Ich will in diesem Teil mein Gedankenexperiment: die matriarchale Kunst-Utopie, nach dem Verständnis für die Ansätze zur matriarchalen Kunst bei Künstlerinnen heute und den Erfahrungen, die wir daraus gewonnen haben, in einer konkreten, anschaulichen Beschreibung ausführen. Es liegt mir daran, den vollen Gehalt des Ritus dabei in eine neue matriarchale Kunst einzufügen. Denn nicht jeder Bewegungsablauf, nicht jede symbolische Aktion, wie rituell auch immer gemeint, ist schon ein matriarchales Ritual. Soweit ich sehe, ist die volle Komplexität, die außerordentliche Vielfalt und die tiefe Bedeutung matriarchaler Rituale, wie sie sich aus der Struktur matriarchaler Mythologie ergeben, noch nirgends wirklich ausgeschöpft. Dabei spielt das Einhalten der strengen Form matriarchaler Riten eine große Rolle, denn ohne die genaue Berücksichtigung der Struktur matriarchaler Mythologie würden die Ritualformen bald ins Beliebige zerfließen, alles und jedes würde »matriarchal« genannt und verdiente die Bezeichnung gar nicht. Die Struktur von Initiation, Hochzeit, Tod und Wiederkehr entstand ja nicht aus persönlicher Willkür oder gesellschaftlichem Diktat, sondern durch Jahrtausende hindurch auf dem Boden der genuin matriarchalen Gesellschaften auf der ganzen Erde. Darum nannte ich sie die »Kategorien der menschlichen Phantasie denn ihr Gehalt ist so weitreichend und tief, daß wir noch viel Geist, Gefühl und Gestaltung investieren können, ehe wir sie annähernd erfaßt oder gar heute wieder umgesetzt haben. Wenn wir diese Struktur mit dem Umfeld ihrer Symbole, das zwar weit aber nicht beliebig ist, präzise verwenden, können wir sie wie eine Symbolsprache gebrauchen - wie eine nicht-verbale Sprache in symbolischen Bildern und Abläufen.
Wir würden damit eine andere, eine ältere Form der Kommunikation zurückgewinnen, die bevor und wieder jenseits der allein herrschenden, diskursiven, argumentativen Wörtersprache galt und gelten könnte. Die exakte Verwendung ist dabei allerdings Voraussetzung, denn jede Sprache hat ihre festen Regeln. Aber jede Sprache läßt auch verschiedene individuelle Dialekte zu. Diese »Dialekte« würden bezüglich der Struktur matriarchaler Mythologie im Spielraum der Symbole, in der Freiheit der Ausgestaltung, die Hand in Hand geht mit den verschiedenen Wegen, auf denen wir die Tiefe der Bedeutung dieser Struktur erforschen, bestehen. So wie die Göttin der Gestalt nach immer dieselbe war, den Namen und ihren Attributen nach aber die größte Vielfalt zeigte. Geschichtlich hat das Festhalten an der Struktur matriarchaler Mythologie bedeutet, daß auf dem Boden dieses unveränderlichen Gerüsts die matriarchalen Tanzfeste und Rituale Jahrtausende identisch überdauert haben und selbst in patriarchaler Unterdrückung und Verkleidung noch zu erkennen sind. Diese Einheit in der Vielheit ist so wichtig, daß wir sie nicht dem übersteigerten und egozentrischen Subjektivismus der jüngsten patriarchalen Epoche - auch und gerade in der Kunst - opfern dürfen. Denn in der privaten Beliebigkeit wird Kommunikation über Symbole unmöglich.
Die matriarchalen Rituale und Tanzfeste waren obendrein eingebettet in den Jahreszeiten-Zyklus, was die Aussagekraft ihrer Symbole beträchtlich erhöhte. So sind weder der Ort noch die Zeit beliebig wie bei den heutigen Kunstäußerungen, sondern alles geschah in Analogie zu dem, was in der Natur geschah. Bei dieser Analogie ist das frühere oder spätere Geschehen nicht festzustellen, etwa so: zuerst kam das Fest, und dann folgte die Natur den Beschwörungen; oder zuerst bewegte sich die Natur, und dann imitierten sie die Menschen.
Es geschah alles in vollendeter Gleichzeitigkeit, als Austausch mit den Kräften des ganzen Kosmos, die dabei selber zu Symbolen wurden. Die Natur spielte zuverlässig mit, eingefangen in dieses Netz symbolischer Kommunikation, denn sie war die Hauptakteurin, die weibliche Gottheit selbst. Solche wiederaufgegriffene Verknüpfung gehört zu einer neuen matriarchalen Kunst, die damit deutlich macht, daß die Jahreszeiten in der Natur den psychischen Jahreszeiten in uns entsprechen. Denn auch unser Leib, unsere Psyche sind ein Stück Natur, die psychosomatische »innere« Natur, die in Fülle und Komplexität der »äußeren« entspricht und durch sehr feine Prozesse mit den periodischen monatlichen und jahreszeitlichen Schwankungen gekoppelt ist.«
Ritual-Spiele
Es gibt bereits Versuche von Frauen, matriarchale Jahreszeiten-Rituale wiederzubeleben, allerdings nicht im Rahmen der Kunst, sondern der Spiritualität. Die meisten Frauen verstehen ihre Entwürfe nicht unter dem Begriff »Kunst wie umgekehrt viele Künstlerinnen ihre Arbeiten nicht in Zusammenhang mit dem Begriff »Spiritualität« sehen. Darin spiegelt sich nur zu einem Teil Unkenntnis voneinander, zu einem größeren Teil dagegen die typische Trennung von Bereichen in der patriarchalen Gesellschaft, für die Spiritualität schlicht »Religion« bedeutet und Kunst schlicht »Fiktion« - und beides ist falsch.« Das kann für die eine Gruppe Frauen, die Kunst mit matriarchalen Tendenzen schafft, wie für die andere Gruppe Frauen, die mit neuen Formen matriarchaler Rituale experimentiert, ein Nachteil sein: Rituale sind in der Gefahr, kunstlos, wenig geformt, epigonale Imitation zu werden, und künstlerische Arbeiten sind in der Gefahr, ohne den weiten geistigen und seelischen Horizont, den die matriarchale Spiritualität eröffnen kann, sich auf private Prozesse zu verkürzen. Eine der ersten Frauen, die matriarchale Rituale entwarf, ist die aus Ungarn stammende Amerikanerin Zsuzsanna Budapest. Sie griff dabei auf volkstümliche Traditionen in ihrer Heimat zurück, zwar fragmentarisches, aber sehr altes Wissen. Daraus erfand sie ihre Rituale, die in den ursprünglichen Jahreszeiten-Kalender eingepaßt sind.« Sie geht dabei von einer feststehenden Anordnung aus: Die Frauen fassen sich reihum an den Händen und messen so den Kreis aus; dann wird der Kreis gezogen, um sakralen Raum zu schaffen; es folgt die Reinigung aller, die den Kreis betreten; der Kreis wird geschlossen; die vier Himmelsrichtungen werden angerufen; die magische Kraft wird durch Konzentration erhöht; die Göttin wird eingeladen; ein Ritual, der Jahreszeit entsprechend, findet statt; ein Fest mit Wein und Brot wird gefeiert, verbunden mit persönlichen Wünschen und Dank an die Göttin, die magische Kraft wird entlassen, der Kreis geöffnet; Tanz und Vergnügen beenden das Ritual.
Die Rituale im Mittelpunkt dieser Anordnung folgen den besonderen Zeitpunkten des Sonnenkalenders: Zur Wintersonnenwende wird ein Kerzenritual gefeiert, bei dem die Frauen Kränze aus Immergrün tragen. Sie setzen symbolisch die Geburt des Lichts und die Geburt der beteiligten Frauen in Szene, indem sie sich mit gesungenen Tönen aufeinander konzentrieren, sich immer mehr steigern, bis sich die Spannung in einem gemeinsamen Geburtsschrei entlädt. Zu Lichtmeß am 2. Februar, einem alten Initiationsfest, werden neue Mitglieder eingeweiht, indem sich die Frauen mit gespreizten Beinen hintereinander stellen und die Initiandinnen langsam mit den Händen zwischen ihren Beinen hindurchziehen. Das symbolisiert den Durchgang durch den Geburtskanal, an dessen Ende jede Initiandin willkommen geheißen wird. Zur Frühlings-Tagundnachtgleiche wird die Rückkehr Kores aus der Unterwelt gefeiert, nun läßt ihre Mutter Demeter die Erde wieder aufblühen. Der Vorabend des 1. Mai gilt der Feier der erblühten Göttin, zu deren Ehre die Frauen Blumenkränze tragen und grüne Zweige mitbringen. Ein Kessel mit duftenden Kräutern steht im Mittelpunkt. Zur Sommersonnenwende ist es die Feuergöttin der Liebe, die angerufen wird. Zugleich wird die Macht der Frauen über die Männer gefeiert, sogar Zaubersprüche gegen persönliche und politische männliche Feinde werden losgelassen. Dabei halten die Frauen Äste, die das männliche phallische Prinzip darstellen, über einen brennenden Kessel und lassen sie vom Feuer verzehren.
Es folgt das Fest der Getreideernte am 2. August. Es ist ein Demeter-Fest, alle Frauen tragen Weizenkränze und preisen den verschwenderischen, schenkenden Reichtum der Göttin. Zur Herbst-Tagundnachtgleiche ist das Erntedankfest der Hexen, an dem der steinerne Altar in der Mitte des Kreises mit Blättern, Zweigen und Tannenzapfen geschmückt ist. Das Ritual. gilt dem Eingraben des Getreidekorns in die Erde in der Hoffnung, daß aus ihm im kommenden Frühling neues Leben sprießt. An Hallowen, am 31. Oktober, wird das Neujahrsfest der Hexen gefeiert, an dem die Göttin im dritten Aspekt, als Todesgöttin und weise Alte, erscheint: es ist das Fest der Hekate. Nun werden die Toten geehrt und Erinnerungen an die matriarchalen Ahninnen geweckt. Eine schwarze Liste der Frauenfeinde wird herumgereicht, die Göttin als rächende Mutter angerufen und zuletzt das Patriarchat verflucht. Dabei stoßen die Frauen ihre Messer in einen Granatapfel. Danach folgt wieder die Feier der Wintersonnenwende. Zsuzsanna Budapest ordnet die Gruppen dabei so, daß immer drei Frauen wie die Göttintriade erscheinen und die Aufgaben der Zusammenkünfte wahrnehmen: die »Hohepriesterin die für die politische und spirituelle Organisation verantwortlich ist, die Bedeutung der Feste erklärt und die Mitglieder belehrt und bei den Ritualen die Gesänge und Anrufungen leitet - sie verkörpert den Weisheitsaspekt der Göttin; die »Nymphe die für Essen und Trinken, für Musik und Freude sorgt und heitere, glückliche Stunden vorbereitet - sie verkörpert den Venus-Aspekt der Göttin; das »Mädchen das einen schönen Ort im Freien für die Zusammenkünfte aussucht, den Kreis zu den richtigen astrologischen Zeitpunkten zieht, die verschiedenen Arten des Zaubers ausführt und alle, die den Kreis betreten, reinigt - sie verkörpert den Amazonenaspekt der Göttin. Die Rollen können je nach innerer Bereitschaft und persönlichem Wunsch übernommen werden und sollen unter den Frauen einer kleinen Gruppe wechseln- bei größeren Gruppen muß notwendig eine stärkere Gliederung eintreten, wobei die Erfahreneren die handelnden Rollen übernehmen. Soweit Zsuzsanna Budapest. Ihre Vorstellungen sind sehr anregend und bringen viele Einzelheiten aus der alten Hexen-Tradition wieder ans Licht. Dennoch sehe ich in ihren Ritualen große Probleme: Sie läuft Gefahr, in Detailkrämerei steckenzubleiben, weil sie zuviele Symbole, Metaphern, magische Gegenstände aufeinanderhäuft. Assoziativ reiht sich Teilchen an Teilchen, so daß eine klare, kraftvolle Form des Rituals nicht zustandekommt.
Es fehlt die »Kunst« als die Fähigkeit zur Konzentration auf Weniges, die anstelle einer Reihung von Symbolen ein einziges komplexes Symbol entstehen ließe. Ein zweites Problem liegt darin, daß der gesamte Jahreszeiten-Zyklus an der relativ späten, hellenistischen Erzählung von Demeter und Kore aufgefädelt wird. Diese Mythe hat in ihrer langen Geschichte als Untergrundreligion während der patriarchalen Epoche Griechenlands etliche Verzerrungen und Deformationen erlitten, die überhaupt nicht mitbedacht werden. Sollte diese Mythe tragend werden, so müßte zumindest versucht werden, ihre matriarchale Version zu rekonstruieren und ihre Bezüge zu den anderen matriarchalen Religionen der umliegenden Kulturländer herzustellen. Nur so läßt sich ihre Tiefe ausloten. Ein solches geschichtliches Bewußtsein fehlt Z. Budapest und ihren Nachahmerinnen, was zur Folge hat, daß sie die Relikte von »Hexenwissen« naiv in die Gegenwart transponieren - als ob wir noch heute auf dem Boden derselben Gesellschaft säßen, in der dieses Wissen entstanden ist. Ferner ist in diesen Ritualen alles Männliche radikal ausgeschlossen, nicht nur einzelne Männer - sie können ruhig ausgeschlossen sein - sondern auch jedes männliche Prinzip. Damit ist die Göttinstruktur der matriarchalen Mythologie zwar angedeutet, aber die Herosstruktur entfällt.
Der tiefsinnige Symbolgehalt der alten matriarchalen Feste bleibt zugleich mit der Anschaulichkeit der Beziehungen zwischen Frau/Mann und Kosmos damit auf der Strecke. Das Männliche erscheint nur noch indirekt und böse als einzelne Feinde oder die Folie des Patriarchats, wobei die fatale Gleichsetzung von Mann und Patriarchat gemacht wird. Als ob es niemals das Bild des matriarchalen Mannes, eine reine Schöpfung der Frauen, gegeben hätte! Dieser Haltung von Haß und Fluch folgt Miriam Simos nicht. Unter dem Namen »Starhawk« (Sternfalke) hat sie ein umfangreiches Buch herausgegeben, in welchem sie ihre Kenntnisse und Erfahrungen mit ritueller Arbeit in San Francisco darstellt.« Obwohl sie in der Thematik und dem Aufbau von Ritualen ganz ihrer Lehrerin Z. Budapest folgt, nur daß sie gründlicher und ausführlicher ist, macht sie im Gegensatz zu dieser den Ausschluß des Männlichen aus den Ritualen rückgängig. Neben die »Göttin« tritt nun der »Gott so vielnamig angerufen und gepriesen wie sie. Er ist der »Gehörnte »der Hirsch und der Hengst »der Bock und der Stier« der »Wintergeborene das »Sonnenkind der »Lichtkönig« und der »Geopferte er ist Dionysos, Osiris, Pan und Dumuzi. Ihre auf den Jahreszeiten-Zyklus bezogenen Rituale haben daher etwas andere Inhalte als bei Z. Budapest; Zur Wintersonnenwende imitiert sie das Spiel mit dem »Geburtskanal das allerdings nur die Frauen vollziehen können. Zu Lichtmeß gibt es ein Ritual um einen mit Erde gefüllten Kessel, in den Kerzen gesteckt werden: zu Ehren von Brigid, der keltischen Göttin der Inspiration. Zur Frühlings-Tagundnachtgleiche wird der wachsende Sonnenprinz gefeiert, der seine Hand ausstreckt und Kore, die unter der Erde gefangene Frühlingsgöttin, befreit.
Am Mai-Abend gibt es einen Tanz um einen Maibaum, bei dem die Tanzenden die Enden der Bänder halten und sie ineinander verweben. Zur Sommersonnenwende tanzen die »Hohepriesterin« und der »Hohepriester« mit einem kleinen Idol des Gottes, das mit Blumen umwunden und dann ins Feuer geworfen wird. Zum Fest am 2. August wird die Verbrennung des Gottes wiederholt, wobei das Idol diesmal aus Brot gemacht ist. Zur Herbst-Tagundnachtgleiche wird gemeinsam ein Band gewebt, in das alle Mitglieder symbolische Gegenstände für ihre Wünsche, die sich im nächsten Jahr erfüllen sollen, knüpfen. Es folgt zuletzt Hallowen mit dem Gedenken an die Toten und der Feier des Prinzen des Zwielichts, der sterbend nach Westen segelt. Zuletzt wird der Granatapfel, der bei Z. Budapest zur Verfluchung des Patriarchats diente, zwischen der »Hohepriesterin« und dem »Hohepriester« mehrfach friedlich geteilt, wobei sie die Frucht segnen: »Bewahre die Frucht des Lebens das Tod ist! Bewahre die Frucht des Todes - der Leben ist!« Den Lebensspruch spricht dabei die Frau, den Todesspruch der Mann. Soweit Miriam Simos. Trotz eines reichen mythischen Hintergrunds und einer etwas reflektierteren Einstellung enthalten ihre Rituale für mich ebenfalls eine Menge Probleme: Insgesamt sind sie genauso assoziativ wie bei Z. Budapest, gelegentlich sogar noch überladener. Abgesehen davon erscheint ihr Inhalt recht willkürlich, so daß die symbolische Bedeutung der Feste, auf die sie sich beziehen, nicht sichtbar wird. Außer Imitationen gibt es Wiederholungen (zweimal im Feuer geopfertes Idol, zweimal Bänderweben), die einen Mangel an Ideen andeuten. Zwischendurch taucht unmotiviert Kore auf, um vom Sonnenprinzen gerettet zu werden und hernach sofort wieder zu verschwinden. Das Bild der dreifaltigen Göttin wird nicht entwickelt. Enthalten ihre Rituale dafür die Heros-Struktur, Der Sonnenprinz, der zur Frühlings-Tagundnachtgleiche erscheint und zu Hallowen wieder Abschied nimmt, scheint darauf hinzuweisen. Aber warum segelt er nicht zur Herbst-Tagundnachtgleiche davon, wie es sich nach dem symmetrischen Sonnenkalender gehört? Solche Ungenauigkeiten und die Leere der Rituale auch im Hinblick auf den Heros, lassen kein rechtes Bild von ihm aufkommen. Miriam Simos ist von der Erfüllung der Struktur matriarchaler Mythologie noch weiter entfernt als Z. Budapest. Außerdem sehe ich darin eine große Gefahr, statt der Mondgöttin den Sonnenprinzen und männliche Idole zu feiern. Nicht minder fatal ist es, neben die »Göttin« einfach den »Gott« und neben die »Hohepriesterin« den »Hohepriester« zu stellen.
Ein solches Vorgehen ist keine Integration des männlichen Prinzips in ein matriarchales Weltbild, sondern ebenfalls pure Assoziation. Die. matriarchale Mythologie kennt überhaupt keinen Gott, sondern nur den Heros. Der Gedanke an einen männlichen Gott war ihr absolut fremd, denn der Mann ist nicht die lebengebende Seite, infolgedessen gab es auch keine männlichen »Hohepriester«. Der Beginn des Patriarchats im Kultus ist gerade durch die Vergöttlichung der bis dahin sterblichen Heroen gekennzeichnet, und die ersten vergöttlichten Heroen waren die Zerstörer matriarchaler Kulte und Städte: Perseus, der dorische Herakles, Theseus, der Vernichter Kretas. Rasch stieg der vergöttlichte Heros dann zum Gott auf, bis die immer zahlreicher werdenden Götter die Göttinnen verdrängten und zuletzt der Monotheismus mit dem einzigen Vatergott übrig blieb. Diese Entwicklung war geradlinig und konsequent. So fällt Miriam Simos mit ihrer voreiligen Umarmung des Männlichen im matriarchalen Ritual ins andere Extrem. Auch sie denkt Geschichte zu wenig mit, und die Folge davon ist eine andere politische Naivität: beim Kooperieren mit Männern ebenfalls nicht die Bedingungen der Gesellschaft mitzubedenken, in der wir heute leben. Noch immer ist diese Gesellschaft patriarchal. Das bedeutet, daß sie den Mann generell stützt und hält, während Frauen nicht nur allein, sondern obendrein dagegen arbeiten müssen. Es ist darum ein Unding, in irgendeinen Bereich, den Frauen sich mühsam geschaffen haben, der noch im Experimentier-Stadium ist, sofort Männer als »Gleiche« zuzulassen. Sie sind in einer patriarchalen Gesellschaft nicht gleich, sondern im Vorteil. Und sind sie mit ihrer Rolle in dieser Gesellschaft zerfallen, dann tauchen sie in Frauen-Zirkeln auf, der komplementären Selbstbestätigung wegen, des immer erheischten »Verständnisses«. Wohin sollten aber Frauen gehen, die mit ihrer Rolle in dieser Gesellschaft zerfallen sind und komplementäre Selbstbestätigung suchen - in Männer-Zirkel etwa? Matriarchale Spiritualität und matriarchale Rituale entwickeln heißt darum zunächst, sie zu schützen: denn es ist ein sehr neues, sehr subtiles Feld für Frauen. Und es heißt, sich an die matriarchale Konstellation zu erinnern. Dort waren Männer niemals als »Gleiche« in den Ritualen zu finden, sondern ein menschlicher Heros stand einer dreifaltigen Göttin gegenüber und nahm alles von ihr in Empfang. Daher kommt es nicht darauf an, daß wir Frauen Männer integrieren, sondern wie. Und obendrein kommt es darauf an, wann wir es tun. Einzelnen Männern, die integer sein mögen, tun solche Überlegungen kein Unrecht, denn sie sind politischer Natur.
Bevor ich meine Kunst-Utopie der matriarchalen Jahreszeiten-Rituale entwerfe, möchte ich auf ihre Voraussetzung eingehen: den matriarchalen Kalender. Dieser bestand nicht einfach aus dem Sonnenkalender mit seinen Festen (Sabbats), in den ohne Ordnung irgendwelche Mondfeste (Esbats) eingestreut waren, sondern er war eine genaue und regelmäßige Kombination aus Mond- und Sonnenkalender. Der Mondkalender ist geschichtlich viel früher und stellt einen beweglichen Kalender dar. Der Sonnenkalender ist dagegen ein fester Kalender. Der Mondmonat, der die Zeitspanne von einem Neumond bis zum nächsten umfaßt, ist das früheste bekannte Zeitmaß, das Menschen benutzten. Es soll schon in der Altsteinzeit bekannt gewesen und in Zeichensystemen festgehalten worden sein. Dieser Vorzug des Mondes ist verständlich, denn er ist mit seinen gut sichtbaren, eindrucksvollen Phasen leicht zu beobachten, und zwar überall auf der Erde. Die Jahreszeiten setzen dagegen eine wesentlich längere Zeitspanne der Beobachtung voraus, wobei vielfältigere Erscheinungen berücksichtigt werden müssen, ganz abgesehen davon, daß sie in den verschiedenen Zonen der Erde höchst verschieden ausfallen. Im Äquator gibt es beispielsweise gar keine Jahreszeiten, sondern nur Tageszeiten. An den Polen dagegen gibt es nur die Jahreszeiten Sommer und Winter, wobei die Tageszeiten völlig entfallen: der Polartag ist so lang wie der Sommer und die Polarnacht so lang wie der Winter.
Am ausgeprägtesten sind die Jahreszeiten in den subtropischen und gemäßigten Breiten, und dort ist in den frühen matriarchalen Hochkulturen der Sonnenkalender entwickelt worden. Die Mondmonate teilen das Jahr in dreizehn Teile von genau 28 Tagen. Ein Mondjahr hat also dreizehn Mondmonate, was die alte Heiligkeit der Zahl 13 erklärt, die erst später zur »bösen 13« wurde. Es wird heute vermutet, daß Frauen in früheren Epochen zur gleichen Zeit menstruierten, so daß die Parallelität zwischen den Zyklen des Mondes und den Zyklen der Frau offensichtlich war. Ähnlich synchron mit dem Mond verläuft die Schwangerschaft, die neun Mondmonaten entspricht. Nicht zufällig wird es deshalb im ritualisierten Jahreszeiten-Zyklus zu einer heiligen Zeit von neun Monaten gekommen sein, denen die restliche Zeit als Phase des Übergangs, des Abklingens des Gewesenen und der Vorbereitung des Kommenden, angehängt wurde. Denn ungefähr drei Monate braucht der Körper der Frau, um sich nach der Geburt zu normalisieren. Vielleicht waren auch die Geburtsphasen der Frauen in der matriarchalen Epoche - wenn auch nicht allgemein, so doch zumindest auf sakraler Ebene - in den Jahreszeiten-Zyklus eingepaßt. Vom Mondkalender sagt man daher zu Recht, daß er dreigeteilt war: Neun dreigeteilte Monate waren die drei heiligen Abschnitte des Jahres, und die restliche Zeit zählte nicht. Erst mit der Entwicklung des Sonnenkalenders setzte sich die Vierteilung des Jahres durch. Es gab jetzt keine »restliche« Zeit mehr, sondern das Jahr war in vier gleiche Abschnitte geteilt: je drei Monate zwischen den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen. 3 und 4 waren die heiligen Zahlen, und aus diesen ergab sich die heilige 12. Die 13 wurde weggelassen wie die dreizehnte Fee im Märchen.
Die »Sphinxen« genannten Fabelwesen sind ursprünglich Kalendersymbole gewesen, denen die Dreiteilung oder Vierteilung noch deutlich anzusehen ist. Die dreigeteilte Sphinx ist aus den Symboltieren der triadischen Göttin zusammengesetzt, aus Löwe, Stier, Schlange. Häufiger wurde die Zusammensetzung aus Menschenkopf, Löwenleib und Schlangenschwanz vorgenommen, die jedoch dieselbe Bedeutung hat, nämlich das dreigeteilte Jahr zu symbolisieren. Zur Zeit der Entwicklung des Sonnenkalenders taucht dann die viergeteilte Sphinx auf, die zu den anderen Körperteilen noch Vogelflügel trägt: das viergeteilte Jahr. 13 Mondmonate und viergeteiltes, festes Sonnenjahr passen aber rechnerisch nicht zusammen. Daher kam es zu mühsamen Versuchen, den alten Mondkalender und den neuen Sonnenkalender zu harmonisieren. Der Göttinverehrung tat dies keinen Abbruch. Sie war seit jeher die Dreifaltige im Vierfachen, denn auch der Mond zeigt genau genommen vier Phasen: zunehmende Sichel, Vollmond, abnehmende Sichel, Neumond. Dabei ist die Neumondphase paradox, denn sie »zeigt« sich nicht, ist aber doch präsent. Genauso paradox wurde im Mondkalender der vierte Teil des Jahres behandelt: vorhanden, aber nicht gezählt. Mit der Einführung des Sonnenkalenders wird der Dreifaltigen Göttin nun ihr Sohn, der Heros, hinzugerechnet, und damit gewinnt das viergeteilte, Jahr an Bedeutung. Dennoch blieb das Problem der Harmonisierung beider Kalender, was zu einer Aufteilung der 13 Mondmonate in 12 Monate führte, die mit 30/31 Tagen den Umlaufzeiten des Mondes nicht genau entsprechen.
Jetzt entstand die Differenz zwischen »festen« und »beweglichen« Festen, das heißt- zwischen Festen, die sich nach dem Sonnenkalender, und solchen, die sich nach dem Mondkalender richteten. Die Lösung bestand darin, von den festen Zeitpunkten des Sonnenkalenders auszugehen und jedesmal eine Zeitspanne anzuhängen, bis ein Vollmond erscheint. So fällt zum Beispiel Ostern noch heute auf den ersten Vollmond nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche ("Osterregel"). Und auch die Weihnachtszeit ist so ausgedehnt (von Heiligabend bis Dreikönig), daß in dieser Zeit immer ein Vollmond auftaucht. Noch heute feiern wir solche Feste nicht als Zeitpunkte, als einzigen Tag, sondern als Zeitphasen von mehreren Tagen. Rituelle Feste als mehrtägige Phasen, die an den festen Zeitpunkten des Sonnenkalenders begannen und an den darauffolgenden Vollmonden ihren Höhepunkt erreichten, waren bei der entwickelten matriarchalen Zeitrechnung mit ihrer Kombination des Mond- und Sonnenkalenders die Regel. Machen wir uns jetzt die Feste dieses kombinierten Kalenderzyklus im einzelnen klar! Dazu habe ich eine Graphik beigefügt, die nicht nur die Phasen der vier großen Feste zu den Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen enthält, sondern ebenso die kleineren Feste, die in genau gleichem Abstand zwischen die großen Feste gelegt sind. Sie stellen vorbereitende Feste zu den vier großen Ritualfesten dar. Das Ganze ergibt, noch obendrein eingebettet in den Tierkreiszeichen-Zyklus, das »Rad des Jahres« oder das »Rad des Lebens das wir auch das »Rad der Transformation« nennen können. Es hat acht »Speichen dieselbe Zahl, die auch in Inannas Lebensblume, der Achtblattrosette, wiederkehrt. Das »Glücksrad« im Tarot Kartenspiel zeigt ebenfalls acht Speichen: es ist kein anderes als das Rad des Jahres und des Lebens. Denn oberhalb dieses Rades thront die Sphinx, das Kalendersymbol. Die heilige Phase des Jahres beginnt mit der Frühlings-Tagundnachtgleiche und endet mit der Wintersonnenwende. In diesem Zeitraum spielen sich die vier großen Ritualfeste Initiation Heilige Hochzeit - Opfertod - Wiederkehr/Wiedergeburt ab. Das letzte Viertel des Jahres ist die »paradoxe« Zeit, in der alles endet und wieder neu anfängt. Ich beginne deshalb in der »paradoxen« Zeit mit dem Lichtmeß-Fest am 2. Februar. Es ist das Vorbereitungsfest für das große Initiationsritual zur Frühlings-Tagundnachtgleiche. Es heißt im christlichen Kirchenjahr »Maria Lichtmeß« und feiert die langsam länger werdenden Tage. In der vorchristlichen Zeit war es der Lichtgöttin Lucia mit dem Kerzenkranz auf dem Kopf oder der keltischen Feuergöttin Brigid geweiht. Brigid hütet den Kessel des inspirierenden Feuers, denn Inspiration durch die Göttin ist die Voraussetzung für jeden Beginn. Sie sendet den zündenden Funken, den schöpferischen Geist und ist daher Schutzgöttin der Dichter und Sänger, die sie in Begeisterung versetzt. Ihre Wirkungen zeigen sich in der Zeitphase Fasching/Fastnacht/Karneval, die auf den Zeitpunkt Lichtmeß folgt: es ist die Zeit der inspirierten Verzückung, des ekstatischen Taumels, in der alles durcheinander geht. Noch heute ist der nicht-christliche Charakter dieser Zeitphase bekannt. Sie ist vom auf Lichtmeß folgenden Vollmond bestimmt und trägt den Charakter der »paradoxen« Zeit: Alles wird umgedreht und verkehrt, das Unterste zu oberst, das Oberste zu unterst, die Zeit des närrischen Verrücktseins.
Dieses Umdrehen und Durchschütteln aller verfestigten Verhältnisse löst das Alte auf und macht den Weg frei für das Neue: Revolution. Es ist die Zeit des Übergangs, des kreativen Chaos. (Tierkreiszeichen Wassermann, Planet Uranus, Tarotkarten XIV und 0 (siehe zu den Tarotkarten den Exkurs am Ende dieses Abschnitts.) Es folgt das Fest der Frühlingsgöttin Ostara: das mythische Jahr beginnt zur Frühlings-Tagundnachtgleiche am Widderpunkt (20. bis 23. März). Noch in der christlichen Zeit heißt es »Ostern« und ist erfüllt von Göttinsymbolen: die ersten Blumen, knospende Zweige, farbige Eier, kleine neugeborene Tiere wie Küken, Lämmchen, Zicklein, junge Hasen, alles Zeichen des aufkeimenden Lebens. Weiße Hasen sind dabei Fruchtbarkeits- wie Vollmondsymbole. In manchen Gegenden Europas sind die Ostereier nicht bunt, sondern ausschließlich purpurrot, und eins wird in die Mitte eines runden Kuchens gebacken, der wie ein Vollmond aussieht (Griechenland). Denn die Phase dieses Festes dauerte von der Frühlings-Tagundnachtgleiche bis zum Vollmond danach. Das große Ritual dieses Festes ist die Initiation des Heros-Königs durch die Mädchengöttin Ostara. Es fanden Wettspiele oder sakrale Jagden statt, bei denen sie ihn besiegte und sich ihren König selber einfing. Sie thronisierte ihn, indem sie ihm den goldenen Apfel der ewigen Jugend überreichte, der später zum »Reichsapfel« wurde. Ganz zu Recht ist er auch dann noch eine Insignie der Königswürde. Im späteren Kirchenjahr wurde der Opfertod des christlichen »Heros« Jesus auf Ostern gelegt, obwohl das Ritual in den Herbst gehört. Durch diese Verdrehung wollte man die »heidnische« Magie durch Gegenmagie brechen, deren Wirkung in der genauen Umkehrung besteht- ähnlich wurden auch die Himmelsrichtungen Ost-West vertauscht, die Seiten rechts und links, architektonische Anordnungen, usw. Ursprünglich war das Fest jedoch erfüllt von der ungestümen Kraft der Jugend und des Anfangs. (Tierkreiszeichen Widder, Planet Mars, Tarotkarten VII, IV und XVI.)
Auf die beiden Feste der Inspiration, des Beginns folgen die beiden Feste der Inkarnation, die nicht der weißen Mädchengöttin, sondern der roten Frauengöttin geweiht sind. Die vorbereitende Feier für diesen Aspekt der Göttin ist das Mai-Fest, das am Vorabend zum 1. Mai als die »Walpurgis-Nacht« beginnt. Das Fest hieß nach der germanischen Göttin Walpurgis, »Ort der Wahl denn in den volkstümlichen Bräuchen ging es in dieser Zeitphase um die Wahl der Malkönigin und ihres Gefährten, des Maiprinzen oder »grünen/schwarzen Mannes der als Glücksbringer galt. Es war eine rein erotische Erwählung und ein rein erotisches Glück. Die Maikönigin wurde als die schönste unter ihresgleichen gefeiert, und sie wählte sich ihren gehörnten »grünen Mann« selber mit einem Kuß aus. Erst in patriarchaler Zeit ist es dann dieser Maiprinz, der die Maikönigin »raubt« oder als »schwarzer Mann« noch heute junge Mädchen zudringlich und rußig anfaßt (Ästerreich. Der »Ort der Wahl« sind ebenso die mit erotischen Symbolen geschmückten Tanzplätze, die in dieser Zeit zum »Maienreigen« eifrig aufgesucht wurden. Früher waren es die uralten Steinkreise mit dem stehenden Menhir in der Mitte, später dann die Plätze um die »Maibäume« in der Dorfmitte. Ein Maibaum ist dabei ein ragend aufgerichteter Baumstamm, von unten bis zur Spitze hinauf spiralig bemalt, oben mit einem grünen Kranz, der an Bändern hängt, geschmückt, an dem Girlanden von Eiern hängen: ein erotisches Symbol, denn es zeigt den Phallus (Stange) mit der Vulva (Kranz) vereinigt (Bayern). Dieses Fest wurde nicht verchristlicht, in jüngster Zeit als 1. Mai jedoch absurderweise zum »Tag der Arbeit« erklärt. Diese Zeit sinnlicher Freuden währte mit Sicherheit bis zum ersten Vollmond nach WaIpurgis und rückte damit in die Nähe des Kirchenfeses »Christi Himmelfahrt«. Damit sollte offensichtlich ein asketisches Gegengewicht gegen die heidnische Fleischeslust geschaffen werden: nicht auf die fruchtbare Erde sollten die Menschen blicken, sondern in den ätherischen Himmel. Ähnlich verhält es sich mit dem christlichen Fest »Pfingsten das kurz darauf folgt. Nur in den Volksbräuchen tritt noch der »Pfingstochse« auf, ein mit Blumen über und über geschmückter Stier: das Tier der Venus persönlich oder der ägyptischkretische Fruchtbarkeitsheros in Tiergestalt, der seine Göttin auf dem Rücken trägt. Auch hier zogen die christlichen Kalenderreformer vor soviel heidnischem Geist die Notbremse, indem sie Pfingsten zum Fest ihres heiligen, asketischen, frauenfeindlichen Geistes machten. Dieser kam nun anstelle der Göttin vom Himmel nieder und schuf im Gegensatz zu ihr das Leben abstrakt. (Tierkreiszeichen Stier, Planet Venus, Tarotkarten III. und V.) Zur Sommersonnenwende (20. bis 23. Juni) fand das große Venus-Fest der Heiligen Hochzeit statt, an dem sich die Göttin mit ihrem ausgewählten Heros verband und damit die Fülle der Früchte auf der Erde segnete. Zugleich erhielt sie mit ihrer erotischen Kraft die Ordnung der Welt. Es ist das Fest der Litha, der keltischen Mondgöttin, denn die weibliche Kraft des Vollmonds steht jetzt auf ihrem Höhepunkt, das weibliche Prinzip strahlt über die Welt. Zur Sommersonnenwende springen in europäischen Volksbräuchen junge Paare über Feuer, oder man läßt Feuerräder die Hügel hinabrollen. Diese Feuer sind niemals Zeichen der Sonne, sondern immer des Mondes. Das zeigt sich deutlich beim »Osterfeuer das in der Vollmondnacht, die dem Ostertag vorausgeht, auf allen Bergen angezündet wird. Es sind Freudenfeuer, die den vollen Mond und damit den Beginn des Festes ankündigen, zugleich sind es magische Feuer der Reinigung. Im Osterfeuer verbrennt man noch heute das alte Gerümpel des Winters (Ästerreich), ebenso wird alles Alte symbolisch im Sonnwendfeuer verbrannt und in den Feuern zur Zeit des Erntedankfestes und im »Martinsfeuer« von Allerheiligen (Bayern).
Das Sonnwendfeuer, über das junge Paare springen, ist außerdem das Feuer der erotischen Ekstase, die ebenfalls die Mondgöttin in ihrer Venusgestalt gibt. Das Feuerrad wurde ursprünglich wohl nicht in der Nacht der Sommersonnenwende losgelassen, sondern in der Nacht des ersten Vollmonds danach, denn es symbolisiert den spiraligen Lauf des Mondes. Bevor es zu diesem erotischen Fest Litha kommt, findet im christlichen Kirchenjahr noch rasch das Fest »Fronleichnam« statt, was besagen soll, daß es der »Leib des Herrn« ist und nicht der Leib der Göttin, der die Welt rettet. (Tierkreiszeichen Krebs, Planet Mond, Tarotkarten II, XVIII und VI.) Mit diesen beiden Festen schließt die Zeit der Inkarnation, und es folgt die Zeit der Transformation, des Durchgangs durch die Tiefe, den Schmerz, der verwandelt. Der dritte Aspekt der Göttin als Todesgöttin und Wiedererweckerin tritt nun bis zum Ende des Jahres in den Vordergrund. Zugleich nimmt die Bedeutung des Heros zu, der jetzt in seine tiefsinnigste Rolle hineinwächst, indem er die Unterweltsfahrt macht. Deshalb heißen die beiden folgenden Feste nach ihm. Anfang August (1.8.) ist das Vorbereitungsfest für das große sakrale Opferritual. Denn nun tritt die Göttin als Schnitterin auf und schneidet mit ihrer Sichel, einem Mondsymbol, das reife Getreide ab. Im Getreide wohnt der Geist des Fruchtbarkeitsheros, er fällt hier ihren Schnitten bereits symbolisch zum Opfer. Und wie das Getreide geschnitten, gedroschen, gemahlen, gebacken wird, um den Hunger der Menschen zu stillen und ihr Weiterleben zu gewähren, so wird es wenig später auch dem Heros ergehen, wodurch er überhaupt erst zum Heros seines Volkes wird. Das Fest heißt Lugnasad, ein keltisches Wort, das »Hochzeit des Lug« bedeutet. Der keltische Gott Lug ist - bevor er patriarchalisiert wurde - verwandt mit dem germanischen Loki und dem hellenistischen Lucifer. Er ist der »Licht- oder Feuerträger und diese Zeit ist wegen der großen Kraft der Sonne seine »Hochzeit«. Im ironischen Sinn bereitet es auch seine Hochzeit mit dem Tod vor. (Tierkreiszeichen Löwe, Stern Sonne, Tarotkarten VIII und XIX.) Schnitterfeste reichten wiederum bis zum ersten Vollmond nach dem 1. August, wo im christlichen Kirchenjahr »Maria Himmelfahrt« auftaucht. Dieses Fest dokumentiert die Abhängigkeit der Frau in einer patriarchalen Religion, denn es heißt ausdrücklich, daß Maria nicht aus eigener Kraft in den Himmel fuhr wie ihr Sohn, sondern daß sie nach ihrem Tod passiv von ihm in den Himmel hinaufgehoben wurde. Das ist die genaue Umkehrung der Bedeutung dieser Jahreszeit in der matriarchalen Religion, denn in dieser war es die mächtige Greisingöttin, die Herrin über den Kosmos und das Schicksal, die den Tod ihres Sohnes, des Heros, vorbereitet und ihn - nicht in den Himmel -, sondern in die Unterwelt führt. Aus dieser konnte er nur dank ihrer Gnade wiedergeboren werden, während es in der christlichen Version absurderweise der Sohn ist, der die Mutter begnadigt und im Himmel »wiedergebiert«.
Es folgt das große Opferritual zur Herbst-Tagundnachtgleiche (20. bis 23. September). Das Fest umfaßt wieder die Phase bis zum ersten Vollmond, der mit dem kaum noch gefeierten »Erntedankfest« zusammenfällt. Das Erntedankfest ist zur völligen Bedeutungslosigkeit abgesunken, sicher nicht rein zufällig, denn es war in der matriarchalen Religion eins der wichtigsten Feste. Die besten Früchte der Ernte wurden der Göttin geopfert, sie starben als Bitte der Menschen, das nächste Jahr ebenso fruchtbar werden zu lassen. Denselben Sinn hatte der Tod des Heroskönigs, dessen Regierungszeit nun zu Ende war woran ihn die Sphinx mit dem erhobenen Schwert mahnt, die sein Schicksal wiegt. Die Göttin überreichte ihm nun nach dem Liebesapfel des Sommers den Granatapfel, die Todesfrucht: sie wurde ihm zur tödlichen Venus. Nach seiner Opferung wurde er in die Erde gelegt wie das Saatkorn, das zugleich ausgesät wird. Mit dem Korn wie mit dem geopferten Heros verband sich die Hoffnung der Menschen auf neue Wiedergeburt des Lebens im nächsten Frühling. Beim Verfall der matriarchalen Religion wurde statt des Heroskönigs selbst als dem besten Opfer ein Ersatz geopfert, ein männliches Tier (Stier, Widder, Ziegenbock usw.), zuletzt nur noch ein »Strohmann eine aus Getreide geflochtene Puppe. Der Strohmann wurde aufgehängt und dann begraben, manchmal auch verbrannt. Im nächsten Frühling grub man ihn wieder aus und freute sich, wenn er grüne Sprößlinge trug, das galt als gutes Omen (Griechenland, Kanarische Inseln). Das Opferfest heißt Mabon nach dem keltischen Sonnenheros, Sohn der Modron (Erdmutter), der in der ersten Hälfte des Jahres immer stärker und strahlender wird und in der zweiten Hälfte des Jahres matt und blaß dahinsiecht, bis er an der Herbst-Tagundnachtgleiche zum Kummer seiner Mutter stirbt. Dem keltischen Mabon entspricht der germanische Freyr. (Tierkreiszeichen Waage, Planet Venus, Tarotkarten XI, XII und X.) Es folgen die beiden letzten Feste, die sehr mystischen Charakter haben, die Göttin zeigt sich als Wiedererweckerin und offenbart sich in ihrer Universalität. Jetzt ist die Zeit, wo die Grenze zwischen Tod und Leben überschritten wird.
Das vorbereitende Fest ist Hallowen (1.11.), ein keltisches Wort, das »Heilige Frau« oder »Heilige Schwester« bedeutet. Diese »Heilige Frau« ist die Göttin selber, die bei den Germanen »Holla« oder »Frau Holle« heißt. Sie ist die Göttin der Unterwelt und öffnet am Vorabend zu Hallowen ihre Pforten, damit die Toten die Lebenden und die Lebenden die Toten besuchen können. Dazu kommt sie weißhaarig, in weißem Gewand, auf weißem Pferd geritten, sie ist die »Weiße Frau« vieler Legenden, die den Zug der Toten führt (in Bayern: die Percht). Ihre Anhängerinnen schließen sich ihr an und folgen dem Zug mit Kürbislaternen bis zu den Stätten der Unterwelt, dem Feenland, dem paradiesischen Reich unter der Erde. Diese Stätten waren in den matriarchalen Kulturen die gigantisch gebauten Gräber (Dolmen, Hünengräber), in die man wie in Totenschlösser hineingehen konnte, um in den runden Gewölben vor den Grabkammern kultische Feiern abzuhalten (am besten zu sehen in Newgrange, Irland). Dort war der geopferte Heroskönig begraben, und ihm wurde jetzt die Totenspeise gebracht, damit sein Geist segnend unter den Lebenden weilen möge. Noch heute gedenkt man in dieser Zeit der Toten, geht zu ihren Gräbern und schmückt sie mit Zweigen und Blumen und bringt ein Lichtlein mit, das auf das Grat) gesetzt wird (Totensonntag, Allerseelen). In matriarchaler Zeit wurde auch in den Häusern ein Tisch für die Toten bereitet, mit Speisen und Getränken besetzt, damit die Toten jeder Familie segnend ins Haus kämen. Denn würde man die Toten nicht bewirten, so könnten aus den guten Geistern böse Geister werden. In christlicher Zeit wurde der Zug der Hallowen oder Frau Holle zum Martinszug umfunktioniert, wo St. Martin auf seinem Schimmel einen Zug von Kindern anführt, die ihm mit Papierlaternen folgen (Deutschland). So wurde ius der göttlichen Reiterin ein Mann und aus dem Gedanken an die matriarchalen Ahninnen und Heroen wurde das Gedenken an die christlichen Heiligen (Fest »Allerheiligen«). In matriarchaler Zeit vermittelte dieses Fest jedoch das mystische Wissen, daß Unterwelt und Oberwelt in Austausch stehen und der Tod kein definitives Ende ist, sondern eine Verwandlung, eine Transformation in der Tiefe. (Tierkreiszeichen Skorpion, Planet Pluto, Tarotkarten XIII und XX.) Es folgt das schönste Ritualfest des mythischen Jahres, die »Weihenächte« oder »Nächte der Mutter« (Modronight), wie es im Keltischen heißt. Es beginnt mit der Wintersonnenwende (20. bis 23. Dezember) und endet um den Vollmond danach in der ersten Januarwoche mit »Epiphanias« (Erscheinung). Im germanischen Kultbereich hieß es auch Jule, ein Name, der von dem Wort »jol« stammt und »das Rad« bedeutet. Denn zu dieser Zeit hat das »Rad des Jahres« eine Umdrehung gemacht und der Zyklus erfüllt sich. Zum genauen Zeitpunkt der Wintersonnenwende gingen die Frauen der matriarchalen Kulturen wieder in die riesigen Gräber hinein und warteten dort auf den ersten Sonnenstrahl. Denn diese Gräber waren so kunstvoll gebaut, daß durch einen Lichtschacht am Eingang der Strahl der zur Wintersonnenwende aufgehenden Sonne bis ins Innere hineinfiel und den Kultraum und die mittlere Grabkammer (Königsgrab) schwach erhellte (ebenfalls Newgrange, Irland). Damit hatte das Licht die Dunkelheit und das Leben den Tod besiegt, und der jubel war groß. Der Heroskönig war nun als Kind von der Göttin wiedergeboren worden wie die Sonne aus der winterlichen Nacht.
Auf sakraler Ebene war diese Kindgeburt nicht nur symbolisch, sondern real: die Stammeskönigin oder Erste Priesterin brachte ein Kind zur Welt, das als künftiger Heroskönig designiert war. Damit hatte sich die Hoffnung auf ewige Wiedergeburt und ewiges Leben wieder einmal erfüllt. Wir alle kennen die volkstümlichen Bräuche zu Weihnachten, in denen die Mutter und das Kind verehrt werden, nur daß sie in der christlichen Version zu Maria und Jesus wurden. Nun ist der Sohn göttlich und die Mutter menschlich, früher war es genau umgekehrt. Aber noch werden die Kinder beschenkt wie früher einmal das Heroskind. Ein immergrüner Zweig oder Baum (Mistel, Tanne), Zeichen des unaufhörlichen Lebens, wird ins Haus geholt und mit goldenen Äpfeln (Paradiesäpfel) oder silbernen Kugeln (Monde) geschmückt. In der vorbereitenden Zeit taucht der Kerzenkranz als Adventskranz auf, der genau das viergeteilte Jahr, das sich nun erfüllt, symbolisiert und bereits auf den Wiederaufstieg von Lucia hinweist. Himmel und Erde sind voller guter Geister ("Engel"). Und überall funkeln Sterne und verweisen darauf, daß die Göttin die kosmische Nacht ist, das ganze Universum. In einem Schlitten oder Wagen mit weißen Hirschen davor kommt sie vom Himmel und beschenkt die Kinder auf geheimnisvolle Weise selbst. Diese schenkende Hirschwagengöttin ist die keltische Liban oder griechische Artemis, die Göttin in Kindgestalt, womit sie bereits ihre Verjüngung zur Mädchengöttin des kommenden Jahres einleitet. In christlicher Zeit wurde sie zur künstlichen Figur des Santa Klaus (Nikolaus) gemacht, womit es wieder einmal ein Mann ist, der vom Himmel herniederfährt. Das abschließende Fest der Wintersonnenwend-Phase ist Epiphanias, das Fest der »Erscheinung«: das junge, zarte Licht wird jetzt aus der Dunkelheit der Unterwelt als Kind oder als Stern in die Welt hinausgetragen, um sie insgesamt zu verwandeln. Aber nicht nur das neue Licht erscheint, sondern auch die Göttin selbst offenbart sich - jetzt, da alle ihre Aspekte erlebt worden sind in ihrer Dreifaltigkeit den Menschen. In dreifacher Gestalt zieht sie durchs Land und segnet jedes Haus. Es gibt noch diesen Volksbrauch, wo drei Frauen, gekleidet in lange Gewänder, die erste in Weiß, die zweite in Rot, die dritte in Schwarz, mit einem Kind in den Armen durchs Dorf ziehen und jedes Haus segnend mit drei Kreuzen bezeichnen (Ästerreich). Aus diesen drei Frauen wurden im christlichen Kirchenjahr die Drei Könige mit ihrem Stern, die jedoch dasselbe tun, was die heiligen Frauen taten. Nur daß sie nicht mehr die Offenbarung (Epiphanie) der Göttin besorgen, sondern die ihres Herrn, des patriarchalen Gottes. (Tierkreiszeichen Steinbock, Planet Saturn, Tarotkarten XVII, IX und XV, ebenfalls XXI und I.)
Exkurs: Zur Deutung der Tarotkarten im Jahreszeiten-Zyklus:
Ich habe hier nicht den Raum, die komplizierten Entsprechungen zwischen matriarchaler Mythologie, Jahreszelten-Zyklus, Astrologie und Tarot im einzelnen darzustellen, zumal in Astrologie und Tarot noch die patriarchalen Verzerrungen mitbedacht werden müssen. (Ich werde dies in einer anderen Schrift ausführen.) Hier muß ich mich mit Andeutungen begnügen. Ich bin der Ansicht, daß sich die Tarotkarten - wie die Astrologie - nur im Jahreszeiten Zyklus der matriarchalen Feste angemessen deuten lassen, denn diese stellen das Bindeglied zwischen matriarchaler Mythologie und deren (verdeckter) Fortsetzung in Astrologie/Tarot dar. Betrachtet man sie außerhalb dieses Rahmens, so sind die Deutungen in der Gefahr, zu sehr von unseren heutigen persönlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen geprägt zu werden. Alle bisherigen Deutungen halte ich deshalb für noch immer zu subjektiv. Bei der Beschreibung des matriarchalen Feste-Zyklus hatte ich die Entsprechungen angedeutet, die ich hier kurz erläutern möchte. Dabei stellte sich heraus, daß die gesamte Serie der Großen Arkana-Karten in den Jahreszeiten-Zyklus paßt oder, anders gesagt, daß die Großen Arkana-Karten im Grunde nichts anderes darstellen als den matriarchalen Festzyklus in seiner Bedeutung. Sie sind die »Bilder-Bibel« der matriarchalen Religion. Zu jedem Fest gibt es zwei Karten, wovon die erste das Prinzip der Göttin darstellt, die zweite das männliche Prinzip, den Heros. Zu den großen Ritualfesten kommt noch eine dritte Karte hinzu, welche die allgemeine Energie oder Kraft dieses Rituals symbolisiert (zugrunde gelegt ist das Waite-Deck):
Lichtmeß: XIV stellt die Göttin der Inspiration dar, die alles durchmischt, um Neues entstehen zu lassen. sie ist der geflügelte schöpferische Geist mit einem Lichtkranz um den Kopf. 0 stellt den »Narren« dar, den vom weißen Licht der Göttin inspirierten Mann, den Poeten, den Sänger, der in ekstatischer Be-Geisterung alles um sich herum vergißt.
Frühlings-Äquinox: VII ist die Amazonen-Karte, denn sie zeigt die jugendliche, kämpferische Göttin auf ihrem Wagen (später vermännlicht). Sie bändigt die Kräfte des Dunklen (Winter) und des Lichts (Sommer) und spannt sie zur Wettfahrt zusammen. So fängt sie ihren Heros ein und inthronisiert ihn: Karte IV. (IV müßte einen jugendlichen und nicht einen alten Mann darstellen, nur im Patriarchat sind mächtige Könige alt.) XVI symbolisiert die Mars-Energie dieses Festes, welche die dunklen Gefängnisse des Winters sprengt: Beginn des mythischen Jahres.
Walpurgis (Maifest): Es ist das Fest der Venus auf dem Stier. III ist die Venus höchstpersönlich, die Göttin, die alles aufblühen läßt. V war ursprünglich der glühend rote, sinnliche Stier-Heros. (Man hat ihn in der patriarchalen Deutung zum keuschen Papst/Hohepriester gemacht.)
Sommersonnenwende: II ist die Vollmondin auf dem Höhepunkt ihrer weiblichen Kraft. Sie ist die rote Mond-Venus, die geöffnete Muschel (Hintergrund!), die große Zauberin: Hathor in erotischer Ekstase (und nicht die ätherische Nonne, als die sie dargestellt wird). XVIII ist die Mondlandschaft, der geheimnisvolle, gefährliche Weg, den der Heros im Leibesinnern der Göttin geht. (Leider hat man seine Figur auf dieser Karte weggelassen, der erotische Charakter beider Bilder wurde ausgelöscht.) VI symbolisiert die Energie dieses Festes, die Liebe. Das Sonnenlicht steht auf dem Höhepunkt seiner größten Entfaltung.
Lugnasad (Schnitterfest). VIII zeigt, daß die Kraft der Sonne (Erotik) so heiß geworden ist, daß die Erntegöttin sie bändigen muß: sie schließt dem Feuerlöwen das Maul und leitet damit seinen Niedergang ein. XIX stellt den Sonnenheros auf dem Sonnenpferd noch einmal in seiner strahlenden Naivität dar: Hochsommer.
Herbst-Äquinox: In XI erscheint die Göttin als Schicksal mit Waage und Schwert: die Zeit der Regentschaft des Heros ist abgelaufen. XII stellt den geopferten Heros dar: Er hängt mit dem Kopf nach unten, was den Abstieg, den Untergang der Sonne sinnfällig macht. X ist die Bedeutung des Festes: Es zeigt das Rad des Jahres/ Lebens, das zugleich das Schicksalsrad ist. Für den Heros markiert es die Wende nach unten. Daran erinnert die Sphinx, das Kalendersymbol, die oberhalb des Jahresrades sitzt, mit demselben Richtschwert in der Hand wie die Göttin.
Hallowen: XIII ist die Göttin als Alte, als die »Heilige Frau« auf ihrem weißen Pferd, wie sie die Pforten der Unterwelt aufschließt. Übriggeblieben ist in der patriarchalisierten Deutung das scheußliche, männliche Gerippe, das eine typisch patriarchale Todesauffassung ausdrückt.) XX stellte einmal die Transformation in der Tiefe dar, bei der ein mystischer Austausch zwischen Tod und Leben geschieht. (Die Karte wurde später zum christlichen »jüngsten Gericht der christlichen Wiederauferstehung mit Lohn und Strafe, gemacht.)
Wintersonnenwende: XVII stellt die Göttin als die schöpferische Jungfrau-Mutter dar, die das Wasser des Lebens schöpft und auf die Erde gießt, damit sie wieder aufblühe. Sie bringt den Heros als das neue Licht, den hellen Stern, zur Welt. Sie ist die Göttin des Kosmos, denn von lauter Sternen umgeben, die Göttin der mystischen Nacht, der »Weihnacht«. IX zeigt den Heros als den alten Mann, als Greis (altes Jahr), der den neugeborenen Stern, den jungen Heros (neues Jahr), vorsichtig und schützend durch die Winternacht in die Welt hinausträgt. Er ist deshalb auch »Saturn« oder »Janus der doppelgesichtige, denn der Aspekt der Schwelle, wo das Alte aufhört und das Neue beginnt. XV symbolisiert die Kraft und allgemeine Bedeutung des Festes: Die Sonne (das Licht, die Erotik) sitzt ganz unten, in der Tiefe, eingeschlossen im dunklen Schoß der Erde, aus dem sie wieder aufsteigen wird. Die Karte entspricht deshalb genau der Karte VI (aber nicht im Sinne von »gut« oder »böse« wie in der patriarchalen Deutung, die XV zum »Teufel« gemacht hat). Denn VI zeigt die Sonne (Licht, Erotik) auf dem Höhepunkt, von dem sie absteigen wird; XV zeigt sie auf dem tiefsten Punkt, in der Unterwelt, aus der sie aufsteigen wird. Beide Karten symbolisieren den Aspekt der Wende.
Offenbarung (Epiphanias): Die beiden letzten Karten ziehen die Summe aus allen Ereignissen des mythischen Jahres und symbolisieren die Göttin und den Heros in der Offenbarung aller Aspekte: XXI zeigt die im All tanzende Göttin, das Universum. Sie hält in jeder Hand einen Zauberstab: Schöpfung und Vernichtung. Sie ist von einem Kranz von Sonnen und Planeten umgeben, dem Tierkreis oder Zodiak (nicht von einem Blätterkranz, das ist eine Abschwächung). In den vier Ecken sind die Symbole der vier großen Ritualfeste (vier Elemente, vier Himmelsrichtungen). I zeigt den Heros, der nun aus dem inspirierten »Narr« zum Wissenden geworden ist, zum Eingeweihten in die Geheimnisse der vier großen Rituale, die er erlebt hat. Er hält einen Zauberstab in der Hand, von der Göttin an ihn delegierte Würde, die ihn zum »Magier« macht; zu dem, der die Magie der vier Elemente kennt. In den Kleinen Arkana-Karten wirkt sich seine Magie dann aus, denn sie sind alle möglichen Kombinationen der vier Elemente.
Das Mondin-Sonnenspiel
Lassen wir jetzt unserer Phantasie freien Lauf in Richtung auf eine matriarchale Kunst-Utopie, die ein komplexes Jahreszeiten-Ritual ist, das »Mondin-Sonnenspiel«. Sie enthält die vollständige Struktur matriarchaler Mythologie, das heißt sämtliche Aspekte von Göttin und Heros. Ich mache dabei keinen Umweg über »Hohepriesterinnen« und »Hohepriester«, sondern die Spielerinnen sind ganz unmittelbar Göttin oder Heros selbst.
Absichtlich sprach ich nur von Spielerinnen und nicht von einem männlichen Mitspieler (Heros). Denn nachdem uns Frauen für Jahrtausende die eigene Spiritualität und ihre sakrale Ausübung entzogen wurde, haben wir heute genug zu tun, sie für uns wiederzuentdecken und uns darin auf neue Weise zu begreifen. Diese gegenwärtige Situation ist nicht zu überspringen. Darum bedeutet das »Mondin-Sonnenspiel« zuerst einmal einen Prozeß komplexer Selbstfindung: Um herauszukommen aus den gängigen, deformierenden Begriffen von »Weiblichkeit«, den üblichen Frauenrollen und eine Vorstellung von der Unabhängigkeit, der Kraft und der Vielfalt an Eigenschaften zu gewinnen, welche die »Göttin« als Leitidee darstellt. Um auch die männlichen heroischen Seiten in uns kennenzulernen, die nichts mit der patriarchalen »Männlichkeit« zu tun haben, sondern ohne deren zerstörerische Ambivalenz sind. Damit wir so die Vollständigkeit unserer Person in ihren beiden Seiten, die widersprüchliche, spannungsgeladene Ganzheit unseres Selbst zurückgewinnen.
Zweitens bedeutet das »Mondin-Sonnenspiel« die Einleitung eines komplexen Prozesses unter Frauen, bei dem sie ganz neue Erkenntnisse übereinander, Erlebnisse miteinander und Beziehungen zueinander entwickeln können. Denn sie erfahren sich gegenseitig völlig anders als in dem üblichen Rahmen mit clen üblichen Rollen: sie erfahren ihre göttlichen und heroischen Seiten. Dabei übernehmen eine oder drei oder neun Frauen den Part der »Göttin« und eine Frau den Part des »Heros« - es hängt ganz davon ab, welche Eigenschaften oder Kräfte jede Frau in sich und in den anderen entdecken will. jeder übernommene Part bleibt einen Jahreszyklus hindurch gleich, nach seinem Ablauf können die Rollen gewechselt werden. Nur so kommt eine gemeinsame und zugleich differenzierte Erfahrung zustande.
Obwohl ich es - wie gesagt - beim gegenwärtigen Bewußtseinsstand der meisten Männer und angesichts der noch immer durchgehend patriarchalen Ordnung unserer Gesellschaft für verfrüht halte, matriarchale Rituale gemeinsam mit einem Mann zu versuchen, liegt im »Mondin-Sonnenspiel« auch diese dritte Möglichkeit. Sie ist eine Utopie als neue Beziehung vori Frauen auf Männer und umgekehrt, die nur im Rahmen des ganz anderen Wertgefüges der matriarchalen Mvthologie realisierbar ist. Wenn wir Frauen sie neu geschaffen haben, ist auf diesem Boden eine öffnung möglich - als Hoffnung in die Ferne.
1. Lichtmeß (Brigid/Lucia):
Das Jahreszeiten-Ritual beginnt mit Lichtmeß, dem Fest der Göttin Lucia oder Brigid. Die Kleidung ist weiß, und weiß ist auch die Landschaft. Der Anfang ist ein langer, meditativer Gang durch den Schnee, eine weite Spirale, die allmählich immer enger wird und ins Zentrum führt, in die Konzentration, in die Stille. Dort steht der Kessel der Inspiration, der Kessel des Windes, des Geistes, des Rausches, der poetischen Ekstase. Eine wird die Mädchengöttin sein, dieses Fest ist ihre Erwählung.
Beim Kessel der Inspiration lagert ein Löwe oder ein anderes großes Katzentier, der starke Wächter (der Heros in Maske). Die Frauen beginnen mit ihm ein Spiel, einen symbolischen Kampf, der in einen wilden Tanz mündet, bis er sich in die Führung einer einzigen fügt und den Weg zum Kessel freigibt. Diejenige, die den Löwen gezähmt hat, nimmt zwei Kelche und tritt zum Kessel, sie schöpft das glühende, heiße, berauschende Getränk, kühlt es durch Umgießen in die Kelche ein wenig und reicht den anderen zu trinken. Wärme und Heiterkeit breiten sich aus, es wird gesprochen und rezitiert, Melodien fallen ein, und das rhapsodische Sprechen geht in Singen über. Als der Kessel leer ist, schießt in ihm eine Flamme auf. Daran werden Kerzen entzündet und in einen Kranz gesteckt, so wird die Mädchengöttin gekrönt. Nun steht sie selber im flammenden Nimbus, im Feuer der Begeisterung, das mit ihr in die Welt hinausfliegt: sie ist der »Feuervogel« des Märchens.
2. Frühlings-Tag-und-Nachtgleiche (Ostara):
Es ist das Fest der Initiation als Einführung in die Mysterien der Göttin. In erster Linie ist es Belehrung, Mitteliung, Meditation, auch eine Pilgerfahrt zu einer uralten Stätte der Göttin kann eingeschlossen sein ("Osterspaziergang"). Dabei sind »Belehrung«, »Meditation«, »Pilgerfahrt« kein bloßes Dasitzen oder Gehen, sondern bewegte Formen. »Meditation« kann zum Beispiel ein stummer Tanz sein, mit langsamen Bewegungen, durch die die inneren Einsichten bald ins Fließen kommen und sich harmonisch verbinden. Bewegung des Körpers und des Geistes verlaufen synchron, verstärken sich gegenseitig. »Belehrung« ist ein ähnlicher Tanz, nur beredt, die inneren Bewegungen äußern sich zugleich in Sprache. »Pilgerfahrt« ist eine Reise, eine Prozession, die in spontaner Folge beide Tanzweisen der »Belehrung« und »Meditation« verbindet. Begleitende Musik sind die eigenen Stimmen.
Auf dem Höhepunkt des Festes geht die allgemeine Bewegung in gesteigerte Form über, und es kommt das zum rituellen Ausdruck, was das Fest bedeutet: den Durchbruch, den Sieg der Mädchengöttin in der Psyche jeder einzelnen, die blitzartige Erkenntnis, was die Göttin für jede ist. Darum jagt die Mädchengöttin im großen Ritual den Heros einen Berg hinauf, den Berg seines eigenen Ego, er flieht vor ihrem erhobenen Speer. Er überwindet die Hänge, Steilheiten, Steinwälle seiner Selbsthinderungen, die er Schritt für Schritt hinter sich lassen muß. Die Jagd findet in einer stürmischen Frühlingsnacht statt, fliegende Sirenen, Harpyien, Sphinxen in wehenden Schleiern und mit flammenden Rauchzeichen treiben den Heros von allen Seiten mehr und mehr auf den Gipfel, auf den einen Punkt, wo die Bewegung umschlagen wird, wo er nicht mehr ausweichen kann. Sie sind die Gedanken, Gefühle, die er bisher verleugnete; unter ihrem Gelächter, frenetischem Geschrei muß er ihnen nun ins Gesicht sehen. Auf dem Gipfel wird er in einen Bannkreis getrieben, einen Steinring oder ein Labyrinth-Muster am Boden. Dort trifft ihn die Waffe der Göttin, der Speer, der Pfeil oder der »Blitz«, der Strahl der Erkenntnis. Das geschieht in einem Augenblick, als der Sturm innehält, die Wolken aufreißen und den Sternenhimmel mit dem Mond freigeben. Da steht die jägerin auch schon vor ihm, in unnachsichtiger Präsenz, ein verkörpertes Licht. Erstaunt findet sich der Heros an einem völlig neuen Ort, am Anfang eines anderen Weges, der ihn vom Gipfel über die mittlere Region bis in die Tiefe der Anderen Welt führen wird.
Das Ganze ist ein dramatischer Tanz, begleitet vom Singen der Sirenen und Sphinxen, ihrem Lachen, ihren Vogelrufen. Sehr zarte, helle, glasartige Klänge sind überall in der Luft. Eine Äolsharfe aus Zweigen, die sich im Wind bewegen, macht Töne. Alles, was geschieht, geschieht zugleich beabsichtigt und spontan, denn das Ereignis der Initiation durch den Strahl-Pfeil der Göttin ist nicht gespielt, sondern real: der ekstatische Höhepunkt des mehrtätigen Festes.
3. Walpurgis (Maifest):
Die Walpurgisnacht ist ein orgiastisches Tanzfest, an dem die FrauengDröttin gekürt und der »Stier« geritten wird - in Nordeuropa reiten die Hexen den »Bock«. Alle versammeln sich auf einer Wiese tief im Wald, wo das frische Grün überall hervorschießt. In der Mitte ist ein Maibaum errichtet: ein Menhir oder ein Pfahl mit einem Kranz an Bändern daran, der mit roten Eiern geschmückt ist. Dort steht der Stier (der Heros in Maske), die Hörner dreifarbig bemalt. Die Tänzerinnen, fast nackt nur mit einem Tuch um die Hüften, die Körper duftend eingeölt, treten näher, greifen den Stier bei den Hörnern und versuchen, sich auf seinen Rücken zu schwingen. Er wird wütend, stampft und schüttelt sich, rennt heftig im Kreis, so daß die Stierspringerin, die sich nicht oben halten kann, in elegantem Bogen wieder herunterkommen muß. Diejenige, der es gelingt, den Stier zu reiten, wird mit schrillem Jubel begrüßt: sie ist die Maikönigin, die Göttin der Sommerzeit. Sie wird mit grünen Zweigen bekränzt und in einen purpurnen Mantel gehüllt. So trägt der Stier sie willig durch Gras und Wald, während der Rundtanz um den Ma;.baum noch lange geht, bis alle, berauscht von der Kräuterbowle aus dem Kessel der Göttin, schlafend zu Boden sinken.
4. Sommersonnenwende (Litha):
Wie das Fest zur Frühlings-Tag und -Nachtgleiche umgeben war von den ersten Blumen, knospenden Zweigen, die Tische gefüllt mit roten Eiern, runden süßen Kuchen und den Braten von Hasen, Hühnern, jungen Widdern und Böcken, so sollte das Fest des Sommers noch mehr von Fülle, überfluß, der paradiesischen Verschwendung der Göttin der Fruchtbarkeit charakterisiert sein: vielleicht eine große Tafel im Freien auf den Wiesen, nahe am Meer, wo ein ländliches Festmahl stattfindet mit Brot, Fleisch, Honig, Milch in Mengen. Schalen mit blauen, roten, gelben Beeren stehen da, Körbe voll Kirschen, Pflaumen, Orangen, Trauben, wovon jede sich jederzeit nimmt. Die Festteilnehmerinnen tragen üppige Kränze von Rosen und Gewänder aus Laub, Gras, Efeu, Bast, nachts sind sie nackt. Geschlafen wird wie die Nymphen im Freien, geschwommen wie die Najaden im Meer, dessen gleichmäßiges Rauschen die Musik macht. Es ist das Fest aller Körpersinne, die Blüte der Erotik, ein dionysisches Fest, bei dem das Lachen nicht aufhört.
Bis als Höhepunkt die Nacht kommt, in welcher der Vollmond erscheint. In dieser Nacht brennen die Feuerräder, um die alle herumtanzen, Rücken an Rücken, bis die Erregung steigt und sie paarweise über die Flammen springen. Zuletzt werden die Räder aufgestellt und von den Dünen ins Meer gerollt, wo sie zischend verlöschen. Das Rauschen des Meeres und das Zischen des Feuers werden verstärkt durch eine »Hexenmusik«, durch Umgießen von Wasser in Kelche und Krüge, durch Klirren und Dröhnen von Kupfer und Ton. Anderswo werden Trommeln geklopft und eine Doppelflöte betörend gespielt, hier tanzt die Frauengöttin am Strand im Gischtsaum ihren ozeanischen Tanz. Sie trägt nichts als einen goldenen Gürtel, während der Heros durch Fackeln wie brennende Tore den Weg zu ihr zu gewinnen sucht. Außer durch Feuer muß er durch Wasser, aber einmal in ihrer Nähe, löst sie den Gürtel und schlägt ihn in ihren Bannkreis. Sie steigert den Tanz und präsentiert ihre Muschel. Dann tanzen beide gemeinsam, bis ihre Bewegungen mehr und mehr Übereinstimmung erreichen als Folge davon, daß sie ihn im Zentrum traf - eine spannungsgeladene Harmonie, jeder exaktes erotisches Spiegelbild des anderen. Stufenweise beziehen sie immer mehr Polaritäten in ihren Tanz ein: Erde und Himmel, Land und Wasser, Mond und Sonne, Yin und Yang, stufenweise drängt es zur ekstatischen Entladung zwischen der Vielfalt dieser Pole. So vollziehen sie ihre kosmische, symbolische, reale, spirituelle Hochzeit. Gelenkt und spontan zugleich erfinden sie selber die ganze sublime Aktion, mit der sie die Welt beleben und erhalten. Bis der Blitzschlag des Eros sie beide zusammen an einen fernen Ort versetzt.
5. Lugnasad (Schnitterfest):
Die Schnitterinnen haben halbmondförmige, blanke Sicheln in der Hand und gehen damit Ähren schneidend durch die Felder. Ihre Gewänder sind dunkel, auf dem Kopf tragen sie breite Strohhüte gegen die stechende Sonne . Das Getreide rauscht im Niedersinken. Sie singen ein monotones Lied, um die Glut der Sonne zu dämpfen. Zwischen den Halmen lauert die Schlange (der Heros in Maske). Er ist hier Lug oder Loki, der Trickster, der listenreiche, wandlungsfähige Proteus aus der Unterwelt. Als ihm die Schnitterinnen zu nahe kommen, schießt er feindlich hervor. Aber die Mutigste ergreift ihn und schlitzt ihm mit ihrer rituellen Sichel die Haut (das Gewand) auf: so hat sie ihn gemäht. Nun beginnt als Tanz der Zaubererwettkampf, denn er verwandelt sich in ein Tier, ein Element nach dem anderen: Fuchs, Pferd, Feuer, Wasser, Fisch, Bär, Drache, und so weiter. Aber die Schnitterin ist die größere Zauberin, sie verwandelt sich stets in ein überlegenes Wesen, bis er sich ergibt. Da ergreifen ihn alle und schütteln ihn durch (Dreschen), ziehen ihm die Haut ab (ziehen die Spreu ab), drehen ihn durch ihre Hände wie durch Mühlsteine (Mahlen) und werfen ihn so »zerrissen« zuletzt auf den Boden (Säen). Sie behandeln ihn genauso wie das Getreide, deshalb wird er nach diesem Tanz gefesselt, gebunden wie die Ähren zu Garben und die Garben zu Puppen. Nun trickst er nicht mehr, sondern wandelt sich gezähmt wie zuvor Löwe und Stier - zum Attribut der Göttin.
Die Siegerin des Zaubererwettkampfs ist die erwählte Greisingöttin, die kluge Hekate, die die Unterwelt durchschaut: Ein Kranz aus Mohnblumen wird ihr aufgesetzt, sie ist nun die Herrin über Trance, Schlaf und Tod.
6. Herbst-Tag und Nachtgleiche (Maben):
Nun führt der Weg, der auf dem Gipfel begann und durch die mittlere Zone von Land und Meer ging, in die Unterwelt. Die Unterweltsfahrt ist der schwierigste Teil der Reise, denn um in die Tiefe zu gelangen, muß der Heros sterben. Er lernt seinen Tod zu ertragen, und was nun in Erscheinung tritt, ist seine seelische Spannweite: nur so tritt das Heroische ans Licht.
Dieses Fest findet auf den leeren Ackern statt, mitten in der Nacht, alle sind dunkel gekleidet und verhüllt. Früchte werden aufgehäuft, mit bunten Blättern, Zweigen und Zapfen geschmückt und der aufgerissenen Erde dankend geopfert. Langsam geht die Greisingöttin durch alle Furchen und sät händevoll Saatkömer aus, acht schlangenhaarige Furien begleiten sie mit Fackeln. Als das Werk vollendet ist, versammeln sie sich im Ring, im Bannkreis um den Heros, tanzen langsam in zur Sonne entgegengesetzter Richtung. Die Greisingöttin steht mit der Waage in der Hand, langsam neigt sich eine Schale zu Boden, der Heros schweigt. Sie legt einen Granatapfel auf seine Hand und schneidet ihn mit ihrem Messer in einzigem Schnitt in zwei Teile, die Kerne fallen wie Blutstropfen heraus. Er schweigt noch immer, er ist einverstanden. Da ergreifen sie ihn und hängen ihn auf, mit dem Kopf nach unten an einen Baum. So hängend hat er Gelegenheit, die Welt aus der Gegenperspektive zu erkennen, das Leben vom Tod aus zu betrachten. Seine Sonne geht unter. So erleidet er seine Metamorphose.
Doch er erleidet sie nicht allein. Die symbolische, reale, kosmische Handlung betrifft alle, die am Ritual teilnehmen, auch sie erfahren den Schmerz des Todes durch die Göttin. Es sind ihre skandierten Schreie, wie Fledermausgesänge, welche die Nacht erfüllen, Eine einsame Trommel ist hörbar, immer langsamer, absterbende Herzschläge. Dann hören die Töne auf, nur noch ein Eulenschrei, das Knacken eines Zweiges, Fäden, die zerreißen, ein Glas, das leise zerbricht, und die Kerne, die aus dem Todesapfel tropfen. Dann ist Stille.
Zuletzt beginnt die Klage um den toten Heros, die in der Dunkelheit hallt. Der Klageruf pflanzt sich fort in der langen Prozession, die seinen Körper zu einer Höhle nahebei bringt. Dort wird er niedergelegt und ist damit im Leib seiner Mutter, der Erde, wie die Saatkörner begraben. Aber die dunkle Göttin zieht weiter über die Felder, denn nun kommt die große Suche, ein langsamer melancholischer Tanz, den alle begleiten. Sie sucht ihn überall auf der Erde, überall im Himmel, überall in der Hölle und findet ihn nirgends: er ist nicht mehr unter denen, die leben. Die Fackeln sind längst verloschen, der Schmuck abgelegt, die Kleider in Trauer zerrissen. Zuletzt verflucht die Göttin alles Leben auf der Erde, nun verwelkt die Vegetation, die Blätter fallen von den Bäumen, ihre Begleiterinnen sinken eine nach der anderen zu Boden. Die Göttin weint - ihre Tränen sind die Sterne, die in den Herbstnächten fallen.
7. Hallowen (Frau Holle):
Die Pforten der Unterwelt öffnen sich. Die Göttin ist auf ihrem Schimmel als »Weiße Frau« suchend durch Himmel, Erde und Unterwelt geritten, nun kommt sie zu den Wohnungen der Frauen. Diese bereiten Lampen aus hohlen Kürbissen vor und helfen der Göttin beim Suchen, sie folgen ihr in langem Zug durch die Dunkelheit und die aufkommenden Nebel. Gemeinsam finden sie den Weg unter die Erde, in die tiefe Höhle, wo der tote Heros ruht. Mit leichter Berührung weckt die Weiße Frau seinen Geist auf, und nun folgt er den Lebenden zu ihren Wohnungen. Dort wird ein Tisch sorgfältig gedeckt und ein Totenmahl gehalten: alle Früchte, Speisen und Getränke sind rot wie Mohnblumen. Die Göttin und der Heros essen, aber die Lebenden rühren diese Speise nicht an. Die Göttin nimmt nun ihren Fluch zurück und segnet die Lebenden, während der Geist des Heros längst wieder ins Grab zurückgekehrt ist. Aber um alles, was er berührte, blühen weiße Blumen auf, kleine Achtblattrosetten, winzige Sterne. Diese sind Schlüssel, denn wer immer das Reich der Toten aufsuchen will, braucht nur mit einer dieser Blumen an die Steine zu klopfen: dann öffnen sich die Steine, die Höhle, das Grab, die Pforte zum Feenreich unter der Erde.
8. Wintersonnenwende (Jule):
Das Fest zu dieser Zeit ist das höchste und heiligste. Es wird die Wiederkehr des Lichts gefeiert, die Wiedergeburt des Heros als Kind, was seine Auferstehung aus der Unterwelt meint. Jetzt zeigt sich die Göttin in allen ihren Aspekten zugleich, es ist das Fest ihrer Offenbarung.
So beginnt es. Mit den weißen Blumen, den Schlüsseln, in den Händen, sind die Frauen vor Sonnenaufgang in die Höhle des Heros hineingegangen, um die Wiedergeburt des Lichts zu erleben. Da tritt die Göttin ein, als sehr helle, schimmernde Jungfrau, und mit ihr springt der erste Sonnenstrahl in die Finsternis der Unterwelt. Sie gießt das Wasser des Lebens über den Heros, und er erwacht vom Tod. Nun führt sie ihn als Jungfrau-Mutter, wobei sie wie die Feen plötzlich die Farbe von weiß nach rot wechselt, aus der Tiefe des Leibes der Erde, bringt ihn buchstäblich zur Welt. Die anwesenden Frauen helfen ihr, als Hebammen ziehen sie den Heros langsam durch den »Geburtskanal«. Mit jedem Stück hinaus verjüngt er sich, denn alle verschlossenen Energien beginnen wieder zu fließen. Als er aus der Höhle herauskommt, ist er ein Kind und wiedergeboren.
Mit dem Heros kommt das Paradies: der Frieden der Unterwelt, wo er wellte, auf die Erde zu allen Menschen. Schritt für Schritt verwandelt sich nun die Oberwelt in das Feenreich, das sonst nur unter der Erde zu finden ist. Darum begrüßen ihn, als er aus der Höhle tritt, viele Kinder ringsum auf den Schneefeldern versammelt mit lärmender Freude. Doch zuvor hat er noch Gefahren durchzustehen, denn wie in der Dunkelheit die helle Göttin, so kommt ihm in der Helligkeit die dunkle Göttin entgegen: wieder hat sie die Farbe gewechselt und erscheint als die schwarze Alte, in den Gestalten der Finsternis. Noch ist Winter, noch ist die Sonne klein und nicht stark, und die Dämonen der Nacht stürzen sich auf ihn, der Geier, der Höllenwolf, clie Drachenschlange. So kommt es zur Dämonenschlacht.
Da die Gefahr ewiger Sonnenverfinsterung droht, greifen alle Kinder in den Kampf ein. jenen, die fürs helle Prinzip sind, wachsen weiße Taubenflügel, jenen auf Seiten des dunklen Prinzips wachsen schwarze Fledermausflügel. Sie kämpfen gegeneinander als geflügelte Genien. Immer mehr Wesen mischen sich ein: Feuersalamander, Katzen und Löwen als Feuerwesen, Krebse, Delphine, Tritone als Wasserwesen, Schmetterlinge, Libellen, Sylphiden als Luftwesen, Ziegenböcke, Stiere, Kentauren, Einhörner als Erdwesen - alle sind Kinder in Masken. Aber es ist keine ernsthafte Schlacht, es ist ein Spielen und Quirlen und Tanzen, ein Werfen und Schießen mit Schneebällen, Zuckerstücken und buntem Papier, ein unaufhörliches Gelächter, ein heiteres Spektakel, ein Satyrspiel. Natürlich geht es gut aus: Zwar hackt die Göttin als Höllenwolf ihm eine Hand ab, zuletzt verschlingt sie ihn als Drachenschlange. Aber die Kinder lärmen auf Knarren, Pfeifen, Trompeten; Feuerwerkskörper, an Papierdrachen gebunden, explodieren in der Luft; es ist eine gewaltige Musik, die sie machen. Da speit die Drachenschlange den Heros wieder aus und fliegt durch die Luft davon. Bei dieser Flucht des Todes angesichts der vielen Kinder - und der Heros ist selber ein Kind nimmt ihr Lachen kein Ende.
Im Triumphzug geleiten sie ihn nun zum Feenpalast, dem unterirdischen oder überirdischen Schloß der Göttin. Ihr Weg führt durch Wälder aus immergrünen Bäumen: Pinien, die mit Wollbändern umwunden sind, Tannen voll goldener Apfel - denn die Apfel der Unterwelt sind golden -, überall Lichter im Schneeglanz, Zeichen ewigen Lebens und ewiger Jugend. Das Paradies breitet sich aus. Im Feenpalast glänzt alles vom Licht des Mondes, Silber, und vom Licht der Sonne, Gold. Die Frauen sind auch da, als gute Geister, die den Zug am Schloßtor empfangen. Sie tragen lange, lichte Gewänder und Symbole der Wiedergeburt: Lotosblumen, Lilien und Winterrosen auf dem Kopf, gerade auf dem Scheitel. Sie stehen nur bereit, um die Wünsche der Kinder zu erfüllen. Es ist durchaus wie im Märchen.
Im Zentrum des Palastes, in einem großen Saal, ist die festliche Tafel, an der das Bankett, der Reichtum, der Überfluß nie enden. Denn in der Mitte der Tafel thront die Dreifaltige Göttin, von der hüpfenden, wimmelnden Jugend umgeben, heiter betrachtet sie ihre Schöpfung. Ihre Füße hat sie auf den Mond gesetzt, um ihr Haupt kreist der Zodiak von Sternen. In der Hand hält sie den Gral als Kelch oder Schüssel oder Füllhorn, aus dem unerschöpfliche Fülle quillt, alles, was die Tafel trägt: Speisen und Getränke, Apfel, Nüsse, Honigkuchen in allen Gestalten, aber besonders in den Gestalten der Göttin. So bewirtet sie die Menschen, nachdem diese sie zuvor bewirtet haben.
Der Kind-Heros darf sich zu ihrer Rechten setzen, denn links auf der Seite des Lebens, sitzt sie selbst. Er blickt in ihre drei Gesichter, die er nun alle kennt- sie ist die Tod-im-Leben-Göttin, die Veränderliche, die ewige Metamorphose. Und sie ist die ewig Unveränderliche, denn das ganze Universum. Doch das ist mit menschlichen Augen nicht zu umfassen. Der Heros darf ihre Harfe spielen, und er spielt, daß die Kinder weinen und lachen und schlafen und erwachen, er spielt sie in den Tod und wieder ins Leben. Er spielt die Feenmusik, denn die Unterwelt ist das Paradies der Kunst. Er zaubert mit den Elementen der Göttin, die er nun kennt; er zaubert zum Vergnügen der Kinder. Denn er ist Wissender und Narr, Magier und Gaukler in einem.
Danach geht die Göttin in die Welt hinaus, in dreifacher Gestalt, mit dem Heros als Kind wie einen Stern in den Armen (Epiphanias). Sie geht über die Erde und segnet jedes Haus. Es ist die Zeit der Stille: Der alte Festzyklus ist beendet, der neue hat noch nicht begonnen. Alle Frauen ziehen sich zurück, und Jede ist allein zuhaus, verbringt die Tage in Meditation. Die Ereignisse klären sich, Ruhe tritt ein und Reinigung bis zur Vollendung. Nichts spricht, nur das Göttliche spricht sich in jeder einzelnen aus[82]
Ich bin meinen Weg zu Ende gegangen. Durch einen historischen Teil und durch einen Teil theoretischer Überlegung auf das, was matriarchale Ästhetik ist, durch einen interpretativen Teil, um zu verstehen, was bereits geschieht, und durch den Teil, der eine Utopie entwirft, hat er mich vorwärts und rückwärts gewunden wie eine Spirale zum Ziel geführt.
Die utopischen Beispiele waren der Versuch in Anspielungen alles zusammenzufügen. Sie zeigen alle Formen von Kunst und die Offenheit des Prozesses, der in der Gesamtheit der rituellen Tanzfeste immer wieder beginnt. Zwar liegen sie in ihren Grundzügen durch die Jahrtausende fest, ob sie nun so oder so realisiert werden. Das steht frei. Aber an ihnen wird klar, was matriarchale Kunst ist: keine andere Kunst-Form, sondern eine andere Lebensform. Sie stellt die Sichtweise des Patriarchats auf den Kopf, durchdringt seinen Tages- und Jahresablauf und sprengt seine abgezirkelten Grenzen.
Wenn wir, entlang den Linien matriarchaler Kunst, mit Rücksicht auf Geschichte, Vorsicht in den gegenwärtigen Bedingungen und Voraussicht auf ein utopisches Ziel die Tage, Monate und Jahre wieder mit neuem Sinn erfüllen, finden wir uns selber darin wieder. So werden wir, indem wir unsere eigene Gegenwart schaffen, fremd in dieser Gegenwart. Wir wandern innerlich aus, in unsere eigene Zeit. Wir schaffen uns Raum in einer feindlichen Gesellschaft und den Ausgang in eine andere Welt. Denn die Feste des Jahreszeiten-Zyklus haben die Tendenz zur Allgemeinheit, so allgemein, wie sie als Volksfeste einmal waren. In ihnen ist die Gespaltenheit der ästhetischen Dimension aufgehoben, darum gibt es prinzipiell nichts, das aus der Symbolisierung, dem Ritual, dem immerwährenden fest mit seinen stilleren und aktiveren Phasen herausfiele. Und es gibt keine andere Seite der Öffentlichkeit« mehr gegenüber dieser Kunst, wenn doch jede zur Festteilnehmerin werden kann, wie zurückhaltend oder auffallend auch immer. Da matriarchale Kunst nichts anderes ist als die fortwährende Gestaltung und Umgestaltung des Lebens im Kleinen wie im Großen, würde das Fest zur zentralen gesellschaftlichen Praxis, die die Risse und Wunden aus lebensfeindlichem Verhalten heilt. Es gibt keine von den Lebensvollzügen abgetrennte Kunst, weil es keine von der matriarchalen Kunst abgetrennten Lebensvollzüge gibt. Und das würde die Ästhetisierung der Gesellschaft bedeuten, in der alle Widersprüche weniger dialektisch als ästhetisch vermittelt würden. Das scheint nur solange absurd, wie das Ästhetische mit dem Fiktionalen gleichgesetzt wird. Matriarchale Kunst ist aber kein »freies Spiel der Möglichkeiten«, sondern ein befreiendes Spiel der Wirklichkeiten. An dieser Ästhetik könnte die heute herrschende Barbarisierung, gewaltsame Verzerrung und kriegerische Verneinung gesellschaftlichen Zusammenseins gesunden.