kurz nach der Revolution eine allgemeine Volksschule für Mädchen gegründet. Dieser wurden von der politischen Reaktion, die in den fünfziger Jahren auch den Hamburger Rat beherrschte, wegen ihrer engen personellen Verbindungen zu den deutschkatholischen Frauen der Revolutionszirkel erhebliche Schwierigkeiten gemacht. Treibende Kräfte dieser Schulgründung waren Emilie Wüstenfeld und Johanna Goldtschmidt, die schon die kurzlebige »Hochschule für das weibliche Geschlecht« mitbegründet hatten. 1866 ist die Schule des Vereins als voll ausgebaute Volksschule soweit anerkannt, daß sie in einem neuen Gebäude als Paulsenstiftung des Vereins eröffnet werden kann. Sie erweitert sich nun durch den Unterricht in zwei modernen Fremdsprachen schnell zu einer gehobenen Mittelschule und wird 1881 der Schulaufsicht für das höhere Schulwesen unterstellt. 1893 wird die Schule zu einer voll ausgebauten höheren Mädchenschule mit einem neunjährigen Kurs. Dessen Besuch berechtigt zum Übergang in die zehnte »Seminarvorbereitungsklasse« der anderen Hamburger Mädchenschule, an der seit 1873 ein Lehrerinnenseminar existiert. Zu diesem Zeitpunkt gibt der Verein die Trägerschaft ab, und es kommt zu einer neuen Zusammensetzung des Vorstandes der Stiftung. Dem Vorstand gehören jetzt ganz überwiegend einflußreiche Hamburger Bürger an, neben den prominenten demokratischen Pädagogen und Schulpolitikern Anton Ree und Otto Jessen der Bankier Max Warburg und Alfred Lichtwark, der Direktor der Hamburger Kunsthalle. Der Frauenverein ist weiterhin durch seine Vorsitzende vertreten, und an der Konzeption der Schule, vor allem an der Einstellungspraxis, die Männer fast gänzlich ausschloß, wird festgehalten. Von 1866 bis 1911 leitete Anna Wohlwill die Schule. Zu Beginn ihrer Direktorinnenlaufbahn war die jüdische Lehrerin, die sich ihre beruflichen Fähigkeiten bei Anton Ree und Otto Jessen in Privatunterricht erworben hatte, 25 Jahre alt. Anna Wohlwill gab der Paulsenstiftschule ein unverwechselbares reformpädagogisches Profil als Mädchenschule. Bereits 1866 hatte Johanna Goldtschmidt die pädagogische Bedeutung der »Vermischung der Stände« hervorgehoben: »Die wohlhabenden Kinder zahlen für ein armes mit, haben fast immer bessere Sprache und Manieren, tauschen dafür aber von den ärmeren Kinder Anspruchslosigkeit, bedeutende Lernbegierde und Unverdrossenheit ein.« Von Beginn an stand eine größere Zahl von Freistellen (20 volle, 50 halbe bei etwas über 450 Schülerinnen) zur Verfügung. Das Schulgeld war nach Einkommen gestaffelt, und ab 1869 gab es eine «Suppenanstalt«, die die ärmsten Mädchen mit einer warmen Mahlzeit versorgte.
Bereits 1894 beginnt die Schule mit dem Bau eines Ferienheims am Timmendorfer Strand. Lichtwark, der Initiator der Kunsterziehungsbewegung, engagiert sich in der Lehrerinnenfortbildung, und Wohlwill führt 1908 das Fach »Einführung in die soziale Hilfstätigkeit« als Teilgebiet weiblicher staatsbürgerlicher Erziehung in die Abschlußklasse der Schule ein. Nach der Reform von 1908 wurde die Schule zu einem Lyzeum, mit dessen Abschluß eine Reihe von Berechtigungen für die Berufsausbildung im öffentlichen Dienst und den Besuch eines höheren Lehrerinnenseminars (Oberlyzeum) verbunden war. Die Frauen hatten lange gezögert, diesen Status zu beantragen, weil mit ihm eine Quotierung männlicher Lehrkräfte oktroyiert wurde. Durch trickreiche Verfahren gelang es der Schule jedoch, bis zur ihrer Verstaatlichung 1937 die Dominanz weiblicher Lehrkräfte zu erhalten. In der Paulsenstiftschule konnten pädagogische Vorstellungen von weiblicher Allgemeinbildung fast acht Jahrzehnte lang ganz im Sinne der Frauenbewegung erprobt und weiterentwickelt werden. So war es die Idee einer spezifisch weiblichen Bildung, mit der die männliche Vorherrschaft in weiten Teilen der Gesellschaft faktisch anerkannt wurde und mit der zugleich die Gesellschaft durch den »weiblichen Kulturbeitrag« pädagogisch befreit werden sollte, die die Arbeit an dieser Schule trug.

Höhere Mädchenbildung zwischen 1889 und 1914 - der Kampf um
gleichberechtigte Teilhabe an Wissenschaft, Staat und Kultur

Es gab ein Gebiet, in dem die Frauenbewegung die männliche Exklusivität grundsätzlich in Frage stellte: die akademische Berufstätigkeit. Nur wenige ihrer Protagonistinnen stellten allerdings deshalb die soziale Bedeutung der Geschlechterdifferenz in Frage. Das hinderte Frauen nicht, intellektuelle Gleichberechtigung zu fordern und dies in bildungspolitische Vorstellungen für Mädchen umzusetzen. Wenn auch der Kampf einzelner Pionierinnen der Frauenbewegung um die ärztliche Ausbildung und die Ausübung des ärztlichen Berufes - er verbindet sich in Deutschland mit den Namen Henriette und Franziska Tiburtius, in England mit dem von Elizabeth Garrett — spektakulär und politisch am brisantesten war, so ist das bildungspolitisch entscheidende Einfallstor in die Universitäten für die Frauen seit den 1890er Jahren jedoch die Lehrerinnenausbildung für das Lehramt an höheren Mädchenschulen gewesen.[18] Auch dies gilt offenbar für England ganz ähnlich wie für Deutschland. Elizabeth Garretts enge Verbindung mit Emily Davies, Kern eines ganzen Zirkels von sozial- und bildungsreformerisch tätigen Männern und Frauen, führte 1869 zur Gründung des ersten Frauencolleges in Cambridge. Gleichzeitig betrieb Davies erfolgreich die Übernahme der Mädchenschulen für die middle classes in die öffentliche Verantwortung und die Zulassung von Frauen zu den Universitätsexamina. Helene Langes Kontakte zu den Schwägerinnen Tiburtius und zum Kreis um die Kronprinzessin Viktoria zeigen eine ähnliche Bedeutung von persönlichen Netzwerken in diesen für die organisierte Frauenbildungsbewegung entscheidenden Jahren.

Lange wirkte, wie so viele politisch aktive Frauen ihrer und der vorangehenden Generation, seit den frühen siebziger Jahren als Lehrerin an einem privaten Lehrerinnenseminar. Sie selbst hatte sich noch weitgehend autodidaktisch aus- und durch Auslandsaufenthalte fortgebildet. Sie gründete 1890 gemeinsam mit Auguste Schmidt, einer Lehrerin aus der Leipziger Frauenbewegung, die mit Louise Otto-Peters 1865 den ADF gegründet hatte, und einigen anderen Kolleginnen den Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV). Dieser bewährte sich als wichtigstes Organisationsnetz im politischen Kampf um die Verbesserung und rechtliche Angleichung der höheren Mädchenbildung an die höhere Knabenbildung. Den Auftakt für die »Kampfzeiten« - so der Titel einer Sammlung von Langes Aufsätzen - bildete die Begleitschrift zu einer Petition an den Preußischen Landtag von 1887, die »Gelbe Broschüre«. In dieser erläuterte Lange die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe von Mädchen und Frauen an höherer Bildung. Bildungsgeschichtlich anknüpfend an Pestalozzis Vorstellung von Unterricht und Liebe als erziehende Mittel, setzt sie sich kritisch mit der herrschenden Mädchenschulpädagogik von Männern auseinander. Lange macht dieser den Vorwurf, die menschlich-weibliche Seite der Mädchen nicht zu bilden. Neben dem Interesse, die berufliche Konkurrenz zwischen Männern und Frauen im Mädchenschulwesen, die in Deutschland stark ausgeprägt war, zugunsten von Frauen zu entscheiden, liegt der Langeschen Argumentation eine demokratisch orientierte Bildungstheorie zugrunde, die von ihr in späteren schultheoretischen Arbeiten weiterentwickelt wurde. Die Emphase, entlehnt der pädagogischen Romantik von Schleiermacher und Pestalozzi, kulturtheoretisch überformt als Kritik am »Männerwerk« des Staates und zum Ersten Weltkrieg hin mit immer nationaleren Akzenten versehen, verlieh nicht nur Lange als Führerin, sondern großen Teilen der Frauenbildungsbewegung das Bewußtsein, ihr Kampf für das akademische Studium sei durch höhere Mächte legitimiert. Auffallend ist, daß Lange es nicht als Widerspruch empfindet, pragmatische Politik zu betreiben und diese gleichzeitig emphatisch als »Dienst der Idee« zu legitimieren.
Neben der Vereinstätigkeit - sie gehörte dem Vorstand des ADLV von 1890 bis 1921 an - ging Helene Lange unmittelbar nach dem Erscheinen der Schrift an die praktische Durchführung ihrer Forderungen: In privater Initiative, da das öffentliche Schulwesen in Preußen für Mädchen keinerlei zum Abitur führende Möglichkeiten bot, gründete sie 1890 zunächst zweijährige Realkurse für Frauen, die sie 1893 in der Trägerschaft eines Vereins in vierjährige Gymnasialkurse zur Vorbereitung auf das Abitur umwandelte. Prominente liberale Berliner Professoren und Kulturpolitiker wie Wilhelm Dilthey, Rudolf von Gneist, Adolf von Harnack, Gustav Schmoller, Otto Pfleider und Friedrich Paulsen gehörten zu seinen Mitgliedern. Vermögende Frauen wie Hertha von Siemens, die später selbst Chemie studierte, und Männer trugen zur Finanzierung bei. Frauen in anderen Städten folgten mit der Einrichtung ähnlicher Kurse. Andere Vorstellungen über den am besten geeigneten Weg zur Durchsetzung gleicher Bildungschancen für Mädchen veranlaßten den Verein Frauenbildungs-Reform, der sich zum radikalen Flügel der Frauenbewegung rechnete, und andere Frauenbildungsvereine zur erfolgreichen Einrichtung grundständiger Mädchengymnasien, unter anderem in Karlsruhe (1893), in Stuttgart (1899) und in Köln (1903). Die einzelnen deutschen Staaten reagierten durchaus zögernd auf die immer deutlicheren Forderungen, die noch dazu von einer »Propaganda der Tat« unterstützt wurden. Die seit den 1880er Jahren überfällige Reform des weiterführenden Knabenschulwesens, von der eine Anpassung an Veränderungen in Wissenschaft und Technik erwartet wurde, und eine kulturkritische Wendung gegen die Exklusivität des humanistischen »Pauk«-Gymnasiums, das allein zur allgemeinen Hochschule führte, trug zunächst sicherlich zur Zurückhaltung auf staatlicher Seite bei. Aus größerer historischer Distanz gesehen, wurde die Reform des höheren Schulwesens nach 1900 jedoch auch durch die Forderung nach gleichen Berechtigungen für Mädchen maßgeblich beeinflußt.[19]
Mädchenschulen, ob öffentlich oder privat, waren in den 1890er Jahren ganz überwiegend als Mittelschulen ausgebaut worden und entsprachen dem Typ der Realschule, allerdings mit starker Betonung der Fremdsprachen, ohne Lateinführung und mit geringerem Anteil in der Mathematik und den Naturwissenschaften. Im Streit um das Abitur für Jungen zwischen »Realisten« und »Humanisten« legte man nicht unbedingt Wert auf »Schützenhilfe« der Frauenbewegung, die dem Abitur ohne Griechisch aufgrund der Unter- und Mittelstufe der Mädchenschulen mit modernen Sprachen den Vorrang gab. Allerdings forderten die Frauen schon aus prinzipiellen Gründen auch die Möglichkeit zur klassischen humanistischen Bildung für Mädchen und wurden hierin zum Teil von den Vertretern der »humanistischen« Bildung in der Debatte um die Reform des Gymnasiums unterstützt.
Als schließlich Preußen nach der Gymnasialreform von 1902 mit den »Allgemeinen Bestimmungen zur Neuordnung des Mädchenschulwesens« 1908 als größter und einer der letzten deutschen Staaten eine Schulreform anordnete, die für Frauen verschiedene, allerdings nicht völlig gleichberechtigte Zugänge zum akademischen Studium eröffnete, wurden die bis dahin privaten Veranstaltungen der Frauenbildungsbewegung keineswegs umstandslos verstaatlicht. Zwar mußten viele Schulen des älteren Typs der Privatschule schließen, weil sie das nun geforderte differenzierte Lehrangebot nicht bieten konnten. Dennoch bestanden in Preußen im Jahre 1911 neben 212 öffentlichen Lyzeen weiterhin 198 private, vollausgebaute zehnklassige höhere Schulen, von denen aus unter bestimmten Bedingungen weiterführende Oberstufen besucht werden konnten, die zum Abitur (Studienanstalten) oder einer Lehrerinnenprüfung mit Hochschulzugangsberechtigung für das Lehramtsstudium (Oberlyzeen) führten. Es gab 68 private Oberlyzeen gegenüber 78 öffentlichen, 5 private Studienanstalten neben 28 öffentlichen.
So erscheint es nur zu berechtigt, wenn die eingangs zitierte Anna Schmidt ihren Bericht über private Mädchenschulen in Deutschland mit den Worten schließt: »Aus der privaten deutschen Mädchenschule sind die führenden Kräfte unserer Frauenbewegung hervorgegangen, an ihr haben bedeutende Frauen gewirkt, wie Auguste Schmidt, Helene Lange: sie (die private Mädchenschule, J.J.) unterrichtet jetzt in höheren Mädchenschulen, Frauenschulen, Lehrerinnenseminaren und Studienanstalten die Hälfte aller eine höhere Bildung suchenden deutschen Mädchen; sie hat also eine verantwortungsvolle Arbeit zu vollbringen.« Schmidts daran anschließender Wunsch: »Möge die äußere Gestaltung ihrer Lebensbedingungen, möge vor allem ihr eigener Idealismus, ihre eigene Kraft ihr ermöglichen, auch unter den neuen veränderten Verhältnissen, Seite an Seite mit der öffentlichen Schule der deutschen Frauenwelt mit den ihr eigentümlichen und ihr anvertrauten Gaben zu dienen!«, sollte sich nicht erfüllen. Die öffentliche Schule bot den Lehrerinnen langfristig die besseren Erwerbsmöglichkeiten und verringerte den Bedarf an privaten Mädchenschulen; nur große Organisationen, wie die katholischen Schulorden, waren dieser Konkurrenz finanziell gewachsen. Auch sie kämpften allerdings nach 1918 ums Überleben. Die alte Klientel zog zunehmend die öffentlichen Schulen vor, so daß das weiblich geprägte Bildungsmilieu der höheren Mädchenschule im Rückblick eine Erscheinung ist, die ganz dem 19. Jahrhundert mit seiner Trennung in männliche und weibliche Lebenssphären zugeschrieben werden muß. Durch Kräfte, die sie selbst bildete, und die erfolgreich für die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Mädchen stritten, hat sie sich selbst überflüssig gemacht.