Ich erwarte keine Probleme

Danielle Zucker, 33, Psychologin, Brüssel

  • Wenn man in »Dynasty« oder einer anderen glamourösen, realitätsfernen Serie den Part einer Psychologin zu besetzen hätte, würde sie wohl ungefähr so aussehen: groß, schlank, toll angezogen, schick frisiert und schön. Und dann würde sie elegant den Hospitalkorridor entlangklappern, wobei der wehende weiße Arztkittel Blicke auf einen gewagten Mini freigäbe... ganz genau so, wie uns Danielle Zucker entgegenkommt in der Psychiatrischen Ambulanz eines Brüsseler Krankenhauses. Nur das restliche Ambiente paßt nicht dazu: schummrige, ungenügend beleuchtete Gänge, heruntergekommene Warteräume. Wir gehen scheinbar endlose Korridore entlang, bis wir Danielles Büro erreichen; dort können wir uns dann in Ruhe unterhalten über ihre Arbeit, ihre Vorstellungen, ihre Philosophie der Dinge. Nur einmal, als sie ausführlicher über ihre Kindheit erzählt, müssen wir versprechen, nicht mitzuschreiben. Nur als Hintergrundinformation will sie es uns mitteilen. Ein bißchen klingt es dann auch im »offiziellen« Interview an. Danielle Zucker hat die Schwierigkeiten und Hemmnisse, die sich ihr in den Weg legten, nicht nur überwunden. Sie hat sie umfunktioniert ins Positive, sie für sich nutzbar gemacht.

Aus der unglücklichen Kindheit mit einer schwierigen EIternbeziehung wurde ein Verständnis für persönliche Krisen und Unsicherheiten, das ihre Arbeit unermeßlich bereichert. Aus ersten, gescheiterten Karriereversuchen in einem anderen Metier wurde ein befriedigendes Hobby, das außerdem Verhaltenshilfen für den Alltag gibt. Aus einer Unzufriedenheit über die Arbeitsbedingungen, die sie im Krankenhaus vorfand, wurde nicht Frustration und verärgertes Weggehen, sondern eine Idee für einen Job für sich selbst. Selbst die Angst, die sie manchmal vor ihren gewalttätigen Patienten hat, kann Danielle noch nutzen, indem sie sie therapeutisch einsetzt. Aus Problemen und Barrieren einen Rohstoff machen für Veränderung und Verbesserung, dieser Zugang kennzeichnet Danielle. »Daß ich eines Tages unabhängig bin und meinen eigenen Lebensunterhalt verdiene, das galt in meiner Familie schon als selbstverständlich. Meine Mutter hatte auch eine Karriere, sie war Pianistin, hörte aber damit auf, als sie heiratete, und eröffnete statt dessen eine kleine Galerie , in der sie moderne Kunst verkaufte. Mein Vater war Diamantenhändler, er verkauft Juwelen in Antwerpen, gemeinsam mit seinem Sohn. Also mit meinem Bruder.
Mein Vater hat mich nie eingeladen, mit ihm zu arbeiten. Es war für ihn selbstverständlich, daß dazu nur mein Bruder auserkoren ist. Später erst fiel mir das auf, und ich fand, daß es falsch war von ihm. Daß er mir zumindest die Möglichkeit hätte anbieten sollen. Meine Berufswünsche waren aber dann andere. In der Mittelschule wollte ich Schaupielerin werden. Oder Philosophin. Und Psychoanalytikerin will ich schon werden, seit ich acht Jahre alt bin. Ich wollte Menschen helfen, die leiden, wahrscheinlich, weil ich selber auch so unglücklich war. Mit vierzehn las ich Freud, er gefiel mit wahnsinnig gut. Und ich hörte gerne meinen Freundinnen zu, wenn sie über ihre Probleme sprachen. Als erstes versuchte ich dann, Schauspielerin zu werden. Und ich scheiterte damit. Ich bestand die Aufnahmeprüfung in die Schauspielschule nicht. Sie sagten, ich sei zu unreif und vielleicht auch zu wenig motiviert. Damit hatten sie vielleicht recht, das kann sein. Wahrscheinlich zögerte ich innerlich wirklich und war nicht überzeugt davon, daß ich dieses Leben wirklich wollte - denn es ist ja sehr unstet.
Danach studierte ich Philosophie. Abends ging ich aber in eine Filmschule, und dort lernte ich sehr viel für mein Leben. Danach ging ich nach Paris und machte eine Ausbildung in Familientherapie. Das war sehr gut, ich konnte mit dem Professor gemeinsam den Therapien beiwohnen und dadurch echte Praxiserfahrung bekommen. Nach dieser Ausbildung hätte ich eine eigene Praxis eröffnen können, aber das hätte ich unehrlich gefunden, denn ich hatte überhaupt keine klinische Erfahrung. So kam ich hierher, in dieses Krankenhaus. Ich war nicht sicher, ob es hier gutgehen würde. Denn ich hatte sehr ausgeprägte Meinungen. Ich war sehr gegen einseitige Pharmatherapie und schnelle Einweisung. Ich dachte daher, daß sie mich in einem Krankenhaus ablehnen würden, aber es kam nicht so. Im Gegenteil, sie haben mir sehr viel Vertrauen geschenkt und interessierten sich für meine Ideen. Reizvoll, war die Arbeit für mich hier, weil ich fand, daß ich in der Notaufnahme meine Ideen am ehesten verwirklichen könnte. Dann da entscheidet sich das Schicksal des Patienten. Aber meist kann die Chance nicht genutzt werden, weil kein Personal dafür vorhanden ist. Statt dessen wird der Patient aufbewahrt, bis am nächsten Tag jemand für ihn Zeit hat. Ich bemühte mich, allen klarzumachen, daß damit eine wichtige Chance verschenkt wird, daß dieser Moment der Einlieferung ein sehr guter Augenblick ist, um mit Patienten zu arbeiten. Denn der Patient ist in einer sehr akuten Krise, ist verzweifelt, und es sollte die Möglichkeit geben, in dieser unmittelbaren Situation mit ihm zu arbeiten, statt die Aufnahme nur als Transitsituation zu verstehen.
Ich konnte viel erreichen, weil ich in zweifacher Hinsicht Glück hatte. Erstens war der Vorschlag interessant und einleuchtend. Und zweitens wollte niemand anderer diese Arbeit machen. Denn die Arbeit in der Notaufnahme ist sehr schwierig, stressig und unangenehm, man hat furchtbare Arbeitsstunden... Um dort zu arbeiten, mußt du sehr stark sein. Du mußt in der Lage sein, sehr sorgfältig zu kontrollieren, was du zu dem Patienten sagst. Das Krankenhaus war über meinen Vorschlag sehr zufrieden, denn er löste zwei Probleme auf einmal für sie. Es erleichterte ihnen die Aufnahme der Patienten, und es löste das Problem, was sie mit mir und meiner Kritik anfangen sollten. Ich mache meine Arbeit hier immer gemeinsam mit einem Psychiater. Es ist sehr wichtig, zu zweit zu sein. Du denkst Vielleicht, dieser Patient hat ein bestimmtes Problem, dabei ist es aber dein Problem, das du nur in ihn hineindenkst. Oder es hat einer ein Problem, das für dich schwierig ist, weil du mit dieser Art von Problemen nicht gut umgehen kannst. Es ist essentiell, die eigene Reaktion mit einem zweiten besprechen zu können. Mein Chef hat mich in dieser Sache sehr unterstützt. Er meinte dann, daß ich unbedingt einen Studienabschluß in Psychologie machen sollte, also hab ich das gemacht. Und es war sehr schwer. Das Krankenhaus, das Studium, eine sehr kleine Privatpraxis, das war alles sehr viel.
Ich kam auf meine Arbeit, weil es einfach eine so eindeutige Lücke in der Versorgung gab. Da kommen Leute in einem dermaßen extremen Zustand hierher, und es gibt überhaupt keine Vorkehrungen dafür. Das hat mich sehr bewegt. Früher wurden diese Leute dann einfach hospitalisiert. Und bis es zu einer therapeutischen Zuwendung kam, war die unmittelbare Krise wieder vorüber. Oder sie war mit Medikamenten überdeckt worden. Aber dieser Augenblick, dieser ideale Augenblick war verlorengegangen. In diesem Augenblick der Einlieferung sind alle Barrieren der Person gefallen. Die übliche Abwehr ist zusammengebrochen. Denn wenn die Leute hierherkommen, dann deshalb, weil ihr personales System zusammengebrochen ist, es nicht mehr funktioniert hat und sie nicht mehr so weitermachen konnten wie zuvor. Daher sind sie für eine Veränderung empfänglicher als zu irgendeinem anderen Augenblick. Dann gefällt mir diese Arbeit auch, weil ich gerne schnell arbeite. Ich liebe das Gefühl, schnell zu reagieren, effizient zu sein. Das Team ist großartig hier, wir haben eine starke Solidarität. Wenn einer von uns ein Problem hat, einen Fehler gemacht hat, können wir sehr gut darüber sprechen, und ich weiß, ich kann Dinge direkt ansprechen. Wir verlieren keine Zeit damit, hinterrücks Dinge übereinander zu sagen. Dieses neue Krisenprogramm hat die Zahl der Hospitalisierungen sehr verringert, machte sich also schnell positiv bemerkbar. Ich hospitalisiere eigentlich nur, wenn ich eine Gefahr spüre. Und ich verwende das Wort »spüren« mit Bedacht, denn man muß fast wie ein Tier sein, muß die Gefahr wittern und dem Instinkt folgen. Ist jemand wieder einigermaßen stabil, oder ist er eine Gefahr für  sich oder andere? Es gibt keine, »harten« Anhaltspunkte, das ist eine Entscheidung, die man selbst treffen muß. Das erfordert auch Zeit.
Normalerweise ist es so, daß Menschen hierhergebracht werden, weil sie sehr starke Emotionen zeigen und die Umgebung nicht weiß, wie sie damit umgehen soll. Also werden sie eingeliefert. Es kann zwei, drei Stunden dauern, bis ich das Gefühl habe, daß ich diesen Menschen entlassen kann, daß ich ihn bitten kann, an einem anderen Tag wiederzukommen. Wenn ich einem Patienten gegenüberstehe, versuche ich zu verstehen, was für ihn stattfindet. Ich suche nach dem Szenario, das sich für ihn abspielt und immer wiederholt. Er ist meist schrecklich verzweifelt, weiß aber nicht, warum. Dann stellt sich vielleicht heraus, daß vor drei Wochen irgendein Ereignis stattgefunden hat, das eine Wiederholung einer früheren Situation in seinem Leben darstellt. Vielleicht wurde er von seinen Eltern abgelehnt, und dann geriet er in eine Situation, die das wieder wachrief; jedenfalls ist er, wenn er herkommt, in einer emotionalen Notsituation. Ich suche nach dem Muster, nach der Wiederholung, um im Denken des Patienten wieder Kontinuität herzustellen.
Er soll sich als Subjekt des eigenen Lebens sehen, die Ereignisse wieder in einen Zusammenhang stellen können, der in der Krise verlorengegangen ist. Manchmal lade ich den Ehepartner oder die Familie ein, um in der Krisensituation mitzuarbeiten. Mein Ziel - und es ist ein megalomanes (lacht) - ist es, in dieser Krise den Patienten dazu zu bekommen, seine Situation in einem neuen Licht zu sehen. Er soll nicht immer auf die anderen fixiert sein: »Sieh sie an, was sie mir alles antun.« Sondern er soll seinen eigenen Anteil daran erkennen, soll sich als Handelnder begreifen. Die Patienten kommen in verschiedener Weise. Manche kommen von selbst, freiwillig. Manche werden von der Polizei gebracht. Wenn der Patient zum Beispiel in Handschellen gebracht wird, fragst du zuerst den Polizisten, ob er sie abnimmt.
Das macht den Patienten dann schon sehr empfänglich, wenn er sieht, daß du ihm so weit vertraust. Das ist eine Art Vertrag, den du mit dem Patienten schließt. Du sagst z.B: »Also, Sie haben gerade jemanden niedergeschlagen, ich hoffe, daß Sie jetzt nicht auf mich losgehen werden.« Und er: »Nein! Niemals!« Und ich muß auf Holz klopfen, bis jetzt ist mir wirklich noch nichts passiert. Das sind ja oft recht extreme Fälle, die gebracht werden, und da kann es schon vorkommen, daß du Angst hast. Du mußt dann sehen, daß du diese Angst therapeutisch nutzen kannst. Vielleicht sage ich dann: »Nun, ich merke, daß ich Angst habe vor Ihnen. Geht es nur mir so, oder kommt das öfter vor, daß Leute vor Ihnen Angst haben?« Dann sagt er: »ja, es geht mir oft so.« Und dann kann man darüber sprechen. Meine Pläne? Ich möchte hier weitermachen und immer mehr Verantwortung übernehmen. Ich möchte auch einen Film machen über unsere Arbeit hier, für das Fernsehen. Und ich glaube, daß ich dieses Jahr heiraten werde. Ich sage es so, vielleicht merkwürdig formuliert, weil ich sehr davon überzeugt bin, daß das eine Entscheidung ist, die man sich sehr gut überlegen muß. Man sollte sich sehr viele Fragen stellen, bevor man diese Entscheidung trifft, um die Erfolgsaussichten zu verbessern. Ich z.B. mußte mir klar werden darüber, ob ich ein solches Leben will, mit Kindern, mit einem Mann, mit anderen Personen also, die man immer mit berücksichtigen muß. Aber wenn ich dann die andere Seite überlege, allein zu sein, wenn auch mit unbeeinträchtigter Bewegungsfreiheit, dann kommt mir das nicht sehr erweiternd vor. Eigentlich also habe ich mich schon entschieden, aber erst vor kurzem. Meinen Beruf werde ich bestimmt fortführen. Denn wenn ich ihn aufgebe, werde ich mit mir selbst unzufrieden sein, und meine Kinder werden das spüren. Ich erwarte keine Probleme, denn ich freue mich sehr darauf, Zeit mit Kindern zu verbringen und mich in sie hineinzudenken.
Ich weiß, daß ich mich sehr auf andere Personen konzentrieren kann, und daher werde ich in der Zeit, die ich bei den Kindern bin, wirklich ganz bei ihnen sein. Mein Mann ist Bankier. Ich wollte das, ich wollte einen Partner, der nicht in derselben Sparte arbeitet wie ich selbst. Wir sind uns aber trotzdem in manchem ähnlich. Wir sind beide sehr ambitiös, wir nehmen beide sehr viel Raum ein, daher ist unser Zusammensein nicht immer leicht. Ich mußte also auch entscheiden, ob ich glaube, daß wir uns gemeinsam weiterbewegen können, oder ob wir ewig unsere jeweiligen Kindheitsszenarien weiterspielen. Ich sehe aber, daß er sich in unserer gemeinsamen Zeit schon verändert hat, also weiß ich, daß es für ihn möglich ist.« Danielle ist, von ihrer Grundhaltung aus, nicht unbedingt eine Optimistin. Wenn sie die Dinge grundsätzlich zum Positiven lenkt, dann eher aus einer sehr logischen, überlegten Rationalität heraus. Sie strahlt eine große Ruhe aus, die in ihrem  Beruf bestimmt von großem Vorteil ist. Eine Freude ist es dagegen, sie von ihrem Beruf sprechen zu hören. Schließlich ließe sich diese Arbeit auch ganz anders beschreiben: als deprimierend, strapaziös, zermürbend.
Für Danielle ist sie dagegen spannend, etwas, was den Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit inklusive ihrer Instinkte, ihrer eigenen Lebenserfahrungen und Reaktionen erfordert. Auffallend an ihrer Erzählung ist aber vor allem, im positiven Sinn, ihre Beharrlichkeit. Bei der Schauspielschule blitzt sie ab, aber sie läßt sich nicht entmutigen.. Sie überlegt, ob die Gründe für die Abweisung nicht berechtigt sind, und greift dann auf ein anderes Interessensgebiet zurück. Dabei wendet sie sich aber auch nicht, enttäuscht über den Mißerfolg, vom ersten Interessensgebiet ab, sondern besucht die Filmschule. Später kann sie dieses Interesse in ihre Arbeit einbringen,, wenn es darum geht, einen Dokumentarfilm über das Modellprojekt in ihrem Krankenhaus vorzubereiten. In der Klinik wettert sie dann nicht gegen Mißstände und ärgert sich nicht über ihre Außenseiterposition, sondern entwirft einen Plan, der allen entgegenkommt: den Patienten der Krankenhausverwaltung und ihren eigenen beruflichen und moralischen Interessen.
Auch die Erfahrungen aus der Kindheit nimmt sie nicht zum Anlaß, resignativ über ihre inneren Beschädigungen zu klagen, sondern verwendet sie dazu, die Kränkungen und Ängste ihrer Patienten besser zu verstehen. Dabei versucht sie, Gefühle und Denken in Einklang zu setzen. Gerade an eine geplante Ehe geht sie auch mit Verstand heran indem sie überlegt, welche objektiven Veränderungen sich daraus ergeben, ob sie die haben möchte usw.