Frühfeminismus in Frankreich

Olympe Marie de Gouges 

Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin, 1791

 

Marie Aubry, Pseudonym (de) Gouges, Gouze, geboren 1755 in Montauban, hingerichtet am 4. November 1793 in Paris. Aus ungeklärten und unbedeutenden Familienverhältnissen. Früh verheiratet mit einem Handwerker, wahrscheinlich jung verwitwet. Seither Leben in Paris. Schriftstellerische Arbeiten: zahlreiche Theaterstücke und Romane in Briefform. 1788 erschienen gesammelte Werke in drei Bänden. Theateraufführungen in Paris. Politische Schwierigkeiten wegen ihres Stückes »L'Esclavage des Noirs«, in welchem sie die Sklaverei in den französischen Kolonien anprangert.

 

Bei Ausbruch der Revolution wendet sie sich in Wort und Tat ganz den politischen Problemen zu: sie schrieb zahlreiche Flugschriften, Aufrufe, Proteste, Vorschläge zu aktuellen Ereignissen und Fragen, u. a.: Adresse an die Repräsentanten der Nation (o. J.); Das einfache Glück des Menschen, 1789; Die Phantome der öffentlichen Meinung (o. J.); Brief an das Volk, 1788; Adresse an die Nationalversammlung »Der nationale Pakt«, 1792; Patriotische Anmerkungen (o. J.); Politisches Testament, 1793.

Rednerin und Organisatorin des Frauenclubs »Societe populaire des femmes« in Paris, Befürworterin der Einrichtung von Nationalwerkstätten und Spenderin von Geld für das Volkswohl. Mit ihrem feministisch-politischen Engagement mußte sie den bürgerlichen Revolutionären aller Fraktionen, die alle die Frauen von ihren Errungenschaften ausschließen wollten, eine unbequeme Gegnerin sein. Als sie die Blutherrschaft Robespierres kritisierte und ihn öffentlich einen Mörder nannte, ließ er sie verhaften und hinrichten, mit ihr viele andere namhafte Frauen. Die Frauenclubs wurden aufgelöst, den Frauen das Versammeln bei Gefängnisstrafe verboten.

Ihre welthistorische Tat ist die Verfassung der Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin, ein politisches Dokument, das die feministische Befreiungsbewegung vor fast zweihundert Jahren initiiert hat. Es wurde mit allen Mitteln totgeschwiegen: in Deutschland gibt es kein einziges Exemplar in Bibliotheken, es gibt keine deutsche Übersetzung und keine wissenschaftliche Tradition. Frauen der ersten Bewegung haben die Erinnerung an diese Deklaration wachgehalten, und die aktuelle Bewegung hat diese frühe Theoretikerin und Aktivistin wiederentdeckt.

Zum 180. Jahrestag ihrer Hinrichtung 1973 erschienen eine Würdigung und ein Teilabdruck der Deklaration in: Frauenforum, Stimme der Feministen, München 4/1973, und in: Hexenpresse, Basel, Nr. 3/4,1973 (und wurde von der National-Zeitung, Basel unter dem Titel »Bürgerin Olympe de Gouges« übernommen). Der Artikel über O. de Gouges in: Emma, Köln, 7/1977, ist ein Plagiat, der Teilabdruck der Deklaration, beides aus der Hexenpresse, erfolgte ohne Copyright.

Eine leicht gekürzte Fassung der gesamten Schrift erschien zusammen mit einem ausführlichen politikwissenschaftlichen Kommentar erst im Jahre 1977: Hannelore Schröder/Theresia Sauter: Zur politischen Theorie des Feminismus: Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791, in: aus politik und Zeitgeschichte, beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bonn, 3. 12. 1977, B 48/77.

Hier liegt nun zum ersten Mal die vollständige Fassung vor. Die Übersetzung von Theresia Sauter und (teilweise) Gerda Guttenberg erfolgte auf der Grundlage des Erstdrucks im Jahre 1791.

Die Rechte der Frau 
(Paris, September 1791)
An die Königin
Madame,
Fern dem Redestil, den man mit Königen übt, möchte ich nicht zur Schmeichelei der Höflinge greifen, um Ihnen dieses seltene Werk zu widmen. Ich habe mir vorgenommen, mit Ihnen, Madame, offen zu reden. Um mich dergestalt auszudrücken, habe ich nicht das Zeitalter der Freiheit abgewartet. Mit der gleichen Entschlossenheit bin ich damals aufgetreten, als noch die Blindheit der Despoten eine so edle und kühne Tat bestraften.
Als das ganze Reich Sie beschuldigte und Sie für sein Elend verantwortlich machte, habe ich allein in diesen bewegten und stürmischen Zeiten die Kraft aufgebracht, Sie zu verteidigen. Ich konnte nie daran glauben, daß eine Prinzessin, die in Glanz und Ehren groß geworden ist, alle Laster der Niedrigkeit anhängen sollten.
Ja, als ich das Schwert gegen Sie, Madame, gerichtet sah, habe ich meine Worte zwischen dieses Schwert und das Opfer geworfen. Aber heute, wo ich sehe, daß man die Masse der bestochenen Meuterer im Auge behält und diese sich aus Angst vor dem Gesetz ruhig verhalten, kann ich Ihnen, Madame, etwas sagen, was ich Ihnen damals nicht anvertraut hätte.
Wenn das Ausland in die französische Situation eingreifen sollte, dann sind Sie in meinen Augen nicht mehr die schuldlos beschuldigte Königin, diese interessante Königin, sondern eine unversöhnliche Feindin der Franzosen. Ah! Madame, denken Sie daran, daß Sie Mutter und Gattin sind. Verwenden Sie all Ihren Einfluß, um den geflüchteten Prinzen die Rückkehr zu ermöglichen. Dieser Einfluß, wenn weise ausgeübt, vermag es, die Krone des Vaters zu festigen, sie dem Sohn zu bewahren und Sie mit den Franzosen zu versöhnen. Diese würdige Mittlerrolle gehört zur wahren Aufgabe einer Königin. Intrigen, Kabalen, blutige Vorhaben würden Ihren Sturz nur beschleunigen, falls man Sie solcher Absichten verdächtigen sollte.
Möge, Madame, eine edlere Aufgabe Sie auszeichnen, Ihren Ehrgeiz wecken, Ihre Blicke lenken. Nur derjenigen steht es an, welche der Zufall auf einen so hohen Platz erhoben hat, der Entfaltung und Verbreitung der Rechte der Frau Gewicht zu verleihen und deren Erfolg zu beschleunigen. Wären Sie weniger gebildet, Madame, dann könnte ich befürchten, daß Sie Ihr Geschlecht über Ihre privaten Interessen vergäßen. Sie lieben den Ruhm. Bedenken Sie, Madame, daß die größten Verbrechen wie die größten Tugenden in die Geschichte eingehen.
Doch welch unterschiedlicher Ruhm in den Annalen der Geschichte! Der eine wird stets als Beispiel angeführt, der andere ewig ein Greuel der Menschheit bleiben.
Man wird es Ihnen nie als Verbrechen anrechnen, an der Restauration der Sitten mitzuarbeiten, Ihrem Geschlecht zur Fülle der Kraft zu verhelfen, deren es fähig ist. Das kann nicht an einem Tag bewältigt werden, leider auch nicht unter dem Neuen Regime. Diese Revolution wird sich nur dann verwirklichen, wenn alle Frauen von ihrem beklagenswerten Los und vom Verlust ihrer Rechte in der Gesellschaft überzeugt sein werden. Unterstützen Sie, Madame, eine so schöne Sache. Verteidigen Sie dieses unglückliche Geschlecht, und Sie werden bald die Hälfte des Königreichs auf Ihrer Seite haben, und mindestens ein Drittel der anderen.
Dies, Madame, dies sind die Taten, durch die Sie sich hervortun, für die Sie Ihren Einfluß geltend machen können. Glauben Sie mir, Madame, das Leben ist wenig wert, besonders für eine Königin, wenn dieses Leben nicht durch die Liebe zu den Menschen und durch das beglückende Gefühl, wohltätig zu sein, verschönert wird.
Wenn es wahr ist, daß Franzosen gegen ihr eigenes Vaterland alle Mächte bewaffnen, warum? Um frivoler Vorrechte, falscher Vorstellungen wegen. Glauben Sie mir, Madame, wenn ich danach urteile, was ich empfinde, dann wird die monarchistische Partei sich selbst zerstören, gibt sie aber alle Tyrannen preis, dann werden sich alle Herzen um das Vaterland scharen, um es zu verteidigen.
Das, Madame, das sind meine Vorstellungen. Über meinem Plädoyer für mein Vaterland habe ich Sinn und Ziel meiner Widmung ganz vergessen. So opfert jeder gute Bürger seinen eigenen Ruhm, seine eigenen Interessen, wo es ihm um diejenigen seiner Landsleute geht.
Mit der tiefsten Ehrerbietung verbleibe ich, Madame,
Ihre sehr ergebene und gehorsame Dienerin,
De Gouges.

Die Rechte der Frau

 

Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt dir diese Frage. Dieses Recht wirst du ihr zumindest nicht nehmen können. Sag mir, wer hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken? Deine Kraft? Deine Talente? Betrachte den Schöpfer in seiner Weisheit. Durchlaufe die Natur in all ihrer Majestät, die Natur, der du dich nähern zu wollen scheinst, und leite daraus, wenn du es wagst, ein Beispiel für diese tyrannische Herrschaft ab. Geh zu den Tieren*, (* Von Paris bis Peru, von Rom bis Japan, ist das dümmste Tier doch wohl der Mann.) befrage die Elemente, studiere die Pflanzen, ja wirf einen Blick auf den Kreislauf der Natur und füge dich dem Beweis, wenn ich dir die Mittel dazu in die Hand gebe. Suche, untersuche und unterscheide, wenn du es kannst, die Geschlechter in der Ordnung der Natur. Überall findest du sie ohne Unterschied zusammen, überall arbeiten sie in einer harmonischen Gemeinschaft an diesem unsterblichen Meisterwerk.

Nur der Mann hat sich aus der Ausnahme ein Prinzip zu-rechtgeschneidert. Extravagant, blind, von den Wissenschaften aufgeblasen und degeneriert, will er in diesem Jahrhundert der Aufklärung und Scharfsichtigkeit, doch in krassester Unwissenheit, despotisch über ein Geschlecht befehlen, das alle intellektuellen Fähigkeiten besitzt. Er möchte von der Revolution profitieren, er verlangt sein Anrecht auf Gleichheit, um nicht noch mehr zu sagen.

 

Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin

Von der Nationalversammlung am Ende dieser oder bei der nächsten

Legislaturperiode zu verabschieden

 

Präambel

 

Wir, Mütter, Töchter, Schwestern, Vertreterinnen der Nation, verlangen, in die Nationalversammlung aufgenommen zu werden. In Anbetracht dessen, daß Unwissenheit, Vergeßlichkeit oder Mißachtung der Rechte der Frauen die alleinigen Ursachen öffentlichen Elends und der Korruptheit der Regierungen sind, haben wir uns entschlossen, in einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Frau darzulegen, auf daß diese Erklärung allen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft ständig vor Augen, sie unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert; auf daß die Machtausübung von Frauen ebenso wie jene von Männern jederzeit am Zweck der politischen Einrichtungen gemessen und somit auch mehr geachtet werden kann; auf daß die Beschwerden von Bürgerinnen, nunmehr gestützt auf einfache und unangreifbare Grundsätze, sich immer zur Erhaltung der Verfassung, der guten Sitten und zum Wohl aller auswirken mögen.

Das an Schönheit wie Mut im Ertragen der Mutterschaft überlegene Geschlecht anerkennt und erklärt somit, in Gegenwart und mit dem Beistand des Allmächtigen, die folgenden Rechte der Frau und Bürgerin:

 

Artikel I

Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten. Die sozialen Unterschiede können nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.

 

Artikel II

Ziel und Zweck jedes politischen Zusammenschlusses ist der Schutz der natürlichen und unveräußerlichen Rechte sowohl der Frau als auch des Mannes. Diese Rechte sind: Freiheit, Sicherheit, das Recht auf Eigentum und besonders das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung.

 

Artikel III

Die Legitimität jeder Herrschaft ruht wesentlich in der Nation, die nichts anderes darstellt als eine Vereinigung von Frauen und Männern. Keine Körperschaft und keine einzelne Person kann Macht ausüben, die nicht ausdrücklich daraus hervorgeht.

 

Artikel IV

Freiheit und Gerechtigkeit bestehen darin, den anderen zurückzugeben, was ihnen gehört. So wird die Frau an der Ausübung ihrer natürlichen Rechte nur durch die fortdauernde Tyrannei, die der Mann ihr entgegensetzt, gehindert. Diese Schranken müssen durch Gesetze der Natur und Vernunft revidiert werden.

 

Artikel V

Die Gesetze der Natur und Vernunft wehren alle Handlungen von der Gesellschaft ab, die ihr schaden könnten. Alles, was durch diese weisen und göttlichen Gesetze nicht verboten ist, darf nicht behindert werden, und niemand darf gezwungen werden, etwas zu tun, was diese Gesetze nicht ausdrücklich vorschreiben.

 

Artikel VI

Recht und Gesetz sollten Ausdruck des Gemeinwillens sein. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen persönlich oder durch ihre Vertreter an ihrer Gestaltung mitwirken. Es muß für alle das gleiche sein. Alle Bürgerinnen und Bürger, die gleich sind vor den Augen des Gesetzes, müssen gleichermaßen nach ihren Fähigkeiten, ohne andere Unterschiede als die ihrer Tugenden und Talente, zu allen Würden, Ämtern und Stellungen im öffentlichen Leben zugelassen werden.

 

Artikel VII

Für Frauen gibt es keine Sonderrechte; sie werden verklagt, in Haft genommen und gehalten wo immer es das Gesetz vorsieht. Frauen unterstehen wie Männer den gleichen Strafgesetzen.

 

Artikel VIII

Das Gesetz soll nur Strafen verhängen, die unumgänglich und offensichtlich notwendig sind, und niemand darf bestraft werden, es sei denn kraft eines rechtsgültigen Gesetzes, das bereits vor dem Delikt in Kraft war und das legal auf Frauen angewandt wird.

 

Artikel IX

Die gesetzliche Strenge muß gegenüber jeder Frau walten, die für schuldig befunden wurde.

 

Artikel X

Wegen seiner Meinung, auch wenn sie grundsätzlicher Art ist, darf niemand verfolgt werden. Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Sie muß gleichermaßen das Recht haben, die Tribüne zu besteigen, vorausgesetzt, daß ihre Handlungen und Äußerungen die vom Gesetz gewahrte öffentliche Ordnung nicht stören.

 

Artikel XI

Die freie Gedanken- und Meinungsäußerung ist eines der kostbarsten Rechte der Frau, denn diese Freiheit garantiert die Vaterschaft der Väter an ihren Kindern. Jede Bürgerin kann folglich in aller Freiheit sagen: »Ich bin die Mutter eines Kindes, das du gezeugt hast«, ohne daß ein barbarisches Vorurteil sie zwingt, die Wahrheit zu verschleiern. Dadurch soll ihr nicht die Verantwortung für den Mißbrauch dieser Freiheit in den Fällen, die das Gesetz bestimmt, abgenommen werden.

 

Artikel XII

Die Garantie der Rechte der Frau und Bürgerin soll dem allgemeinen Nutzen dienen. Diese Garantie soll zum Vorteil aller und nicht zum persönlichen Vorteil derjenigen, denen sie anvertraut ist, sein.

 

Artikel XIII

Für den Unterhalt der Polizei und für die Verwaltungskosten werden von der Frau wie vom Manne gleiche Beiträge gefordert. Hat die Frau teil an allen Pflichten und Lasten, dann muß sie ebenso teilhaben an der Verteilung der Posten und Arbeiten, in niederen und hohen Ämtern und im Gewerbe.

 

Artikel XIV

Die Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, selbst oder durch ihre Repräsentanten über die jeweilige Notwendigkeit der öffentlichen Beiträge zu befinden. Die Bürgerinnen können dem Prinzip, Steuern in gleicher Höhe aus ihrem Vermögen zu zahlen, nur dann beipflichten, wenn sie an der öffentlichen Verwaltung teilhaben und die Steuern, ihre Verwendung, ihre Einziehung und Zeitdauer mit festsetzen.

 

Artikel XV

Die weibliche Bevölkerung, die gleich der männlichen Beiträge leistet, hat das Recht, von jeder öffentlichen Instanz einen Rechenschaftsbericht zu verlangen.

 

Artikel XVI

Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert und die Trennung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung. Es besteht keine Verfassung, wenn die Mehrheit der Individuen, die das Volk darstellen, an ihrem Zustandekommen nicht mitgewirkt hat.

 

Artikel XVII

Das Eigentum gehört beiden Geschlechtern vereint oder einzeln. Jede Person hat darauf ein unverletzliches und heiliges Anrecht. Niemandem darf es als eigentliches Erbteil vorenthalten werden, es sei denn, eine öffentliche Notwendigkeit, die rechtsmäßig ausgewiesen wurde, mache es erforderlich, natürlich unter der Voraussetzung einer gerechten und vorher festgesetzten Entschädigung.

 

Nachwort

 

Frauen, wacht auf! Die Stimme der Vernunft läßt sich auf der ganzen Welt vernehmen! Erkennt eure Rechte! Das gewaltige Reich der Natur ist nicht mehr umstellt von Vorurteilen, Fanatismus, Aberglauben und Lügen. Die Fackel der Wahrheit hat alle Wolken der Dummheit und Gewalttätigkeit vertrieben. Der versklavte Mann hat seine Kräfte verdoppelt. Er hat eurer Kräfte bedurft, um seine Ketten zu zerbrechen. In Freiheit versetzt, ist er nun selbst ungerecht geworden gegen seine Gefährtin. O Frauen! Frauen, wann hört ihr auf, blind zu sein? Welches sind die Vorteile, die ihr aus der Revolution gezogen habt? Ihr werdet noch mehr verachtet, noch schärfer verhöhnt. In den Jahrhunderten der Korruption habt ihr nur über die Schwächen der Männer geherrscht. Euer Reich ist zerstört! Was bleibt euch denn? Die Überzeugung von der Ungerechtigkeit des Mannes, die Forderung nach eurem Erbe, die ihr aus den weisen Gesetzen der Natur ableitet. Was habt ihr zu befürchten bei einem so hoffnungsvollen Unternehmen? Den Verweis des Herrn bei der Hochzeit von Kanaan? Habt ihr Angst, daß unsere französischen Gesetzgeber - Verfechter jener Moral, die sich lange Zeit in allen Zweigen der Politik eingenistet hatte, heute aber darin keinen Platz mehr hat - euch ebenfalls sagen könnten: »Frauen, was gibt es Gemeinsames zwischen euch und uns?«   »Alles!« würdet ihr darauf antworten.  Wenn sie beharrlich fortfahren, durch diese Unvernunft, aus einem Gefühl der Schwäche heraus, mit ihren eigenen Prinzipien in Widerstreit zu geraten, dann stellt tapfer die Macht der Vernunft den eitlen Überlegenheitsansprüchen entgegen. Vereinigt euch unter dem Banner der Philosophie, entfaltet alle eure charakterlichen Kräfte, und ihr werdet bald diese stolzen, nicht untertänigen Verehrer zu euren Füßen haben, jetzt jedoch stolz darüber, mit euch die Schätze des Allmächtigen zu teilen. Was auch immer die Hürden sein werden, die man euch entgegenstellt, es liegt in eurer Macht, sie zu überwinden. Ihr müßt es nur wollen.

Kommen wir nun zu dem schrecklichen Bild des Zustandes, in dem euch die Gesellschaft gehalten hat. Und da im Augenblick von einem öffentlichen Bildungswesen die Rede ist, wollen wir sehen, ob unsere weisen Gesetzgeber in vernünftiger Weise an die Bildung der Frauen denken werden.

Die Frauen haben mehr Schaden angerichtet als Gutes getan. Auferlegte Zwänge und Heimlichkeiten waren ihnen eigen. Was ihnen durch Gewalt entrissen worden ist, haben sie durch Hinterlistigkeit zurückgewonnen. Sie haben alle Möglichkeiten ihres Charms ausgeschöpft, und der ehrenhafteste Mann konnte ihnen nicht widerstehen. Das Gift, die Waffe, alles stand ihnen zu Diensten. Das Verbrechen wie die Tugend waren in ihrer Gewalt. Jahrhundertelang stand besonders die französische Regierung in der Abhängigkeit von Frauen, die nachts Politik betrieben. Das Kabinett war vor ihren Indiskretionen nicht sicher. Ebensowenig die Botschaft, die Heerführung, das Ministerium, die Präsidentschaft, das Bischofs [1] und Kardinalamt. Ja alles, was die Dummheit der Männer ausmacht, ob im säkularen oder im religiösen Bereich, alles war der Habgier und der Ambition dieses Geschlechts unterworfen, ein Geschlecht, das früher verachtenswert war, doch geehrt wurde, und das seit der Revolution ehrenwert ist, doch verachtet wird.

Wie viele Bemerkungen wollte ich doch zu dieser Art von Antithese machen! Mir reicht nur zu wenigem die Zeit, doch dieses Wenige wird die Aufmerksamkeit der Nachwelt bis in die weiteste Ferne auf sich ziehen. Unter dem Ancien Regime war alles lasterhaft, alles schuldig. Doch konnte man denn nicht eine Verbesserung der Dinge im Kern des Lasters selbst erkennen? Eine Frau brauchte nur schön oder lieblich zu sein. Besaß sie diese beiden Vorteile, dann sah sie hundert Reichtümer zu ihren Füßen liegen. Wenn sie davon nicht profitierte, dann hatte sie einen eigenartigen Charakter oder eine seltene philosophische Haltung, die sie Schätze verachten hieß. Sie wurde dann nur noch für verrückt gehalten. Die Schamloseste verschaffte sich ihr Ansehen mit Gold. Der Frauenhandel war eine Art Unternehmen, das in die oberste Schicht Eingang fand; doch wird er fortan keinen Kredit mehr genießen. Wenn dem nicht so wäre, dann hätte die Revolution für uns ihren Sinn verloren, und wir würden unter neuen Vorzeichen weiterhin der Verderbtheit ausgeliefert sein. Doch müssen wir nicht zugeben, daß in einer Gesellschaft, wo der Mann die Frau gleich einem Sklaven von der afrikanischen Küste kauft, ihr jeder andere Weg, Wohlstand zu erwerben, verwehrt ist? Natürlich ist der Unterschied groß. Die Frau als Sklavin befiehlt dem Herrn. Doch wenn der Herr sie ohne Abfindung freiläßt, in einem Alter, wo die »Sklavin« alle ihre Reize verloren hat, was wird dann aus dieser Unglücklichen? Ein Gegenstand der Verachtung. Selbst die Türen karitativer Fürsorge sind ihr verschlossen. Sie ist arm und alt, wird man sagen. Warum hat sie nicht vorgesorgt? Ich kann noch traurigere Beispiele anführen. Ein unerfahrenes Mädchen wird von einem Mann, den sie liebt, verführt, verläßt ihre Eltern, um ihm zu folgen. Der Skrupellose verläßt sie nach einigen Jahren. Seine Treulosigkeit wird umso unmenschlicher, je mehr Jahre sie bei ihm verbracht hat. Hat sie Kinder, verläßt er sie trotzdem. Ist er reich, sieht er sich nicht genötigt, sein Vermögen mit seinen edlen Opfern zu teilen. Hat er durch ein Versprechen seine Verpflichtungen besiegelt, dann wird er sein Wort brechen und sich auf die Gesetze verlassen. Ist er verheiratet, dann verliert jedes eingegangene Versprechen an Rechtskraft. Welche Gesetze müssen gemacht werden, um das Laster an seiner Wurzel zu packen? Solche, die der Aufteilung des Vermögens zwischen Männern und Frauen und ihrer öffentlichen Handhabung dienen. Es ist leicht zu erkennen, daß sich für diejenige, die einer reichen Familie entstammt, eine gleiche Aufteilung des Vermögens vorteilhaft auswirken wird. Doch welches Los trifft die verdienst- und tugendreiche Tochter einer armen Familie? Armut und Schmach. Denn hat sie sich nicht in der Musik und Malerei ausgezeichnet, dann wird ihr jede öffentliche Betätigung verweigert, auch wenn sie dazu alle nötigen Fähigkeiten besitzt. Ich will hier nur einen kurzen Überblick über die Lage der Dinge geben. In der neuen Auflage meiner gesamten politischen Schriften, die ich, mit Anmerkungen versehen, dem Publikum in wenigen Tagen darzubieten hoffe, werde ich die Situation eingehender beschreiben.

Kommen wir auf die Problematik der Sitten zurück. Die Ehe ist das Grab des Vertrauens und der Liebe. Eine verheiratete Frau kann ungestraft ihrem Gatten Kinder gebären, die von einem andern Mann gezeugt wurden, und ihnen dadurch ein Vermögen sichern, das ihnen nicht zusteht. Die unverheiratete Frau ist rechtlich in einer schwachen Position: die alten und unmenschlichen Gesetze verweigern ihr für ihre Kinder den Anspruch auf den Namen und das Gut ihres leiblichen Vaters, und man hat in dieser Sache keine neuen Gesetze erlassen. Wenn geglaubt wird, daß mein Versuch, meinem Geschlecht eine ehrenhafte und gerechte Lebensgrundlage zu geben, zur Zeit noch nicht die Zustimmung der Allgemeinheit finde, oder ich damit ein Ding der Unmöglichkeit versuche, dann lasse ich den Männern der kommenden Generation die Ehre, diese Sache zu behandeln. Doch mittlerweile kann man sie durch die staatliche Erziehung, die Erneuerung der Sitten und durch Regelung des ehelichen Verhältnisses vorbereiten.

 

Entwurf eines Gesellschaftsvertrages zwischen Mann und Frau

 

Wir, N. und NL, gehen auf Grund eigener Entscheidung auf Lebenszeit und für die Dauer unserer gegenseitigen Zuneigung zu folgenden Bedingungen eine Bindung ein: Wir beabsichtigen und wollen unser Vermögen zusammenlegen und gemeinschaftlich verwalten, wobei wir uns das Recht vorbehalten, es zugunsten unserer gemeinsamen und der Kinder zu teilen, die aus einem anderweitig eingegangenen Verhältnis hervorgehen könnten. Wir erkennen gegenseitig an, daß unser Eigentum direkt unseren Kindern, aus welcher Verbindung sie auch stammen mögen, gehört, und daß alle unterschiedslos das Recht haben, den Namen der Väter und Mütter, die sich zu ihrer Elternschaft bekannt haben, zu tragen, und wir wollen das Gesetz unterschreiben, das die Verleugnung des eigenen Blutes bestraft. Wir verpflichten uns ebenfalls, im Falle einer Trennung unser Vermögen zu teilen und davon den Anteil unserer Kinder, wie er gesetzlich festgelegt ist, abzusetzen. Im Falle einer dauerhaften Verbindung würde der Ehepartner nach seinem Tode die Hälfte seines Eigentums zugunsten seiner Kinder abtreten. Wenn einer der beiden ohne Kinder stirbt, würde der Überlebende von Rechts wegen erben, außer der Verstorbene hätte über die Hälfte seines gemeinschaftlichen Vermögens zugunsten eines anderen, den er dafür vorgesehen hat, verfügt.

Das ist so ungefähr die Form des Ehevertrags, den ich zur Ratifizierung   unterbreite.   Ich  sehe im Geiste vor mir die Heuchler, die Prüden, den Klerus und die ganze teuflische Gefolgschaft, wie sie beim Lesen dieser ungewöhnlichen Schrift die Stimmen gegen mich erheben. Doch welches moralische Mittel wird sie den Weisen in die Hand geben, um zur Vervollkommnung   einer  glücklichen  Regierung  zu gelangen!  Ich werde dafür mit einigen Worten einen konkreten Beweis geben. Der reiche kinderlose Epikureer findet nichts dabei, wenn er zu seinem armen Nachbarn geht und dessen Familie vermehrt. Wenn es einmal ein Gesetz gibt, das es der Frau des armen Mannes erlaubt, den Reichen zur Anerkennung seiner Kinder zu zwingen, dann werden sich die gesellschaftlichen Bande enger schließen, und die Sitten werden sich verbessern. Dieses Gesetz wird vielleicht das öffentliche Eigentum der Gemeinde bewahren und der Zerrüttung Einhalt gebieten, die so viele Opfer in die Hände der Schande, der Erniedrigung und Verwahrlosung menschlicher Prinzipien treibt, in der seit langem die Natur schmachtet. Wollten doch die Gegner dieser gesunden Philosophie mit ihrem Geschrei von wegen primitiver Sitten aufhören und ihre Zitate an der Quelle überprüfen.[2]

Ich würde auch gerne ein Gesetz sehen, das die Witwen und ledigen Frauen begünstigt, die durch falsche Versprechen eines Mannes, mit dem sie sich liiert haben, hintergangen wurden. Ich möchte, daß dieses Gesetz einen Treulosen dazu zwingt, seine Versprechen einzulösen, oder eine seinem Vermögen entsprechende Entschädigung zu entrichten. Ich möchte, daß dieses Gesetz auch gegen Frauen streng vorgeht, zumindest gegen diejenigen, die sich erfrechen, ein Gesetz für sich in Anspruch zu nehmen, das sie durch eigene Verfehlungen, falls diese nachgewiesen v/erden können, verletzt haben. Gleichzeitig möchte ich, wie ich es 1788 in meiner Schrift »Vom ursprünglichen glücklichen Zustand des Menschen« dargelegt habe, daß den Straßenmädchen für sie bestimmte Viertel zugewiesen werden. Denn nicht die Straßenmädchen, sondern die Frauen der respektablen Gesellschaft tragen am meisten zu der Verwahrlosung der Sitten bei. Wenn die letzteren einen sittlichen Auftrieb erhalten, führt dies auch zu einer Veränderung der ersteren. Diese Verkettung von brüderlichem Miteinander wird anfänglich Verwirrung stiften, doch in der Folge wird es schließlich ein vollkommenes Ganzes bilden.

Ich biete ein untrügliches Mittel an, die Würde der Frauen zu heben, nämlich, sie mit den Männern zusammen an allen Erwerbszweigen teilhaben zu lassen. Wenn der Mann darauf beharrt, daß dieses Mittel unpraktikabel sei, dann soll er sein Vermögen mit der Frau teilen, nicht nach eigenem Belieben, sondern nach der Weisheit der Gesetze. Da werden die Vorurteile fallen, die Sitten werden reiner, und die Natur wird alle ihre Rechte zurückgewinnen. Verlangt dazu noch die Heirat der Priester, den König, neu gefestigt auf seinem Thron, und die französische Regierung ist dem Verderben entronnen.

Es wäre hier nun nötig, daß ich noch etwas zu den Unruhen sage, die, wie es heißt, der Erlaß zugunsten der Farbigen auf unseren Inseln ausgelöst hat. Dort erzittert die Natur vor Grauen; dort hat Vernunft und Menschlichkeit die verhärteten Seelen noch nicht berührt; dort vor allem erregen Spaltung und Unfrieden die Bewohner. Wer die Anstifter dieser explosiven Unruhen sind, ist nicht schwer zu erraten: davon gibt es welche selbst mitten in der Nationalversammlung: sie zünden in Europa das Feuer an, das Amerika verzehren soll. Die Kolonialherren maßen sich an, als Despoten über Menschen zu regieren, deren Väter und Brüder sie sind.  Indem sie die Rechte der Natur mißachten, verfolgen sie ihre Geschöpfe bis in die kleinste Schattierung ihres Blutes. Diese unmenschlichen Herren sagen: unser Blut fließt zwar in ihren Adern, aber wir werden es vergießen, wenn es sein muß, um unsere Habgier, unsere blinden Ambitionen zu befriedigen. Gerade in diesen Landstrichen, die doch der Natur am nächsten stehen, verleugnet der Vater seinen Sohn. Dem Ruf des Blutes gegenüber taub, erstickt er all seine schönen Regungen. Was ist vom Widerstand gegen ihn zu erhoffen? Begegnet man dem Widerstand mit Gewalt, wird er noch schrecklicher, duldet man die Sklaverei noch weiter, wird alles Unheil auf Amerika zukommen. Eine göttliche Hand scheint überall das angestammte Gut der Menschen, nämlich die Freiheit, zu verbreiten: Das Gesetz allein ist berechtigt, diese Freiheit einzuschränken, wenn sie zu Schrankenlosigkeit ausartet; doch sie muß gleich für alle sein, sie - die Idee der Freiheit - vor allem muß die Nationalversammlung in ihren Erlaß, der das Ergebnis vor Bedachtsamkeit und Gerechtigkeit ist,  einbeziehen. Möge sie sich in gleicher Weise des Zustandes in Frankreich annehmen und ebenso aufmerksam die neuen Mißbräuche verfolgen, wie sie es bei den alten getan hat, denn sie werden mit jedem Tag schrecklicher! Meiner Meinung nach müssen die ausführende und die gesetzgebende Gewalt wieder zusammengebracht werden, denn mir scheint, daß die eine alles, die andere ohne sie nichts ist. Sonst könnte uns vielleicht das französische Weltreich leider verloren gehen. Ich möchte diese beiden Gewalten mit Mann und Frau vergleichen, die vereint, aber gleich an Kraft und Tugend sein müssen, um eine gute Ehe zu führen.[3]

Es scheint sich doch zu bestätigen, daß niemand seinem Schicksal entrinnen kann; das habe ich heute erfahren.

Ich hatte mir fest vorgenommen, in diesem Text nicht die geringste Bemerkung zu machen, die Anlaß zum Lachen geben könnte, aber es sollte anders kommen. Hier der Vorfall.

Sparsam sein ist nicht verboten, besonders nicht in dieser Zeit der Misere. Ich wohne auf dem Lande. Heute morgen um

Uhr machte ich mich von Auteuil auf, hin zur Straße, die von Paris nach Versailles führt, wo man oft diese wohlbekannten zweirädrigen Gespanne antrifft, welche Fußgänger gegen geringe Bezahlung mitnehmen. Wahrscheinlich stand schon früh ein böser Stern über mir. Ich gehe bis zur Sperre, wo ich nicht einmal die traurige Hofkutsche vorfinde. Ich ruhe mich auf den Stufen dieses protzigen Gebäudes voller Beamter aus. Als es

Uhr schlägt, mache ich mich wieder auf den Weg. Ein Wagen hält an, ich nehme Platz, und komme 15 Minuten später um Viertel nach 9 auf dem Pont Royal an. Dort nehme ich die Kutsche und gehe schnell zum Drucker in der Rue Christine, denn ich kann dort nur früh am Morgen hingehen. Mit dem Korrigieren meiner Druckvorlagen gibt es immer etwas zu tun, wenn die Seiten nicht zu eng geschrieben und zu voll sind. Ich bleibe ungefähr 20 Minuten; des Gehens, Schreibens und Druk-kens müde, gönne ich mir ein Bad im Quartier du Temple, wo ich auch zu essen gedenke. Ich komme um Viertel vor 11 nach der Uhr im Bad an. Ich schuldete also dem Kutscher 11/2 Stunden; biete ihm aber, um jeden Streit zu vermeiden, 48 sols an. Er will mehr, wie gewöhnlich, und schlägt Lärm. Ich weigere mich, ihm mehr zu geben als ihm zusteht, denn ein gerechter Mensch ist lieber großzügig, als daß er sich hereinlegen läßt. Ich drohe ihm mit dem Gesetz. Er sagt, er schere sich nicht darum, ich hätte ihm 2 Stunden zu bezahlen. Wir kommen zu einem Zivilbeamten, dessen Namen ich lieber nicht nennen möchte, obwohl sein Vorgehen gegen mich eine öffentliche Klage verdienen würde. Er wußte sicherlich nicht, daß die Frau, die von ihm Gerechtigkeit erwartete, die Autorin ist, die zu so vielen wohltätigen und gerechten Handlungen aufrief. Ohne meine Seite anzuhören, verurteilt er mich mitleidslos dazu, dem Kutscher zu zahlen, was dieser verlangte. Des Gesetzes kundiger als er, sage ich ihm: Mein Herr, ich weigere mich, und ich weise Sie darauf hin, daß Sie nicht im Sinne Ihres Amtes walten. Da gerät dieser Mann, oder besser gesagt, dieser Wütende, außer sich, droht mir mit der Gewalt, wenn ich nicht auf der Stelle zahle, ansonsten ich den ganzen Tag in seinem Büro zu verbringen hätte. Ich bitte ihn, mich zum Bezirksgericht oder zum Bürgermeisteramt zu führen, wo ich mich über seine autoritäre Handlung zu beklagen gedenke. Der erhabene Magistrat in seinem staubigen Amtsgewand, das so ekelig wie seine Rede war, sagt mir lächelnd: Diese Affäre wird wohl vor die Nationalversammlung gehen? Das könnte schon sein, erwiderte ich ihm, und ging weg, halb wütend, halb lachend über das Urteil dieser modernen dummen Gans, indem ich mir dachte: Das ist also die Sorte von Mann, die über ein aufgeklärtes Volk Recht sprechen soll! Überall ist es gleich. Ähnliche Vorfälle passieren den guten und schlechten Patrioten gleichermaßen. Die Klage über das Chaos in den Bezirksgerichten und Tribunalen ist groß. Recht wird nicht gesprochen. Das Gesetz wird verkannt. Und aus der Polizei wird, Gott weiß was. Es gibt keine Kutscher mehr, denen man Sachgegenstände anvertrauen kann. Sie wechseln die Nummern nach ihrem Belieben aus, und mehrere Personen, inklusive meine eigene, haben beträchtliche Verluste in ihren Wagen hinnehmen müssen. Unter dem Ancien Regime, was es auch immer an Diebstählen aufzuweisen hatte, fand man die Spur dieser Verluste, indem man die Kutscher einzeln zitierte und jede Wagennummer gründlich durchsuchte. Ja, man fühlte sich sicher. Was tun diese Zivilbeamten, Kommissare, Inspektoren des Neuen Regimes? Sie machen nichts als Dummheiten und nehmen sich Privilegien heraus. Die Nationalversammlung muß sich dringend mit diesem Sektor der sozialen Ordnung befassen.

P.S.

Diese Schrift ist schon seit einigen Tagen fertig, nur beim Drucker hat sie sich verzögert. Als M. Talleyrand, dessen Namen die Nachwelt immer ehren wird, seine Arbeit über den Charakter der öffentlichen Ausbildung vortrug, befand sich dieser Text schon im Druck. Welches Glück, wenn meine Ideen mit den Ansichten dieses Redners übereinstimmen! Ich kann indessen nicht umhin, den Druck anzuhalten, um meine Freude hinauszujubeln, die mein Herz bewegte, als ich die Nachricht vernahm, daß der König die Konstitution akzeptiert und daß die Nationalversammlung - die ich im Augenblick umarmen könnte, den Abbe Maury inbegriffen, und La Fayette ist ein Gott - einstimmig eine allgemeine Amnestie verkündet habe. Göttliche Vorsehung, mache, daß diese allgemeine Freude sich nicht als falsche Illusion herausstellt! Schicke uns alle Flüchtigen lebend zurück, daß ich ihnen, mit einem liebenden Volk, entgegeneilen kann! Und an diesem feierlichen Tag werden wir Deiner Macht alle Ehre erweisen.

 

Kommentar

 

Unmittelbar nach der Deklaration der sogenannten Menschenrechte und in der Unruhe der Zeit hat Gouges den einseitig-patriarchalen, also hochideologischen Charakter dieses Dokuments wie der von Bürgern getragenen Revolution selbst durchschaut. Und sie ging sogleich an die Formulierung einer Protestdeklaration - im Namen und für die Befreiung der Frauen Frankreichs, ein scharfer Protest gegen die bis heute uneingestandene politische Polarisierung, die strikte Spaltung des Volkes in zwei Klassen: eine männliche Klasse mit bürgerlichen Rechten, Bürger und Staatsbürger, und eine weibliche Klasseohne Rechte, ohne Bürger-Status und Staatsbürger-Eigenschaften, die »Mütter, Töchter, Schwestern«. Durch die Existenz dieser Gegendeklaration, durch ihre prägnant formulierte Kritik an den bürgerlichen Männern, durch die für die damalige Zeit ungeheuer kühne, aufsässige Sprache und die politische Wahrheit und Berechtigung der Anklagen ist uns ein historisches Beweisstück für eine Frauen-Rebellion erhalten geblieben, das die soziale Sprengkraft noch zweihundert Jahre später signalisiert.

Für das Verständnis und eine gerechte Würdigung der politischen Tat ist es wichtig, einige Hintergrundfaktoren wenigstens aufzuzählen: es sind dies die ungeheuerliche Verelendung der Frauen in den Ehen, ihre Rechtlosigkeit und Abhängigkeit, die umso größer wird, je niedriger der Stand des Mannes ist. Zugleich die großen Erschwernisse für Frauen, irgendeinen Erwerb außerhalb des Hauses zu finden, von dem sie überleben können. Das Prostitutionselend ist ungeheuerlich: Kinder wurden ausgesetzt, starben an Hunger und Krankheit, Frauen verhungerten, begingen Selbstmord, verkamen elend.

Das Eherecht lag in der Hand der katholischen Kirche. Es gab keine Schul- und Berufsbildung für Frauen; die Zünfte waren verschlossen. Der Reichtum des Landes lag beim Adel und ökonomisch erstarkten Bürgertum, ohne daß die Frauen daran einen Anteil hatten.

Die geistige Vorbereitung der Revolution lag ausschließlich in den Händen von Männern, denn Frauen waren von deren Bildungsprivilegien und Veröffentlichungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Die Enzyklopädisten waren patriarchal, z.T. auch dezidiert antifeministisch eingestellt. Der Einfluß Rousseaus, seiner Weiblichkeitsideologie, war enorm stark.

Die Philosophie des Naturrechts legitimierte die Befreiung des bürgerlichen Mannes, indem ihre Autoren - als philosophisches Konstrukt - annahmen, daß in einem vor gesellschaftlichen Zustand, im »Naturzustand«, jeder »Mensch« frei geboren war, von Natur ausgestattet mit menschlichen und bürgerlichen Rechten, die auch in einer langen Periode der Rechtlosigkeit, der Tyrannei, nicht verloren gehen können, die nun wiederzubeleben und durchzusetzen seien. Diese Sozialphilosophien fordern in der Regel, daß die »Natur« der Frau eine andere, entgegengesetzte sei und sie zur Unterwerfung unter den Mann in der Ehe prädestiniere: die patriarchale Ehe sollte unverändert erhalten bleiben, Frauen sollten - das war schon Inhalt der politischen »Theorie« - keineswegs in die »Menschen- und Bürgerrechte« einbezogen werden. Gouges geht weit über diesen bornierten Männerstandpunkt hinaus: sie sagt deutlich - ohne Frauenbefreiung gibt es keine Revolution der Gesellschaft, denn die fortgesetzte Entrechtung der Frauen korrumpiert das gesamte Gemeinwesen. Die Deklaration der Frauen richtet sich folgerichtig und ohne Umschweife an - und gegen - die Männer, denn es geht Olympe de Gouges nicht nur um das Verhältnis Adel, Klerus und Bürgertum, sondern um das Verhältnis Männer, Bürger - Frauen, die keinen bürgerlichen Status haben und nicht haben werden, gemäß der Deklaration der Männerrechte und den Verfassungen der französischen Republik. In den Augen der männlichen Bürger sind die Frauen keine Menschen - sie haben nur eine weibliche, d. h. minderwertige »menschliche« Natur. Gouges greift sogleich dieses Ideologen! »Natur« auf und richtet es als ideologiekritische Waffe gegen die geistigen Urheber: die tyrannische Herrschaft des Mannes ist gegen die Natur! Denn in der Naturordnung der Tiere gibt es keinen Beweis für die Tyrannei des männlichen Geschlechts über das weibliche, vielmehr Beweise für die »harmonische Gemeinschaft«. Der Mann allein, der Philosoph, stellt sich außerhalb der Natur: blind trotz »Aufklärung«, unwissend trotz seines Privilegs der Wissenschaft, benutzt er in maßloser Arroganz seinen Intellekt lediglich dazu, eine Ausnahme von der natürlichen Ordnung zu konstruieren. Aber auch die Frau ist frei geboren - im Naturzustand, und hat folglich das gleiche Recht auf Freiheit wie der Mann, der sich auf die angeborene, unveräußerliche Freiheit gemäß dem Naturrecht beruft.

Die Präambel der Frauen-Deklaration ist Kritik an der Deklaration der Männerrechte und Anklage an die Adresse der Nationalversammlung zugleich: »Die als Nationalversammlung vereinigten Vertreter des französischen Volkes« (so nennen sie sich selbst in ihrer Präambel) werden darüber belehrt, daß sie beileibe nicht die Vertreter des französischen Volkes sind, daß vielmehr die Frauen»,Vertreterinnen der Nation« nun kommen und sich, die Hälfte des Königreiches, des Volkes, selbst vertreten und »verlangen, in die Nationalversammlung aufgenommen zu werden«. Das ist zweifellos die Revolution der französischen Frauen gegen die Familienväter und Bürger, eine Infragestellung und Provokation der patriarchalen Macht, wie sie kühner und herausfordernder nicht denkbar ist und nie zuvor in der Geschichte (soviel wir bisher wissen) gewagt wurde. Erst die Forderung nach Rechten für beide Klassen des Volkes berechtigt, von Menschenrechten zu sprechen. Das vielberufene sogenannte »Gemeinwohl«, das die Revolutionäre angeblich im Sinne haben, ist das Alleinwohl der Besitzbürger und Familienoberhäupter. Es gibt zwischen diesen und den aufständischen Frauen, die das wahre Gemeinwohl verfechten, offensichtlich keine Interessenidentität.

Denn nach ihrer Vorstellung müssen der neue Staat und seine Einrichtungen dem Wohl wirklich aller dienen: sie definiert damit den Staatszweck völlig neu. Denn es hat wohl noch keine Staatstheorie gegeben, in welcher gefordert wurde, was sie als Zweck des Staates in seinem Verhältnis zu Frauen bestimmt, nämlich den »Schutz der natürlichen und unveräußerlichen Rechte sowohl der Frau als auch des Mannes.« Schutz der Rechte der Frauen - das bedeutet das Ende des allein von Familienvätern beherrschten und getragenen Staates. War der bisher »radikalste« demokratische Entwurf so weit gegangen, die Versammlung der Familienväter als Gesetzgeber zu betrachten (Rousseau, Pufendorf u. a.), die den Staat als Instrument der Sicherung ihrer Interessen handhaben (u. a. mittels der entsprechenden Ehe- und Eigentumsrechte), so verlangen Gouges und mit ihr viele französische Frauen eine »androgynen« Staat, der auch aus Frauen besteht (im öffentlichen Dienst Tätige) und den Zwecken auch der Frauen zu dienen hat: das ist die Überwindung des »männlichen« Staatswesens, das von jeher und für ewige Zeiten in Männerhand war und bleiben sollte.

Wird dieser Staatszweck nicht erfüllt, so ist der Staat illegitim und braucht nicht anerkannt zu werden, ja die durch ihn unterdrückten Frauen haben ein »Recht auf Widerstand«. Dieses Recht auf Widerstand haben die Bürger seit langem theoretisch begründet (»Tyrannenmord ist legitim!«) und praktiziert, daß aber nun Frauen für sich selbst ebenfalls das Recht auf Widerstand für legitim erklären, ist eine Ankündigung von Widerstand auf Seiten derer, denen man es nicht zugedacht hatte. Und da die Bürger-Patriarchen die alleinige Macht im Staat ergreifen, wird sich dieses Widerstandsrecht der Frauen auch gegen sie richten. Diese Begründung des Widerstandsrechts für Frauen gegen Unterdrückung ist ein großer politisch-theoretischer Fortschritt und ein Aufstand gegen das Gebot der Kirchen und der patriarchalen Philosophen, alles Unrecht ohne Klagen, ohne Aufbegehren zu erleiden, ohne Recht auf Widerstand, weder individuell noch gar kollektiv und politisch. Das Recht der Frauen auf »Widerstand gegen Unterdrückung« beinhaltet selbstredend auch Widerstand gegen den tyrannischen Bürger, der die Frau nicht nur durch seinen Staat, sondern persönlich unterdrückt.

Die Artikel I-XVII der Frauenrechte sind weitgehend eine Paraphrase der Deklaration der Männerrechte, aber sie fordern nicht nur strikt das Gleiche für die Frau, was die Männer für sich allein gefordert hatten, sie melden zudem Rechte an, deren die Frau als weiblicher Mensch, als Mutter bedarf. Doch die Deklaration der Frauenrechte ist noch weit mehr: nicht allein die Negation der männerspezifischen Forderungen, denn die Frauen, die Ausgeschlossenen, tun nicht das gleiche. Sie schließen die Männer nicht von Menschen- und Bürgerrechten und vom Staat aus, sondern beziehen sie in ihre Deklaration der Rechte der Menschen, nämlich für weibliche und männliche Menschen, ein. Damit ist Gouges an demokratischer Radikalität und egalitärer Humanität und Moral den männlichen Philosophen und Politikern weit überlegen: utopisch weit vorausdenkend antizipiert Gouges eine nichtpatriarchale egalitäre Gesellschaft, wie sie kein männlicher Theoretiker vor ihr und nach ihr gedacht hat. Denn sie geht an die Wurzel: das Unterwerfungsverhältnis Familienväter-Frauen soll beendet, die patriarchale Ehe zu einem Verhältnis von Gleichen werden. Gouges hat offensichtlich auch an die ökonomische Gleichheit gedacht, denn der letzte Artikel ihrer Deklaration  behandelt  die Eigentumsverhältnisse:  sie fordert konsequent die Aufteilung des Eigentums unter die Geschlechter, d. h. die Neuverteilung zu gleichen Teilen zwischen den bisherigen Alleineigentümern, den Familienvätern und den eigentumslosen Ehefrauen. Sie scheint bereits sehr deutlich zu erkennen, daß die Rechtlosigkeit und politische Machtlosigkeit der Frauen auf der ungleichen Eigentums-verteilung zwischen den Geschlechtern beruht.

Um die materielle und juridische wie politische Gleichheit herzustellen und zu sichern, entwirft sie die Theorie von einem »Contrat social« zwischen Frauen und Männern, d. h. sie wendet die Ideen des Vertragsrechtes auch auf das soziale Verhältnis Männer-Frauen an, und nicht nur auf das Verhältnis Bürger zu Bürger, Mann zu Mann.

Ist bisher das Verhältnis gekennzeichnet von extrem ungleicher Machtverteilung und Prostitution, Verelendung der Frau und der Kinder, und ist die Ehe »das Grab des Vertrauens und der Liebe«, so soll die neue, egalitäre, vertraglich geregelte Ehe die Grundlage der gleichberechtigten Gesellschaft sein. Die Vertragstheoretiker, namentlich Rousseau, werden damit beim Wort genommen und radikal transzendiert, indem auch die Familie, die Hausherrschaft revolutioniert werden sollen. Das bedeutet, daß die Frau als autonomes, vertragsschließendes Subjekt die Bedingungen des Zusammenlebens, Regelungen betreffend die Kinder und die Eigentumsfragen selbst bestimmt - ein juristischer Akt, in welchem Frau und Mann sich vertragen, statt daß die Frau als Besiegte und gehorsampflichtige Ehefrau dem Ehe- und Hausherren unterworfen wird. Ihr Sozialvertrag für das Verhältnis Frauen-Männer folgt dem Muster des bürgerlichen Vertrages zwischen Individuen und zwischen den sich vertragenden Individuen und ihrem Staat: die vertraglichen Vereinbarungen auf individueller Ebene werden durch Gesetz, Autorität und Macht des Rechtsstaates gesichert. Die bisher schrankenlose Freiheit und Willkür der Männer, »die so viele Opfer in die Hände der Schande, der Erniedrigung und Verwahrlosung menschlicher Prinzipien treibt«, soll durch Gesetze eingeschränkt und durch Eigentumsrechte zugunsten der Frauen und Kinder ersetzt werden. Das Wohl der Frauen und Kinder darf nicht länger in das Belieben und die Willkür des Mannes gestellt werden, sondern das Gesetz (an dem Frauen als Gesetzgeber mitwirken!) und der Staat müssen das Recht der Frauen und Kinder auch gegen den Willen des Mannes erzwingen, so wie die Einhaltung anderer Verträge - die zwischen Männern - durchgesetzt wird.

Olympe Marie de Gouges hat mit ihrer Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin ein Jahrtausend der politisch-philosophischen Diskussion des Naturrechts und des »Rechtsstaates« als Herrendisput entlarvt und die vermeintlich universalen und wahren Erkenntnisse als bornierte, extrem frauenverachtende Ideologie gekennzeichnet. Sie hat die Vertragsidee auf die bis dahin als Vertragsobjekte (nämlich als Eigentumsobjekte) behandelten Frauen ausgedehnt und sie damit als handelnde Subjekte definiert, als Vertragspartner, als bürgerrechtlich Handlungsfähige. Sie hat damit alle bisher von Männern betriebene politische Philosophie mit einem Wurf radikal-demokratisch überholt: nämlich die absolute personale und politische Macht der Familienväter über die Frauen aufgekündigt.

Um diese politischen Ideen in die Praxis umzusetzen sind von Seiten der Frauen unendlich lange und mühsame Kämpfe nötig, die während des ganzen 19. Jahrhunderts in Frankreich, USA und allen europäischen Ländern andauern. Die französischen Frauen wurden erst nach dem zweiten Weltkrieg in die verfassungsmäßigen Grundrechte einbezogen und erhielten das Wahlrecht erst 1944. Wo immer Frauen das Wahlrecht erkämpften, blieb doch die patriarchale Ehe und die ökonomische Verelendung erhalten. Die Revolution, die Olympe Marie de Gouges 1791 ausrief, ist noch nicht vollbracht.

 

Jean Antoine de Condorcet 

 

Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht, 1789

 

Dieses Plädoyer für das Bürgerrecht der Frauen erschien zuerst im Journal de la societe, No. 5, Paris 1789. Der dieser Übersetzung durch Romina Schmitter und Theresia Sauter zugrundeliegende Text ist den Oeuvres de Condorcet, pub. par A. Condorcet-O'Connor et M. F. Arago, Paris 1847, Tome 10 entnommen.

 

Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht

 

Die Menschen können sich an die Verletzung ihrer naturgegebenen Rechte so gewöhnen, daß unter denen, die sie verloren haben, keiner daran denkt, sie zurückzufordern, und nicht glaubt, ein Unrecht erlitten zu haben.

Einige dieser Verletzungen sind sogar den Philosophen und Gesetzgebern entgangen, als sie sich mit dem größten Eifer damit befaßten, die Grundrechte der einzelnen Glieder des Menschengeschlechts zu etablieren, die sie zur alleinigen Grundlage ihrer politischen Institutionen machten.

Haben sie z. B. nicht alle das Gleichheitsprinzip der Rechte verletzt, indem sie ganz einfach die Hälfte des Menschengeschlechts des Rechts beraubten, an der Gesetzgebung teilzunehmen, indem sie die Frauen vom Bürgerrecht ausschlössen?

Gibt es einen stärkeren Beweis für die Macht der Gewohnheit selbst über aufgeklärte Menschen, als denjenigen, daß man sich auf das Gleichheitsprinzip der Rechte da beruft, wo drei-oder vierhundert Männer durch ein absurdes Vorurteil dessen beraubt werden, dort jedoch schweigt, wo es sich um zwölf Millionen Frauen handelt? Um zu widerlegen, daß dieser Ausschluß ein Akt der Tyrannei ist, müßte man entweder beweisen, daß die natürlichen Rechte der Frauen nicht unbedingt die gleichen sind wie die der Männer, oder daß sie nicht fähig sind, sie auszuüben.

Die Menschenrechte leiten ihre Berechtigung jedoch allein daraus ab, daß Menschen sinnliche Wesen sind, sich moralische Ideen aneignen und mit diesen Ideen umgehen können.

Da nun die Frauen die gleichen Fähigkeiten aufweisen, haben sie notwendigerweise auch die gleichen Rechte. Entweder hat kein Glied des Menschengeschlechts wirkliche Rechte, oder sie alle haben die gleichen, und derjenige, der gegen das Recht eines anderen stimmt, mag er auch einer anderen Religion, einer anderen Hautfarbe oder dem anderen Geschlecht angehören, hat damit seine Rechte verwirkt. Es dürfte schwer sein zu beweisen, daß Frauen unfähig sind, das Bürgerrecht auszuüben. Warum sollte eine Gruppe von Menschen, weil sie schwanger werden können und sich vorübergehend unwohl fühlen, nicht Rechte ausüben, die man denjenigen niemals vorenthalten würde, die jeden Winter unter Gicht leiden und sich leicht erkälten?

Angenommen, Männer weisen eine geistige Überlegenheit auf, die nicht notwendige Folge eines Unterschieds in der Erziehung ist (was noch lange nicht bewiesen ist und was bewiesen werden müßte, um nicht die Frauen ungerechterweise eines Naturrechts zu berauben), so kann diese Überlegenheit nur in zwei Punkten bestehen: man sagt, daß keine Frau eine wichtige Entdeckung in den Wissenschaften gemacht und sich als Genie in den Künsten, in der Literatur etc. ausgewiesen habe, aber zweifellos würde man niemals vorgeben, das Bürgerrecht nur den Genies zuzugestehen. - Man sagt außerdem, daß keine Frau das gleiche Spektrum von Kenntnissen hat und die gleiche Kraft des Verstandes wie manche Männer. Aber was folgt daraus anderes, als daß mit Ausnahme einer wenig zahlreichen Gruppe von sehr begabten Männern völlige Gleichheit herrscht zwischen den Frauen und dem Rest der Männer. Und wenn man diese kleine Gruppe beiseite läßt, teilen sich Unterlegenheit und Überlegenheit gleichmäßig auf beide Geschlechter auf.

Da es nun völlig absurd wäre, das Bürgerrecht und die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden auf diese überlegene Klasse zu beschränken, warum sollte man nicht eher diejenigen unter den Männern, die einer großen Anzahl von Frauen unterlegen sind, statt der Frauen davon ausschließen?

Könnte man schließlich sagen, daß der weibliche Geist und das weibliche Herz Züge aufweisen, die sie vom Genuß ihrer natürlichen Rechte aussperren?

Untersuchen wir zunächst die Tatsachen. Elisabeth von England, Maria Theresia, die zwei Katharinas von Rußland haben bewiesen, daß es weder seelische Stärke noch geistiger Mut waren, die den Frauen fehlten. Elisabeth hatte alle weiblichen Schwächen; haben sie ihrer Regierung mehr geschadet als die männlichen der Regierung ihres Vaters oder ihres Nachfolgers? Und hatten etwa die Liebhaber einiger Herrscherinnen einen gefährlicheren Einfluß als die Mätressen von Ludwig XIV., Ludwig XV. oder selbst von Heinrich IV.? Glaubt man etwa nicht, daß Frau Macaulay im Unterhaus besser argumentiert hätte als viele Vertreter der englischen Nation? Hätte sie nicht die Frage der Gewissensfreiheit von einer höheren Warte aus und mit größerem Verstand behandelt als Pitt? Obwohl sie ebenso begeistert für die Freiheit war wie M. Burke es für die Tyrannei sein kann, wäre sie bei der Verteidigung der französischen Verfassung in einen so absurden und abstoßenden Wortschwall verfallen wie der, mit dem dieser berühmte Redner sie angegriffen hat?

Wären die Bürgerrechte in Frankreich bei den Generalständen von 1614 nicht besser verteidigt worden durch die Adoptivtochter von Montaigne als durch den Ratgeber Courtin, der an Zauberei und Okkultismus glaubte? War die Prinzessin des Ursins nicht Chamillard überlegen? Hätte die Marquise von Chatelet eine Depesche nicht eben so gut verfaßt wie M. Rouille? Und hätte Madame de Lambert so absurde und barbarische Gesetze wie der Justizminister d'Armenonville gegen die Protestanten, gegen die Hausdiebe, die Verschwörer und die Neger gemacht?

Wenn man einen Blick auf die Liste derjenigen wirft, von denen sie regiert wurden, dann haben die Männer keinen Grund, so stolz zu sein.

Frauen sind den Männern in den sanften und häuslichen Tugenden überlegen. Sie wissen wie die Männer die Freiheit zu lieben, obwohl sie nicht all ihre Vorteile genießen können. Und in Republiken hat man häufig gesehen, wie sie sich für sie geopfert haben: sie haben die Bürgertugenden immer bewiesen, wenn der Zufall oder politische Wirren sie auf den Schauplatz geführt haben, von dem sie der Hochmut und die Tyrannei der Männer bei allen Völkern sonst ferngehalten haben.

Es wird gesagt, daß Frauen trotz viel Geist, Scharfsinn und ihrer Argumentierfähigkeit, die in gleichem Maße entwickelt ist wie bei subtilen Dialektikern, sich doch nie durch das leiten ließen, was man die Vernunft nennt.

Diese Beobachtung ist falsch: sie folgen zwar nicht der Vernunft der Männer, lassen sich aber durch ihre eigenen leiten.

Da ihre Interessen nicht die gleichen sind, und da die gleichen Dinge für sie nicht die gleiche Bedeutung haben wie für uns, woran die Gesetze schuld sind, können sie, ohne daß es ihnen an Vernunft fehlt, sich von anderen Prinzipien leiten lassen und einem anderen Ziel zuneigen. -

Es ist ebenso angemessen für eine Frau, sich um ihre äußere Erscheinung zu kümmern, wie es für Demosthenes vernünftig war, seine Stimme und seine Bewegungen zu pflegen.

Es wird gesagt, daß Frauen zwar besser als die Männer, sanfter, sensibler und weniger den Lastern unterworfen seien, die auf Egoisnaus und Hartherzigkeit zurückzuführen sind, daß sie aber kein richtiges Gerechtigkeitsgefühl hätten, daß sie eher ihrem Gefühl als ihrem Gewissen gehorchten. Diese Beobachtung ist schon richtiger, aber sie beweist nichts: nicht die Natur, sondern die Erziehung, die soziale Existenz, verursachen diesen Unterschied. Weder die eine noch die andere haben den Frauen beigebracht, was recht und gerecht ist, sondern nur, was sich schickt, geziemt. Ferngehalten von den großen Geschäften, von allem, was sich nach einer rigorosen Rechtsprechung, nach positiven Gesetzen entscheidet, sind die Dinge, mit denen sie sich befassen, auf die sie Einfluß nehmen, genau die, die sich durch natürlichen Anstand und durch das Gefühl regeln lassen. Es ist also ungerecht, den Frauen weiterhin den Genuß ihrer natürlichen Rechte zu verweigern und dafür Gründe anzuführen, die nur deshalb eine gewisse Berechtigung haben, weil sie diese Rechte nicht genießen.

Wenn man gegen die Frauen derartige Begründungen zuließe, müßte man auch den Teil des Volkes des Bürgerrechts berauben, der sich weder Kenntnisse erwerben noch seinen Verstand betätigen kann, weil er pausenlos seiner Arbeit nachgehen muß. Und bald würde man, nach und nach, nur noch die Männer als Bürger anerkennen, die eine Ausbildung in öffentlichem Recht durchgemacht haben. Wenn man solche Prinzipien zuläßt, muß man als notwendige Folge auf jede freie Verfassung verzichten. Die verschiedenen Aristokraten haben ganz ähnliche Vorwände als Begründung oder Entschuldigung gehabt. Schon die Etymologie dieses Wortes beweist das.

Man kann nicht als Grund die Abhängigkeit anbringen, in der sich die Frauen gegenüber ihren Ehemännern befinden, denn es wäre gleichzeitig möglich, diese Tyrannei des Zivilrechts abzuschaffen. Und nie kann eine Ungerechtigkeit dazu dienen, eine andere zu begehen.

Es stehen also nur noch zwei Einwände zur Debatte. In Wirklichkeit stellen sie der Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht keine anderen Gründe entgegen als die der Nützlichkeit, Gründe, die ein wirkliches Recht nicht aufwiegen können. Der entgegengesetzte Grundsatz, das Argument der Schädlichkeit, hat zu oft Tyrannen als Vorwand und Entschuldigung gedient. Im Namen der Nützlichkeit stöhnen Handel und Industrie unter Ketten, bleibt der Afrikaner in die Sklaverei gebannt. Im Namen des öffentlichen Nutzens hat man die Bastille gefüllt, hat man Zensoren eingesetzt, den Geheimprozeß aufrecht erhalten und die Folter verhängt.

Trotzdem   werden  wir  diese  Einwände  diskutieren,   um nichts unbeantwortet zu lassen. Man würde, sagt man, den Einfluß der Frauen auf die Männer zu fürchten haben. Wir antworten zunächst, daß dieser Einfluß wie jeder andere sehr viel zweifelhafter im Verborgenen ist als in einer öffentlichen Diskussion, daß der Einfluß, der den Frauen eigen sein könnte, falls er sich auf mehr als ein einzelnes Individuum erstreckt, umso schneller verginge, und daß er nicht von Dauer sein kann, sobald er bekannt ist. Da übrigens bisher Frauen in keinem Land völlige Gleichheit erreicht haben und deswegen ihr Einfluß überall nicht weniger existiert hat, und da ihr Einfluß umso gefährlicher war, je mehr die Frauen von den Gesetzen mit Füßen getreten wurden, scheint es doch, daß man nicht viel Vertrauen in dieses Heilmittel setzen sollte. Ist es nicht im Gegenteil wahrscheinlicher, daß sich dieser Einfluß verringert, wenn die Frauen weniger darauf angewiesen wären, ihn zu wahren, und wenn er aufhörte, für sie das einzige Mittel zu sein, sich zu verteidigen und der Unterdrückung zu entgehen?

Wenn Höflichkeitsregeln der Mehrzahl der Männer nicht erlauben, in Gesellschaft ihre Meinung gegen eine Frau zu verteidigen, so hat diese Höflichkeit mehr mit Hochmut zu tun: man läßt einen Sieg fahren, weil er folgenlos ist. Die Niederlage ist nicht demütigend, weil sie freiwillig hingenommen wurde. Glaubt man ernsthaft, daß das in einer öffentlichen Diskussion über eine wichtige Angelegenheit genau so wäre? Verbietet die Höflichkeit, gegen eine Frau zu prozessieren? Weiterhin wird man sagen, dieser Wechsel widerspräche dem allgemeinen Nutzen, weil er die Frauen von den Aufgaben entfernte, die die Natur ihnen vorbehalten zu haben scheint. Dieser Einwand scheint mir nicht einleuchtend. Was für eine Verfassung man auch immer verabschiedet, sicher ist, daß im gegenwärtigen Zustand der europäischen Zivilisation es immer nur eine sehr

kleine Anzahl von Bürgern geben wird, die sich den öffentlichen Aufgaben widmen können. Man würde Frauen ebensowenig aus ihrem Haushalt holen, wie man Bauern von ihren Pflügen und Handwerker von ihren Werkstätten entfernt. In den reicheren Klassen sehen wir nirgends, daß die Frauen sich den häuslichen Aufgaben so andauernd hingeben, daß man fürchten muß, sie davon wegzuziehen, und eine ernsthafte Beschäftigung entfernte sie davon viel weniger als die oberflächlichen Vergnügungen, zu denen sie Langeweile und schlechte Erziehung verdammen. Der Hauptgrund dieser Furcht ist die Vorstellung, daß jeder Mensch, dem es erlaubt ist, die Bürgerrechte wahrzunehmen, an nichts anderes denkt als ans Regieren. Was zu einem gewissen Grad wahr sein kann zum Zeitpunkt, da eine Verfassung sich etabliert. Aber diese Bewegung wird nicht von Dauer sein. Also muß man nicht glauben, daß Frauen, weil sie Mitglieder der Nationalversammlung werden können, gleich Kinder, Haushalt und Nadel aufgeben. Sie wären dadurch eher besser geeignet, ihre Kinder zu erziehen, Menschen zu bilden.

Natürlich stillt die Frau ihre Kinder, versorgt sie in ihren ersten Lebensjahren. Durch diese Aufgaben ans Haus gebunden, schwächer als der Mann, ist es auch natürlich, daß sie ein zurückgezogeneres, häuslicheres Leben führt. Frauen derselben Schicht wie die Männer wären also durch ihre Situation gezwungen, einige Stunden der Pflege zu opfern.

Das kann ein Grund sein, sie bei Wahlen nicht zu bevorzugen, aber das kann nicht die Begründung für einen gesetzlichen Ausschluß sein.

Der Galanterie würde diese Veränderung Abbruch tun, doch die häuslichen Sitten würden durch diese Gleichheit, wie durch jede andere, gewinnen.

Bis heute haben alle bekannten Völker entweder wilde oder korrupte Sitten gehabt. Ich kenne keine Ausnahme als die der Amerikaner der Vereinigten Staaten, die in kleiner Zahl über ein großes Territorium verstreut sind. Bisher hat bei allen Völkern   die   gesetzliche  Ungleichheit  zwischen  Männern  und Frauen bestanden. Und es wäre nicht schwer zu beweisen, daß bei diesen beiden Erscheinungen, der gesetzlichen Ungleichheit und der korrupten Sitten, die gleich stark verbreitet sind, das zweite eines der Hauptursachen für das erstere ist. Denn die Ungleichheit führt notwendig zur Korruption und ist deren häufigste Ursache, wenn nicht sogar die einzige.

Ich bitte nur darum, daß man diese Gründe in anderem als dem spöttischen und deklamatorischen Ton zu widerlegen wagt; daß man mir vor allem einen natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen aufzeigt, der den Ausschluß vom Recht legitimieren könnte.

Über die Gleichheit der Rechte aller Männer in unserer neuen Verfassung hat es erhabene Reden und unendlich viele Witzeleien gegeben; aber bis heute hat noch niemand einen einzigen Grund dagegen vorbringen können. Und das liegt sicher weder an mangelndem Talent noch an mangelndem Eifer. Ich möchte glauben, daß es mit der Gleichheit der Rechte zwischen den beiden Geschlechtern genau so sein wird. Es ist eigenartig genug, daß man in vielen Ländern Frauen für unfähig gehalten hat, ein öffentliches Amt zu bekleiden, nicht aber, den Königsthron zu besteigen; daß in Frankreich eine Frau Regentin, aber bis 1776 in Paris nicht Modehändlerin sein konnte.[1] Und daß man schließlich in den Wahlversammlungen unserer Amtsbezirke im Namen eines Lehens etwas gewährte, was man im Namen der Natur verweigerte. Mehrere unserer adligen Abgeordneten verdanken es den Damen, daß sie unter den Repräsentanten der Nation weilen. Warum sollte man statt den Frauen, die ein Lehen besitzen, dies Recht zu nehmen, es nicht ausdehnen auf alle Frauen, die Güter haben, die Hausherrinnen sind? Wenn man es für absurd hält, daß das Bürgerrecht durch einen Stellvertreter ausgeübt wird, warum sollte man Frauen nicht lieber die Freiheit zugestehen, dieses Recht persönlich auszuüben, anstatt es ihnen ganz wegzunehmen?

 

Kommentar

 

J. A. de Condorcet ist sehr wahrscheinlich der erste und in den Revolutionsjahren der einzige männliche Autor, der wie die frühen Feministinnen naturrechtlich argumentierend die Grundsätze des »Ver-nunft«-rechts als verletzt erachtet, weil sie auf Männer beschränkt werden. Es ist bemerkenswert, daß schon jetzt und auch durch ihn der politische Terminus »die Hälfte des Menschengeschlechts« gebraucht wird. Die große »Klasse« der ausgeschlossenen Frauen wird als eine soziale und politische Gruppe gesehen: ihnen allen ist das Kriterium des weiblichen Geschlechts und des naturrechtlichen Ausschlusses gemeinsam. Sie werden also nicht, wie üblich, unreflektiert dem »Stand« oder der Familie ihres Vaters oder Ehemannes zugerechnet: ihr eigener Status als Individuen, nicht als Familienmitglied, im Naturrecht und in der gegenwärtigen Revolutionspolitik wird analysiert. Condorcet bezeichnet den Ausschluß aller Frauen als »Akt der Tyrannei«, wie die Frauen selbst das tun: er kommt als kritischer Mann, der keine patriar-chalen Interessen vertritt, zu dem gleichen politischen Urteil wie viele feministische Autorinnen. Seine anerkannte Autorität als Mann, Gelehrter und Politiker kommt den französischen Frauen mit der Publikation dieses Artikels im Journal de la Societe zu diesem Zeitpunkt sehr zu Hilfe, auch wenn Condorcet, solange er politischen Einfluß hatte, in der praktischen Politik nichts getan zu haben scheint, um diese Forderung auch durchzusetzen. Dennoch bleibt es verdienstvoll, auf die pa-triarchal-bürgerliche Prämisse der Naturrechts-Philosophien hingewesen zu haben: nämlich die »selbstverständliche« und höchst widersprüchliche Annahme, daß »die natürlichen Rechte der Frauen« nicht die gleichen seien, »wie die der Männer«, das Ideologem von zweierlei »Naturrecht« und folglich von zweierlei positivem Recht.

Seit Plato scheint er der erste zu sein, der von den »gleichen Fähigkeiten« der Frauen ausgeht und daraus gleiche Rechte in der Gesellschaft herleitet.

Er will das Kriterium des Menschseins, nämlich »moralische Urteilsfähigkeit«, auch auf Frauen angewandt sehen: Religion, Hautfarbe und weibliches Geschlecht sollen keine ausschließenden Kriterien sein, die die Betroffenen aus der »Menschheit« und folglich aus der Geltung des Naturrechts ausklammem. Wenn man bedenkt, daß ein derartiges Gebot erst nach dem zweiten Weltkrieg Eingang in die deutsche Verfassung fand, so vermag man einzuschätzen, wie nonkonformistisch und konsequent egalitär Condorcet mit der Naturrechtslehre umging. Durch diese Aufzählung in einer Reihenfolge mit Religion (das bedeutet, daß die Zugehörigkeit zur mosaischen Religion kein Kriterium des Ausschlusses von gleichen Bürgerrechten sein darf) und Hautfarbe (d. h. gleiche Bürgerrechte auch für Farbige in Frankreich und in den französischen Kolonien) wird schon sehr deutlich, daß in diesem Zusammenhang weiblicher Sexus eine politische Kategorie ist (und keine anthropologische, physiologische oder biologische).

Condorcet diskutiert und widerlegt bereits einige der höchst ideolo-gielastigen Begriffe, die in den Emanzipationsdiskussionen immer wieder analysiert und als reaktionär zurückgewiesen werden müssen:

 

1. Wegen der »Mutterschaft« können Frauen keine Bürgerrechte wahrnehmen.

2. Die »geistige Überlegenheit« des Mannes versus »geistige Unterlegenheit der Frau (als anthropologische Konstante).

3. Die »Vernunft« der Männer versus die »Unvernunft« der Frauen als Rechtfertigung für die Privilegierung der ersteren.

4. Das »Gewissen« auf Seiten der Männer versus die Emotionen der Frauen.

5. Gerechtigkeitsgefühl der Männer versus kein Gerechtigkeitsgefühl auf Seiten der Frauen.

6. Unabhängigkeit der Männer versus Abhängigkeit der Frauen von diesen.

7. Politisch redliche Männer versus schlechter Einfluß der Frauen auf die Politik.

8. Die Männer als Garanten des »Gemeinwohls« versus die Gefährlichkeit der Frauen für das Gemeinwohl.

9. Politik als angemessene Beschäftigung für Männer versus Politik als unangemessene Beschäftigung für Frauen (wegen der Vernachlässigung des Hauswesens).

Mit diesem Katalog von positiven Vorurteilen zu Gunsten des Mannes und negativen Vorurteilen zu Ungunsten der Frauen hat sich schon Condorcet auseinandergesetzt, und man muß feststellen, daß sie sich im Laufe der Geschichte der letzten zweihundert Jahre fast gar nicht gewandelt haben.

 

Flora Tristan

 

Die Arbeiter-Vereinigung, 1844 

Die Emanzipation der Frau oder das Testament einer Paria, 1846

 

1837 Petition an die Deputiertenkammer um die Wiedereinführung der Ehescheidung.

1838 Petition um die Abschaffung der Todesstrafe.
Organisatorisch und agitatorisch aktiv für die Befreiung der Frauen und der Arbeiter.

Der folgenden Übersetzung durch Gertrud Finus (Die Arbeiter-Vereinigung) liegt die Originalausgabe »Union Ouvriere«, Paris et Tou-lon 1844, zugrunde, der Übersetzung durch Romina Schmitter und Gertrud Finus (Die Emanzipation der Frau ...) die Originalausgabe »L'Emancipation de la Femme ou Le Testament de la Paria«, ed. A. Constant, Paris 1846.

 

Die Arbeitervereinigung

 

Arbeiter und Arbeiterinnen,

hört mir zu. Seit 25 Jahren haben die intelligentesten und selbstlosesten Menschen ihr Leben der Verteidigung Eurer heiligen Sache geweiht:[1] sie haben durch Schriften, Reden, Berichte, Aufzeichnungen, Untersuchungen, Statistiken der Regierung und den Reichen gezeigt, bezeugt und nachgewiesen, daß die Arbeiterklasse sich zum aktuellen Zeitpunkt materiell und seelisch in einem unduldbaren Zustand des Elends und des Leidens befindet; notwendigerweise resultiert daraus, daß die Mehrzahl der Arbeiter verbittert durch das Unglück, abgestumpft durch Unwissenheit und eine Arbeit, die ihre Kräfte übersteigt, für die Gesellschaft gefährlich wurden; - sie haben der Regierung und den Reichen bewiesen, daß nicht nur die Gerechtigkeit und die Menschlichkeit die Pflicht auferlegen, den Arbeiterklassen durch ein Gesetz über die Organisation der Arbeit zu Hilfe zu kommen, sondern daß selbst das Interesse der allgemeinen Sicherheit gebieterisch diese Maßnahme verlangt. Nun, seit 25 Jahren haben solch beredte Stimmen nicht die Fürsorge der Regierung zu erwecken vermocht, trotz der Gefahren, in denen sich die Gesellschaft befindet, angesichts von 7—8 Millionen durch das Leiden und die Verzweiflung aufgebrachte Arbeiter, von denen eine große Anzahl sich vor den Selbstmord (...) oder den Diebstahl! gestellt sehen (...) (S. 3)

Bis jetzt hat die Frau in den menschlichen Gesellschaften nicht gezählt. - Was ist das Ergebnis? - Der Priester, der Gesetzgeber, der Philosoph haben sie als wirkliche Paria behandelt. Die Frau (das ist die Hälfte der Menschheit) wurde aus der Kirche, aus dem Gesetz, aus der Gesellschaft ausgeschlossen. (...)(S. 44)

Die Minderwertigkeit der Frau einmal als Prinzip erklärt und aufgestellt, sehen wir, welche verheerenden Konsequenzen für das Gemeinwohl aller in der Menschheit daraus resultieren. Da man glaubt, daß es der Frau durch ihre Art an Stärke und Intelligenz fehlt und daß sie zu wichtigen und nützlichen Arbeiten unfähig sei, hat man sehr logisch daraus geschlossen, daß man seine Zeit verlieren würde, wenn man ihr eine vernünftige, solide, strenge Ausbildung geben würde, die sie in die Lage versetzen würde, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein. Deshalb hat man sie dazu erzogen, eine liebe Puppe zu sein und eine Sklavin, dazu bestimmt, ihren Meister zu zerstreuen und ihm zu dienen. (...) (S. 49/50)

Als Kind wird sie der Barmherzigkeit einer Mutter und einer Großmutter überlassen, die selbst auch keine Erziehung erhalten haben. (...) (S. 52)

Statt daß man sie in die Schule schickt, [2] behält man sie eher als ihre Brüder zuhause, weil man sie besser im Haushalt verwenden kann, sei es um die Kinder zu wiegen, Besorgungen zu machen, sich um das Essen zu kümmern, etc. - Mit 12 Jahren gibt man sie in die Lehre: da wird sie weiter ausgebeutet, durch die Lehrherrin, und oft wird sie genau so schlecht behandelt, wie sie es bei den Eltern war. (...) (S. 52)

Dann wird sie heiraten, ohne Liebe, allein deshalb, weil man heiraten muß, will man sich der elterlichen Tyrannei entziehen. Was wird geschehen? - Ich vermute, daß sie Kinder haben wird; - jetzt ist sie an der Reihe, völlig unfähig zu sein, ihre Söhne und Töchter angemessen aufzuziehen: sie wird sie genauso grob behandeln, wie ihre Mutter und ihre Großmutter zu ihr waren. (...) (S. 53)

Der Ehemann hat mehr Bildung erhalten, ist der Chef durch das Gesetz, und auch durch das Geld, das er in den Haushalt einbringt;[3] dadurch glaubt er sich (und ist es auch tatsächlich) der Frau weit überlegen, die selbst nur ihr kleines Tagesgehalt mitbringt und im Haus nur die ganz ergebene Dienerin ist. (...) (S. 54)

Fangt ihr an zu begreifen, ihr Männer, die ihr »Skandal« schreit, bevor ihr gewillt seid, die Frage zu prüfen, warum ich Rechte für die Frau fordere? - Warum ich möchte, daß sie in der Gesellschaft auf absolut gleichem Fuß wie der Mann steht und daß sie es auf Grund des gesetzmäßigen Rechts genießt, das jedem bei seiner Geburt zusteht.

Ich verlange Rechte für die Frauen, weil ich überzeugt bin, daß alles Unglück der Welt von diesem Vergessen und der Verachtung kommen, mit der man bisher die natürlichen und unverjährbaren Rechte des Wesens Frau behandelt hat. - Ich verlange Rechte für die Frau, weil sie das einzige Mittel sind, um sich um ihre Erziehung zu kümmern, und die Erziehung der Frau bedingt die Erziehung des Mannes, besonders die des

Mannes aus dem Volk. - Ich verlange Rechte für die Frau, weil das das einzige Mittel ist, um ihre Rehabilitation vor der Kirche, vor dem Gesetz und vor der Gesellschaft zu erlangen, und diese vorausgehende Rehabilitation ist nötig, damit die Arbeiter selbst rehabilitiert werden. - Alle Übel der Arbeiterklasse lassen sich in diesen beiden Worten zusammenfassen: Not und Unwissenheit, Unwissenheit und Not. - Um aber aus diesem Irrgarten herauszukommen, sehe ich nur ein Mittel: beginnen, die Frauen zu unterrichten, weil die Frauen damit beauftragt sind, die männlichen und weiblichen Kinder zu unterrichten (...) (S. 62/63)

 

Aufruf an die Frauen aller Gesellschaftsschichten, aller Altersstufen, aller Parteien, aller Länder

 

Frauen,
Ihr, deren Seele, Herz, Geist, Sinne von einer solchen Empfindsamkeit sind, daß Ihr ohne Vorwissen Tränen habt für alle Schmerzen, eine Klage über jedes Wimmern, eine herrliche Begeisterung für jede edle Tat, Aufopferung für alle Leiden, ein tröstendes Wort für den Bekümmerten; - Frauen, Ihr, die Ihr von dem Bedürfnis verzehrt werdet zu lieben, zu handeln, zu leben; Ihr, die Ihr überall ein Ziel sucht für diese brennende und unaufhörliche Fähigkeit der Seele, die Euch lebendig macht, auch aushöhlt, zernagt, tötet; - Frauen, bleibt Ihr ruhig und immer im Verborgenen, wenn die größte Klasse und die nützlichste, Eure Brüder und Schwestern, die Proletarier, die arbeiten, leiden, weinen und stöhnen, kommen, um Euch mit flehenden Händen zu bitten, ihnen zu helfen aus Not und Unwissenheit! Frauen, die Arbeitervereinigung hat auf Euch ihr Auge geworfen. - Sie hat verstanden, daß sie keine aufopferungsvolleren,    intelligenteren,    mächtigeren    Bundesgenossen   haben könnte. - Frauen, die Arbeitervereinigung hat ein Recht auf Eure Dankbarkeit. Sie ist es, die als erste und grundsätzlich die Rechte der Frau anerkannt hat. Heute werden also Eure Sache und die ihrige zur gemeinsamen Sache. - Frauen der besitzenden Klasse, Ihr, die Ihr gebildet seid, intelligent, die Ihr die Macht genießt, die Erziehung, Verdienste, Rang und Reichtum verleihen; Ihr, die Ihr die Männer, die Euch umgeben, beeinflussen könnt, Eure Kinder, Eure Dienstboten und die Arbeiter, die Euch unterstellt sind, bietet Euren mächtigen Schutz den Menschen, die selbst nichts besitzen als die Macht der Zahl und des Rechts. - Die Menschen, die nichts als ihre Arme haben, werden Euch Ihrerseits ihre Unterstützung darbieten. - Ihr seid unterdrückt durch die Gesetze, die Vorurteile; SCHLIESST EUCH den Unterdrückten AN, und wir werden mit Hilfe dieser gerechten und heiligen Allianz legal kämpfen können, ehrlich, gegen die Gesetze und Vorurteile, die uns unterdrücken. (S. 87/88)

Frauen, welchen Auftrag erfüllt Ihr in der Gesellschaft? -Keinen. Nun! Wenn Ihr Euer Leben würdig ausfüllen wollt, weiht es dem Sieg der heiligsten Sache: der Arbeitervereinigung.

Frauen, die Ihr in Euch das heilige Feuer fühlt, das man Glauben nennt, Liebe, Aufopferung, Intelligenz, Aktivität, werdet zu Verkünderinnen der Arbeitervereinigung. Schriftstellerinnen, Dichterinnen, Künstlerinnen, schreibt, um das Volk zu unterweisen, und die Vereinigung soll das Thema Eurer Lieder sein.

Ihr reichen Frauen, schafft all diese Eitelkeiten ab, mit denen Ihr Euch aufputzt, und die enorme Summen verschlingen, und lernt Euer Vermögen viel nützlicher und ruhmvoller anzuwenden. Spendet für die Arbeitervereinigung.

Frauen des Volkes, werdet Mitglieder der Arbeitervereinigung. Verpflichtet Eure Töchter, Eure Söhne, sich bei der Vereinigung einzuschreiben.

Frauen aus ganz Frankreich, der ganzen Welt, setzt Eure Ehre darein, mit Nachdruck und öffentlich die Verteidiger der Vereinigung zu sein.

Oh! Frauen, unsere Schwestern, verschließt Euch nicht unserem Apell! - Kommt zu uns, wir brauchen Eure Unterstützung, Eure Hilfe, Euren Beistand.

Frauen, im Namen Eurer Leiden und der unseren erbitten wir Eure Mitarbeit für unser großes Werk. (...) (S. 89)

Anmerkungen (im Original jeweils als Fußnote 1)

 

Die Emanzipation der Frau oder das Testament einer Paria

 

Was muß man tun, um diese korrumpierte Generation zu rühren? Wie tief muß das Messer schneiden, wenn es auf lebendes Fleisch treffen will auf dem Grunde des Krebsgeschwürs, das verwest? Im Namen der Leidenden, im Namen der Hungernden, im Namen derjenigen, die man langsam tötet, im Namen derjenigen, die sich für ein schmutziges Stück Brot verkaufen, im Namen derjenigen, die man zwingt, um den billigsten Fraß zu streiten wie die gemeinsten Tiere in den Kloaken des Verbrechens;

Im Namen der armen Frauen, die taxiert werden wie Fleisch für die Ausschweifung in den Schlachtereien der Prostitution und die man Freudenmädchen nennt, weil ihre Tränen wie den Verdammten Dantes für immer erstarrt sind und der Schmerz sie zuweilen lachen läßt vor Jammer; (...) (S. 9)

Im Namen dieser unschuldigen Opfer, mit denen die Unmoral eine Hochzeit mit Krämergeist handelt und die in Weiß und geschmückt mit Blumen wie Opfertiere zum Altar geführt werden, wo ein gezwungenermaßen im Zölibat Lebender ihrem Marterweg seinen ironischen Segen gibt, weil ein ehrenwerter Vater und eine sogenannte tugendhafte Mutter sie für ein bißchen Gold zu der Folter verurteilt haben, die Mezence eingeführt hatte, zu Umarmungen eines Kadavers;

Im Namen der Väter und Mütter, deren Kinder das Untier Gesellschaft verschlingt, im Namen der Männer, die verstümmelt und vergiftet werden, im Namen der Frauen, deren Herz man frißt und die nicht den Mut haben zu klagen, im Namen der Kinder, die zermalmt werden und deren Gehirn zerdrückt wird, damit sie weder Herz noch Gedanken haben ...

Ich habe geschrien, ich habe geweint, und Ihr habt gelacht! Ich habe mich getötet und mich vor Eure Füße geworfen, und Ihr habt mir den Fuß auf den Kopf gesetzt! Wer bin ich denn! Was gilt mein Geschick? Habe ich mein Leben nicht für dieses Volk gegeben? Das ist recht so: entehrt mich, werft mich ins Gefängnis, verleumdet mich, treibt die Beleidigungen noch weiter, werft mir ein Stück Brot unter den Tisch. Das ist gut! Ich nehme alles an, nur Euer Brot nicht. Dies alles ist für mich, aber das Volk - was tut Ihr für das Volk? Ach, ich habe es seit langem erraten - das Volk hat von Euch nichts zu erwarten. Der Wohlstand macht Euch betrunken, die Gewöhnung an Wonne und Gewissensbiß läßt Euch den Ärger ernster Gedanken fürchten: dies Volk ist Euch ein Ekel und Ihr verzeiht ihm nicht, daß es unglücklich ist und hungert! (...) (S.10/11)

Ich bin eine Frau gewesen, ich bin eine Mutter gewesen, und die Gesellschaft hat mir das Herz zermalmt. Man hat mich gepeinigt, weil ich gegen die Bosheit protestiert habe, und die Gesellschaft hat mich entehrt, als sie mit Widerwillen meine Peiniger verurteilt hat. Nun bin ich keine Frau mehr, ich bin keine Mutter mehr, ich bin eine Paria! (...) (S. 12)

Frauen, meine Schwestern, bleibt nicht müßig im Kampf, der sich vorbereitet, denn derjenige wird siegen, der am stärksten liebt. Gewiß, ich rufe Euch nicht, damit Ihr Eure Pflichten vergeßt, aber ich will Euch nur Lehren, die heiligste Eurer Pflichten zu erkennen. Gott hat Euch gemacht, um zu lieben. Aber was ist das, lieben? Es bedeutet wählen, um lieben zu können, muß man frei sein.

Meine Schwestern, seid nicht mehr die Sklaven, deren Körper man verkauft und deren Herzen ersticken. Macht es lieber wie ich: protestiert und sterbt.

Seid nicht mehr die Prostituierten schmutziger Begierden; seid nicht mehr die Sklavinnen männlicher Brutalität! (...) (S. 19/20)

In unserer unglücklichen Gesellschaft ist die Frau Paria von Geburt an, Dienerin von ihrer Lage her, unglücklich durch ihre Pflichten, und fast immer muß sie wählen zwischen Heuchelei und Entehrung.

Zweifellos wird man Einspruch erheben: es gebe würdige Frauen, heilige Frauen, Frauen, die zufrieden seien mit ihrem Geschick, die vollkommen ehrenwert seien und zurecht geehrt würden. Ja, ich weiß, das sind die erhabenen Märtyrerinnen; sie sind zufrieden, wie Sylvio Pellico zufrieden war mit seinem schweren Gefängnis.

Sie scheinen nicht zu leiden, weil ihre Würde größer als ihr Leiden ist oder weil sie niemals an ihre mißachteten Rechte gedacht haben oder weil sie die Ruhe der Resignation den Ängsten des Kampfes vorziehen (...) (S. 26)

Aber nein, werde ich ihnen sagen, ihr seid nicht glücklich, weil ihr nicht das Leben führt, für das Gott euch geschaffen hat.

Ihr seid verkümmert, erstickt, verdorben, entmutigt, und ihr resigniert, das ist alles. Aber Eure Aufgabe bleibt bestehen.

Christus hat gesagt, daß das Himmelreich Gewalt erleidet. Es ist leicht, zu weichen, es ist leicht, zu schweigen, wenn man für diesen Preis ruhig bleiben und geehrt werden soll.

Oh, wenn ihr wüßtet, was es kostet zu protestieren; wenn Euer schwaches Herz nur eine Ahnung hätte vom Kampf gegen eine Welt, in der einen keiner ermutigt und alles erdrückt!

Ihr würdet Euch fragen, was es für Mut braucht, um solchem Martyrium die Stirn zu bieten!

Nun, ich möchte Euch sagen, daß das Martyrium voll ist von bitterem, aber unermeßlichem Glück, daß es den Sieg im Kampf gibt und daß die Paria ihr Geschick nicht tauschen würde mit dem Beneidenswertesten unter Euch! (...) (S. 27)

 

Emanzipation

 

Wenn man die Sklaven befreien will, muß man sie unterrichten; deshalb habe ich dieses Buch geschrieben, das mein Testament sein wird. Ich wende mich vor allem an die Frauen, um sie zu befreien vom Aberglauben, der ihre Seele verdummt und ihr Herz verengt, um sie unabhängig von den Priestern zu machen, indem ich ihnen einen lebendigen Glauben gebe und die Liebe, die glühend genug ist, sie im Kampf zu tragen.

Die Andacht ist falsch, die ein edles Frauenherz gefangenhält in Passivität, die Faulheit ist und Gottlosigkeit.

Ihre Rechte sind die gleichen wie die der Männer! Sie haben darüber hinaus das göttliche Vorrecht der Mutterschaft. (...) (S. 111)

Die Stunde der Keuschheit und der Gerechtigkeit ist gekommen! Ja, der Keuschheit! Denn Eure Ehen sind ohne Liebe und geschlossen um den Preis des Geldes! Sie sind gemeine Prostitution!

Ja, der Keuschheit! Weil sie der Ruhm der Frau ist, weil sie ihr Bedürfnis ist und ihre Natur, und als Beweis will ich nichts anderes als jenen heiligen Instinkt, der nie ganz in ihr erstirbt, und den man »Scham« nennt!

Ja, die Stunde der Gerechtigkeit ist gekommen, weil die Frau für die Heuchelei nicht geboren ist und weil Gott ihr ins Herz gelegt hat, daß sie Gott nicht ohne Scham belügen könne und nicht ihr Herz.

Die Frau ist kein Eigentum, und das gemeine Recht, freie Wesen zu besitzen, ist Sklaverei!

Die Frau ist nicht geboren, Sklave zu sein.

Frauen, meine Schwestern! Ihr habt meine Worte so oft zurück gestoßen, weil man Euch sagte, ich wolle Euch ins Verderben stürzen.

Nein, sage ich Euch! Ich will Euch retten. Aber man muß Euch unterrichten, man muß Euch befreien von den Skrupeln einer falschen Religion, man muß Euch mit Mut bewaffnen! Wenn Ihr gelernt haben werdet, zu wollen, wird alles gut. (...) (S. 112)

 

Kommentar

 

Flora Tristan wird manchmal als eine der Frühsozialisten genannt, aber sie hat bisher keine ernsthafte Beachtung gefunden, und als frühfeministische Autorin wird sie selbstredend noch weniger anerkannt. Sie ist in beiden politischen Rollen interessant: bereits 1844 hat sie - also vier Jahre vor dem Kommunistischen Manifest von K. Marx - mit ihrer Schrift »Die Arbeitervereinigung« (Union Ouvriere) eine Art Manifest für die Arbeiter und Arbeiterinnen geschrieben und sie zur Selbstorganisation aufgerufen, während die Frühsozialisten und die wissenschaftlichen Sozialisten noch nur den Arbeiter vor Augen haben und die Arbeiterin vergessen. Wie fast alle Frauen, die zur sozioökonomi-schen Situation der Arbeiterin schreiben, sieht auch sie die enorme Ausbeutung der Frau, deren Lohn nur die Hälfte des Manneslohnes beträgt, obwohl sie so viel und so schwer, oft mehr und schwerer als der männliche Lohnarbeiter arbeitet. Männliche Ökonomen und Theoretiker nehmen diese Tatsache, dieses schreiende Unrecht nicht ernst, weil sie die Bevorzugung der männlichen Lohnarbeiter gutheißen.

Obwohl Flora Tristan bei weitem nicht die politische Bildung hat wie die meisten Frühsozialisten, ist sie ihnen doch an politischer Einsicht überlegen, weil sie Arbeiterinnen und Arbeiter anspricht, und zwar ohne die mehrfache Verelendung der Frauen zu unterschlagen: ihr Frühsozialismus ist stark feministisch, und ihr Feminismus ist bereits sozialistisch geprägt. Ihre Schrift »Die Arbeitervereinigung« ist daher nicht ohne weiteres als frühsozialistische einzuordnen, weil man die darin enthaltene radikal-feministische Sozialkritik nicht umgehen kann. Sie sieht nicht allein das Elend der Arbeiter und besonders das der Arbeiterinnen, sondern das doppelte, ja vielfache der Frauen. Um diesen absolut elenden und rechtlosen Status zu beschreiben, benutzt sie einen Begriff aus der indischen Kasten-Gesellschaft, »Paria«: die Frauen sind nicht nur elend durch die Lohnarbeit - wo ihr halber Lohn selbst von Lohnarbeitern gerechtfertigt wird -, sondern weit mehr als die Lohnarbeiter aus der »Gesellschaft« ausgeschlossen: wie Unbe-rührbare, Paria in der indischen Gesellschaft. Bei der Entwicklung einer umfassenden feministischen Gesellschaftstheorie sind Frauen seit Flora Tristan noch nicht viel weiter fortgeschritten. Selbst S. deBeauvoir und Kate Millett greifen zur metaphorischen Beschreibung des sozial-ökonomischen Status der Frauen auf den Begriff »Kaste« zurück, um anzudeuten, daß die Gesellschaftsmodelle von Ständen, Klassen, Schichten für Frauen nicht gelten, daß Frauen völlig außerhalb dieser Ordnungen stehen. Und das ist so in emphatischem Sinne: außerhalb des Rechtsstaates, außerhalb der »Klassen«, eine höchst verachtete »Kaste«, gekennzeichnet durch das »Stigma« weibliches Geschlecht. Diesen Ausschluß der Frauen von den geistlichen Ämtern in der katholischen Kirche Frankreichs, aus dem geltenden Gesetz des Code Napoleon und aus den Grundrechten der Verfassung, aus der »Gesellschaft«, die eine geschlossene Märmergeseilschaft ist, benennt F. Tristan deutlich. Ihre Erkenntnisse kommen weniger aus politischphilosophischen Erwägungen als aus ihrer eigenen Lebenserfahrung: als verfolgte Ehefrau und in ständigem ökonomischen Existenzkampf, solidarisiert sie sich gewissermaßen mühelos mit den Frauen, den Arbeitern und allen Armen, aber gesellschaftstheoretisch befindet sie sich in   einer   schwierigen   Position:   die   sozial-ökonomischen   Verhältnisse sind zu Beginn der vierziger Jahre noch nicht grundsätzlich analysiert: weder die »Arbeiterfrage« noch die »Frauenfrage« noch der Zusammenhang beider Fragen. F. Tristan kann die schwierigen theoretischen Probleme nicht lösen, aber da sie eine scharfe und engagierte Beobachterin ist und kein dezidiertes Urteil scheut, kommt sie zu höchst kritischen Einsichten: sie benennt nicht allein das Problem von Armut und Reichtum in starken Worten, sondern auch das von Ehemännern, die die »Chefs« sind (durch das Eherecht des Code Napoleon)  und den Lohn oder den Reichtum, den sie besitzen, - Chef über die Frau, die »ganz ergebene Dienerin«. Sie verlangt daher von den Lohnarbeitern, daß sie die gleichen Rechte für die Frau anerkennen (was viele Jahrzehnte später August Bebel auch tun wird, auch ohne Erfolg). Ihre geplante Arbeitervereinigung ist nicht allein eine Vereinigung von Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern als Gleichberechtigte,   zu einem Zeitpunkt, da Arbeiterassoziationen generell Vereine ohne  Frauen in der Tradition der Männerbünde sind (in Deutschland gilt für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein noch im Jahre 1864: »Mann der Arbeit aufgewacht ...«), sondern zugleich ein politisches Bündnis und eine Organisation von allen Frauen mit der Arbeiterschaft: »Eure Sache und die ihrige (werden) zur gemeinsamen Sache.«

Den Einfluß der Ehefrauen reicher Männer scheint sie jedoch entschieden zu hoch einzuschätzen, denn die Frauen sind »ihrem Manne Gehorsam schuldig« (Code Napoleon), und in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es kaum eine nennenswerte Zahl von Frauen mit eigenem Vermögen, über das sie tatsächlich frei verfügen konnten.

Erst nach ihrem Tode wurde ihre Schrift »Die Emanzipation der Frau oder das Testament einer Paria« von A. Constant veröffentlicht. Hierin wendet sie sich mit beschwörenden Worten und leidenschaftlicher Anklage gegen die »Schlachtereien der Prostitution«, zu der die hungernden Frauen gezwungen werden. Sie erkennt den unwürdigen, prostituierenden Charakter der Ehen, in die die jungen Mädchen wie »Opfertiere« geführt werden: beiden ist gemeinsam, daß sie sich an Männer, die Geld und damit Macht über Frauen haben, verkaufen müssen.

Flora Tristan hat während ihres ganzen Lebens, sie wurde nur 41 Jahre alt, finanziell um ihr Überleben kämpfen müssen. Als von ihrem Mann getrennt lebende, allein reisende und schreibende Frau, erst nach dem Mordanschlag ihres Mannes geschieden, mit rhetorischer Begabung, sehr gutem Aussehen und unkonventionellem Lebenswandel, war sie der guten »Gesellschaft« ein öffentliches Ärgernis, ein Stein des Anstoßes.

Unerschrocken zeigte sie ihre Verachtung für diese französische Gesellschaft mit ihrem extremen Reichtum und ihrer extremen Verelendung großer Volksteile und der Frauen. Als verfolgte Ehefrau und als Mutter, der man die Kinder entzieht (nach französischem Recht stehen sie dem Vater zu!), hat sie die Brutalität und Rechtlosigkeit am eigenen Leibe erfahren, und sie schweigt nicht. Vielfach stigmatisiert als Individuum, ist sie politisch engagiert für die Frauen und die Arbeiter, das Volk: damit ist sie nicht nur aus der guten »Gesellschaft« ausgeschlossen, sie ist eine Paria, ausgestoßen, entrechtet, ein Outcast. Doch sie ist es nicht allein: alle Frauen sind in dieser Gesellschaft »Paria von Geburt an«, »Dienerin«, ihre Alternativen sind Heuchelei in der Ehe oder Ehrlosigkeit in der Prostitution.

Auf die noch heute gern ins Feld geführte Behauptung von frauenfeindlicher Seite, die Frauen seien zufrieden, entgegnet F. Tristan, daß diese »erhabenen Märtyrerinnen« ohne Protest leiden, weil sie »niemals an ihre mißachteten Rechte gedacht haben« und die »Ruhe der Resignation den Ängsten des Kampfes vorziehen«. Ein Kampf, der lebensgefährlich ist. Die »Zufriedenheit« der Ehefrauen ist die »Ruhe« der hoffnungslosen Gefangenen: »verkümmert, erstickt, verdorben, entmutigt.«

Aber »die Frau ist kein Eigentum«, das eheliche Besitzrecht an ihr ist »Sklaverei«, und sie selbst will das »bittere, aber unermeßliche Glück« der Rebellion dagegen aufnehmen und mit keiner »glücklichen« Sklavin tauschen.

Die Frauen Frankreichs, die 1793 ihren Kampf verloren haben, haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch immer keinen Anteil am Aufstieg des Bürgertums, am Reichtum, an Bildung, an gleichen Bürgerrechten und an der politischen Macht: sie sind alle in der Sklaverei der Männer.

Während der Julirevolution von 1830 in Paris waren die Frauen wieder politisch aktiv hervorgetreten, und sie werden es im Jahre 1848 wieder sein: aber ihre Aufstände werden immer wieder erstickt, ihre Forderungen nach Wahlrecht, nach Arbeit, nach Rechten in der Ehe zurückgewiesen, bis sich endlich auch hier immer mehr Frauen zur Frauenbewegung organisieren.