Die Untersuchung von 1452

1450 hatte Guillaume Bouillé die Zeugen sagen lassen, was sie auf dem Herzen hatten. Alle, ausgenommen Jean Beaupère, hatten sich damals auf ihre redlichen Absichten berufen; sie waren nicht von >großem Haß< bewegt, wohl aber die anderen. Ihre Aussagen hoben zweierlei hervor. Zum einen das, was Karl VII. festgestellt haben wollte: die Grausamkeit der Engländer, der Richter, insbesondere Cauchons, ihre feste Absicht, Johanna sterben zu lassen. Zum anderen den erhebenden Tod der Pucelle. Sie war nicht rückfällig: man hatte sie gezwungen, wieder Männerkleider anzulegen. Sie war nicht ungehorsam: sie war bereit, sich dem Konzil, dem Papst, kurz, der streitbaren Kirche zu unterwerfen. Auf dem Scheiterhaufen hatte sie alle Worte gesprochen und alle Gesten ausgeführt, die von der >Kunst des guten Sterbens< empfohlen waren; sie hatte gebührend gebeichtet, kommuniziert, das Kruzifix geküßt, die Jungfrau Maria und die Heiligen angerufen, den heiligen Namen Jesus geschrien. Und die Zeugen hatten sich des langen und breiten über die Rührung der Umstehenden, sogar der Abgebrühtesten, ausgelassen, über die Tränenströme und die vielen erbarmenswerten Züge, die sehr viel später allen erbaulichen Geschichten Nahrung geben sollten.
Als man 1452 das Verhör wiederaufnimmt, wird es strenger geführt, eingeschränkt durch die zwölf Artikel einer Fragenliste, die anhand der ersten Ermittlung aufgestellt worden ist und die Aussagen auf drei Punkte lenkt.

Erste Fragenliste

  1. Der Hauptverantwortliche ist der verstorbene Pierre Cauchon. Der Bischof von Beauvais haßte Johanna, ihn dürstete nach ihrem Tod. Weil er der Partei der Engländer anhing, weil diese die Jungfrau heftig fürchteten und darum versuchten, sie mit allen Mitteln sterben zu lassen, damit sie ihre Tage beende und sie nicht länger in Schrecken setze, duldete er, noch ehe er die Ursache kannte, daß besagte Jeanne schon zu Beginn des Prozesses ins Schloß von Rouen gebracht wurde, in ein weltliches Gefängnis, und in die Hände der Feinde, obgleich es gute und geziemende kirchliche Gefängnisse gegeben hätte, in denen sie rechtmäßig hätte verwahrt und eingeschlossen werden können, wie die in Glaubensdingen schuldigen Verbrecher (Art. I-IV).
  2. Der Bischof von Beauvais war kein Zuständiger Richter (Art. V).
  3. Was Johanna betrifft, die gut und katholisch war, häufig ihre Sünden beichten und die Messe hören wollte, einfach, schlecht beraten, so begriff sie gar nicht, was die Kirche war, als man sie wegen ihrer Unterwerfung unter die Kirche verhörte, und verstand dieses Wort nicht im Sinne einer Vereinigung der Gläubigen; sondern sie glaubte und verstand, daß diese Kirche, über die man sie verhörte, jene Geistlichen waren, die sich dort befanden und die Partei der Engländer ergriffen. Diese, nicht mutig genug, um dem Schrecken und dem Druck standzuhalten, verurteilten sie höchst ungerecht als Ketzerin zum Feuertod (Art. VI-XII).

Zweite Fragenliste

Auf diese zwölf Fragen antworten fünf Zeugen: abermals Manchon, Isembard de la Pierre und Martin Ladvenu, ein weiterer Mönch, Pierre Miget, Prior von Longueville, schließlich ein Bürger von Rouen, der zur Zeit des Prozesses, dank seinem Meister Jean Son, Maurermeister, gewohnt war, ins Schloß zu gehen, und zweimal mit Erlaubnis der Wärter in Johannas Gefängnis gewesen war. Aber die erste Fragenliste befriedigte nicht gänzlich. Nach dem Weggang von Kardinal d'Estouteville erweiterte der Promotor sie auf siebenundzwanzig Artikel, wobei er der Untersuchung eine etwas andere Richtung gab:

  1. Von Cauchon ist nicht mehr die Rede. Die ganze Schuld fällt auf die Engländer. Sie sind es nun, die Johanna haßten und mit allen Mitteln auf ihren Tod sannen (I); natürlich aus Furcht vor ihr, aber vor allem, weil sie beabsichtigten, dadurch den allerchristlichsten König in Verruf zu bringen, weil er sich der Hilfe eines so verworfenen Weibes bedient hatte (XXVI).
  2. Die Engländer haben den Prozeß verfälscht, zunächst, indem sie Johanna gefangenhielten und jedem verboten, mit ihr zu sprechen, damit sie sich nicht verteidigen konnte (VIII); sie begaben sich des Nachts in die Nähe des Gefängnisses, indem sie vorgaben, wie ihre Offenbarungen zu ihr zu sprechen, und ihr rieten, sich keinesfalls dem Urteil der Kirche zu unterwerfen, wenn sie dem Tod entgehen wollte (X).
  3. Sie haben den Prozeß verfälscht, indem sie die Richter, Beichtväter und Ratgeber in Schrecken setzten (VI); darum wagte niemand, besagte Jeanne zu beraten oder zu verteidigen, sie zu unterrichten oder zu leiten (VII), aber die Examinatoren stellten ihr schwierige und verfängliche Fragen, um sie zu überführen, und verhörten sie im allgemeinen über Dinge, die sie nicht wußte; ... sie ermüdeten sie lange, um ihr wenigstens durch Ermattung und Gerede ein unheilvolles Wort zu entreißen (XI-XII).
  4. Was aber taugt denn die französische Minute, in der man nicht so deutlich erkennt, daß die Pucelle sich dem Urteil der Kirche und unseres Herrn, des Papstes, hat unterwerfen wollen? Auch sie ist gefälscht. Jene Worte über die Unterwerfung unter die Kirche ... ließen besagte Engländer und jene, die sie begünstigten, nicht zu, verboten sogar, sie beizufügen oder niederzuschreiben ... und veranlaßten andere, lügnerische, hinzuschreiben (XV). Auch die Notare wurden bedroht und gezwungen, diejenigen Worte Jeannes auszulassen, die für sie sprachen und sie entlasteten, und andere Dinge gegen sie einzufügen, die sie niemals ausgesprochen hatte (V-VI). Außerdem wurde der ursprünglich französisch abgefaßte Text des Prozesses unzuverlässig ins Lateinische übertragen, was ihn verfälschte, verdarb und entstellte (XVIII-XX).
  5. Er ist auch deshalb nichtig, weil er von Richtern angestrengt wurde, die weder in der Sache noch in der Person zuständig waren (XXI), da Jeanne die Verteidigung, ein natürliches Recht, völlig verweigert wurde (XXII) und man nicht von Rechtsprechung reden kann, wenn die Richter, Berater und Beisitzer unfrei in ihrem Urteil sind (XIX).
  6. Da die Richter nicht die Kraft hatten, den Drohungen der Engländer zu widerstehen, haben sie, obwohl sie ihr den Leib des Herrn gewährt hatten, Jeanne ungerechtfertigt als Ketzerin verurteilt (XXIII), jene Frau, die so gläubig gestorben war (XXV).

Zu diesen neuen Fragen, die den Absichten des französischen Hofs weit besser entsprachen, wurden die fünf ersten Zeugen erneut vernommen. Elf weitere erschienen, darunter Jean Massieu.
Einstimmig bekannten sie, daß beabsichtigt worden war, Karl VII. in Verruf zu bringen, sprachen in Wahrheit jedoch mehr über die Angst, welche die Engländer vor Johanna hatten.

Es lief das Gerücht in der Stadt Rouen, daß die Engländer nicht gewagt hatten, die Stadt Louviers zu belagern, solange Jeanne lebte und bis sie tot war; und der erlauchte und fromme Herr Thomas Marie, Priester, Bakkalaureus der Theologie, Prior des Stifts von Saint Michel bei Rouen, vom Orden des heiligen Benedikt ... sagte, weil Jeanne im Krieg Wunderbares vollbracht hatte und weil die Engländer gewöhnlich abergläubisch sind, meinten sie, es sei etwas Unheilvolles in ihr; darum wünschten sie, wie der Sprechende meint, auf allen Ratsversammlungen und auch sonst ihren Tod. Gefragt, woher er weiß, daß die Engländer abergläubisch sind, sagte er, daß man allgemein so sage, und es sei ein Sprichwort.
Einstimmig bezeugten die Vernommenen, daß Johanna eine gute Christin war, und betonten noch einmal ihren erhebenden Tod. Ein einziger, Marguerie, Beisitzer im ersten Prozeß, weiß nichts von ihrer Frömmigkeit, aber, so sagt er, sie schien sehr verwirrt, denn sie sagte »Rouen, Rouen, so soll ich hier sterben«. Isembard de la Pierre dagegen fügt hinzu, daß der Bischof von Beauvais, einer der Richter, bei dieser Gelegenheit weinte. Er berichtet, daß ein Engländer, ein Soldat, der sie sehr haßte und geschworen hatte, er werde mit eigner Hand ein Bündel Holz auf Jeannes Scheiterhaufen legen, als er das tat und sie bei ihrem Ende den Namen Jesus rufen hörte, in Ohnmacht fiel und in eine Taverne nahe dem Altmarkt gebracht wurde, damit er mit Hilfe eines Getränks wieder zu Kräften käme. Und nach der Mahlzeit hörte der Zeuge, wie ein Bruder vom Orden der Predigerbrüder, ein Engländer, sagte, daß er schwer gesündigt habe und bereue, was er besagter Jeanne angetan hatte, und daß sie eine gute Frau war; denn dieser Engländer hatte, wie ihm schien, eine weiße Taube in Richtung Frankreich davonfliegen sehen, als Jeanne ihren Geist aufgab. Er sagt auch, daß der Henker nach der Mahlzeit, am selben Tag, ins Kloster besagter Predigerbrüder kam und zu dem Zeugen sowie zu Bruder Martin Ladvenu sagte, er fürchte sehr, verdammt zu sein, weil er eine Heilige verbrannt habe.
Und Martin Ladvenu erinnert sich diesmal, daß er mit Erlaubnis und auf Befehl der Richter Jeanne den Leib Christi reichte, nachdem andere Zeugen sein Gedächtnis aufgefrischt hatten.
Einstimmig beschrieben die Zeugen den Zwang, der gegen Johanna ausgeübt wurde, und einige kamen auf die Männerkleider zurück, welche die Fragenliste wohlweislich nicht erwähnte. Tatsächlich sagte das Volk, daß es keinen anderen Grund für ihre Verurteilung gab als den, daß sie wieder Männerkleider angelegt hatte, und Isembard de la Pierre meint sogar, daß man seiner Ansicht nach eine Frau nicht deshalb als Ketzerin verurteilen dürfe, weil sie so gekleidet sei.
Alle stimmten darin überein, daß man Johanna häufig schwierige Fragen stellte, die von mehreren auf einmal kamen. Bevor sie dem einen antworten konnte, stellte ein anderer eine andere Frage; sie war darüber nicht zufrieden und sagte: »Stellt eine nach der andern.« Er bewunderte, in welcher Weise sie auf die spitzfindigen und verfänglichen Fragen zu antworten wußte; sogar ein gebildeter Mann hätte nur mit Mühe antworten können.

Widersprüche

Einige jedoch meinten, daß nicht alle ihre Antworten von gleicher Bedeutung seien. So Bruder Isembard:
Er sagt, daß sie in dem Prozeß mancherlei sagte; wenn sie vom Königreich sprach und vom Krieg, schien sie vom Heiligen Geist beseelt; aber wenn sie von ihrer Person sprach, erdichtete sie vieles.

Bruder Miget zu diesem Artikel:
Er sagt, er glaube, daß Jeanne zwanzig Jahre alt war. Und er glaubt, sie war so einfältig, daß sie glaubte, die Engländer wollten nicht ihren Tod, und hoffte, durch Geld freizukommen. Aber er sah sie katholisch und klug antworten in dem, was den Glauben anging, ausgenommen in ihren angeblichen Erscheinungen, auf die sie sich zu sehr versteifte, wie ihm dünkt.

Was ihre Unterwerfung unter die Kirche betrifft, so hat man bereits einige Mißtöne vernommen. Marguerie wurde deutlich:
Er sagt, daß er vielmehr das Gegenteil glaubt, das heißt, er hat gehört, daßjeanne sich in bestimmten Dingen weder an ihren Prälaten noch an den Papst oder sonst irgend jemanden halten wollte, sondern allein an Gott. Und er glaubt, das sei einer der Gründe, weswegen man sie aufforderte zu widerrufen.

Magister Guillaume du Disert, Domherr von Rouen, war bei der ersten Predigt in Saint-Ouen zugegen. Er sah und hörte, wie besagte Jeanne abschwor und sich dem Entscheid, dem Urteil und den Geboten der Kirche unterwarf. Er sagt ferner, daß ein englischer Doktor, der die Predigt hörte und unzufrieden war über die Abschwörung, weil besagte Jeanne bestimmte Worte lachend aussprach und dem Bischof von Beauvais, dem damaligen Richter, sagte, er täte schlecht daran, diese Abschwörung zuzulassen,'denn sie sei ein Hohn. Worauf besagter Bischof antwortete, sie lüge, denn weil er Richter in Glaubenssachen sei, müsse er mehr auf jeannes Heil als auf ihren Tod bedacht sein.

Über die Unverantwortlichkeit der Richter äußerten sich viele sehr differenziert und wollten noch einmal die Rolle von Cauchon zur Sprache bringen.

Magister Nicolas de Houppeville, Bakkalaureus der Theologie, gebürtig aus Rouen, etwa sechzig Jahre alt, vereidigt und befragt am Montag, dem 8. Mai ...
III. Er sagt, er wisse wohl, daß Jeanne von den Engländern in die Stadt Rouen und ins Gefängnis im Schloß von Rouen gebracht worden ist. Der Prozeß wurde von eben diesen Engländern geführt, soviel er weiß; aber er glaubt weder an Furcht noch an Druck, was die Richter angeht. Im Gegenteil, sie taten es von sich aus, besonders der Bischof von Beauvais ...
IV. Er sagt, daß seiner Meinung nach die Richter und Beisitzer zum größten Teil aus freien Stücken handelten; er glaubt, daß andere Angst hatten, denn er hat Magister Pierre Minier sagen hören, er habe seine Meinung schriftlich abgegeben, und sie habe dem Bischof von Beauvais nicht gefallen, der sie sogar verworfen und ihm gesagt habe, er solle Recht und Ilieologie nicht vermengen und das Recht den Rechtsgelehrten überlassen. Weiter sagt er (...), daß er zu Beginn des Prozesses an einem Tag nicht kam. Als er am zweiten Tag kam, wurde er nicht vorgelassen und vom Bischof sogar vertrieben, weil er zuvor in einer Unterredung mit Michel Colles gesagt hatte, es sei aus mehreren Gründen gefährlich, diesen Prozeß anzustrengen; das wurde dem Bischof hinterbracht; deswegen schickte der Bischof den Zeugen ins königliche Gefängnis von Rouen, aus dem er auf Bitten des Abts von Fecamp freigelassen wurde. Der Zeuge hat gehört, daß auf den Rat einiger hin, die der Bischof einberufen hatte, beschlossen wurde, den Zeugen nach England oder anderswohin ins Exil zu schicken, wenn besagter Abt und einige seiner Freunde nicht für ihn gesprochen hätten...
Nach Jean Fave hat sich Graf von Warwick nach besagter Predigt bei den Bischöfen und Doktoren beschwert und gesagt, der König sei unzufrieden, daß besagte Jeanne entkäme: worauf einer von ihnen antwortete: »Seid unbesorgt, mein Herr, wir werden sie schon fassen.«
Isembard dagegen unterscheidet deutlich: einige Beisitzer verfuhren wie der Bischof von Beauvais; andere, nämlich mehrere englische Doktoren, aus schwarzer Rache; andere Doktoren aus Paris, weil das Geld sie lockte; aber andere aus Angst, so der genannte Stellvertretende Inquisitor und mehrere andere, an die er sich nicht erinnert. Das geschah auf Veranlassung des Königs von England, des Kardinals von Winchester, des Grafen von Warwick und anderer Engländer, welche die Kosten dieses Prozesses zahlten.

Bruder Ladvenu weiß nichts von der Furcht und dem Druck, die in diesem Artikel erwähnt sind. Und Nicolas Taquel sagte noch unverhohlener, daß er von keinem Druck noch von irgendwelchen Drohungen etwas gesehen oder wahrgenommen hat.
Freilich war Taquel der dritte Notar, und die Notare verteidigten verbissen die Genauigkeit der Minute, die sie verfaßt hatten. Isembard de la Pierre hatte sie in Zweifel gezogen. Als er Jeanne ermutigte, sich dem Konzil zu unterwerfen, hatte Cauchon ihn heftig unterbrochen und gesagt: »Schweigt, in Teufels Namen.« Bei diesen Worten fragte Herr Guillaume Manchon, Notar in besagter Sache, den Bischof, ob er diese Unterwerfung aufschreiben solle, aber der Bischof antwortete: nein, das sei nicht nötig. Jeanne sagte zum Bischof: »Ah, Ihr schreibt, was gegen mich spricht, aber Ihr wollt nicht schreiben, was für mich spricht.« Und er glaubt, es sei nicht geschrieben worden; worauf ein großes Murren in dieser Ratsversammlung anhob.

Jean Massieu kommt Manchon zu Hilfe: er sagt, daß in besagtem Prozeß Herr Guillaume Manchon schrieb, und er erinnert sich, daß Manchon nicht so schrieb, wie es manchen gefiel, sondern wie es der Wahrheit entsprach. Manchmal wurde Jeanne wegen einer Schwierigkeit noch einmal befragt, und man fand, daß Manchon richtig verstanden und geschrieben hatte.

Und Manchon beteuerte laut die Genauigkeit seiner Niederschrift und der lateinischen Übersetzung. Demnach war der Prozeß gar nicht so >lügnerisch<. Man war also gezwungen, andere Mängel hervorzuheben.
Was die >Stimmen< betrifft, so hatte keiner sie erwähnt, allenfalls nebenbei erwähnt, daß die Pucelle selber zu oft von ihnen gesprochen hatte.