Richard Wagner hat nicht nur jene spontane Bewunderung oder Ablehnung gefunden, wie sie auch anderen Künstlern und Neuerern widerfährt, bis sich aus zeitlichem Abstand das Urteil zu kritischer Analyse und Anerkennung beruhigt - sondern er hat Mit- und Nachwelt zu immer neuer Erregtheit, leidenschaftlicher Polemik und kuriosen Parteiungen Anlaß gegeben. Je weiter wir uns von seinem Leben und Wirken entfernen, um so deutlicher wird erkennbar, daß diese Aufregung um ihn nicht nur mit den spezifischen Schwierigkeiten seines Werkes zusammenhängt, sich in seiner Zeit durchzusetzen, mit der UnVerhältnismäßigkeit zwischen dem seiner Kunst innewohnenden Anspruch und den Voraussetzungen ihrer Rezeption. Mit ihm erschien auch ein neuer Künstlertypus, vor dem die zeitgenössischen Kategorien der künstlerischen und moralischen Einordnung sich als unzulänglich erwiesen. Weder der romantische Geniebegriff, noch das die Zunft beschwörende »Meisterliche«, noch das neu entstandene Berufsbild des freien, unabhängigen Künstler-Bürgers treffen auf ihn zu. Diese Diskrepanz zwischen Erscheinung und Begriff aufzulösen, ist im Fall Wagner bis heute nicht gelungen. Daher auch die zwanghafte Rückkehr zu den Quellen, zu den Zeugnissen, in das verrätselte Jahrhundert, in dem er lebte und das ihn prägte, zu seiner genialen und höchst widerspruchsvollen Figur.
Das ist auch der Grund für eine zusätzliche, über alle vergleichbaren Beispiele weit hinausgehende Neugier nach den persönlichen und privaten Umständen, unter denen das Drama zwischen Kunst und Leben sich abspielte. Denn ein Drama war es, ein für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisches zumal: zwischen Realität und Idee, zwischen Zeitverhaftung und Antizipation; ein Drama, das den sich nicht bedenkenden, zur Selbstverwirklichung entschlossenen Künstler notwendigerweise ins Zwielicht geraten ließ. Unter diesem Gesichtspunkt ist von der Einheit zwischen Werk und Charakter als »unumstößlichen Glaubensartikel« - so Pierre Boulez - für Wagner und die Epoche, die mit Wagner begann, wohl endgültig Abschied zu nehmen. Nicht die Heiligenlegende, sondern die Erkenntnis des Schillernden, Herausfordernden, Widersprüchlichen von Wagners Gestalt ist auch die sicherste Gewähr seiner ferneren Aktualität.
Das berechtige Interesse an der Kenntnis aller schriftlichen Überlieferungen seines Lebens wird noch verstärkt durch die mysteriösen Umstände, die sie umgeben. Es liegt eine seltsame Vertracktheit darin, daß Wagner dieses Interesse an sich und seinem Leben selbst gespürt oder zumindest geahnt hat, daß aber die großen Niederschriften, in denen er sich am zuverlässigsten gespiegelt glaubte, unter so komplizierten Bedingungen und Verzögerungen, begleitet von Zwischenfällen aller Art, der Nachwelt überkommen sind, daß sich darin geradezu die Geschichte ihrer Entstehung fortsetzt. Es handelt sich um zwei große Dokumente - von den Briefen einmal abgesehen, denen es auch nicht viel anders erging -, die das gesamte Leben Richard Wagners, mit Ausnahme einer kleinen, sehr bezeichnenden Lücke, vom ersten bis zum letzten Tag umgreifen und erzählen. Beide liegen in Cosima Wagners (anfangs noch: von Bülows) Handschrift vor: die Diktatniederschrift von Wagners Autobiographie »Mein Leben« und ihre eigenen Tagebücher. Die Autobiographie reicht bis in den Mai 1864, bis zur Begegnung mit König Ludwig II. von Bayern; die Tagebücher setzen am 1. Januar 1869 ein und enden mit dem Tod Richard Wagners am 13. Februar 1883.
Beide Niederschriften sind eng miteinander verzahnt. Das Diktat von »Mein Leben« läuft lange Zeit parallel mit dem Tagebuch Cosimas; das Tagebuch nimmt häufig Bezug auf die Autobiographie und war von Anfang an als deren Fortsetzung geplant. In einem Brief Richard Wagners an König Ludwig II. vom 21./22. Juli 1865, mit dem der Beginn der Arbeit an der Biographie angezeigt wird, heißt es: »Wir haben beschlossen, die Diktate bis zu meiner Vereinigung mit Ihnen, lieber Herrlicher, fortzusetzen: von dann ab soll Cosima allein die Biographie fortsetzen, und hoffentlich einst beschließen. Sie kann dies am besten, und wird es schön vollbringen.« Die folgenden vier Jahre nach dem zunächst euphorischen Auftakt der Freundschaft mit dem König, nach der Vertreibung Wagners aus München und unter häufigen Trennungen von Cosima, waren indessen zu unruhvoll und konfliktreich, als daß Cosima ihre Aufgabe als Chronistin schon hätte erfüllen können. Erst ihre endgültige Übersiedlung nach Tribschen am Vierwaldstätter See am 16. November 1868 ließ sie, nach kurzer Verzögerung, ihre über mehr als vierzehn Jahre reichende Niederschrift aufnehmen. Am 11. Oktober 1879 schreibt Wagner an den König: »Dabei führt sie für unseren Sohn ein ungemein genaues Tagebuch, worin jeder Tag im Betreff meines Befindens, meiner Arbeiten, meiner gelegentlichen Aussprüche u.s.w. aufgezeichnet ist.« Wie genau sie es damit nahm, zeigt die einzige zeitliche Pause in ihren Aufzeichnungen: da reiste sie einmal mit ihren Kindern allein, und über Wagner war nichts zu sagen.
Daß vorübergehend noch einmal daran gedacht war, die Autobiographie »Mein Leben« bis zur endgültigen Vereinigung mit Cosima Ende 1868 heranzuführen und die Lücke der Münchner und im Blick auf München verbrachten) Schweizer Jahre zu schließen, läßt sich sowohl durch eine Bemerkung in den Tagebüchern (21. Juni 1871) wie auch aus einem Brief Richard Wagners an Ludwig II. belegen. Warum es schließlich nicht dazu kam, warum das eigentliche Königs-Drama Wagners ausgespart blieb - mit Ausnahme kurzer Notizen in den sogenannten Annalen* (* s. Anm. zu 1. Jan. 1869) dafür liefern die Tagebücher im nachhinein genügend psychologische Motivationen; es gibt da einen bewegenden Augenblick (am 20. Juli 1871), da der weinende Wagner beklagt, »mit dieser einen Lüge würde er zu Grabe gehen« ... Noch im Brief vom 25. Januar 1880 schreibt er dem König, er habe seiner Frau versprochen, während seines Aufenthaltes in Neapel wo möglich täglich etwas aus seinem Leben zu diktieren, »und dies zur Fortsetzung der bereits ausgeführten Aufzeichnungen bis zu dem Zeitpunkt, wo endlich unsere volle Vereinigung dem Schicksale abgewonnen wird, und von wo an sie selbst die allergenauesten Aufzeichnungen über mich, mein tägliches Leben und Tun, niedergeschrieben hat, so daß nach meinem Tode mein ganzes Leben bis zur letzten Stunde meinem Sohne dereinst lückenlos vorliegen wird.« Nur lag es ihm dann nicht vor, und das ist eine verwickelte Geschichte.
Sie hängt zunächst zusammen mit dem raschen gesundheitlichen Verfall Cosima Wagners ab ihrer Lebensmitte**.(**zur Biographie Cosimas vgl. die Anmerkungen und die Zeittafel.) Bereits in den Tagebüchern ist von einer Abnahme der Sehkraft häufig die Rede, was sich auch auf Lektüre und Handschrift beeinträchtigend auswirkte (vgl. dazu den editorischen Nachbericht). Nicht nur im physischen Sinn scheint sie nach dem Tode Richard Wagners die Übersicht vorübergehend verloren zu haben: das Bild der »Herrin von Bayreuth«, das ihre Biographen zu-rechtstilisierten, bedarf wohl auch in diesem Punkt der Korrektur. Zeitweise diktierte sie ihre Korrespondenz den Töchtern und ließ sich vorlesen, und nach dem völligen Zusammenbruch Ende Dezember 1906 führte Eva allein ihre Korrespondenz, wodurch sich ein besonderes Vertrauensverhältnis herauszubilden begann. Nicht ohne Argwohn der Geschwister, wie man sich denken kann. Vor allem nach Evas Heirat und nachdem der Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain einen verhängnisvollen Einfluß auf das Haus Wahnfried gewann, verschärften sich die Konflikte innerhalb der Familie derart, daß es in den Jahren 1913/14 zu jenem in aller Öffentlichkeit ausgetragenen Sensationsprozeß mit der Wagner-Tochter Isolde kam, die, eine geborene von Bülow, inzwischen den Dirigenten Franz Beidler geheiratet hatte und vergeblich um die rechtliche
Gleichstellung mit ihren Wagner-Geschwistern kämpfte. Die älteste Bülow-Tochter Daniela, die nach ihrer Scheidung von dem Kunsthistoriker Henry Thode verbittert im Schatten der Familie lebte, behauptete jedenfalls in ihren Aufzeichnungen: »Im Jahre 1908 begann unser Elend- mit Evas Heirat.« Das war das Klima, und das war das Jahr, in dem die Tagebücher Cosima Wagners - nach Eva Chamberlains Erklärung und später mehrfach eidesstattlich bekräftigter Versicherung - in ihren Besitz übergingen. Oder vielmehr in ihr Eigentum, nicht in ihren unmittelbaren Besitz, denn am 25. Dezember 1908, zu dem Cosima Wagner ihrer Tochter Eva die Tagebücher als »Mitgift« zu ihrer Hochzeit mit Houston Stewart Chamberlain geschenkt haben soll, konnte sie die 21 Hefte gar nicht dem Archiv entnehmen; sie befanden sich nicht in Bayreuth.
Der Hausbiograph Carl Friedrich Glasenapp, der bereits seit 1876 an einer großen Lebensbeschreibung Wagners arbeitete, war mittlerweile bis zu seinem sechsten und abschließenden Band gelangt, als ihm Cosima Wagner gestattete, Einsicht in die Tagebücher zu nehmen. Auf ihre Veranlassung wurden die Tagebücher am 18. Januar 1907 dem Wahnfried-Archiv entnommen und Glasenapp übergeben. Er trug sie mit sich nach Riga, wo er wohnte und arbeitete. Von der Reise schrieb er noch gleichen Tages an Eva: »Welcher himmlische Segen, der mich da begleitet, mit welchen Gefühlen werde ich, in Riga angelangt, den Packen öffnen, um ihn sogleich wieder zu verschließen.« Er verschloß ihn natürlich nicht sofort, vielmehr zitierte er in aller Ruhe in seinem letzten Band, und es wird sogar vermutet, er habe sich eine Abschrift angefertigt, von der auch seine Helferin Helena Wallern Kenntnis gehabt haben könnte. Diese Abschrift soll später, als Helena Wallern, inzwischen Leiterin der Richard-Wagner-Gedenkstätte in Bayreuth, gestorben war, in Bayreuth verbrannt worden sein. Helena Wallern selbst, eine eifrige Sammlerin, wenn auch engherzige Hüterin des Erbes, könnte Eva Chamberlain durchaus mit dazu bestimmt haben, das Dokument für absehbare Zeit jedem Zugang zu entziehen.
Gemessen am Gesamtumfang fallen die Glasenappschen Zitate nicht ins Gewicht, und man kann auch nicht sagen, daß der Hausbiograph einen indiskreten Gebrauch gemacht hätte: er gab nämlich die Quelle nicht an, aus der er zitierte. Das Geheimnis wurde erst später durch den Cosima-Biographen Richard Graf Du Moulin Eckart gelüftet, der im wesentlichen dieselben Stellen übernahm und übrigens auch nicht genauer und zuverlässiger zitierte als Glasenapp. Direkte und indirekte Rede sind geändert, Satzanfänge erfunden, Sätze gekürzt oder ergänzt, Namen falsch entziffert. Es war dann Du Moulin Eckart, der nach einem nochmaligen Blick
in die Tagebücher, den Eva ihm gestattete, geurteilt hat: »Das Buch wird einmal, wenn es ohne Strich veröffentlicht werden kann, als eine der größten Kundgebungen unserer Zeit erscheinen, denn es umfaßt nicht bloß Tribschen, Bayreuth und Wahnfried, sondern gewissermaßen die ganze geistige und politische Welt ihrer Zeit.«
Am 23. März 1909 trafen die Tagebücher wieder in Bayreuth ein. Aber auch jetzt übernahm Eva die Tagebücher noch nicht; Chamberlains wohnten, bis ihr Haus jenseits der an Wahnfried grenzenden Straße fertiggestellt war, im Familienhaus Wahnfried. Daß die Tagebücher so lange am alten Ort verblieben, scheint demnach einzuleuchten. Nur wurde erneut versäumt, innerhalb der Familie für klare Verhältnisse zu sorgen; keiner wußte angeblich, was dem andern gehörte. Und Siegfried kam, trotz aller an ihn gerichteten Widmungen und Anreden, nicht auf den Gedanken, sich um die Tagebücher zu bemühen. Was ging da vor? Sollte er sie nicht einmal gekannt haben? 1911 erschien die erste öffentliche Ausgabe von »Mein Leben« - wie sich später herausstellen sollte, mit Streichungen und Eingriffen -, aber von der Fortsetzung sprach keiner mehr. Eva übernahm die Tagebücher in eigenen Besitz endgültig am 22. Oktober 1911. Ihrem Zeugnis zufolge soll ihre Mutter, als sie die 21 Hefte aushändigte, zu ihr gesagt haben: »Bei dir weiß ich sie geborgen.« Im Handschriftenkatalog des Wahnfried-Archivs machte Eva bei dem Titel »Tagebücher Cosimas« die eigenhändige Eintragung: »Sämmtliche Tagebücher wurden ihrer Tochter Eva seitens ihrer Mutter am 22. Oktober 1911 geschenkt und zur eigenen Aufbewahrung anvertraut.« Als die Familie Wagner nach dem Zweiten Weltkrieg die Gerichte bemühte, sah der Bundesgerichtshof im Revisionsurteil vom 26. November 1954 keinen Anlaß mehr für gegeben, das nicht mehr Aufklärbare aufzuklären, sondern ging von allen der Schenkung folgenden Verfügungen aus - und die waren rechtskräftig. Wer immer hätte Rechte anmelden können, er hätte es zu Lebzeiten Cosimas tun müssen.
Cosima Wagner und ihr Sohn Siegfried Wagner starben 1930 kurz nacheinander. Vermutlich 1931 schrieb Eva Chamberlain aus den Tagebüchern eine Reihe von Aussprüchen Richard Wagners ab und überließ sie vorübergehend dem Dirigenten Arturo Toscanini, der 1930/31 Festspielaufführungen geleitet hatte. Er gab sie noch vor 1935 zurück. Hans von Wolzogen benutzte die 130 Quartblätter der Abschrift als Druckvorlage für die Veröffentlichung in acht Heften der »Bayreuther Blätter« von Januar 1936 bis Dezember 1937. Am 24. Dezember 1937 schenkte Eva Chamberlain die Abschrift dieser ihr unbedenklich erscheinenden Stellen der Richard-Wagner-Gedenkstätte. Auch diese Abschriften waren übrigens nicht immer exakt. Das Konvolut blieb weiterhin für sonst jedermann verschlossen.
Laut einem Vertrag vom 20./21. Juni 1935 übergab nunmehr Eva Chamberlain die Tagebücher nebst Briefen der Stadt Bayreuth »als Geschenk für die Richard-Wagner-Gedenkstätte«, aber unter strengen Auflagen. Eine davon war, daß der damalige Archivar des Hauses Wahnfried, Dr. Otto Strobel, nicht als Leiter oder Mitarbeiter der Richard-Wagner-Gedenkstätte angestellt werden dürfe. Der Bayreuther Oberbürgermeister Dr. Karl Schlumprecht nahm mit einem Dankschreiben vom 21. Januar 1935 das Geschenk unter der gestellten Bedingung an. Das spätere Testament Eva Chamberlains vom 28. April 1939 ging noch weiter: es verlangte, daß Dr. Otto Strobel auch nicht in sonstiger Eigenschaft Machtbefugnisse über die Richard-Wagner-Gedenkstätte erlangen dürfe, daß ihm niemals Einblick in die Tagebücher gewährt und das Paket für die Dauer von dreißig Jahren nach Eva Chamberlains Tod bei der Bayerischen Staatsbank München hinterlegt werde. Die privatschriftlichen Testamente und Nachträge von 1941 setzten die Stadt auch als Erben der Urheberrechte ein, verfügten, daß die Tagebücher nach dreißig Jahren der Richard-Wagner-Gedenkstätte »zur Eröffnung und dauernden Aufbewahrung« zu übergeben seien, und legten die Art und Weise des wissenschaftlichen Zugangs fest.
Der Vorbehalt gegen Otto Strobel gründete sich gerüchtweise auf den inzwischen von ihm edierten Königsbriefwechsel, der angeblich abfällige und hämische Bemerkungen aufweise. Nach der Lektüre der Tagebücher verkehrt sich diese Begründung in ihr genaues Gegenteil: erst die Tagebücher, nicht die Kommentare Strobels, enthalten den kritischen Kontext zu dem Königsbriefwechsel, ja sie stellen ihn auf eine gewisse Weise bloß. Die Vorbehalte gegen Strobel waren in Wahrheit wohl tief persönlicher Natur: Otto Strobel hatte 1934, als er im Wahnfried-Archiv das Fehlen des Briefwechsels zwischen Richard und Cosima Wagner feststellte, polizeiliche Anzeige erstattet. Am 9. November 1934 hatte Eva Chamberlain daraufhin die schriftliche Erklärung vorgelegt, daß sie »die Sammlung Briefe meines Vaters, Richard Wagner, an meine Mutter, Cosima Wagner, bald nach dem Heimgang meines Bruders« und auf dessen ausdrücklichen Wunsch verbrannt habe. Siegfried war inzwischen vier Jahre tot.
Eva Chamberlain starb am 26. Mai 1942, das Testament trat in Kraft. Zum Glück überstanden die Tagebücher die Münchner Bombennächte. Mit dem Cosima-Urteil des Bundesgerichtshofs machten die Tagebücher 1954 in einer seither viel zitierten Begründung Justizgeschichte; der Bundesgerichtshof entschied, daß auch die Urheberrechte gemäß der rechtskräftigen Schenkung an die Stadt und der testamentarischen Verfügungen Eva Chamberlains bei der Stadt zu verbleiben hätten. Aber kein Ende der Prozesse: 1959 versuchte der Testamentsvollstrecker vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht zu erwirken, daß er die Tagebücher der Stadt übergeben dürfe, nachdem durch den Tod Dr. Otto Strobels der Hauptgrund, sie zu verbergen, entfallen war. Auch dieses Argument setzte sich nicht durch. Als am 26. Mai 1972 die Frist abgelaufen war, begann ein zweijähriger Rechtsstreit über die Aushändigung; die Stadt gewann. Am 12. März 1974 wurden die Tagebücher unter Polizeischutz nach Bayreuth gebracht und am 3. Juli 1974 von Oberbürgermeister Hans Walter Wild unter notarieller Aufsicht aus der Verschnürung gelöst. Nach umfangreichen Vorkehrungen für Aufbewahrung, Abschrift und Auswertung öffnete sich im Sommer 1975 endlich das Manuskript hundert Jahre nach seiner Aufzeichnung zum erstenmal der Forschung.
Erstaunlich ist zunächst die Quantität dieser Niederschrift, ihr episches Riesenmaß, würdig dem Jahrhundert der großen Dimensionen. Die schon oft zitierte Einleitung mit der Anrede an die Kinder ist wie ein seufzendes Atemholen, voller Ahnung, was da alles noch kommen könne. Man muß sich erst in diese Tagebücher einlesen, um den Reiz zu spüren, der von dem Neben- und Ineinander alltäglicher Probleme und großer kulturgeschichtlicher Exkursionen und Erörterungen ausgeht. Die große und die kleine Welt, so schreibt Cosima wiederholt, soll in diesen Gesprächen in Ordnung gebracht werden. Erstaunlich ist die Universalität der Dialoge, sind die Streifzüge durch historische, literarische, kunsthistorische und musikalische Epochen, der Fleiß, mit dem auch epigonale Werke und Ereignisse beachtet werden. Die Heiligen dieser Gespräche aber sind die griechischen Tragiker, Shakespeare, Cervantes, Calderon, Dürer, Bach, Mozart, Goethe, und vor allem - fast möchte man sagen - der eine Gott in Wagners Leben: Beethoven. Über Wochen, Monate hinweg steht Beethoven im Mittelpunkt der Gespräche und der »Hausmusik«, des Klavierspiels allein oder mit Freunden. Die Tagebücher machen noch deutlicher, wie sehr die Beschäftigung mit Beethoven die in diesen Jahren entstehende Komposition des III. Aktes »Siegfried« und der »Götterdämmerung« geprägt hat. Sie dokumentieren aber auch die Verschränkung von Biographie und Werk bei Wagner, wofür es zahlreiche Beispiele gibt. Im Dezember 1869 schreibt Wagner an Edouard Schure, dieses Jahr sei das glücklichste in seinem Leben gewesen, denn es habe ihm die Vereinigung mit Cosima und die Geburt eines Sohnes gebracht. Hörbar wird diese Lebenssituation in der optimistischen Musik des III. Aktes »Siegfried«, einer Komposition, die Wagner nach einer Unterbrechung von dreizehn Jahren im März 1869 wieder aufnahm. Fünf weitere Jahre vergehen, ehe sich, 26 Jahre nach der ersten Konzeption, der »Ring« schließt. Am 21. November 1874 vollendet Wagner in Haus Wahnfried die Partitur der »Götterdämmerung«, ein auch für die Psychologie der Tagebücher bemerkenswertes Datum, wie man sehen wird.
In dem dramaturgischen Protokoll, das Cosima notiert, bekennt sich Wagner, um nur einige Beispiele zu nennen, auch nach der Reichsgründung 1871 ausdrücklich zum Völkerfrühling 1848, ohne den der »Ring« nicht entstanden wäre; »Rheingold« wird als Bauernprozeß bezeichnet (der klar und deutlich Wotans Schuld zeige), Siegfried als Kasperl (den Fafner happen will), Hagen als Volksfigur, die Trauermusik als orchestraler, griechischer Chor. »Ring«-Interpretationen von George Bernard Shaw über die Hierarchie der Figuren, Thomas Manns über die Gestalt Siegfrieds oder Ernst Blochs über den offenen musikalischen Schluß der »Götterdämmerung« finden überraschende Bestätigungen.
Leidvoller ist das andere große Thema dieses ersten Bandes, Bayreuth. Zwar muß die Geschichte von Entstehung und Ablauf der ersten Bayreuther Festspiele 1876 in ihren äußeren Daten nicht revidiert werden -manches läßt sich sogar genauer sagen, als es hier manchmal in der Hast der Ereignisse aufgezeichnet ist -, doch unbeschönigt wird der aufregende Widerspruch zwischen Idee und Realität dieses Lebenszieles Wagners beschrieben: einerseits der Traum vom Beginn eines perikleischen Zeitalters, vom Asyl für das Edle und Gute einer neuen Kunst, auf der andern Seite schreibt Cosima von einem Qualhall, das auf einem Leidenshügel steht, einer Pyramide, die zugleich ein Grab ist, und Wagner erklärt seine häufigen Träume vom Geldbetrug durch den Alp, den ihm der Anblick des Theaters hinterläßt - als ob er ein Schwindler sei. Mit fast lakonischer Bitterkeit notiert Cosima im Juni 1873 die Bemerkung zweier Bauernweiber über das Festspielhaus: Ja, was hilft's, ist es fertig, so kommen wir doch nicht hinein!
Neben »Ring« und Bayreuth werden auch Werke wie »Tannhäuser«, »Lohengrin«, »Tristan«, »Meistersinger« und - ab 1877 - »Parsifal« kommentiert. Auch hierbei fällt auf, daß die aphoristischen Hinweise schärfere Schlaglichter setzen als die offiziellen Interpretationen Wagners, obwohl die persönliche wie die offizielle Seite des Kommentars den gleichen Grundtenor haben: Apologetik und Exegetik eines Künstlers, der, wie Cosima schreibt, eine Anomalie in unserer Zeit ist: »Er hätte zu Aischylos' Zeiten die Welt beglücken müssen, jetzt glaubt er das unauflösliche Mißverständnis zwischen sich und der Welt durch Erläuterungen zu lösen, und je mehr er spricht, um so tiefer wird die Kluft« (vgl. 4. Oktober 1869). Dennoch versucht Wagner auch mit den theoretischen Schriften dieser Jahre die Kluft zu überwinden: »Über das Dirigieren«, »Beethoven«, »Über die Bestimmung der Oper«, »Über Schauspieler und Sänger«, Schriften in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vorbereitung der Festspiele und vor allem mit der Herausgabe der »Gesammelten Schriften und Dichtungen«, von denen in dieser Zeit neun Bände erscheinen und sozusagen das theoretische Pendant zur Bayreuther Theateridee darstellen sollen. Daß sich unter den Schriften die 1869 wiedererscheinende Broschüre »Das Judentum in der Musik« befindet, rückt von Anfang an einen weiteren Problemkreis ins Blickfeld, den politisch-zeitgeschichtlichen, von dem noch zu reden sein wird. Die Vermutung, Cosima habe das Wiedererscheinen initiiert, läßt sich nunmehr widerlegen. Aber Wagner blieb für sie in allem, was er schrieb und tat, Offenbarung, Religion. Doch sollte man auch nicht vergessen, daß ihr die vielleicht schönste Komposition dieses Zeitraums gewidmet ist, das »Siegfried-Idyll«. Auch an Hand dieses Werkes zeigt sich die Verschränkung von Werk und Biographie.
Mit Akribie werden familiäre Fragen behandelt. Aber diese Nebenbeis, die Aufzählungen scheinbar nebensächlichster familiärer Zwischenfälle, sie gehören zu dieser Künstlerbiographie, es fehlte zudem etwas Wesentliches ohne ihre Insistenz, die ein geradezu Proustsches Klima erzeugt. Träume, oft kafkaesker Natur, Krankheiten, Selbstqual und Leiden - und das nicht nur auf Seiten des psychosomatisch äff izierten Künstlers, der in seinem Schwanken zwischen Hellsicht und Irrtum, Trauer und Aggression, seinem Glauben an seine Sendung und an eine weltweite Verschwörung gegen sein Werk, ohne diese minuziöse Zustandsbeschrei-bung wohl gar nicht zu verstehen wäre; sondern auch auf Seiten der Frau, die sich ihm verband, die mit ihm und für ihn litt und die einmal (1. März 1876) gar von einer »Wollust des Leidens« spricht, die sich in ihr ausbilde. Diese Grundstimmung der Tagebücher bedarf gründlicher Analyse, und nicht nur sie verändert das Bild, das die gängigen Biographen von Richard und Cosima Wagner liefern. Vor allem aber von ihr; denn gerade Cosimas Leidenspathos scheint auffällig dem Porträt der selbstbewußten, dominierenden, angeblich sogar herrschsüchtigen Frau zu widersprechen, das die Zeitgenossen in ihren Briefen und Erinnerungen fast übereinstimmend von ihr gezeichnet haben. Oder haben Selbstanklage und Selbstaufopferung das nach außen gekehrte Bild der »Herrin von Bayreuth« motiviert? Dann wäre das Schwinden ihrer Lebenskräfte bis zu völliger Apathie, bei äußerlich so enormer Lebensdauer, wohl eher zu verstehen.
Unter den biographisch-psychologischen Details ist schließlich der zeitgeschichtliche Roman freizulegen. Ereignisse wie der Deutsch-Französische Krieg, die Konstituierung des Deutschen Reiches, der Kulturkampf nach dem Vatikanischen Konzil und der Geist der Gründerjahre geben den historischen Grundtext ab. Dabei ist zu erinnern, daß Wagners Haltung zu Bayern und Ludwig II. auf der einen Seite, Preußen und Bis-marck auf der anderen noch in den letzten Jahren vor Beginn der Tagebuch-Niederschrift keineswegs so eindeutig war, wie es nun erscheinen könnte. Schriften und Briefe zeigen, daß er sich von Bayern anfangs ein kulturpolitisches Gegengewicht gegenüber Preußen versprach. Am 29. April 1866 schrieb er an Ludwig IL: »Mit welcher grauenhaften Frivolität hier mit den Schicksalen der edelsten, größten Nation der Erde gespielt wird: wie dort ein ehrgeiziger Junker seinen schwachsinnigen König auf das frechste betrügt und ihn ein unehrenwertes Spiel treiben läßt, vor dem, wenn er es erkannte, der rechtschaffene Monarch sich entsetzen würde...« Noch in den Verwirrungen um den Deutschen Bund riet er zuerst Ludwig IL, die Initiative zu ergreifen, während er (in einem Brief an Francois Wille, Juni 1866) Bismarck »und ähnliche« als »schlechte Copien des undeutschesten Wesens« bezeichnete: »Ich kann und will unter keiner Bedingung dem jungen König von Bayern zu einer Teilnahme an jener Politik geraten wissen...« Dagegen in einem Brief an August Röckel am 23. Juni 1866: »Willst und mußt Du noch Politik treiben, so - halte Dich an Bismarck und Preußen. Hilf Gott, ich weiß nichts andres.« Dieses Schwanken resultierte, wie früher schon mehrmals, aus einer Enttäuschung, die nicht nur persönlicher Art war (soweit sie nämlich die Förderung seines Werks betraf), sondern aus einem sehr unpragmatischen, im Grunde unpolitischen Verhältnis zur Politik. Immer kehrten bei ihm die gleichen Hoffnungen, Erwartungen, Forderungen wieder, die er jeweils mit einer Veränderung der politischen Umstände verknüpfte, und sie liefen jedesmal auf die gleiche Desillusionierung hinaus, sei es nun durch den sächsischen König, sei es durch Bayern und Ludwig IL oder schließlich durch jene Männer, die für ihn das Kaiserreich verkörperten und den »deutschen Geist«. Diese Vorbemerkung mag genügen, um die enthusiastischen wie die resignierten Äußerungen in ein Bezugssystem zu bringen. Die in den Jahren 1869 bis 1877 vertretenen politischen Auffassungen werden zudem durch Äußerungen der späteren Jahre, in Band II nachzulesen, noch einmal relativiert, aufgehoben oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt.
Die mehrmals in den Tagebüchern wiederkehrende Idee Richard Wagners, eine Geschichte des deutschen Wesens zu schreiben, erscheint tautologisch: Wagner lebte sie bereits, wenigstens was das 19. Jahrhundert betrifft! Er war ein Stück von ihr. Wenn von sehr verständigen Wagner-Kritikern, darunter Thomas Mann, das Werk Wagners als Selbstdarstellung und Selbstkritik deutschen Wesens empfunden worden ist, so ist die Biographie Wagners die gelebte Vorstufe dazu: ein Dasein in rasenden Widersprüchen, ein Austragen aller in der Zeit angelegten Tendenzen und Kontroversen in der eigenen Brust. Dazu gehören sozialistische und ständestaatliche Ideen, Heilslehren, die den Charakter verkappter Religionen annehmen, Erlösungsängste und Erlösungswünsche, Antisemitisches und Nationalistisches - und daneben das Erschrecken vor den Exzessen, vor der »Wacht am Rhein«. Kaum scheint das alles auf den Nenner einer Person zu bringen: Kriegsbegeisterung und Kriegsangst, Elitäres und humanitäres, humanes Engagement. Aber Wagner war Dramatiker - und wiederholte ständig, er wolle nicht bloß als Musiker oder gar als Schriftsteller verstanden wissen -; er war Dramatiker und dachte als Dramatiker, und im Werk gelang ihm die Aufhebung der Widersprüche in der Darstellung. Im Leben standen diese Gegensätze schroff und unvereinbar nebeneinander. Es ging ihm da wie mit seinen Gelegenheitskompositionen: wollte ihm etwas gelingen, mußte er erst den »großen Wagen« seiner Musikdramen anspannen... Die Tagebücher beschreiben auch diesen Prozeß.
Im übrigen sind sie ein treues Protokoll des Zeitgeistes, wie es wohl unverstellter kaum denkbar ist. Sie setzen in einem politisch brisanten Augenblick ein. Vorübergehend ist manches verdeckt, was erst in den letzten fünf Lebensjahren Wagners wieder zum Vorschein kommen wird und somit dem zweiten Band der Ausgabe vorbehalten bleibt. Die Zeitspanne des ersten Bandes umgreift auch die Geschichte einer Freundschaft: acht Jahre der Beziehungen zwischen Wagner und Nietzsche, kurz nach der vorangegangenen ersten Begegnung bei Schwager Brockhaus in Leipzig; dreiundzwanzig Besuche Nietzsches in Tribschen; dann die Jahre, in denen die Wege Wagners und Nietzsches auseinandergingen, bis hin zum letzten Treffen in Italien 1876. Die Tragik im Verhältnis beider zueinander ist aus der Nähe dieser frühen Jahre noch nicht auszumachen, es erscheint gleichsam noch »privatisiert«, obwohl die Gegensätze sichtbar werden. Noch war außer Nietzsches erster Huldigungsschrift »Richard Wagner in Bayreuth« nichts zum Fall Wagner publiziert und nichts nach außen gedrungen, was Nietzsches inneres Leiden an Wagner hätte verraten können.
Schließlich werden auch die Beziehungen Cosima und Richard Wagners zu Franz Liszt, zu Hans von Bülow und Ludwig II. bis in Grund und Abgrund ausgelotet, wobei die privaten Äußerungen Wagners über Liszt, dem er zeitlebens Dankbarkeit bewahrte, durch das gebrochene Verhältnis Cosimas zu ihrem Vater zumindest selektiert, wenn nicht sogar eingefärbt worden sein dürften. Die Beziehungen Wagners zum König dagegen sind in ein erbarmungslos helles Licht getaucht, ins Licht der Wahrheit; jedenfalls erscheinen sie nun in einem andren als dem des Königsbriefwechsels, dessen Stil einem genauen Rollenverhalten entsprach. Verblüffend ist Wagners Selbstinterpretation seines Briefstils, der wegen seiner abstrahierenden Hochgespanntheit von persönlicher Vernunft frei bleibe - anders könne er mit dem König nicht reden.
So sind es in der Quantität oft die kurzen, aphoristischen Bemerkungen, die das Verständnis für das Ganze eröffnen. Umgekehrt macht erst die Lektüre der gesamten Tagebücher das Gewicht und die Bedeutung der langen und beschwörenden Anrede Cosimas an ihre Kinder auf den ersten Seiten des Tagebuchs verständlich: der »wüste Traum«, von dem da die Rede ist, wird überwunden und besiegt von einem alle Konflikte und Zerwürfnisse kompensierenden Liebesdialog zweier Menschen, wie er sich wohl seit den Briefen der Romantiker nicht mehr ereignet hat. Es sind glühende Notate einer Frau, die im Lebenswerk ihres Mannes vollkommen aufging und der Nachwelt von sich selbst offenbar nichts andres überliefern wollte als diese eine große Leidenschaft ihres Lebens.
Dietrich Mack
Martin Gregor-Dellin