Freie Entwicklung der Persönlichkeit

1. Die Sorglosigkeit der Existenz

Der Mensch soll sich vollständig ausbilden können, das soll der Zweck menschlicher Vergesellschaftung sein; er darf also auch nicht an die Scholle gebunden bleiben, auf die ihn der Zufall der Geburt setzte. Menschen und Welt soll man nicht nur aus Büchern und Zeitungen kennenlernen, dazu gehören auch persönliche Anschauung und praktisches Studium. Die künftige Gesellschaft muß also allen ermöglichen, was bereits vielen in der heutigen möglich ist, wenn auch in den meisten Fällen der Zwang der Not den Antrieb verursacht. Das Bedürfnis nach Veränderung in allen Lebensbeziehungen ist der menschlichen Natur tief eingeprägt. Dieses entspringt dem Triebe zur Vervollkommnung, der jedem lebenden Wesen immanent ist. Die Pflanze, die im dunklen Raume steht, streckt und reckt sich, als habe sie Bewußtsein nach dem Lichte, das durch irgendeine Luke fällt. So der Mensch. Ein Trieb, der dem Menschen eingeboren ist, muß in vernünftiger Weise befriedigt werden. Dem Triebe nach Veränderung steht der Zustand der neuen Gesellschaft nicht entgegen, sie macht vielmehr erst allen die Befriedigung dieses Triebes möglich. Ihre aufs höchste entwickelten Verkehrsbeziehungen erleichtern dieses, die internationalen Beziehungen fordern es heraus. Es werden künftig weit mehr Menschen für die verschiedensten Zwecke die Welt durchreisen, als dies bisher der Fall war. Die Gesellschaft bedarf ferner reichlicher Vorräte an Lebensbedürfnissen aller Art, um allen Ansprüchen zu genügen. Die Gesellschaft reguliert dementsprechend ihre Arbeitszeit nach Bedürfnis; sie macht sie bald länger, bald kürzer, wie ihre Ansprüche und die Natur der Jahreszeit dies wünschenswert erscheinen lassen. Sie wird sich in der einen Jahreszeit hauptsächlich auf landwirtschaftliche, in der anderen mehr auf industrielle und kunstgewerbliche Produktion werfen; sie dirigiert die Arbeitskräfte, wie es das Bedürfnis erfordert; sie kann durch Kombinierung zahlreicher Arbeitskräfte mit den vollkommensten technischen Einrichtungen Unternehmungen spielend ausführen, die heute unmöglich scheinen.
Wie die Gesellschaft für ihre Jugend die Sorge übernimmt, so auch für ihre Alten, Kranken und Invaliden. Wer durch irgendeinen Umstand arbeitsunfähig geworden ist, für diesen tritt die Gesamtheit ein. Es handelt sich hierbei nicht um einen Akt der Wohltätigkeit, sondern der Pflicht, nicht um Gnadenbrocken, sondern um eine von jeder möglichen Rücksicht getragene Verpflegung und Hilfe, die demjenigen zuteil werden muß, der in den Jahren der Kraft und der Leistungsfähigkeit gegen die Gesamtheit seine Pflichten erfüllte. Der Lebensabend wird dem Alter mit allem verschönt, was die Gesellschaft ihm bieten kann. Trägt doch jeder sich mit der Hoffnung, einst selbst zu genießen, was er dem Alter gewährt. Jetzt stört nicht die Alten der Gedanke, daß andere ihren Tod erwarten, um zu erben. Auch die Befürchtung ist verschwunden, daß sie, wenn alt und hilflos geworden, wie eine ausgepreßte Zitrone beiseite geworfen werden. Sie sind weder auf die Mildtätigkeit und Unterstützung ihrer Kinder noch auf die Bettelpfennige der Gemeinde angewiesen.[55] In welcher Lage die meisten Eltern sich befinden, die auf die Unterstützung ihrer Kinder im Alter angewiesen sind, ist eine zu bekannte Tatsache. Und wie demoralisierend wirkt in der Regel auf die Kinder, und in noch höherem Grade auf die Verwandten, die Hoffnung, erben zu können. Welche niedrigen Leidenschaften werden geweckt, und wieviel Verbrechen werden gerade hierdurch hervorgerufen: Mord, Unterschlagung, Erbschleicherei, Meineid, Erpressung. Der moralische und physische Zustand der Gesellschaft, ihre Arbeits-, Wohn-, Nahrungs-, Kleidungsweise, ihr geselliges Leben, alles wird dazu beitragen, Unglücksfälle, Erkrankungen und Siechtum möglichst zu verhüten. Der natürliche Tod, das Absterben der Lebenskräfte, wird dann mehr und mehr zur Regel werden. Die Überzeugung, daß der Himmel auf Erden ist und gestorben sein zu Ende sein heißt, wird die Menschen veranlassen, vernünftig zu leben. Am meisten genießt, wer lang genießt. Langes Leben weiß gerade die Geistlichkeit, welche die Menschen auf das »Jenseits« vorbereitet, am besten zu schätzen. Die Sorglosigkeit ihrer Existenz ermöglicht ihr, das höchste Durchschnittslebensalter zu erreichen.

2. Umwandlung der Ernährung

Zum Leben gehört in erster Linie Essen und Trinken. Freunde der sogenannten »naturgemäßen Lebensweise« fragen öfter, warum sich die Sozialdemokratie dem Vegetarismus gegenüber gleichgültig verhalte. Nun, jeder lebt wie er mag. Der Vegetarismus, das heißt die Lehre, sich von Pflanzenkost zu nähren, fand zunächst in solchen Kreisen Boden, die in der angenehmen Lage sind, zwischen vegetabilischer und animalischer Kost wählen zu können. Für die sehr große Mehrheit der Menschheit existiert aber diese Wahl nicht, sie ist gezwungen, nach ihren Mitteln zu leben, deren Dürftigkeit sie fast ausschließlich auf vegetabilische Kost hinweist, oft auf die am wenigsten nahrhafte. Für unsere Arbeiterbevölkerung in Schlesien, Sachsen, Thüringen usw. ist die Kartoffel die Hauptnahrung, sogar Brot kommt erst in zweiter Linie; Fleisch, und nur solches schlechtester Qualität, erscheint selten auf dem Tische. Auch hat der größte Teil der Landbevölkerung, obgleich sie das Vieh züchtet, selten Fleischnahrung, sie muß das Vieh verkaufen, um mit dem gewonnenen Gelde andere Bedürfnisse befriedigen zu können. Für diese zahlreichen Menschen, die gezwungen als Vegetarier leben, wäre zeitweilig ein solides Beefsteak, eine gute Hammelkeule entschieden eine Verbesserung ihrer Nahrung.[56] Wendet der Vegetarismus sich gegen die Überschätzung des Nährgehalts der Fleischnahrung, so hat er recht; er hat unrecht, wenn er aus meist sehr sentimentalen Gründen dessen Genuß als verderblich und verhängnisvoll bekämpft. Zum Beispiel deshalb, weil das natürliche Gefühl verbiete, Tiere zu töten und von einer »Leiche« zu essen. Nun, der Wunsch, angenehm und ungestört zu leben, zwingt uns, einer großen Zahl von Lebewesen in Gestalt von Ungeziefer aller Art den Krieg zu erklären und sie zu vernichten, und um nicht selbst verzehrt zu werden, müssen wir die Tötung und Ausrottung wilder Bestien vornehmen. Das ungehinderte Lebenlassen der »guten Freunde des Menschen«, der Haustiere, würde in einigen Jahrzehnten diese »guten Freunde« so vermehren, daß sie uns »auffräßen«, indem sie uns der Nahrung beraubten. Auch ist die Behauptung, daß vegetabilische Kost milde Gesinnung gebe, falsch. Im sanftmütigen, pflanzenessenden Inder erwachte auch die »Bestie«, als ihn die Härte des Engländers zur Empörung trieb. Der Nährwert eines Nahrungsmittels in bezug auf Eiweiß ist nicht nur nach seinem Gehalt an demselben zu beurteilen. Man muß noch in Betracht ziehen, welch ein Anteil des mit dem betreffenden Nahrungsmittel aufgenommenen Eiweißes unverdaut bleibt. Von diesem Gesichtspunkt aus stehen sich zum Beispiel Fleisch und Reis respektive Kartoffeln in bezug auf Eiweiß gegenüber wie 2,5 und 20 respektive 22, das heißt von 100 Gramm mit Fleisch aufgenommenem Eiweiß erscheinen 2,5 Gramm im Kote wieder, von 100 Gramm mit Reis respektive Kartoffeln aufgenommenem Eiweiß 20 respektive 22 Gramm. Der berühmte russische Physiologe Pawlow und seine Schule haben gezeigt, daß bei der Verdauung von Brot bedeutend mehr Ferment ausgeschieden wird als bei der Verdauung von Fleisch. Pawlow hat ferner gezeigt, daß die aus den Magendrüsen sich ergießenden Verdauungssäfte in quantitativer Beziehung aus zwei Größen bestehen: Der Magensaft ergießt sich einesteils auf Reizung der Magenschleimhaut durch die betreffenden Nahrungsmittel und andererseits als »Appetitsaft« auf Reizung der Sinnesorgane durch die Nahrungsmittel. Die Menge des Appetitsaftes ist abhängig einmal von dem jeweiligen Zustand unserer Psyche, zum Beispiel Hunger, Kummer, Arger, Freude usw., und dann von der Natur des betreffenden Nahrungsmittels. Aber die Bedeutung des Appetitsaftes für die Verdauung fällt bei den einzelnen Nahrungsmitteln verschieden schwer ins Gewicht. Manche Nahrungsmittel, wie zum Beispiel Brot, gekochtes Hühnereiweiß oder reine Stärke, können, wie das Experiment unmittelbar gezeigt hat, überhaupt gar nicht verdaut werden, wenn ihre Verdauung nicht durch Appetitsaft eingeleitet wird: Nur mit Appetit (oder mit anderen Nahrungsmitteln zugleich) genommen, können sie verdaut werden. Dagegen kann das Fleisch, wie Pawlow gezeigt hat, zum Teil schon ohne Appetitsaft verdaut werden, wenn auch mit Appetitsaft die Verdauung des Fleisches unvergleichlich (um fünfmal) schneller vor sich geht. »Wir müssen Umstände in Betracht ziehen, die geknüpft sind an die Psyche des Menschen. Hier ist die Brücke geschlagen zwischen den Tatsachen der Ernährungsphysiologie und sozialen Verhältnissen. Der moderne Städter, zumal die breite Masse der Arbeiterklasse, lebt in sozialen Verhältnissen, die jeden normalen Appetit in ihnen ertöten müssen. Die Arbeit in der dumpfen Fabrik, die beständige Sorge ums tägliche Brot, der Mangel an geistiger Muße und heiterem Gemüt, die totale körperliche Erschöpfung - das alles sind Momente, die den Appetit untergraben. In diesem psychischen Zustande sind wir nicht imstande, den Appetitsaft zu liefern, dessen es zur Inangriffnahme und Bewältigung der Verdauung von vegetabilischer Nahrung bedarf. Dagegen haben wir im Fleisch ein Nahrungsmittel, das - wenn man sich so ausdrücken darf - selber für seine Verdauung sorgt: Es wird nicht nur zu einem guten Teile auch ohne Appetit verdaut, sondern es ist zudem als Reiz- und Genußmittel auch ein mächtiger Erreger unseres Appetits. So begünstigt das Fleisch die Verdauung auch der gleichzeitig mit ihm genossenen Vegetabillen und sichert uns dadurch eine ergiebigere Ausnutzung der mit den letzteren aufgenommenen Stoffe. Darin scheint uns der große Vorteil der animalischen Nahrung für den modernen Menschen zu liegen.«[57]
Sonderegger trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: »Es gibt keine Rangordnung der Notwendigkeit der Nahrungsmittel, aber ein unwandelbares Gesetz für die Mischung ihrer Nahrungsstoffe.« Richtig ist, daß allein von Fleischnahrung sich niemand zu ernähren vermag, wohl aber von Pflanzenkost, vorausgesetzt, daß er sie entsprechend wählen kann. Andererseits wird niemand sich mit einer bestimmten Pflanzenkost, und sei sie die nahrhafteste, begnügen. So sind Bohnen, Erbsen, Linsen, mit einem Wort die Leguminosen, die nährendsten aller Nahrungsstoffe. Aber ausschließlich sich von ihnen nähren zu müssen was möglich sein soll - wäre eine Tortur. So führt Karl Marx im ersten Band des »Kapitals« an, daß die chilenischen Bergwerksbesitzer ihre Arbeiter zwingen, jahraus, jahrein Bohnen zu essen, weil ihnen diese ein großes Maß von Kraft geben und sie in den Stand setzen, Lasten zu tragen wie bei keiner anderen Nahrung. Aber die Arbeiter weisen die Bohnen trotz ihrer Nahrhaftigkeit zurück, doch man zwingt sie, sich mit ihnen zu begnügen. Auf keinen Fall hängt das Glück und Wohlsein der Menschen von einer bestimmten Kostart ab, wie die Fanatiker unter den Vegetariern behaupten. Klima, soziale Verhältnisse, Gewohnheit und persönlicher Geschmack sind maßgebend.[58]
In dem Maße, wie die Kultur sich hebt, tritt allerdings an Stelle fast ausschließlicher Fleischkost, wie sie bei Jagd- und Hirtenvölkern vorhanden ist, mehr die Pflanzenkost. Die Vielgestaltigkeit der Pflanzenkultur ist ein Zeichen höherer Kultur. Auch können auf einer gegebenen Ackerfläche viel mehr vegetabilische Nährstoffe gebaut werden, als auf derselben Fläche Fleisch durch Viehzucht erzeugt werden kann. Diese Entwicklung verschafft der vegetabilischen Nahrung ein immer größeres Übergewicht. Die Fleischtransporte, die uns in der Gegenwart durch Raubwirtschaft aus fernen Ländern, insbesondere aus Südamerika und Australien, zugehen, werden in wenigen Jahrzehnten ihr Ende erreichen. Andererseits wird Vieh nicht bloß des Fleisches wegen gezüchtet, sondern auch der Wolle, Haare, Borsten., Häute, Milch, Eier usw. wegen. Eine Menge Industrien und viele menschliche Bedürfnisse hängen davon ab. Auch werden eine Menge Abfälle aus der Industrie und Hauswirtschaft kaum nützlicher als durch Viehzucht verwendet. In Zukunft wird auch, noch das Meer in höherem Maße als bisher seinen Reichtum an animalischen Nahrungsstoffen der Menschheit öffnen müssen. Es wird dann schwerlich noch vorkommen, daß wie heute bei reichlichem Fischfang ganze Ladungen als Dünger verwendet werden, weil die Transport- oder Konservierungseinrichtungen ihre Aufbewahrung nicht ermöglichen oder die hohen Transportkosten ihren Absatz verhindern. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß mit der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, wenn die Bevölkerung von den großen Städten auf das Land wandert, wenn die Arbeit in geschlossenen Fabrikräumen sich mit der landwirtschaftlichen verbindet, die Fleischkost wird wieder hinter die Pflanzenkost zurücktreten. Gewiß kann man den Mangel an Reizmitteln in der pflanzlichen Nahrung durch entsprechende und verständige Zubereitung unter Zuhilfenahme von Gewürzen wettmachen. Aber eine rein vegetarische Lebensweise ist für die künftige Gesellschaft weder wahrscheinlich noch notwendig.

3. Kommunistische Küche

Bei der Nahrung handelt es sich aber weit mehr um die Qualität als die Quantität, viel hilft nicht, wenn das Viele nicht gut ist. Die Qualität wird aber durch die Art und Weise der Zubereitung bedeutend verbessert. Nahrungszubereitung muß ebenso wissenschaftlich betrieben werden wie andere menschliche Tätigkeiten, soll sie möglichst vorteilhaft sein. Dazu gehören Wissen und Einrichtung. Daß unsere Frauen, welchen gegenwärtig die Nahrungszubereitung hauptsächlich zufällt, dieses Wissen oft nicht besitzen und nicht besitzen können, bedarf keines Beweises mehr. Die Technik der großen Küchen hat schon gegenwärtig eine Vollkommenheit erreicht, welche die aufs beste eingerichtete Familienküche nicht kennt. Insbesondere ist es die mit Elektrizität für Heizung und Beleuchtung eingerichtete Küche, die dem Ideal entspricht. Kein Rauch, keine Hitze, keine Dünste mehr; die Küche gleicht mehr einem Salon als einem Arbeitsraum, in dem alle möglichen technischen und maschinellen Einrichtungen vorhanden sind, welche die unangenehmsten und zeitraubendsten Arbeiten spielend erledigen.
Da sind die elektrisch betriebenen Kartoffel- und Obstschäler, die Entkernungsapparate, Würstestopfer, Speckpresser, Fleischhacker, Fleischröster, Bratapparate, Kaffee- und Gewürzmühlen, die Brotschneideapparate, Eiszerkleinerer, Korkzieher, Korkpresser und hundert andere Apparate und Maschinen, die einer verhältnismäßig kleinen Zahl Personen mit mäßiger Anstrengung ermöglichen, für Hunderte von Tischgästen die Speisen zu bereiten. Dasselbe ist mit den Spül- und Reinigungseinrichtungen der Fall.
Die Privatküche ist für Millionen Frauen eine der anstrengendsten, zeitraubendsten und verschwenderischsten Einrichtungen, bei der ihnen Gesundheit und gute Laune abhanden kommt und die ein Gegenstand der täglichen Sorge ist, namentlich wenn, wie bei den allermeisten Familien, die Mittel die knappsten sind. Die Beseitigung der Privatküche wird für ungezählte Frauen eine Erlösung sein. Die Privatküche ist eine ebenso rückständige und überwundene Einrichtung wie die Werkstätte des Kleinmeisters, beide bedeuten die größte Unwirtschaftlichkeit, eine große Verschwendung an Zeit, Kraft, Heiz- und Beleuchtungsmaterial, Nahrungsstoffen usw.
Der Nährwert der Speisen wird durch ihre leichte Assimilierfähigkeit erhöht; diese ist entscheidend.[59] Eine naturgemäße Nährweise aller kann also auch erst die neue Gesellschaft ermöglichen. Cato rühmt vom alten Rom, daß es bis zum sechsten Jahrhundert in der Stadt (200 v. u. Z.) wohl Kenner der Heilkunde gab, aber es an Beschäftigung fehlte. Die Römer lebten so nüchtern und einfach, daß Krankheiten selten vorkamen und der Tod durch Altersschwäche die gewöhnliche Form des Todes war. Erst als Schlemmerei und Müßiggang, kurz das Lotterleben auf der einen, Not und Überarbeit auf der anderen Seite um sich griffen, wurde es gründlich anders. Die Schlemmerei und das Lotterleben sollen künftig unmöglich sein, aber auch Not, Elend und Entbehrung. Es ist für alle genug vorhanden. Sang doch schon Heinrich Heine:

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.[60]

»Wer wenig ißt, lebt gut« (das heißt lange), sagte der Italiener Cornaro im sechzehnten Jahrhundert, wie Niemeyer zitiert. Schließlich wird künftig auch die Chemie für die Herstellung neuer und verbesserter Nahrungsmittel in bisher ungekannter Weise tätig sein. Heute wird diese Wissenschaft sehr mißbraucht, um Fälschungen und Prellereien zu ermöglichen; es ist aber klar, daß ein chemisch zubereitetes Nahrungsmittel, das alle Eigenschaften eines Naturproduktes hat, denselben Zweck erfüllt. Die Form der Gewinnung ist nebensächlich, vorausgesetzt, daß im übrigen das Produkt allen Ansprüchen gerecht wird.

4. Umwandlung des häuslichen Lebens

Wie in der Küche, so wird die Revolution im gesamten häuslichen Leben sich vollziehen und zahllose Arbeiten erübrigen, die heute noch ausgeführt werden müssen. Wie künftig durch die Zentralnahrungsbereitungsanstalten in vollkommenster Weise die häusliche Küche überflüssig gemacht wird, so fallen durch die Zentralheizung, die elektrische Zentralbeleuchtung alle Arbeiten, die bisher die Instandhaltung der Feuerung in den Ofen, die Instandhaltung der Lampen und Beleuchtungsapparate erforderten, weg. Die Warmwasserleitung neben der Kaltwasserleitung ermöglicht einem jeden Waschungen und Bäder in beliebiger Weise, ohne Zuziehung einer Hilfsperson. Die Zentralwaschanstalten und Zentraltrockeneinrichtungen übernehmen die Reinigung und das Trocknen der Wäsche; die Zentralreinigungsanstalten die Reinigung der Kleider und Teppiche. In Chikago waren Teppichreinigungsmaschinen ausgestellt, die die Reinigung in kürzester Zeit, zum Staunen und zur Bewunderung der die Ausstellung besuchenden Damen, vollzogen. Die elektrische Tür öffnet sich auf einen leisen Druck mit dem Finger und schließt sich selbsttätig. Elektrische Einrichtungen schaffen Briefe und Zeitungen in alle Etagen der Häuser; elektrische Aufzüge ersparen das Treppensteigen. Man wird die innere Ausstattung der Häuser, der Fußböden, der Wandbekleidungen, der Möbel daraufhin einrichten, daß alles sich auf die leichteste Weise reinigen läßt und keine Staub- und Bakteriensammler sich bilden. Kehricht und Abfälle aller Art werden ähnlich wie das benützte Wasser durch Leitungen aus den Wohnungen befördert (Müllschlucker). In den Vereinigten Staaten, in manchen europäischen Städten, zum Beispiel Zürich, Berlin und seinen Vororten, London, Wien, München, gibt es bereits solche mit allem Raffinement eingerichtete Häuser, in denen zahlreiche wohlsituierte Familien andere können die Kosten nicht tragen - wohnen und einen großen Teil der geschilderten Vorteile genießen.[61] Wir haben hier abermals den Beweis, wie die bürgerliche Gesellschaft auch die Revolutionierung der häuslichen Lebensweise die Wege bahnt, aber nur für ihre Auserwählten. Wird aber in der angedeuteten Weise das häusliche Leben von Grund aus umgestaltet, so ist der Dienstbote, dieser »Sklave für alle Launen der Herrin«, verschwunden. Aber auch die Dame. »Ohne Dienstboten keine Kultur«, ruft Herr v. Treitschke mit komischem Pathos entsetzt aus. Er kann sich die Gesellschaft sowenig ohne Dienstboten vorstellen, wie Aristoteles sie sich ohne Sklaven vorstellen konnte. überraschend ist, daß Herr v. Treitschke unsere Dienstboten »als Träger unserer Kultur« ansieht. Treitschke wie Eugen Richter machen auch das Stiefelwichsen und Kleiderreinigen Sorge, das doch unmöglich jeder sich selbst besorgen könne. Nun, in neun Zehntel der Fälle besorgt sich das allerdings heute jeder selbst, oder es besorgt es die Frau für den Mann, oder eine Tochter oder ein Sohn für die Familie, und man könnte antworten, was bisher die neun Zehntel taten, kann das letzte Zehntel auch tun. Es gäbe auch noch einen anderen Ausweg. Warum sollte künftig nicht die Jugend ohne Unterschied des Geschlechts zu solchen und ähnlichen notwendigen Verrichtungen herangezogen werden? Arbeit schändet nicht, auch wenn sie im Stiefelwichsen besteht, das hat schon mancher altalige Offizier erfahren, der Schulden halber nach den Vereinigten Staaten durchbrannte und dort Hausknecht oder Stiefelputzer wurde. Herr Eugen Richter läßt sogar in einer seiner Broschüren an der Stiefelputzfrage den »sozialistischen Reichskanzler« stürzen und den »sozialistischen Zukunftsstaat« aus dem Leim gehen. Der »sozialistische Reichskanzler« weigert sich nämlich, die Stiefel sich selbst zu putzen, und das ist sein Unglück. Die Gegner haben sich an dieser Schilderung weidlich ergötzt und damit nur Zeugnis abgelegt von der Bescheidenheit ihrer Ansprüche an eine Kritik des Sozialismus. Herr Eugen Richter mußte den Schmerz noch erleben, daß nicht nur einer seiner eigenen Parteigenossen in Nürnberg bald nach Herausgabe seiner Broschüre eine Stiefelwichsmaschine erfand, sondern daß auch 1893 auf der Chikagoer Weltausstellung eine elektrische Stiefelwichsmaschine ausgestellt war, die dieses Geschäft in der vollkommensten Weise besorgte. So ist der Haupteinwurf, den Richter und Treitschke gegen die sozialistische Gesellschaft erhoben, durch eine Erfindung, die sogar in der bürgerlichen Gesellschaft gemacht wurde, praktisch über den Haufen geworfen worden.
Die revolutionäre Umgestaltung, die alle Lebensbeziehungen der Menschen von Grund aus ändert und insbesondere auch die Stellung der Frau verändert, vollzieht sich also bereits vor unseren Augen. Es ist nur eine Frage der Zeit, daß die Gesellschaft diese Umgestaltung in größtem Maßstabe in die Hand nimmt und den Umwandlungsprozeß beschleunigt und verallgemeinert und damit alle ohne Ausnahme an seinen zahllosen vielgestaltigen Vorteilen teilnehmen läßt.