Judith Sargent Murray
Über die Gleichheit der Geschlechter, 1790
Schriftstellerische Arbeit: Gedichte, Essays, Theaterstücke. Dieser Essay wurde zuerst im Massachusetts Magazine, März 1790, publiziert und erstmalig wieder abgedruckt in The Feminist Papers, ed. Alice Rossi, 1973.
Murray gehört wie Abigail Adams zu den ersten Frauen in der neuen Welt, die angeregt von der Diskussion um die Bill of Rights, 1776, und die Unabhängigkeitserklärung an England die eigene soziale Lage reflektierten. Sie ist eine der ganz frühen geistigen Wegbereiterinnen der amerikanischen Frauenbewegung, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts organisiert.
Diese Übersetzung von Hannelore Schröder beruht auf dem Reprint von 1973.
Über die Gleichheit der Geschlechter
...Entspringt unsere Vorstellung, daß die Natur bei der Verteilung ihrer Gaben sehr parteiisch ist, wirklich reiflicher Überlegung? Ist es wirklich eine Tatsache, daß sie der einen Hälfte der menschlichen Gattung geistige Überlegenheit gegeben hat? Ich weiß, daß beiden Geschlechtern höhere Einsicht - wie auch das Gegenteil - gemeinsam sind. Aber, man erlaube mir die Frage, in welcher Hinsicht ist der Geist der Frauen so notorisch mangelhaft oder ungleich? Kann man nicht die intellektuellen Fähigkeiten mit vier Begriffen erfassen, als da sind: Phantasie, Vernunft, Gedächtnis und Urteilskraft.
Das Gebiet der Phantasie ist seit langem an uns abgetreten worden (...) Erfinden ist vielleicht die größte Anstrengung des Geistes. Dieser Zweig der Phantasie ist aber ganz besonders an uns übergeben, und seit undenkbaren Zeiten haben wir diese kreative Fähigkeit. Man beobachte die Vielfalt der Mode (ich weise das verächtliche Lächeln in die Schranken), die die Welt der Frau von der des Mannes unterscheidet und sie schmückt. Da sie sich fortgesetzt verändert, macht sie die Behauptung des Mannes problematisch, und wir sind bereit zu sagen: Es gibt etwas Neues unter der Sonne. Welche Spielerei, welches Übermaß an Vorstellungskraft, welche Kraft der erfinderischen Phantasie offenbaren diese fortdauernden Variationen!
Weiter kann man beobachten, daß wir doch schnell fähig sind, sogleich eine plausible Entschuldigung zu erfinden, wenn noch eben das törichte Verhalten unseres Geschlechts wirklich schlimm war, so daß unser Verhalten sogar in einem liebenwerten Licht erscheint. Ein anderes Beispiel unserer kreativen Fähigkeiten ist unser Talent für Verleumdung: Wie frisch-fröhlich erfinden wir einen Skandal? Welch ansehnliche Geschichte können wir in einem Augenblick ausspinnen, einfach aus der Kraft der überquellenden Phantasie? Wie oft ist der gute Ruf durch den phantasiereichen Geist einer Frau völlig ruiniert worden?
Wie einzigartig sind wir darin, eine Andeutung auszuschmücken? Wie leicht machen wir Verdacht zu fester Überzeugung, und Überzeugung - aufgeputzt durch die Macht der Beredsamkeit - stolziert zur Überraschung und Verwirrung nichtsahnender Unschuld davon. Manch einer wird vielleicht fragen, ob ich diese Tatsachen für hervorragende Eigenschaften unseres Geschlechts halte. Gewiß nicht, aber als Beweis ihrer kreativen Fähigkeiten, ihrer lebhaften Phantasie. Gewiß aber kann man darin ihre große geistige Aktivität sehen. Und wäre diese Aktivität in sinnvolle Bahnen gelenkt, welche guten Resultate würden daraus folgen. Ist die Nadel und die Küche genug, um die Fähigkeiten eines Menschen zu beschäftigen, der so angelegt ist? Ich denke, nein. Es ist vielmehr wahr, daß diese Tätigkeiten die intellektuellen Fähigkeiten brachliegen lassen. Damit sind sie frei für allerlei Spekulationen.
Haben wir einen Mangel an Vernunft? Wir können nur vernünftig argumentieren auf einem Gebiet, das wir kennen. Und wenn uns die Gelegenheit, Wissen zu erwerben, verweigert wird, so kann die Unterlegenheit unseres Geschlechts gerechterweise so nicht hergeleitet werden.
Gedächtnis, glaube ich, wird man uns allgemein zugestehen, denn jedermanns Erfahrung beweist, daß es redselige alte Frauen genau so oft gibt wie redselige alte Männer. Ihr Gegenstand ist in gleicher Weise aus dem Fundus alter Zeiten, und die Begebenheiten ihrer Jugend oder des reiferen Lebens unterhalten oder ermüden einen am Abend ihres Lebens.
»Aber unsere Urteilsfähigkeit ist nicht so gut, wir können nicht so klare Unterschiede machen.« Dennoch muß man einmal fragen, woher diese Überlegenheit und unterschiedliche Fähigkeit kommt. Müssen wir nicht die Ursache im Unterschied der Erziehung und in den anhaltenden Vorteilen suchen?
Kann man denn sagen, daß die Urteilsfähigkeit eines zweijährigen Knaben reifer ist als die eines Mädchens im gleichen Alter? Ich glaube, das Gegenteil wird im allgemeinen beobachtet. Aber von diesem Zeitpunkt ab - welche Parteilichkeit! Wie wird der eine durch die gegensätzlichen Erziehungssysteme in den Himmel gehoben, der andere niedergedrückt!
Dem einen wird gelehrt, nach Höherem zu streben, und der andere ist früh eingeschränkt und ihm werden Grenzen gesetzt.
Werden sie älter, muß die Schwester ganz domestiziert sein, während der Bruder an der Hand genommen und durch all die blumenreichen Pfade der Wissenschaft geführt wird. Nehmen wir an, daß ihr Geist von Natur aus gleich ist. Wer aber wird sich nun noch wundern über die sichtliche Überlegenheit, wenn die Sitte zur zweiten Natur wird! Nein, es erscheint als Natur. Und daß es so ist, zeigt die Erfahrung eines jeden Tages. Schließlich, im Erwachsenenalter angelangt, empfindet die nicht ausgebildete Frau die Leere, den Verlust, welche die ihr zugewiesenen Arbeiten auf gar keinen Fall ausfüllen können. Was kann sie tun? Den Büchern kann sie sich nicht zuwenden, oder wenn sie es tut, dann nur Romanen, damit sie nicht in den Ruf einer gelehrten Frau kommt. Denn welche Vorstellungen mit diesem Begriff verbunden werden, können viele bezeugen: Mode, Skandal und manchmal noch Schändlicheres werden genannt, um sie zu charakterisieren. Und wer weiß, wohin die Freiheiten, die sie sich herausnimmt, führen. Sie aber ist höchst unglücklich, sie empfindet den Mangel an geistiger Bildung. Ist sie unverheiratet, sucht sie vergeblich, die Zeit mit weiblicher Beschäftigung und Amüsement auszufüllen. Ist sie vereinigt mit einem Menschen, dessen Seele die Natur der ihren gleichmachte, so hat die Bildung ihn so hoch über sie gesetzt, daß sie an den geistigen Beschäftigungen, aus denen Befriedigung und Glück fließen, nicht teilnehmen kann, weil sie zu ungebildet ist. Ein Bewußtsein von Unterlegenheit, das jede Freude verbittert, quält sie.
Ist der Mensch, an den ein ihr feindlich gesonnenes Schicksal sie übergeben hat, ungebildeten und unfähigen Geistes, so ist sie in gleicher Weise mit Unglück geschlagen, nun weil sie einem Individuum eng verbunden ist, das sie verachten muß. Wären ihr aber die gleichen Lehrer erlaubt wie ihrem Bruder (jedoch mit etwas Aufmerksamkeit für ihre besonderen Bereiche), so würde einem vernunftbegabten Geist ein angemessenes Tätigkeitsfeld eröffnet. In Astronomie könnte sie einen Begriff von der Größe Gottes erhalten und sich ein Bild machen von seiner erhabenen und überlegenen Weisheit. In Geographie würde sie Gott in seiner Güte bewundern, und wie er die Erde für die Nöte und Freuden ihrer Bewohner geschaffen hat. In der Naturphilosophie würde sie die grenzenlose Majestät des Himmels, gekleidet in väterliche Herablassung zu den Menschen, anbeten. Und wenn sie die Tierwelt durchschreitet, würde sie die Güte des erschaffenden Gottes preisen. Ein Geist, solchermaßen beschäftigt, würde keine Zeit haben für amüsante Banalitäten, die unserem Geschlecht, sehr zu recht, vorgeworfen werden. Und die Frauen würden passende Gefährtinnen für jene, die sie eines Tages als ihren Schmuck betrachten sollen. Die jetzige Vielfalt der Moden würde dann einer Vielfalt der Interessen und Neigungen Platz machen und vielleicht zu einer Verbesserung der Wissenschaften führen. Und da wäre keine Zeit mehr für Verleumdungen und Zerstreuungen. Guter Ruf würde nicht geschädigt, wenn die lebhafte Phantasie des weiblichen Geschlechts durch ernsthaftes Nachdenken beschäftigt ist. Unnötige Besuche wären ausgeschlossen, und diese Sitte würde nur noch freiwillig, zum Vergnügen oder aus Verwandtschaft und Freundschaft gepflegt. Frauen werden diskret, ihr Urteil vernünftig. Und ihre Gefährten fürs Leben werden mit Bedacht gewählt, so daß eine unglückliche Ehe so selten wäre, wie sie jetzt häufig ist.
Wird man nun sogleich einwenden, daß diese Errungenschaften dann an die Stelle unserer häuslichen Pflichten treten, so antworte ich, daß alles in der weiblichen Wirtschaft Notwendige leicht und mit Erfolg getan wird. Und in aller Wahrheit will ich hinzufügen, daß die Frauen keine weiteren geistigen Ansprüche stellen, wenn sie ihre Ausbildung erlangt haben. Nein, während wir die Nadel handhaben oder die Familie beaufsichtigen, dann hat - ich wiederhole es - unser Geist volle Freiheit der Reflexion, dann kann die Vorstellungskraft sich in voller Stärke betätigen. Und dann sind unsere Gedanken einem rationalen Wesen angemessen, wenn nur früh genug die richtige Grundlage gelegt ist. Wenn wir fleißig sind, dann finden wir leicht Zeit, sie zu Papier zu bringen. Sollten aber andere Aufgaben zu sehr drängen, um das zu gestatten, so werden doch die Stunden der Konversation kultivierter und rationaler. Und würde noch immer geschrien: »Eure häuslichen Arbeiten sind genug!« - so würde ich ruhig fragen: Ist es vernünftig, daß ein Mensch, der bestimmt ist für die Unsterblichkeit, für die Freuden des Himmels, daß ein intelligentes Wesen, das die Ewigkeit in Kontemplation der Werke Gottes verbringen wird, hier auf Erden so erniedrigt sein soll, daß ihm keine anderen Gedanken erlaubt sind als die, die gebraucht werden für das Puddingkochen und das Kleider nähen? Es ist verächtlich, daß alle diese Zensoren der Verbesserungen für uns Frauen nicht noch einen Schritt weiter gehen und uns die zukünftige Existenz verweigern. Wenn sie konsequent wären, müßten sie das tun!
Ja, du herrschaftliches, du hochfahrendes Geschlecht, unsere Seelen sind von Natur den euren gleich. Der gleiche Atem Gottes beseelt, belebt und ermutigt uns. Und daß wir nicht tiefer gefallen sind als ihr, das können jene bezeugen, die die vielen Entmutigungen, durch die sie so schwer unterdrückt wurden, turmhoch mit größten Leistungen überragen.
Und obwohl ich die Liste gefeierter Personen auf beiden Seiten nicht kenne, kann ich doch aus Erfahrung, die ich in dem Kreis, den ich kenne, gemacht habe, sagen, daß ich zu dem festen Glauben gekommen bin, daß -vom Beginn unserer Zeit bis zum heutigen Tag es ebenso viele Frauen wie Männer gegeben hat, die allein durch die Kraft ihrer naturgegebenen Fähigkeiten die Krone des Verdienstes und den Kranz des Ruhmes -ganz ohne Hilfe - verdient haben.
Ich weiß, einige behaupten, daß, da die rohen körperlichen Kräfte des einen Geschlechts größer sind, folglich auch ihre geistigen Fähigkeiten größer sein müssen. Sie schließen also von der Beschaffenheit des vergänglichen, irdischen Leibes auf große Geisteskraft, gewissermaßen als Naturgesetz.
Aber wenn diese Schlußfolgerung richtig ist, dann muß der Mann den Siegeszweig an viele Exemplare aus der Tierwelt abgeben, denn viele seiner tierischen Brüder sind ihm an körperlichen Kräften überlegen. Mehr noch, wenn man diese Argumentation gelten lassen will, dann könnte man sehr viele Beweise - allein durch den Augenschein - dafür bringen, daß es offenbar viele robuste, maskuline Damen und feminine Herren gibt.
Ich glaube auch, Mr. Pope kann Größe des Geistes für sich beanspruchen, obwohl er mit einem schwachen Körper ausgestattet ist und durch sehr kleine Statur auffällt. Und sicher gibt es noch viele andere Beispiele, die man als Gegenbeweis anführen kann, um eine philosophisch so unhaltbare Meinung zu
bekämpfen. (...) Nebenbei bemerkt: wollten wir einräumen, daß Körperkraft irgendetwas beweist, und bedenken wir die Unparteilichkeit der Natur, so ist es sehr wohl denkbar, daß sie die Frau mit überlegenen Verstandeskräften ausgestattet hat - als Ausgleich für die Körperkraft des Mannes. Aber wir verwerfen diesen offensichtlichen Vorteil, denn für Gleichheit allein wollen wir streiten.
Constantia
Kommentar
Dieser frühe Essay ist für die feministische Ideengeschichte so wichtig, weil er zeigt, wie lange die »Natur-der-Frau-Ideologie« bereits von Frauen schon argumentativ bekämpft wird. »Natur« - dieser höchst ideologieträchtige Begriff, von Theologen wie Aufklärern gleichermaßen als Waffe gegen die Frauen geführt, wird selbst in der Gegenwart noch gegen die Frauen gewendet. Und das trotz fast zweihundertjähriger feministischer Aufklärung.
So wie sich die bürgerliche Sozialphilosophie in einem über mehrere hundert Jahre erstreckenden Diskussionsprozeß vom theologischen »Natur«recht ablöst, ein säkularisiertes Naturrecht entfaltet (im Hinblick auf die Frauen behielt man jedoch die scholastisch-irrationalen Vorstellungen bei) und dergestalt die Lebensgestaltung aus der Hand Gottes in die eigenen Hände legt, so führen Frauen eine geistige Auseinandersetzung gegen das »Natur«-Dogma, das ihnen von der Kirche wie von den »Aufklärern« gleichermaßen aufgezwungen wird: das Dogma, biblisch oder biologistisch argumentierend, soll verhindern, daß sie ihr Leben selbstbestimmend, politisch handelnd in die eigenen Hände nehmen.
Während für die »Emanzipation« des Bürgertums ganze Gelehrten-Scharen über eine lange Zeit die geistige Auseinandersetzung mit den irrationalen, aber mächtigen Gegnern führen können, fehlen den Frauen - noch bis in die Gegenwart - alle Bildungsprivilegien der Bürger-Patriarchen. Auch diese Autorin konnte nicht studieren oder gar ein Leben als ökonomisch gesicherte Privatgelehrte, Schriftstellerin oder Politikerin führen. Sie heiratete schon mit achtzehn Jahren, weil es für Frauen jenseits der Ehe keine Existenz gab, und man kann mit Sicherheit sagen, daß ihre schriftstellerische Begabung unter den Bedingungen des damaligen Familienlebens mehr erstickt als gefördert wurde.
Dennoch lösen sich sozialphilosophisch reflektierende Frauen in einem mühsamen Denkprozeß - mühsam, weil sie ungeschult sind und bewußt in Unwissenheit gehalten werden - von der irrationalen, von patriarchalen Philosophen verbreiteten »Natur«-Propaganda, die in die dualistische, philosophisch-spekulative Anthropologie mündet. Es ist ein entscheidender Schritt auf dem Wege der intellektuellen Emanzipation der Frauen, wenn sie das »Natur«-Dogma, diese Pseudoreligion, nicht mehr »glauben«, wenn sie die eigenen Erfahrungen und Beobachtungen höher stellen als die männliche Autorität. Dann werden sie fähig, die dualistische Anthropologie zu kritisieren und eine Gegen-Anthropologie zu entwickeln, die den Dualismus aufhebt und eine Umwertung der »Werte«, die willkürlich die »weiblichen« Eigenschaften a priori negativ setzen, vornimmt. Frauen werden fähig, den ideologischen Wust der Vermischung von »Natur« und Kultur, Wahrheit und Mystifikation, Realität und ihre Verschleierung, wahre Natur und »zweite Natur« zu scheiden. Die Frau als von der Kultur Deformierte und Amputierte - Produkt der patriarchalen Gesellschaft - begreift ihr Leben als machbar - durch Veränderung der Lebensbedingungen, für die sie allerdings kämpfen muß. - Wir wissen nicht, wie und wodurch die Autorin zu diesem philosophisch-anthropologischen feministischen Essay angeregt wurde, ob durch einen kirchlichen Traktat, eine Schrift von Rousseau oder einen anderen »Aufklärer« oder durch Diskussionen über die »Natur« der Frau, wie sie zur Alltagserfahrung jeder Frau gehören.
Der Begriff »Natur« spielte in der politischen Philosophie und Diskussion der Zeit eine zentrale Rolle. In der »Bill of Rights« von Virginia (vom 12. Juni 1776) heißt es: »Alle Menschen (»all men«, nicht all men and women; men wird synonym gebraucht für Männer, H. S.) sind von Natur (!) gleichermaßen frei... und besitzen gewisse angeborene Rechte ...«.
Die »menschliche Natur« berechtigt also zur Teilhabe an Rechten auf Freiheit, Leben, Eigentum, Glück und Sicherheit, ja auf Widerstand. - In der Unabhängigkeitserklärung, die in der Kongreßsitzung vom 4. Juni 1776 von allen dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika einstimmig angenommen wurde, beriefen sich die versammelten Männer auf das »Gesetz der Natur« - und Gottes, das sie nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, gegen den »Despotismus«, die Mißachtung der »Gesetze der Natur«, die für »alle Menschen« gelten, zu kämpfen, auch mit Waffengewalt. Die Berufung auf die »Natur« legitimiert also den politischen Aufstand und die eigene Machtergreifung im Staat, hier die eigene Staatsgründung und Unabhängigkeit vom englischen Vaterland. Anerkennt man diese Begründung, so muß man auch die Ansprüche der Frauen auf eben diese gleichen Rechte - und auf Rebellion — anerkennen. Diese Anerkennung wurde den Frauen Amerikas verweigert - von den Männern, die diese Ansprüche für sich in Wort und Tat vertraten. In den Erklärungen sprach man von »allen Menschen«, dachte aber selbstverständlich nur an alle männlichen Menschen, an alle freien Männer. Frauen, weil weibliche Menschen, das heißt, in den Augen der Männer minderwertige, nicht vollgültige Menschen, sollen sich nicht auf die »Gesetze der Natur« berufen, sollen keine Bürgerrechte haben. Da die amerikanischen Männer, Gesetzgeber und Politiker wie Theologen und andere Kulturproduzenten keineswegs den Frauen bürgerliche Gleichheit zubilligen wollten, trieben sie lautstarke Propaganda des Inhalts, das die »Natur« der Frau, die »Naturgesetze«, die für sie gelten, ganz andere seien als die der Männer, der Menschen im eigentlichen Sinne: es wurden statt einer Philosophie vom Menschen zwei Entwürfe, zwei Menschenbilder von zwei verschiedenen Arten Menschen mit äußerst gegensätzlichen »Naturen« propagiert. Dieses ideologische Mittel hatten schon die Kirchen in allen ihren Schriften, die Philosophen des antiken Roms und Griechenlands benutzt, um die Sklavenhalterei und die Versklavung der Frauen zu rechtfertigen: Menschen werden demnach mit einer »Sklaven-Natur« zum Dienen oder mit einer »Herren-Natur« zum Herrschen und Bedientwerden geboren.
In der jungen amerikanischen »Demokratie«, deren Vertreter tatsächlich die römische Republik als historisches Vorbild betrachteten, verfuhren die »Rebellen« gegen den englischen König sehr ähnlich: wie in den griechischen und römischen Sklavenhalterstaaten versklavten sie ihre Frauen und betrieben sie Sklavenhalterei an den geraubten und verkauften Afrikanern. Um diesen eklatanten Widerspruch und sozialen und politischen Mißstand in ihrem neuen Staatswesen zu entschuldigen, verbreiteten sie die Ideologie von der minderwertigen »Natur« der Frauen und der Neger. Diese politische Manipulation und ideologische Machination konnten die Frauen in den Jahren der Gründung der Vereinigten Staaten - und noch viele Jahre später - nicht durchschauen: sie »glaubten« häufig selbst, daß sie durch ihre weibliche Natur minderwertiger seien als Männer. Es bedurfte großen Selbstbewußtseins und rebellischer Geisteshaltung, um sich gegen die Autoritäten, die jegliche Macht auf ihrer Seite hatten, aufzulehnen.
Als politischen Protest, als »Kampf gegen den vulgären fast allgegenwärtigen Irrtum - die Superiorität des männlichen Geschlechts -, der als unantastbare Wahrheit betrachtet wird«, will die Autorin ihre Schrift verstanden wissen. Sie hat daher Argumente und Beweise gegen die »superiore Natur« des Mannes und die »inferiore Natur der Frau« zusammengetragen. Ihrer Meinung nach gibt es nur eine menschliche Natur, menschliche Eigenschaften, die unabhängig vom Geschlecht sind. Unterschiedlich ist das soziale Leben, die Ausbildung der Fähigkeiten: die Unterschiede sind künstlich produziert. Eine der wichtigsten Eigenschaften, die Denkfähigkeit und als Folge dieser die Fähigkeit zu »Vernunft«, wird den Frauen am hartnäckigsten ab- und den Männern zugesprochen (von Männern selbst, die sich selbst erhöhen, sich selbst als die von Natur aus Überlegenen ausrufen).
Daß der geistig Überlegene im Haus und im Staat regiert, hingegen die Unterlegenen, an erster Stelle die Frauen, dienen und gehorchen, das erscheint dann recht und billig, logisch und konsequent. Welcher vernünftige Mensch wollte dagegen rebellieren? Die Propaganda der bürgerlichen Patriarchen hat namens aller Männer mit diesen ideologischen Tricks aus der irrationalen Naturen-Lehre von Frau und Mann, deren zentrale Behauptung lautet, alle weiblichen Menschen sind geistig minderwertig und dem männlichen Menschen unterlegen, ein scheinbar rationales Argument gemacht.
Als Kriterien des menschlichen Geistes nennt Murray »Phantasie, Vernunft, Gedächtnis und Urteilskraft«, die selbstverständlich auch Frauen haben. Sie beruft sich dabei auf ihre eigene Beobachtung und eigene Erfahrung wie auf unterschlagene Beweise.
»Vernunft« ist nicht angeboren (und zwar allein den Männern angeboren), sondern durch Wissen, durch geistige Schulung erworben, folglich können Frauen sie erwerben, wenn die Männer sie endlich zu allen Bildungsmöglichkeiten zulassen, die sie bis jetzt für sich allein beanspruchen.
Nicht die »Natur«, sondern die »Erziehung« ist verantwortlich für die mangelnde Urteilsfähigkeit der Frauen (die auch Männern häufig fehlt). Denn aus der Doktrin von der doppelten Natur hat man auch noch die Notwendigkeit für ein doppeltes Erziehungssystem für weibliche und männliche Kinder hergeleitet: alles Wissen für den Knaben und Mann - Unwissenheit für das Mädchen und die Frau, bestenfalls so viel Kenntnisse, wie dem Manne dienlich sind. Murray hat dieses »System« bereits sehr deutlich erkannt und scharfsinnig kritisiert. Sie nimmt Erkenntnisse vorweg, die Frauen in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten sich erneut und wiederholt erarbeiten und die viel später durch wissenschaftliche, nicht antifeministische Forschung bestätigt werden.
Die soziale Deformation (entstanden unter anderem durch den Ausschluß von geistiger Arbeit), die generell als eigentliche und ewig unveränderliche weibliche »Natur« betrachtet wird, wird von ihr bereits als »zweite Natur« bezeichnet. Mit dieser Erkenntnis ist sie auch den kritischen männlichen Zeitgenossen weit voraus und überlegen. Selbst in anderen kontroversen Fragen nichtkonforme Männer diffamierten damals wie heute die »gelehrte Frau«. Denn die ausgebildete und intellektuell geschulte Frau ist es, die den Männern beweisen kann, daß sie nicht geistig überlegen sind, daß ihre Behauptungen über die eigene Überlegenheit und die Unterlegenheit der Frauen unwahr, eine bewußte oder unbewußte Diffamierung sind.
Jede Männergesellschaft fürchtet, daß die patriarchalen Ehen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind, daß die Frauen, wenn ausgebildet, keine Hausarbeit, keine Dienste mehr für sie verrichten und daß sie gleiche bürgerliche und politische Rechte fordern werden.
Murray weiß das; um ihrer Forderung nach Bildung für die Frauen eine Chance zu geben - sie schreibt im Jahre 1790! -, schildert sie die »Vorteile«, die aus der Bildung der Frauen fließen werden, dergestalt, daß eventuell einige Männer für diesen Gedanken gewonnen werden können - denn das öffentliche Schulwesen lag allein in Männerhand. Gegen die »Zensoren der Verbesserungen für uns Frauen« hat sie keinerlei Waffe als die vernünftige, rationale Argumentation - und geschickte Taktik. Dennoch schreibt diese frühe Feministin mit bewundernswertem Selbstbewußtsein, scheut sie vor stellenweise sehr scharfer und freimütiger Kritik und auch vor Ironie nicht zurück, denn »für Gleichheit« will sie streiten.
Frauen von Seneca Falls Deklaration der Meinung, 1848
Die Autorinnen dieser Deklaration sind zugleich die Begründerinnen der organisierten amerikanischen Frauenbewegung. Sie kamen zum Teil aus den Anti-Slavery Societies, in welchen sie seit Jahren für die Emanzipation der schwarzen Sklaven tätig waren. Sie hatten in den dreißiger Jahren etwa hundert eigene Organisationen, verbreitet über viele Staaten, gegründet; weiße und schwarze Frauen arbeiteten zusammen. In den Jahren 1837-1839 hielten sie jährlich die Anti-Slavery Convention of American Woman ab, Treffen von Frauen aus dem ganzen Land, die von der Kirche, von Sklavenhaltern und Männern, vom Mob der Straße bedroht wurden. Viele Frauen unterrichteten Sklaven im Lesen und Schreiben. Sehr bald wurden auch die Rechte der Frauen Gegenstand ihrer politischen Aktivitäten, mußten sie doch erkennen, daß sie keinen Anteil an der Gesetzgebung hatten. Sie beriefen sich in ihren Schriften und Reden auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gleichheit von Mann und Frau vor Gott.
Männliche Abolitionisten (Angehörige der Bewegung gegen die Sklaverei) wollten die Frauenfrage unterdrücken und Frauen als Mitglieder dieser politischen Gesellschaften ausschließen. 1840 auf der World Anti-Slavery Convention in London wurden die amerikanischen Frauen, die als Delegierte gekommen waren, auf Beschluß der männlichen Teilnehmer von den Sitzungen ausgeschlossen.
Zwei der betroffenen Frauen, Lucretia Mott und Elisabeth Cady Stanton, beschlossen, in Amerika eine »Woman's Rights Convention« einzuberufen, um die Rechte der Frauen zu behandeln. Es dauerte jedoch noch acht Jahre, ehe das möglich war: 1848 in Seneca Falls. Außer den zwei obengenannten Frauen hatten Martha C. Wright, Jane Hunt und Mary Ann McClintock das Treffen vorbereitet. Es war bereits ein erstes Ergebnis und ein politischer Höhepunkt jahrzehntelanger vorausgegangener Diskussionen, an denen Tausende von Frauen teilgenommen hatten: Lucy Stone, Sojourner Truth, Harriet Tubman, Maria Weston Chapman, Charlotte Forten, Lydia Maria Child, Angelina und Sarah Grimke.
Die »Declaration of Sentiments« wurde von den Frauen des Kongresses einstimmig angenommen.
Dieser Übersetzung von Hannelore Schröder liegt zu Grunde: Report of the Woman's Rights Convention held at Seneca Falls, N. Y., July 19th & 20th, 1848 (Rochester: John Dick, 1848), p. 5-7. Reprint: Woman Together, A History in Documents of the Women's Movement in the United States by Judith Papachristou, New York 1976.
Deklaration der Meinung
Wenn es im Laufe der menschlichen Geschichte für die eine Hälfte der Menschen-Familie notwendig wird, eine Stellung unter den Menschen der Erde zu verlangen, verschieden von der, die sie bisher eingenommen hat, zu welcher aber die Gesetze der Natur und Gottes sie berechtigt, so verlangt die schuldige Achtung für das Urteil der Menschheit, daß sie die Gründe darlegt, die sie zu dieser Handlung zwingen.
Wir halten diese Wahrheit für offenbar und selbstverständlich: daß alle Männer und Frauen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, so da sind: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück; daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen eingesetzt sind, die ihre legitime Macht aus der Zustimmung der Regierten erhalten. Wenn immer eine Regierung diesen Zwecken nicht dient, sondern sie zerstört, dann ist es das Recht derjenigen, die unter ihr leiden, ihr die Loyalität zu verweigern und auf Einberufung einer neuen Regierung zu bestehen, einer Regierung, die auf den genannten Prinzipien beruht und die ihre Macht dergestalt organisiert, daß sie in Zukunft den Zwecken der Sicherheit und des Glücks der Menschen dient.
Besonnenheit jedoch fordert, daß langjährige Regierungen nicht wegen unbedeutender und zeitweiliger Schwierigkeiten ausgewechselt werden; dem entspricht die Erfahrung, daß die Menschen mehr dazu neigen, zu leiden, so lange die Übel erträglich sind, als selbst Gerechtigkeit herzustellen indem sie das Regierungssystem abschaffen, an das sie gewöhnt sind. Aber wenn eine lange Folge von Ungerechtigkeiten und Übergriffen, immer auf das gleiche Ziel gerichtet, die Absicht erkennen läßt, sie absoluter Despotie zu unterwerfen, so ist es ihre Pflicht, eine solche Regierung zu stürzen und neue Hüter ihrer zukünftigen Sicherheit einzusetzen.
Dergestalt war bisher das geduldige Leiden der Frauen unter dieser Regierung, und dergestalt ist nun die Notwendigkeit, die sie zwingt, gleichen bürgerlichen Rang, der ihnen zusteht, zu verlangen.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte wiederholter Ungerechtigkeiten und Übergriffe von seiten des Mannes gegenüber der Frau mit dem Ziel der Errichtung einer absoluten Tyrannei über sie. Um das zu beweisen, sollen einer vorurteilslosen Welt Tatsachen unterbreitet werden:
- Er hat ihr niemals erlaubt, ihr unveräußerliches Recht auf politische Wahl auszuüben.
- Er hat sie gezwungen, sich Gesetzen zu unterwerfen, bei deren Zustandekommen sie keine Stimme hatte.
- Er hat ihr Rechte verweigert, die er den ignorantesten und niedrigsten Männern, Einheimischen und Ausländern, einräumt.
- Solchermaßen dieses ersten Bürgerrechts, nämlich des Wahlrechts, durch ihn beraubt und dadurch am Ort der Gesetzgebung ohne Repräsentanten gelassen, hat er sie in jeder Hinsicht unterdrückt.
- Er hat sie als verheiratete Frau in den Augen des Gesetzes bürgerlich totgesagt.
- Er hat ihr alles Recht auf Eigentum genommen, sogar das Recht auf Lohn, den sie selbst verdient hat.
- Er hat sie zu einem moralisch verantwortungslosen Wesen gemacht, da sie viele Verbrechen ohne Strafe begehen kann, wenn sie in Gegenwart des Ehemannes geschehen.
In der Heiratszeremonie wird sie gezwungen, ihrem Ehemann Gehorsam zu versprechen, der Herr aller Absichten und Bestrebungen wird: das Gesetz gibt ihm die Macht, sie ihrer Freiheit zu berauben und körperliche Züchtigungen anzuwenden.
Er hat in den Scheidungsgesetzen bestimmt, was die eigentlichen Gründe sein sollen, und im Trennungsfalle, an wen die Vormundschaft über die Kinder gegeben wird; alles in völliger Mißachtung des Glücks der Frau. Die Gesetze beruhen in jedem Falle auf der falschen Annahme der Überlegenheit des Mannes und geben ihm alle Macht in die Hand.
Ist sie als verheiratete Frau aller Rechte beraubt, so besteuert er die ledige, wenn sie Eigentum besitzt, zum Nutzen einer Regierung, die sie nur dann anerkennt, wenn sie Gewinn aus ihrem Eigentum ziehen kann.
Er hat fast alle einträglichen Berufe monopolisiert; für diejenigen, die sie ausüben darf, erhält sie völlig unzureichenden Lohn. Er versperrt ihr alle Wege zu Wohlhabenheit und Ansehen, die er für sich selbst als höchst ehrenhaft betrachtet. Als Lehrer der Theologie, der Medizin oder des Rechts gibt es die Frau nicht.
Er verweigert ihr die Möglichkeiten, eine gründliche Ausbildung zu erwerben: alle höheren Bildungsstätten sind ihr verschlossen. - In der Kirche und im Staat räumt er ihr eine höchst untergeordnete Stellung ein und beruft sich auf die apostolische Autorität, wenn er sie vom geistlichen Amt und von jeder öffentlichen Mitwirkung an der Verwaltung der Kirche ausschließt; von einigen Ausnahmen abgesehen.
- Er hat die öffentliche Meinung irregeleitet, indem er der Welt eine für Männer und Frauen unterschiedliche Sittenlehre präsentierte, wonach moralische Vergehen, deretwegen Frauen aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, bei Männern nicht nur toleriert, sondern als geringfügig beurteilt werden.
- Er hat das Vorrecht Jehovas selbst an sich gerissen, indem er das Recht beansprucht, für sie ein Betätigungsfeld zu bestimmen, etwas, was allein ihrem Gewissen und ihrem Gott zusteht.
- Er hat mit aller Gewalt und in jeder denkbaren Weise versucht, ihr Vertrauen in ihre eigene Kraft zu zerstören, ihren Selbstrespekt zu schmälern und ihren Willen so zu beugen, daß sie bereit ist, ein Leben in Abhängigkeit und Erniedrigung zu führen.
Angesichts dieser völligen Rechtlosigkeit der einen Hälfte der Menschen dieses Landes, angesichts ihrer sozialen und religiösen Erniedrigung, angesichts der ungerechten Gesetze, die wir oben genannt haben und weil die Frauen selbst sich ungerecht behandelt, unterdrückt und in betrügerischer Weise ihrer heiligsten Rechte beraubt fühlen, bestehen wir jetzt darauf, daß sie sogleich Zugang haben zu allen Rechten und Privilegien, die ihnen als Bürger der Vereinigten Staaten gehören.
Nun, da wir mit dem großen Werk, das vor uns liegt, beginnen, sehen wir nicht wenige Mißverständnisse, Verfälschungen und Spott voraus. Aber wir werden alle in unserer Hand liegenden Mittel nutzen, um unser Ziel zu erreichen. Wir werden Mitarbeiter anstellen, Schriften zirkulieren lassen, Petitionen an die Gesetzgeber in den Bundesstaaten und in Washington richten, und wir werden versuchen, die Kanzel und die Presse für unsere Sache zu gewinnen. Wir hoffen, daß dieser politischen Versammlung eine Reihe weiterer Versammlungen im ganzen Land folgen wird.
Kommentar
Diese Frauen-Deklaration ist eine Gegenerklärung und zugleich eine eigene Unabhängigkeitserklärung zur »Unabhängigkeitserklärung« (der amerikanischen weißen freien Männer) vom 4. Juli 1776 an den englischen König. Die Siedler, eine ökonomisch erstarkte Klasse von Kleinbürgern, Farmern und Sklavenhaltern, stellten Prinzipien für bürgerliche Rechte und politische Unabhängigkeit vom englischen Staat und König auf und berief sich dabei auf »Gesetze der Natur und ihres Schöpfers«. Es muß vorausgeschickt werden, daß in den vorausgegangenen Monaten des Jahres 1776 in den Einzelstaaten Verfassungen ausgearbeitet worden waren, denen eine Erklärung der Rechte (Bill of Rights) vorangestellt wurden. Die bereits im Besitz der politischen Macht befindlichen Männer erklären sich selbst zu Vertretern der »Bevölkerung« oder des »Volkes«. In einer Reihe von »Artikeln« verkünden sie die »Freiheiten« des bürgerlichen Individuums und entwickeln aus Ideen der Naturrechtsphilosophien ihre Vorstellungen für die praktische Politik, vor allem die Idee der Volkssouveränität.
Sie knüpfen an die englische bürgerrechtliche Tradition der Sicherung des Bürgers vor willkürlichen Eingriffen der königlichen Obrigkeit und des Anspruches auf politische Vertretung an. Die Bill of Rights, 1689, und die Habeas Corpus Akte, 1679, waren die historischen Vorbilder. - Diese Erklärung der Rechte wurde jeder Verfassung vorangestellt. Artikel 1 proklamiert »Alle Menschen sind von Natur gleichermaßen frei ...«, und aus diesem Naturrecht sind alle bürgerlichen und politischen Rechte herzuleiten, vor allem das Wahlrecht. Artikel 6 formuliert eindeutig, daß nur männliche Menschen in Betracht gezogen wurden (»Die Wahlen der Männer als Abgeordnete ...«). Diese »Bills of Rights«, hier die von Virginia vom 12. Juni 1776, sind also zugleich welthistorische Dokumente des politischen Antifeminismus der jungen »Demokratie«, die eben keine Volksherrschaft plante. - Soweit die Verfassungen und die Grundrechte der einzelnen Staaten.
Die Unabhängigkeitserklärung vom Juli 1776 ist die gemeinsame Erklärung an den politischen Feind und Unterdrücker - den König.
An diese beiden amerikanischen politischen Dokumente schließen die Frauen 1848 an. So lange hat der Prozeß der Bewußtwerdung ihrer Diskriminierung in den »Menschen- und Bürgerrechten« der Männer gedauert, so viele Jahrzehnte waren nötig, um die unter schwerer Arbeit, Unbildung, Armut, den moralischen Normen anständiger Weiblichkeit und der religiösen Ideologie niedergehaltenen Frauen zu kollektivem politischen Handeln und zum Artikulieren ihres Protestes fähig zu machen.
Ihre »Deklaration der Meinung« ist teilweise eine Paraphrase auf die Unabhängigkeitserklärung; sie greift die wichtigsten Prinzipien auf, hat aber einen völlig anderen politischen Inhalt: die Tatsache dieser Gegenerklärung von Seiten der Frauen macht den innenpolitisch bornierten patriarchalen Herrschaftscharakter der vermeintlich revolutionären und grundlegenden »Deklaration« sichtbar, die das Fundament des neuen Staatenbundes ist: Frauen und Negersklaven wurden nicht in die Menschen- und Bürgerrechte und folglich nicht in die politischen Rechte einbezogen; und das war zu keiner Zeit auch nur erwogen worden. Wie die amerikanischen (männlichen) Bürger gegen das Königtum mit einer langen Aufzählung der Mißstände und Willkürmaßnahmen protestiert hatten, so wenden sich jetzt die entrechteten Frauen gegen eben jene Bürger - die zugleich ihre Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne sind. Es ist der gleiche schwere politische Vorwurf: Machtmißbrauch, ja Despotie. Die Verkünder der Gleichheit der Menschen- und Bürgerrechte werden von den Frauen ihres Landes der Doppelzüngigkeit, der politischen Heuchelei und Inkonsequenz überführt. Für die Glaubwürdigkeit der Politik der Demokratie eine sehr peinliche Lektion: für Männer in der Politik bis heute nicht akzeptiert, da sie nicht widerlegbar ist und zudem von Frauen, den von ihnen politisch für unfähig erklärten, ausgesprochen wird.
Diese historische Tatsache wird daher bis heute von den Männern der Wissenschaft unterschlagen.
Die Ideologie der allgemeinen Gültigkeit der Männer-Deklaration wird entlarvt durch den Aufstand der »einen Hälfte der Menschen-Familie«, die sich in gleichem Maße berechtigt fühlt, das Gesetz der Natur für sich zu beanspruchen. »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« wie auch das Recht auf Widerstand, werden von den Frauen für die Frauen selbst, aber zugleich für alle verlangt, und sie meinen »alle Männer und Frauen« und zweifellos auch die Sklaven.
Damit ist diese Deklaration der Frauen viel demokratischer, wirklich allumfassend gültig, viel radikaler und progressiver. Die Frauen transzendieren das »System«, das bestenfalls »Demokratie« für eine Minderheit von Männern geplant hatte, die diesen Begriff, diesen Anspruch legitimerweise nicht für sich geltend machen können. Denn das »Volk« eines Landes ist nicht vertreten, wenn über 50% des Volkes ausgeschlossen sind, zudem noch ca. 10% der schwarzen Bevölkerung und die Ureinwohner, die Indianer. Mindestens 70% des Volkes sind an dieser Demokratie - Herrschaft des Volkes - nicht beteiligt!
Die Deklaration der Frauen mit ihrer Forderung nach »unveräußerlichen Rechten« für sich selbst, nämlich »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«, beinhaltet einen emphatischen Protest gegen das Leben, das ihnen in der neuen Welt - wie in der alten - von den Männern zugedacht war und abverlangt wurde: kein Recht auf ein eigenes Leben, Unfreiheit und Verzicht auf jegliches Glück, auf all das, was der Mann für sich als Glück erachtete.
Dieser theoretische Entwurf des frühen amerikanischen Feminismus ist auch deshalb so interessant, weil in ihm die antagonistischen Interessen der Parteien und die Parteien selbst völlig eindeutig erkannt sind und benannt werden: Da wird das »Leiden der Frauen« der Willkür der Regierung der Männer gegenübergestellt und ein Katalog der Mißstände aufgestellt, Mißstände, für die der Mann verantwortlich ist: die soziale Degradierung unter das Niveau der niedrigsten Männer allein auf Grund des Geschlechts, die Entrechtung in der Ehe und in der Gesellschaft wie im Staat, der Raub an ihrem Eigentum, die Entmündigung und Erniedrigung durch Gehorsampflicht und Züchtigung, der Raub an ihren Kindern, die Verweigerung von Bildungs- und Er-werbsmöglichkeiten und die Doppelmoral, die die Frau straft und den Mann freispricht.
Die Interessen der Frauen stehen denen der Männer also antagonistisch und unversöhnlich gegenüber: die Ideologie der Interessenidentität zwischen Männern und Frauen ist völlig unhaltbar geworden. Darin liegt eine radikal-feministische Gesellschaftskritik, wie sie in der Gegenwart an Eindeutigkeit noch kaum wieder erreicht ist. Diese theoretische Einsicht gilt aber nicht allein für das Amerika der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und bis in die Gegenwart und selbstredend nicht allein für Amerika, diese Erkenntnis hat für die gesamte Geschichte generell Gültigkeit. Dieses Dokument ist zugleich der Beginn einer radikal-feministischen Geschichtsbetrachtung: »die Geschichte der Menschheit« ist eine Geschichte des sozialen Kampfes zwischen Männern und Frauen, »eine Geschichte wiederholter Ungerechtigkeiten und Übergriffe von seiten des Mannes gegenüber der Frau«, also ein fortdauernder Kampf der männlichen Klasse gegen die weibliche zwecks »absoluter Tyrannei« über die Frauen.
Im gleichen Jahr formulierte, in jeder Hinsicht entfernt von dieser Sozialrevolutionären Bewegung in Amerika, in Europa ein Mann eine gleichlautende Einsicht: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf ...« (K. Marx, Kommunistisches Manifest, 1848). Den Klassengegensatz zwischen Männern und Frauen hat er nicht berücksichtigt, weil er andere politische Interessen hatte als die Befreiung der Frauen, nämlich die der männlichen Proletarier. Er hat aber erkannt,
daß das Verhältnis Männer-Frauen (das System der Ehen) ein Herrschafts- und Eigentumsverhältnis darstellt, in weichern die »Frau ein bloßes Produktionsinstrument« des Mannes ist, das von ihm ausgebeutet wird, und »daß es sich eben darum handelt, die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben«.
Eben darum geht es den amerikanischen Frauen, denn die Revolutionierung der patriarchalen Gesellschaft wird nur durch sie selbst vollzogen werden. - Die amerikanischen Frauen erkennen, daß der Mann die Macht über ihre Person und ihre Arbeitskraft hat, wenn sie sagen »Er hat ihr (der Frau, H. S.) alles Recht auf Eigentum genommen, sogar das Recht auf den Lohn, den sie selbst verdient hat.« Wie die Sklaven ist sie seiner unkontrollierten Gewalt, sogar der körperlichen Züchtigung unterworfen.
Die amerikanischen »Demokraten« sind nicht nur Sklavenhalter, sondern sie halten auch die Frauen des Landes in ehelicher Sklaverei.
Die Wissenschaft, die sich mit der Demokratietheorie beschäftigt, hat diesen eklatanten politischen Mißstand in der Theorie und Praxis der Geschichte der USA noch immer nicht zur Kenntnis genommen. Die Jubiläumsfeiern zum zweihundertjährigen Bestehen der Vereinigten Staaten, 1976, waren gekennzeichnet von blinder und arroganter Selbstverherrlichung und unkritischer männlicher Selbstbespiegelung.
Selbst zweihundert Jahre nach Gründung dieser Männerdemokratie ist kein Amendment in die Verfassung aufgenommen, das die Gleichberechtigung des weiblichen Volkes in Amerika verfassungrechtlich gebietet. Die Frauenbewegung kämpft seit vielen Jahrzehnten um ein »Equal Right Amendment« (ERA), und gerade in diesen Jahren ist der politische Kampf darum wieder heftig.
Die Regierungen der USA sind also seit der Staatsgründung bis zum Jahre 1920 (der Ratifizierung des 19. Amendments betreffend die Einführung des Frauenwahlrechts) illegitime: die regierten Frauen, das weibliche Volk, hat seine Zustimmung weder geben noch verweigern können, weil es, unmündig und rechtlos, überhaupt nicht gefragt wurde.
Das gleiche Wahlrecht hat sich die Frauenbewegung in einem langen und harten politischen Kampf erobert, aber viele andere gleiche Rechte werden noch immer verweigert: das Gebot der Gleichheit der Frauen muß in der amerikanischen Verfassung verankert werden, und erst wenn das geschehen ist, kann eine umfassende Rechtsreform beginnen, die den Frauen in allen Bereichen des Rechts - vor allem im Eherecht - die Gleichheit gesetzlich sichert.
Die traditionellen Wissenschaften dienen diesen politischen Mißständen, dienen der Rechtlosigkeit und Diskriminierung der Frauen -durch Totschweigen und Produktion immer neuer Ideologie. In den Textsammlungen politisch-historischer Dokumente sind die welthistorisch bedeutsamen Deklarationen der Frauen nicht aufgenommen.
Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791 und diese Deklaration der Meinung der Frauen von Seneca Falls, 1848, zu den welthistorisch bedeutsamsten für die Frauen der Welt zählen und damit auch für die Männer der Welt, denen der Gehorsam aufgekündigt und die Rebellion der Frauen angekündigt wird. Es sind die welthistorisch wichtigsten Deklarationen der letzten dreitausend Jahre, oder noch länger, seit der Machtergreifung der Familienoberhäupter in vormals matriarchalen, agrarischen, urkommunistischen Gesellschaften.