Abschied

Der Ruf der Ewigkeit erhebt Mit Stimmen sich,
unirdisch-festen, derweil ob blühnden Weichselästen
Das Mondlicht sanfte Bläue webt.[202]
Anna Achmatowa (1958)

Auch die letzten Lebensjahre Anna Achmatowas waren Jahre künstlerischer Kreativität. Bis in ihr Todesjahr hinein entstanden neue Verse, arbeitete sie Varianten aus, stellte neue Zyklen zusammen, schrieb Memoiren und immer wieder Briefe. Eine vollständige Werkausgabe, die in Vorbereitung ist, wird die Intensität ihrer Arbeit in diesen Jahren deutlich machen.[203]
Die Gesundheit der Dichterin stellte sich allerdings immer wieder der Verwirklichung größerer Projekte entgegen. Seit Beginn der fünfziger Jahre hatte sie mehrere Infarkte erlitten, Schlaflosigkeit und Gleichgewichtsstörungen machten ihr Leben und Arbeit schwer. Fast jedes Jahr mußte sie einige Wochen in Sanatorien und Krankenhäusern zubringen, die mit ihren Gemeinschaftssälen oft Lazaretten glichen. Sie hat kaum darüber geklagt, vielmehr nutzte sie diese Zeiten zu Kontakten mit den anderen Kranken, manchmal trug sie ihnen ihre Gedichte vor. Mit dem Kranksein wurde sie fertig. Schon als junges Mädchen hatte sie dieses Spannungsverhältnis zwischen Vitalität und begrenztem physischem Vermögen kennenlernen und verinnerlichen müssen. In ihrer Familie grassierte die Tuberkulose. Jetzt hatte sie ihr siebentes Jahrzehnt erreicht. Ihre Biographen beschreiben sie - stets an erster Stelle ihr Charisma und ihre natürliche Würde betonend - als körperlich stark verändert, beleibt und schwer.
Anna Achmatowa lebte nach wie vor in ärmlichen Verhältnissen. Zwar war sie auch im Alter noch immer so gut wie gleichgültig gegenüber den für andere üblichen Standards an Wohnung. Interieur und Kleidung, aber hier kam auch ein gesellschaftlicher Akzent hinzu. Einige ihrer näheren Bekannten und Freunde bezeichneten sie als bescheiden, andere sprachen von ihrem Unvermögen, mit den einfachsten Dingen des Lebens zurechtzukommen.

                                                            

Anatolij Naiman, ihr Sekretär in den letzten Lebensjahren, prägte das Wort von der «Unbehaustheit» der Achmatowa, das in der Folge von anderen Biographen übernommen wurde.[204] Diese sei zum Wesenszug ihres Verhaltens geworden. Man erinnere sich noch einmal an ihre ersten Jahre als junge Mutter auf dem Gut in Slepnjowo. Das Gefühl, nirgendwo heimisch zu sein oder sein zu  können, beherrschte Achmatowa von klein auf. Immerzu gab es eine innere Ruhelosigkeit, die zu ihrer psychischen Grundsituation gehörte, ebenso wie ihre abergläubische Erwartung immer neuer Schicksalsschläge. Auf die Tonlage ihrer Lyrik schlug sich dies als oft wiederkehrendes Motiv der Trostlosigkeit und Verlassenheit nieder. In späteren Jahren begegnete sie dem mit scheinbar nonchalanter, lockerer Ironie.
Ihr Unbehaustsein kann aber ohne die soziale und politische Komponente nicht erklärt werden. Dort, wo man sich um Schriftsteller als um «Ingenieure der menschlichen Seele» (Stalin) zu sorgen vorgab, wurden der Achmatowa die einfachsten Dinge des Lebens vorenthalten oder als Mittel der Demütigung und Nötigung eingesetzt.
Achmatowas Spätgedichte (nach 1956) setzen sich intensiv mit menschlicher Hinfälligkeit, Krankheit und Tod auseinander. Einen Weg, Sentimentales oder Weinerlichkeit von sich fernzuhalten, sah Achmatowa in der Selbststilisierung zur letzten Zeugin und Verteidigerin der untergehenden russischen Kultur. Dieses Selbstbild gab ihr viele Motive und die innere Balance, um mit den Problemen von Krankheit und Sterben würdig umzugehen. Wie immer in ihrem bisherigen Schaffen vollzog sich diese Auseinandersetzung als Rückbesinnung, als eine Wiederaufnahme älterer lyrischer Versuche. Am folgenden Gedicht aus dem Jahre 1942 läßt sich das nachvollziehen:

Auf dem Smolenka-Friedhof

Ihr alle, die ich hier auf Erden angetroffen,
Seid des vergangenen Jahrhunderts hingewelkte Saat!
Hier endet alles: die dodonschen Festhankette,
Intrigen, Würden, Girokonten und Ballette ...
Auf mürbem Sockel eine Adelskron, vereint
Mit einem rosigen Engelchen, das trockne Tränen weint.
Der Osten lag in unerforschter Ferne weit
Und grollte drohend wie ein Feind, vom Westen wehte
Der dünkelhafte Geist viktorianischer Zeit.
Konfetti flog. Es heulte der Cancan ...[205]
(1942; Nachdichtung: Heinz Czechowski)

Anfang der sechziger Jahre dachte Achmatowa an einen Zyklus Kränze für die Toten (Venki mjortvym). Sie sah sich allein zurückgeblieben an den Gräbern ihrer großen Zeitgenossen, ihrer Dichterkollegen, und das waren viele: Pilnjak, Mandelstam, Gumiljow, Majakowskij, Zwetajewa, Bulgakow und Soschtschenko.
Wie üblich bei Achmatowa sollte ein solcher Zyklus ältere und neue Gedichte miteinander vereinen, um den Gedanken, den sie für den Zyklus hatte, zu verwirklichen: Im Gedicht Wir vier (Nas cet-vero) hatte sie 1961 in ihrem Sommerhäuschen bei Komarowo Pasternak, Mandelstam und die Zwetajewa sich bei ihr versammeln lassen und festgestellt: Wir alle sind nur ganz kurz Gast im Leben, das Leben ist nichts weiter als Gewohnheit.
Losgesagt habe sie sich von jedem Gut, / von jedem irdischen Nutzen, [...] Doch ists, als hört ich auf Wegen der Luft, / sich rufend, zwei Stimmen ertönen. / Zwei nur? Doch auch an der östlichen Wand, / Dort im Gestrüpp, bei den Himbeern, / Der schwärzliche frische Holunderbeerast ... / Das ist ein Brief von Marina.[206] (Notizen aus Komarowo, 1961; Nachdichtung: Roland Erb)
Oft versuchte die Dichterin, wie hier, mit trotzigen Strophen ihre Ängste zu bändigen, ohne Melodramatik mit dem Todesgedanken umzugehen. In den Texten dieser Jahre findet man selten Mystisches, Irrationales. Selbst wenn sie religiöses Vokabular einsetzt und im Raum über ihr einen Allmächtigen anzusprechen scheint, ist das eher ein lyrisch-rhetorisches Element ihrer Poetik als ernsthafte religiöse Hinwendung. Wenn, wie einige ihrer Vertrauten versichern, das Religiöse für Achmatowa wichtig gewesen sein soll, so doch in einem anderen, eher psychologischen Zusammenhang als in landläufig und simpel verstandener Gottesfurcht oder demütiger Hinwendung und Versenkung. Gegen ein ungebrochenes religiöses Bewußtsein bei Achmatowa sprechen letztlich alle ihre Texte. Es gibt viele Verse, in denen sie bereits in den vierziger Jahren in Taschkent herausfordernd, mutwillig und respektlos mit ihrem eigenen Ende umgeht, ihr Lebensschiff zum Grund wünscht, ihr Haus in Rauch aufgehen und Mauern hinter sich einstürzen sieht. Nicht nur einmal unterstellte sie ihren Zeitgenossen, daß sie ihr dringend den Tod wünschten. Das alles waren für sie Möglichkeiten zur Abwehr lähmender Ängste und Gedanken, die sie auf diese Weise zu sublimieren versuchte.
Ihre Auseinandersetzungen mit dem Tod führten sie auch zurück zu Fragen der Dichterexistenz, des Ruhmes und seiner Vergänglichkeit. Nach einem Infarkt 1961 schrieb sie in einem Leningrader Krankenhaus den Achtzetier Alexander in Theben, eine rhythmisierte Episode:
Gewiß war der junge Alexander schrecklich und furchteinflößend, als er sagte: «Du wirst Theben vernichten!»
Der alte Heerführer erblickte die stolze Stadt, die er von früher her kannte. Alles restlos dem Feuer übergeben! Und der Herrscher zählte her - die Türme, die Tore, die Tempel - die Wunder der Welt. Doch plötzlich in heller Besinnung sagt er: «Nur acht mir darauf, daß heil bleibt das Haus des Dichters!»[207]
Ein anderes wichtiges Gedicht dieses letzten Jahrzehnts ist aus verschiedenen Gründen der Text Heimaterde {Rodnaja Zemljä). Titel und Widmung sind Selbstzitate aus ihrem berühmten Gedicht von 1922 Nicht mit denen bin ich. In Gestus und Thematik schließt der Text also an eigene Dichtung über dieses «patriotische» Thema an. Freilich anders, heißt es in einer jüngeren russischen Untersuchung, als bei denjenigen, die über Heimat nur mit überhöhtem Pathos schreiben könnten. Die Tonlage des Gedichtes und der hintergründige Traditionsbezug zu Alexander Puschkin, Michail Lermontow und Fjodor Tjutschew sind Stärken dieses späten Textes. Für Achmatowa hat sich die tragische Gebundenheit an ihr Land seit 1922 nicht prinzipiell geändert, eher sieht sie sich nun noch mehr einig mit der Masse ihrer Landsleute. Und sie verbindet diese Gedanken mit der Todesproblematik generell. Sie reichen vom bitteren Schlaf, vom versprochenen und niemals gefundenen gelobten Land bis zum Schmutz an den Galoschen, bis zu Asche und Grab. Und wir mahlen und trampeln und schlucken / Diesen Staub, schuldlos und uralt. / Doch weil wir uns in sie legen und sie werden, / Nennen wir sie so leicht: unsere Erde.[208]
Eine zeitgemäße Interpretation dieses Textes sollte auch den in ihm angelegten Weltbezug hervorheben. Das Wir - die Russen, ihr Volk - steht im Mittelpunkt tragischer Klage. Nur scheinbar geht es in dem Gespräch der Dichterin mit dem Tod um ihren eigenen Seelenfrieden, der nun gefunden ist. Ihre Stimme geht über in die Klage um ihr Land, dessen Hoffnungen in diesem Jahrhundert so groß waren und so gründlich und lange betrogen wurden.
Besondere Hervorhebung im Spätwerk verdient auch das Gedicht Letzte Rose (1962), das kurz vor ihren beiden Westeuropa-Reisen geschrieben wurde. Mit einem Zitat des späteren Nobelpreisträgers Joseph Brodsky scheint sie eine Hoffnung anzudeuten, daß es für sie doch jemanden gibt, der die Stafette weitertragen wird:

Letzte Rose

Sie werden über uns schreiben in schräger Schrift.
(J. Brodsky)

Muß mit der Morozowa mich neigen
Und mit Salome im Tanz mich drehn,
Muß im Rauch von Didos Holzstoß steigen
Und mit Jeanne dann auf dem Holzstoß stehn.
Herr, du siehst, es ist mir so zuwider
Auferstehung, Leben und der Tod.
Nimm mir alles, aber laß mich wieder
Fühlen diese Rose, frisch und rot.[209]

Anfang der sechziger Jahre gelang es einflußreichen Freunden in Westeuropa und im eigenen Land, Anna Achmatowa ins Bewußtsein der literarischen Weltöffentlichkeit zu bringen. In Italien wurde ihr der Ätna-Taormina-Preis für Poesie verliehen. Die Preisverleihung erfolgte am 12. Dezember 1964 im geschichtsträchtigen mittelalterlichen Castello d'Orsini auf Sizilien. Zur feierlich-strengen Zeremonie erschienen italienische und ausländische Autoren und Kritiker, vor allem auch die Teilnehmer eines europäischen Schriftstellertreffens, darunter der russische Schriftsteller Alexander Twardowskij.[210] Er genoß wegen seiner Förderung literarischer Talente und seines Eintretens für seine Schriftstellerkollegen großes Ansehen in der literarischen Öffentlichkeit des In- und Auslandes. Gegen harten Widerstand hatte er beispielsweise die Veröffentlichung der Debütnovelle «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» in der von ihm geleiteten zentralen Literaturzeitschrift «Novyj mir» (Neue Welt) durchgesetzt und damit Alexander Solshenizyn ins Gespräch gebracht. Twardowskij kämpfte auch um eine gerechtere internationale Bewertung der russischen Gegenwartsliteratur. Für die Achmatowa - sie war in diesem Jahr fünfundsiebzig geworden - kam die Ehrung viel zu spät. Sie hat diese Veranstaltung nur mit gemischten Gefühlen aufgenommen; einmal verglich sie die Zeremonie um ihre Person mit einer Totenmesse. Gleichzeitig war ihrer Sensibilität die liebevolle Aufmerksamkeit italienischer Freunde und der literarischen Öffentlichkeit nicht entgangen. Mit besonderer innerer Bewegung hat sie die Überreichung einer wertvollen Ausgabe von Dantes «Göttlicher Komödie» mit Botticelli-Zeichnungen aufgenommen. Dieses Geschenk konnte nur im Wissen um ihre jahrzehntelangen innigen Beziehungen zu diesem Dichter ausgewählt worden sein, den sie im Original las, über weite Passagen auswendig zu zitieren wußte und dessen Figuren in ihrer Dichtung häufig anzutreffen sind.
Zu den sie besonders bewegenden Aufmerksamkeiten rechnete sie auch die Veröffentlichung ihrer Modigliani-Skizze [211] in der Tageszeitung «L'Unità» kurz vor ihrem Besuch. Sie hatte darin die für sie wichtigen Begegnungen mit dem italienischen Maler 1910/11 Revue passieren lassen und bewertet. Im Mittelpunkt steht das Bild des jungen, noch unbekannten, bettelarmen und intensiv suchenden und arbeitenden Künstlers in Paris. Achmatowa hat es liebevoll, elegisch und mit dem Blick auf die Seltsamkeiten einer Künstlerexistenz gezeichnet. Es entspricht nicht völlig den Realitäten, aber es ist vor allem deshalb wertvoll, weil es das spontane gegenseitige Verstehen der beiden jungen Künstler - Dichterin und Maler - ganz in ihren Anfängen, also fast noch ohne Werke, als wunderbaren Gleichklang über alle sprachlichen, kulturellen und künstlerischen Grenzen hinweg bewußt werden läßt. Achmatowa ging davon aus, daß Modigliani genau durch dieses Erlebnis zu seinen Achmatowa-Zeichnungen inspiriert worden war. Sie selbst mußte es so empfunden haben, daß sie eine literaturwürdige Antwort auf dieses Schlüsselerlebnis ihrer Jugendzeit bis dahin schuldig geblieben war. Ihr Essay liest sich auch als geheimnisvolle Liebesgeschichte, aus der die Achmatowa ihr Leben lang Zuversicht gewann und die sie offensichtlich als Teil ihrer Lebenslegende stark poetisiert hat. Joseph Brodsky aus dem Kreis ihrer engsten Freunde in den sechziger Jahren hat einmal scherzhaft auf «Romeo und Julia» angespielt, und Achmatowa hat ihm nicht widersprochen.
In vertraulichen Gesprächen machte Achmatowa kein Hehl daraus, wie unpassend und unnatürlich sie die Zeremonie mit Laudatio, Empfang, Lesungen und Begegnungen empfand. Mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Oxford wenige Monate später verhielt es sich nicht anders. Objektiv aber waren diese ersten und einzigen Auszeichnungen, die Achmatowa im Leben zuteil geworden sind, ein kaum zu überschätzendes und längst fälliges Ereignis. Achmatowa wurde erstmals als bedeutende russische Dichterin ins internationale Blickfeld gerückt. Damit begann auch die Zeit bedeutender Editionen und Übersetzungen ihres poetischen Werkes, durch die immer deutlicher wurde, wie sehr ihr Werk mit der westeuropäischen Literatur und Kunst seit seiner Entstehungszeit verbunden ist.
Am 5. März 1966 starb Anna Achmatowa in einem Sanatorium bei Moskau an den Folgen eines Herzinfarkts. Im engsten Kreis von Freunden fand am 9. März in Moskau eine Trauerfeier für die Dichterin statt, bevor ihre sterblichen Überreste per Flugzeug nach Leningrad überführt wurden. Dort, in der Nikolskij-Kathedrale, wurde sie aufgebahrt, zunächst ohne öffentliche Anteilnahme. Im Laufe des Tages jedoch fand sich eine immer größer werdende Menschenmenge in der Kathedrale ein, um Abschied von ihr zu nehmen. Das geschah völlig spontan. Mehrere Totenmessen wurden für sie gelesen. Von den bekannten Schriftstellern sah man bei diesen Messen niemanden.
Eine offizielle Totenfeier wurde vom Leningrader Schriftstellerverband veranstaltet. An ihr nahmen sehr viele Menschen, darunter zahlreiche Schriftstellerkollegen, teil. Am 10. März 1966 wurde Anna Andrejewna Achmatowa in Komarowo bei Leningrad, wo sich ihre Datscha befand, auf dem Waldfriedhof beerdigt. Ihren Sarg trugen unter anderen ihr Sohn Lew Gumiljow, der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky und Anatolij Naiman. Letzte Worte am Grab sprachen Sergej Michalkow, Gennadij Magogonenko und Arsenij Tarkowskij.
Heute ziert ein schlichtes Halbrelief von Achmatowa, das sie als junge Frau zeigt, die helle Steinmauer der Grabstätte, die von einem hohen orthodoxen Kreuz überragt wird.
An ihrem Grab liegen meistens frische Blumen - ähnlich wie auf dem von Puschkin in Michailowskoje oder von Tolstoj in Jasnaja Poljana. Komarowo war ihr letzter Schreibort. Heute ist er eine Pilgerstätte der traditionsreichen russischen Literatur:

Für mich in Komarowo die Fichten
Sie sprechen in ihren Sprachen.
Ganz wie die einzelnen Frühjahre
Stehn sie, himmeltrinkend, in Pfützen.[212]