Kunst als Ghetto

Eine kritische Betrachtung der Geschichte der Kunstöffentlichkeit

Auf dem Hintergrund meiner Studien zur matriarchalen Mythologie [2] möchte ich eine neue Perspektive zur Kunst und Kunsttheorie entwickeln. Wenn ich dabei von der »Geschichte der Kunstöffentlichkeit« rede, gehe ich bereits von einem veränderten Geschichtsbild aus, welches bis in sehr frühe Epochen mit nur mündlichen Traditionen zurückreicht. [3] Das erlaubt es, die bewußt ideologischen Anfänge der Geschichtsschreibung, die der Rechtfertigung der patriarchalen Gesellschaftsform dienten und unterdessen unbewußt ideologisch geworden sind, noch einmal zu hinterfragen und eine mittlerweile aus dem öffentlichen Wissen verdrängte Epoche der Menschheit wieder ans Licht zu ziehen: die matriarchale.[4] Ihre Existenz ist keine Angelegenheit eines fernen, archaischen Hinterindien wie unsere Geschichtsbücher uns glauben machen - sondern sie umfaßte alle Kontinente und erreichte im Verlauf der Jahrtausende aus einfachen agrarischen Anfängen mancherorts hochkulturelle Blüte. Diese matriarchalen Hochkulturen - wie z. B. die Indus-Kultur, Sumer, Altägypten, Kreta - waren überall die Grundlage der späteren patriarchalen Zivilisationen und hatten in diesen noch außerordentliche, bis heute unerkannte Nachwirkungen. Vor dieser geschichtlichen Perspektive4 möchte ich das Problem »Kunst und Kunstöffentlichkeit« ganz neu stellen. Ich gehe dabei weniger von der üblichen linearen Abfolge von Epochen aus als vielmehr vom Vergleich von gesellschaftlichen Strukturmustern: dem matriarchalen und dem patriarchalen in seinen Varianten, in welche die Kunst mit ihren Funktionen eingebettet ist. Nach diesen Vorbemerkungen komme ich zum Thema; zu den Musen und Apoll.

Kunst und Kunstöffentlichkeit im Matriarchat

Die Geschichte von den Musen und Apoll verweist auf eine Revolution in frühgeschichtlicher Zeit, welche die Balance zwischen weiblichen und männlichen Prinzipien außer Kraft setzte: die Abschaffung des Matriarchats durch das Patriarchat. Vordem war die poetische Trance eingebettet in die ekstatische Verehrung der uralten matriarchalen Griechischen Muse, die als dreifaltige Göttin Himmel, Erde und Unterwelt regierte und auf Berggipfeln angebetet wurde. Ihre Altäre standen am Fuß des Parnaß, des Olymp und des Helikon, und dort tanzten ihre Anhängerinnen auf den Mondfesten. Unter ihnen war ein männlicher Tänzer. Er rief die Muse an, er sang Hexameter zu der Musik einer Leier, bis sich die Muse mitten im ekstatischen Rundtanz in einer der Tänzerinnen verkörperte. Sie sprach, sang und handelte nun auf Geheiß ihrer Göttin, was im allgemeinen tödlich für den Sänger-Tänzer ausging. Denn er war das freiwillige sakrale Opfer der wilden Musen wie Orpheus das der Mänaden. Kurz vor dem 2. Jahrhundert v. Chr. übernahm in Griechenland der patriarchale Gott Apoll die Anbetung der Musen und transformierte ihren Kult für seine eigenen religiösen Zwecke, indem er sich selbst zu ihrem Anführer und Vortänzer erkor. So beanspruchte er Autorität über die Göttin persönlich. In diesem Stadium wurde die Anrufung der Muse allmählich zu einer bloßen Formalität. Als ihre Verehrung ein für allemal von den Altarriten getrennt war, sprach sie niemals wieder durch eine weibliche Eingeweihte. Denn von dieser Zeit an diktierte Apoll als Führer der Musen die Gedichte. Aber er war, obwohl er zum Schutzherrn der formalen Verskunst aufstieg, unfähig die authentische Trance herbeizuführen und verhinderte alle ekstatischen Äußerungen bis auf seine eigenen, im höchsten Grad tendenziösen Orakel. [5]
Diese Geschichte von den Musen und Apoll ist ein Mythos, der ursprünglich - ohne Apoll, aber mit jenem ersten Tänzer, dem Heros-König als Partner der musischen Göttin - mit einem Ritus verknüpft war, der in der Geschichte sichtbar wird. Der uralte Ritus entsprach dabei dem matriarchalen Mythos von der die dreigestufte Welt regierenden Göttin. Doch es gab im matriarchalen rituellen Fest noch andere Entsprechungen, die den kulturellen, sozialen und politischen Realitätsgehalt des Mythos zeigen. Denn es spiegelte zugleich die matriarchale Gesellschaftsform, in der die Frauen dominierten. Und die gesellschaftliche Ordnung war wiederum nicht unabhängig von der Ökonomie, wo ebenfalls die entscheidende Produktion an Nahrung, Kleidung, Wohnung und Werkzeugen in weiblichen Händen lag. Nach bestimmten Vorstellungen, die wieder dem Mythos von der ihren irdischen Kindern gleichverteilenden Göttin entsprachen, wurden die Güter verteilt.

Die mythisch rituellen Feste, wie sie in regelmäßiger Folge der Jahreszeiten wiederkehrten, spiegelten im Matriarchat die gesamte komplexe Praxis dieser Gesellschaften. Entsprechend waren ihre Ausdrucksformen außerordentlich vielfältig. Tanz, Musik, Gesang, Prozessionen, Szenen mit dramatischem Charakter und üppige Gelage verbanden sich zu einem unlösbaren Ganzen. Und die zentralen dramatischen Szenen im Ablauf der Jahreszeiten: Einweihung, Hochzeit, Opfertod und Wiederkehr wurden nicht gespielt, sondern als sakrale Akte tatsächlich vollzogen. Durch sie wurden, nach dem Glauben der damaligen Epoche, die irdische Fruchtbarkeit und die kosmische Ordnung als die ewige Wiederkehr des Lebens gewahrt, sie hatten magischen Charakter. In den öffentlichen magischen Handlungen gipfelte die komplexe Praxis dieser Gesellschaften, sie waren der symbolische Vollzug komplexer gesellschaftlicher Praxis selbst. Dies war die Kunst im Matriarchat, die es als eigene Kategorie noch nicht gab. Denn sie war alles, was auf diesen magisch-rituellen Festen geschah und noch mehr. Als viele praktische »Künste« war sie nicht nur symbolisch, sondern ganz real die komplexe Praxis dieser Gesellschaften. als die Ackerbaukunst, als die Kunst Pflanzen zu veredeln und Tiere zu züchten, als die Kunst der Werkzeugherstellung, des Webens, des Töpferns, als die Kunst der Pflanzenheilkunde, der Astronomie-Astrologie, der Musik als kosmischem Abklang, als die Kunst der Trance, der Erotik, des Orakels, der Weisheit, als die Kunst, naturhafte, seelische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu entdecken und zu lenken, als die Kunst des Regierens ohne Zwang auszuüben. Kunst war alles, was die Gemeinschaft zu ihrem Besten beeinflußte.
Da Kunst Wissen und praktische Kenntnis im Gewand öffentlicher ritueller Magie war, griff sie dauernd aktiv ins gesellschaftliche Leben ein - es gab überhaupt keine Trennung von Kunst und Öffentlichkeit. Die magischen Feste waren der Höhepunkt der Verschmelzung von mythischer Anschauung und gesellschaftlichem Leben. Die ästhetische Dimension, in der sie sich bewegten, war keine des schönen Scheins, sondern der sozialen und politischen Realität. Die ästhetische Dimension in diesem Sinn bestimmte das gesellschaftliche Leben, ja noch mehr: gesellschaftliche Strukturen waren geordnet nach den Vorstellungen des Mythos, wie er im Ritus sichtbar auftrat. Die Menschen waren bestrebt, alles miteinander zur Übereinstimmung zu bringen. Denn ihre Gemeinschaft galt ihnen als das irdische Abbild der kosmischen Ordnung der matriarchalen Göttin, der Muse.

Patriarchalisierung der magischen Kunst

Mit dem Auftreten der frühpatriarchalen Gesellschaftsform änderte sich das Bild grundsätzlich, wie wir an der Beziehung des Gottes Apoll zu den Musen sehen: Nicht nur, daß er den matriarchalen Heros-König, den Tänzer bei den ekstatischen Ritualen, verdrängte und seine Titel stahl, sondern er brachte die Musen unter seine Kontrolle, »zähmte ihre Wildheit«, wie es bei Homer heißt. Auf einmal war die Göttin den neuen Göttern untergeordnet. So wurde der Mythos verdreht, die Gesellschaftsform auf den Kopf gestellt und die alten Riten der göttlich-poetischen Ekstase abgeschafft. Wie Robert von Ranke-Graves in seiner Geschichte erzählt: Poesie wurde von da an zu einer formalen Angelegenheit, und der Rest an Inspiration, der in Orakeln noch geduldet wurde, erhielt tendenziösen Charakter zugunsten der politischen Zwecke des frühen Patriarchats. Damit änderte sich der Status der ästhetischen Dimension: Sie wurde, soweit sie sich umdeuten ließ, zu einem Mittel der Macht, eben zu Ideologie. Oder sie wurde, wo sie sich gegen die verfälschende Umdeutung sperrte, demoralisiert und ins Ghetto verbannt, ins Schattendasein der Gesellschaft. Die frühere magische Übereinstimmung zwischen dem äußeren und inneren Kosmos und der Gesellschaft war damit zerbrochen. Rituelle Akte verloren ihre Magie und wurden zur Allegorie, zur Darstellung von Herrschaft.

Damit degenerierte die Muse auf doppelte Weise: Erstens wurde sie im Dienst der Herrschaft zum Typ der ideologischen Mythologie/Religion/Kunst, ihre Akte zu aufgesetzten Formen zweckgerichteter Sinnvermittlung. Sie diente der Legitimation der Herrscher, die sie unterdrückten. In dieser Rolle verstärkte sie immer mehr ihren künstlichen Charakter, da sie den spontanen, erotisch-ekstatischen verloren hatte. Dieser galt hinfort als chaotisch und gefährlich. Abgespalten von der gesellschaftlichen Realität, mit einer Scheinrealität von formalen Kriterien, eben den Regeln, ausgestattet, mit vorgeschriebenen Themen und Tonarten - so zeigt sich die von Apoll domestizierte Muse. Ihre zweite Degeneration hatte andere Formen: Soweit sich ihre Anhängerinnen und Anhänger der Domestikation entzogen und die alten magischen Formen mit dem ursprünglichen Sinn bewahrten, konnten sie das nur geheim tun: in den Kulturen der Unterschichten und Randgruppen. Hier lebten matriarchale Unterströmungen in patriarchalen Gesellschaften weiter, als Erinnerung ans »Goldene Zeitalter« und als utopische Hoffnung durch die Jahrtausende. Anfangs war das bewußte Kritik, Ablehnung und Protest, ein Aufstand wenigstens in der Phantasie, politisches Gegenbild und politische Hoffnung. Als dieser ständig schwelende Widerstand im neuen System geriet es zunehmend unter Druck und Diffamierung. In Verfolgung und Geheimkulten aber verkamen die alten Riten zu Formeln, zu bloßen, wiederholten Mustern, deren anfänglicher Sinn verblaßte. So verstanden die, welche sie tradierten, diese Formen bald selbst nicht mehr, und die Muse im Ghetto wurde zur bäuerlichen, farbigen, belanglosen Unterhaltung von Straßensängern, Gauklern, Zigeunerinnen, dem zusammengewürfelten fahrenden Volk. Es wurde Volkskunst daraus, Volksfest und Volksbelustigung, die von der Fiesta bis zum Karneval reicht.

Im Ausdruck überraschend bunt ist sie im Formenschatz überraschend gleichbleibend. Und ebenso gleichbleibend wurde sie von den »wahren« Künstlern, die im Dienst der Herrschenden Karriere machten, durch die Jahrtausende verachtet. Die Spaltung der ästhetischen Dimension, die einerseits eine domestizierte Muse, andererseits eine Muse im Ghetto zeigt, erhielt sich durch die patriarchalen Jahrtausende. Die Herrschenden schafften ihrer Kunst eine vorgeprägte Öffentlichkeit, die aus Leuten bestand, die an ihren Privilegien teilhatten. Die ghettoisierte Kunst, die sich gar nicht als solche erkannte und auch von anderen nicht anerkannt wurde, trieb sich im Volk herum und besaß dort eine breite Öffentlichkeit, die jedoch eine Enklave der Ohnmacht war. Das ist meine These, und ich möchte sie jetzt an Beispielen erläutern.

Erstes Beispiel: Das klassische Griechenland

Die olympische Religion im hellenischen Griechenland spielte die Rolle der Ideologie in einer frühpatriarchalen Gesellschaft. Als solche wirkte sie noch im klassischen Griechenland weiter und äußerte sich nun in monumentalen Staatsbauten: den großen Tempeln zu Ehren der Olympier, besonders des Vatergottes Zeus, und in diesen Tempeln die kolossalen, perfekten Statuen, welche die Vollkommenheit offizieller Kunst, ihren hohen technischen Stand bei gleichzeitiger Sinnentleerung dokumentieren. Denn es geht hierbei in erster Linie um Repräsentation des neuen patriarchalen Weltbilds, um Stützung der neuen Adelsherrschaft. In Rom erreichte diese dekorative Staatskunst, die unter die Kategorie der domestizierten Muse gehört, dann im gewaltsam eroberten Weltreich ihre größte Ausbreitung und ihre größte Leere. Parallel mit der Entwicklung der repräsentativen Staatskunst geht die Diffamierung der nicht-offiziellen Kunst, der älteren, zurückgedrängten Traditionen. Sie begreifen sich selber in dem neuen Sinne gar nicht als »Kunst«, sondern als symbolischen Lebensvollzug.

Dies ist in erster Linie der Mythos, der bei den hochangesehenen Staatsphilosophen des klassischen Griechenland, den Legitimationstheoretikern der neuen Gesellschaft, das Objekt der Ablehnung und des Hohnes wird. Für Platon sind es lügenhafte Geschichten, durch und durch erfunden, die nur der Täuschung und Verwirrung des Geistes dienen. Denn dieser neue philosophische Geist denkt nicht mehr in Bildern, sondern in Abstraktionen. Damit schafft er eine tiefe Kluft zwischen den adeligen Denkern und dem Volk mit seinen mythologischen »Ammenmärchen«. Diejenigen aber, welche die Täuschung und Verwirrung des Geistes weitertragen, indem sie Mythologie erzählen, nämlich die Poeten, wünscht er aus seinem philosophischen Staat verbannt.
Bei Aristoteles wird die sexistische Stoßrichtung dieser Diffamierung dann deutlich: Denn der Inbegriff des Dunklen, Stofflichen, Sinnlichen, Ungeistigen, an der Materie und ihren verwirrenden Erscheinungen Klebenden ist für ihn das Weibliche schlechthin. Und alles, was irgendetwas mit diesem Geschlecht zu tun hat, so auch Mythologie, wird stillschweigend aus seiner Logik und Wissenschaft ausgeschlossen. Größere Schwierigkeiten als mit dem bereits deformierten Mythos gab es offenbar bei der Verdrängung der rituellen Feste, die der Mittelpunkt der matriarchalen Gesellschaftsform waren. Abgeschafft waren zwar längst die matriarchale Göttin-Priesterin und ihr Heros König, welche diese Riten im Kern vollzogen hatten. Aber die weitreichende Bedeutung dieser Konstellation verblaßte nicht so schnell. Die Idee des Heroischen als desjenigen, der aus der Hand der Göttin sein Schicksal als Aufstieg, Untergang und Wiederkehr in Verklärung, stellvertretend für alle erfährt, wirkte noch lange weiter.
Auf der Grundlage dieser matriarchalen Idee entstand das griechische Theater, die Tragödie, die das Heroische genau in diesem Sinne darstellte. Nach dem Verlust der rituellen Feste wurde nun das Theater mit seinen komplexen Ausdrucksformen zum Volksfest. Es zog die Zuschauer, wie die matriarchalen Feste, tief ins Geschehen hinein. Und die Erschütterung, die Katharsis, die es auslöste, ist nichts anderes als ein Nachhall der magischen Kräfte der alten Rituale, bei denen das Volk sich mit dem Heros identifizierte und mit ihm die ganze seelisch-kosmische Verwandlung durchlitt. Aber es ist nur ein Nachhall, denn das Geschehen im griechischen Theater ist bereits eine Fiktion: es wird nur gespielt statt gehandelt. Die Akte haben jegliche Realität verloren und mit ihr die Glaubwürdigkeit der ästhetischen Dimension. Das kennzeichnet das griechische Theater als eine Muse im Ghetto, deren Hauptmerkmal es ist, gesellschaftlich wirkungslos zu sein.

Zweites Beispiel: Das Mittelalter

Eine andere Epoche, welche die Züge des klassischen Patriarchats besitzt, ist das europäische Mittelalter. Es bildete sich nach ähnlichen Vorgängen gesellschaftlicher und kultureller Überlagerung im nördlicheren Europa heraus, wie sie viel früher im mittelmeerischen Raum stattgefunden hatten. Es besitzt ebenfalls eine feudale Ökonomie, eine patriarchale Sozialstruktur, eine das neue Weltbild legitimierende Religion und kennt einen scharfen Gegensatz zwischen kirchlicher und höfischer Kunst einerseits und Volkskunst andererseits. Letztere nahm als mündliche Tradition ein breites Feld ein, drang als künstlerische Äußerung aber nie ins Bewußtsein der Oberschicht. Das hinderte die höfischen Dichter jedoch nicht, gerade aus der Volkstradition, den Legenden, Sagen und Märchen, die allesamt mythisch-matriarchalen Ursprungs sind, ihre schönsten Motive und Romane zu schöpfen. Charakteristisch für die domestizierte Muse dieser am Hofe privilegierten Dichter sind jedoch die Einleitungen zu ihren Werken: Stets erwähnen sie ihren Mäzen, der ihnen Stoff und Sinn gab, ferner ihre eigene Kunstfertigkeit, mit der sie sich von der Masse der Ungebildeten, denjenigen, die nicht lesen können, absetzen. Überdeutlich aber setzen sie sich von den Quellen ihrer eigenen Stoffe ab: den Minstrels und fahrenden Geschichtenerzählern, den Vaganten und Scholaren, die den alten mythologischen Schatz auswendig kannten und dem Volk auf den Marktplätzen erzählten. Diese repräsentieren die Muse im Ghetto, und in solcher Funktion wurden sie entsprechend verachtet. Der Tonfall der Abgrenzung der »wahren« Poeten ist dabei immer derselbe: die Vaganten und Minstrels könnten den Stoff gar nicht im richtigen Sinne erzählen! Denn sie erzählten ihn im ursprünglichen magisch-matriarchalen Sinn, während die höfischen Dichter ihn - mit gehörigen Seitenhieben auf den Wankelmut und den Unwert der Frau - solange verdrehten, bis die alten Erzählmuster das Weltbild des neuen christlich-patriarchalen Rittertums spiegelten.

Drittes Beispiel: Die bürgerliche Gesellschaft

Mit dem Aufkommen und Erstarken des Bürgertums der europäischen Neuzeit bis zu seinem Sieg nach den bürgerlichen Revolutionen änderte sich das gesellschaftliche Bild: Zwischen einer halbfeudalen oder kapitalstarken Oberschicht und einer halbbäuerlichen oder industriellen Unterschicht entstand eine meist administrativ tätige Mittelschicht. Der patriarchale Charakter der Gesellschaft hielt sich jedoch durch und mit ihm die Gespaltenheit der ästhetischen Dimension, ja, diese vergrößerte sich sogar, denn Kunst wurde nun immer schichtenspezifischer und künstlicher, ihre Öffentlichkeit immer mehr ein Problem. Sie durchlief verschiedene Stadien. In der Epoche der bürgerlichen Revolutionen wurde das Autonomieprinzip für Kunst formuliert, ein Prinzip mit anfangs progressiver Stoßkraft. Denn es sollte die Kunst aus der ideologischen Verklammerung mit Thron und Altar lösen, aus der domestizierten Muse wieder eine wahre Muse machen. Doch der Weg, der dahin führen sollte, war widersprüchlich: Die Kunst wurde selbst zur Religion erhoben, das Musische zum pseudo-sakralen Kult und der Künstler zum Genie, der, in Absage an die Kunst überfremdende Inhalte, angeblich alles nur aus sich schöpfte (Originalitätsprinzip). Immer mehr wurde sich der Künstler mitsamt seiner Kunst selbst zum Thema, und die Probleme, die dabei zur Sprache kamen, wurden zur Ersatzmythologie für eine kleine Schicht, die Schicht der Gebildeten. Diese Tendenz führte zur elitären Selbstghettoisierung, wobei die Kunst im Elfenbeinturm ihre soziale Funktion zusehends verlor. Eine andere große Tendenz neuzeitlicher Kunst schien der Selbstghettoisierung entgegenzustreben: ihre Psychologisierung.

Denn hier wurden in realistischer Sprache psychische und soziale Zusammenhänge dargestellt und kritisch gegen die bestehende Gesellschaft gewendet. Aber nach ihrem sozialkritischen Höhepunkt geriet diese Kunst immer mehr zum einzigen Spielfeld von anderswo nicht mehr geduldeten libidinösen Energien, sei es in ihren Darstellungen, die verdrängte und verlorene erotische und utopische Möglichkeiten bewahrten, sei es als Freizone für sonst tabuisierte psychische Wünsche des Künstlers selbst. Die Folge war, daß in ihr die Subjektivierung von Formen, Sprache, Bedeutungen immer rascher fortschritt, bis jedes Werk sein eigener Mythos wurde, jeder Künstler sein eigener Prophet oder sein eigener Therapeut. Sie wurde zur Ersatz-Libido beliebiger Individuen, deren beliebige Erlebnisse und beliebige Ansichten die Öffentlichkeit immer weniger interessierten. Auf diese Weise wurde die soziale Funktion der Kunst bis zum Verschwinden vereinzelt. Die dritte große Spielart neuzeitlicher Kunst, ihre abstrakte Variante, versuchte dies Problem zu lösen, indem sie sich den Rückgriff auf austauschbare und immer diffuser werdende Bedeutungen versagte und die Kunst bis auf ihre Strukturen bloßlegte. Nun wurde die Kunst, die im Patriarchat längst Ersatz für die echte poetische Kraft: die magisch-erotische Ekstase geworden war, selber ersetzt.

Ersetzt durch die intellektuelle Analyse ihrer Formen, die nun zur Selbstdarstellung gelangten. Waren diese Formen aber eine objektivere Kategorie als die unterdessen verkommenen Bedeutungen? Es waren nicht mehr die Formen einer uralten mythisch-poetischen Grundstruktur aus matriarchaler Zeit, die schon in ihrem Bau ein ganzes Weltbild ausdrückte und von allen Menschen anerkannt wurde. Sondern es waren die später angelagerten, zunehmend artifiziellen Formalisierungen aus den modisch wechselnden Regelsystemen. Ohne diese Formalisierungen selbst auf ihren ideologischen Gehalt hin zu befragen, griff die Abstrakte Kunst auch nur wieder in den artifiziellen Zufall und geriet so zur puren Artistik des Artifiziellen. Auch als Meta-Kunst erreichte sie deshalb nicht, was sie erstrebte: eine objektivere Kategorie jenseits der Bedeutungen. So wurde Kunst aus dem ehemals symbolischen Vollzug der komplexen Praxis einer ganzen Gesellschaft zuletzt zur leeren Chiffre im Hohlraum sozialer Funktionslosigkeit. Verkam die bürgerliche Kunst auf diesem Wege zur artifiziellen Geste ihrer selbst, so nahm die Volkskunst einen nicht minder fatalen Lauf. Unerbittlich von der verkapselten Elitekunst getrennt, erstarrte sie im unverstandenen Brauchtum, das heute als bloßes Ornament touristisch vermarktet wird. Größeren Einfluß erhielt sie zwar, als sie zur Trivialkunst pervertiert wurde, denn diese konsumieren die Massen in breitester Öffentlichkeit. Aber sie produzieren sie nicht im Rahmen von Volkstraditionen. Ihre Produzenten sind Leute aus der bürgerlichen Mittelschicht, die sie zu Zwecken des Kommerzes herstellen. Eine etablierte soziale Schicht produziert damit für eine nichtetablierte, indem sie deren alte Stoffe und Formen nachahmt und zugleich in Verruf bringt. Denn Massenkunst sind technisch reproduzierte Märchen, als Liebesromane erotische Märchen, als Science Fiction Heldenmärchen und als Kriminalromane Märchen vom Schlauheitswettbewerb. Das Perverse daran ist, daß die bürgerliche Schicht der Schicht der Konsumenten einen Geisteszustand unterstellt oder einredet, der ihren eigenen zynischen Zwecken entspricht. Früher schrieb man nicht für die, die man verachtete. Heute tut man es, weil es sehr nützlich ist. Ich bin versucht, dies eine Muse im Bankrott zu nennen.

Kunsttheorie der Gegenwart (neomarxistische Richtung)

Die Folge ist, daß die Situation der Kunst in der Gegenwart äußert paradox ist. In der Weigerung, sich noch länger domestizieren zu lassen, im Willen zur Emanzipation, doch ohne genau zu begreifen wovon und wofür, geriet sie in ein immer weniger durchschaubares Ghetto und betrieb auf diese Weise gegen ihre Absicht ihre perfekte Domestikation. Hart an der Grenze zur eigenen Auflösung wurde sie dieser Probleme inne. Doch nun half nicht mehr das fortgesetzte naive poetische Machen, nun half in der Krise nur noch die klärende theoretische Reflexion. So waren es Kunsttheorien, die in den letzten Jahrzehnten in einer Dichte entstanden wie nie zuvor, und das zentrale Thema der meisten von ihnen ist für die Kunst die Wiedergewinnung ihrer sozialen Funktion. Auch wir werden für eine Weile auf diese Ebene überwechseln, um uns danach mit geklärtem Wissen und neu eröffneter Perspektive der Kunst in der Gegenwart wieder zuzuwenden. Die zwei großen internationalen Strömungen in der modernen Kunsttheorie sind die neomarxistische Richtung (vertreten durch Bloch, [6] Benjamin, [7] Adorno, [8]  Marcuse [9] und die formalistische Richtung (semiotisch-Informationstheoretische Ästhetik, z. B. Eco [10] Bense [11]; strukturalistisch-Linguistische Ästhetik. z.B. Lotmann, [12] Mukarovskky, [13] Jakobson, [14] Levin, [15] Barthes [16]; Rezeptionsästhetik, z.B. Jauß, [17] Iser [18]).

In beiden Strömungen ist das Problembewußtsein zur Kluft zwischen Kunst und Öffentlichkeit groß, und theoretische Anstrengungen wurden gemacht sie zu überwinden. So haben Adorno und Marcuse die Idee einer sozial engagierten, kritisch-utopischen Kunst entworfen. und in der formalistischen Ästhetiktheorie wurde das als »Duchamp-Paradox« bekannte Problem, wie das Kommunikationssystem »Kunst« zu ändern sei, damit es sich wieder ins Kommunikationssystem »soziales Leben« einfüge, lange diskutiert. Besonders in der neomarxistischen Ästhetik- ist die gesellschaftliche Rolle der Kunst deutlich herausgearbeitet worden, das unterscheidet sie von vielen Ästhetiktheorien aus bürgerlicher Perspektive. Idorizo kennzeichnet diese gesellschaftliche Rolle von vornherein als eine doppelte: eine affirmative, in der Kunst das herrschende System bejaht und ihm dient, und eine kritisch-utopische, in der sich Kunst diesem System als Protest und Widerstand entgegenstellt. Adornos Theorie ist aber keine beschreibende, sondern eine wertende Kunsttheorie. Deshalb benutzt er seine beiden Begriffe von der affirmativen und der kritisch-utopischen Kunst zur entscheidenden Kunstkritik. Sie richtet sich gegen viele geschichtliche Formen der Kunst, bisher als klassisch-vorbildlich hochgeschätzt, denen er grundsätzlich affirmativen Charakter zuschreibt.

Dem ideologischen Inhalt dieser Kunst entspreche eine bestimmte Form, die geschlossene Form. Im Bild der geschlossenen, als vollkommen gepriesenen Kunst und der geschlossenen Kultur tobten sich autoritäre Instinkte aus, die sich sonst nicht mehr befriedigen könnten. Aller traditionellen Kunst hafte daher, je reicher sie sei, je dichter, je geschlossener, je verbindlicher, ein affirmatives Moment an. Böse erscheine an den vollkommenen Werken ihre eigene Vollkommenheit als Moment von Gewalt. Anders dagegen die moderne Kunst, die sich der glatten Vollkommenheit verweigere und sich gerade durch ihre Sprünge, ihre Brüche der Verstärkung des Systems mit eigenen Systematisierungen entziehe. Durch ihre innere Bewegung gegen die Gesellschaft, weniger durch ihre ausdrückliche Stellungnahme, kritisiere sie die Gesellschaft und ihre autoritären bis totalitären Tendenzen. Und blitzartig scheine in ihr manchmal ein utopisches Element auf.  Adornos Theorie ist gegenüber der orthodox-marxistischen Kunsttheorie, welche die traditionelle Kunst auf Kosten der Moderne, die als bourgeois-dekadent galt, hochschätzte (Georg Lukács  [19]), eine Verteidigung eben dieser abgewerteten, avantgardistischen Kunst. Dies ist das Verdienst seiner Theorie, deren Grundidee ich dennoch in einigen Punkten kritisieren möchte. Denn er dreht die Wertung der orthodox-marxistischen Theorie einfach um und erreicht damit keine größere Differenziertheit als diese. Traditionelle und moderne Kunst stehen sich noch immer wie Blöcke gegenüber, jede mit je einer Funktion versehen. Dabei wird nicht klar, daß bereits die geschichtlichen Formen der Kunst in eine »affirmative« und eine »kritisch-utopische« auseinanderfallen, genauso wie es in der modernen Kunst »affirmative« und »kritisch-utopische« Tendenzen nebeneinander gibt. Ich hatte gesagt, was in der geschichtlichen Kunst die »kritisch-utopische« Seite ausmacht die nichtvollkommene, nicht-anerkannte Kunst der unterdrückten Schichten, die Muse im Ghetto, Sie hat durchaus ihre utopischen Elemente, aber hörbar kritisieren konnte sie nicht, denn sie wurde von den Herrschenden gar nicht angehört.
Hörbar war nur die »affirmative« hohe Kunst, die domestizierte Muse. Was diese Spaltung der ästhetischen Dimension bedeutet, kam Adorno nicht in den Sinn. Denn er nahm die grundlegend patriarchale Struktur der europäischen Gesellschaft seit der Antike als selbstverständlich hin. Die Verbindung zwischen Patriarchat und der Spaltung der Kunst bis zum Verlust ihrer Öffentlichkeit zu sehen, war seiner Denkweise nicht gegeben. Anders bei Marcuse: In seinem Buch »Triebstruktur und Gesellschaft« [20] hinterfragt er die psychosozialen Muster der patriarchalen Gesellschaft, wenn er diese auch nicht ausdrücklich benennt. Er geht davon aus, daß in den bisherigen Gesellschaften ein Konflikt zwischen Lustprinzip (Eros) und Leistungs- oder Realitätsprinzip (Zivilisation) besteht, der ständig durch Verzicht auf die Lust gelöst wird. Das Glück würde dabei der Disziplin der Arbeit untergeordnet und die Erotik der Disziplin der monogamen Fortpflanzung und dem geltenden System von Recht und Ordnung. Aber dieser Konflikt sei nicht notwendig, um Zivilisation zu schaffen (wie Marcuse gegen Freud behauptet). Sondern er sei die Folge einer ganz bestimmten geschichtlichen Organisation der menschlichen Kultur, nämlich der patriarchalen. Marcuses utopische Vorstellung richtet sich daher auf eine Kultur ohne Unterdrückung, die auf anderen Daseinserfahrungen beruht, auf völlig anderen Beziehungen zwischen Mensch und Natur, wobei er mit »Natur« die außermenschliche Umwelt und die innermenschlichen vitalen Triebe meint. Denn es gäbe eine Kraft, die dem ständigen Unterdrückungsmechanismus Widerstand leiste: die Phantasie. Sie gehorche allein dem Lustprinzip und bewahre gegen seine traumatische Verdrängung von Anfang der menschlichen Kulturentwicklung an seine ursprünglichen Ansprüche und Ziele auf.

Es sei gerade die Wiederkehr dieses Verdrängten in der Menschheitsgeschichte, (las die etablierte Kultur beunruhige und die unterirdische Gegenbewegung gegen sie speise. In der Gegenwart trete die Phantasie als opponierende Kraft immer stärker zutage, als Einklagen der Erinnerung ans archaische Paradies. In Urbildern eines Lebens ohne Unterdrückung und Angst, wie sie in Mythos und Märchen, Dichtung und Volksbrauch auftauchen, habe sie ihren Wahrheitsgehalt bewahrt und stelle diese als Möglichkeit der echten Freiheit in einer reifen Kultur wieder vor Augen. Als zwei Beispiele für solche Urbilder nennt Marcuse: Orpheus und Narziß, zwei Heroen des Eros. Dieser neue Typ des Menschen - orientiert am weiblichen Prinzip, wie Marcuse es versteht sei in der Lage, eine neue Gesellschaft zu bilden. Diese habe entschieden Bezug zur ästhetischen Dimension, denn das Ästhetische in der weitesten Bedeutung vereinige diese Züge: Es sei die innere Verbindung zwischen Lust und Sinnlichkeit, Wahrheit und Freiheit, das unbegrenzte Spiel der Möglichkeiten aus der Entfesselung aller erotischen Kräfte. Hier werde Ordnung zur Schönheit und Arbeit zum Spiel. Die grundlegende Erfahrungsweise in der ästhetischen Dimension sei Intuition, nicht Begriff, und statt des Realitätsprinzips herrsche der Eros. Darum gehe es letztlich um die Ästhetisierung der ganzen Gesellschaft. Marcuses Ideen sind noch immer faszinierend und meinen eigenen Ideen sehr nahe, Aber auch bei ihm gibt es einige Unklarheiten: Der Begriff des Patriarchats, den er andeutungsweise verwendet, ist sehr oberflächlich. Abgesehen davon, daß historische und ethnologische Kenntnisse nicht einbezogen werden, folgt Marcuse bei diesem gesellschaftspolitischen Begriff der abstrakten Konstruktion Freuds von der »Urhorde«, einem seit Urzeiten angeblich patriarchal organisierten Stammesverband.
Dieser Gedanke Freuds ist nachweislich falsch, das Patriarchat hat keinen Ewigkeitswert. Unter solchen Voraussetzungen kann Marcuse natürlich nicht sehen, daß jenes von ihm beschworene »archaische Paradies« nicht nur ein Produkt der Phantasie ist, sondern daß die archaischen und frühgeschichtlichen matriarchalen Gesellschaften genau diese paradiesischen Züge der Verschmelzung von Lustprinzip und Realitätsprinzip besaßen. Und er kann nicht erkennen, daß Mythos und Märchen, Dichtung und Volksbrauch nicht irgendwelche Phantasien an ein archaisches Paradies tradieren, sondern konkrete Erinnerungen an ganz reale vorpatriarchale Gesellschaften sind. Besonders auffallend wird seine Blindheit bei der Analyse der mythischen Gestalten Orpheus und Narziß: Seine Deutung bleibt ein philosophisches Begriffsspiel, der gesellschaftliche Hintergrund dieser Gestalten taucht nirgendwo auf. Aber sie sind keine reinen Phantasiegeschöpfe, sondern Typen matriarchaler Heros-Könige und unlösbar mit dem Matriarchat verknüpft. Abgelöst von ihrer Gesellschaftsform und ihrem Kult sind diese Gestalten als Urbilder matriarchaler Männlichkeit überhaupt nicht verständlich. Marcuse ahnt dies zwar, aber er weiß es tatsächlich nicht. In meiner Studie zur matriarchalen Mythologie [21] habe ich genau diese Zusammenhänge sichtbar gemacht.
Und ich habe gezeigt, daß Märchen und Dichtung bis ins europäische Mittelalter noch grundsätzlich von den Strukturen, den Gestalten und den Symbolen matriarchaler Mythologie geprägt sind. Wenn daher die opponierende Phantasie noch um sie kreist, so hat das höchst reale gesellschaftspolitische Gründe. Doch leider lehnte Marcuse jeden Gedanken an die geschichtliche Existenz von Matriarchaten ab. Das hat zur Folge, daß seine »konkrete Utopie« keineswegs konkret ist. Sie hängt als Spekulation in der Luft, denn sie hat keine Verankerung im geschichtlich-ethnischen Bereich. Es ist sehr schwer, sich eine Eros und Zivilisation versöhnende Gesellschaft auszudenken, ohne Anregungen aus den verwirklichten Formen solcher Gesellschaften in der frühen Geschichte zu gewinnen. Notwendig bleiben deshalb solche Begriffe wie »die Widerstand leistende Phantasie«, »das zu befreiende Lustprinzip«, »der universale Eros«, »die Ästhetisierung der ganzen Gesellschaft« leer. Überlegungen zu einer Ästhetisierung der Gesellschaft als konkrete Utopie scheinen mir nämlich erst dann sinnvoll, wenn jene ästhetischen Gesellschaften, die Matriarchate, analysiert und ihre realen Bedingungen für eine neue Utopie erforscht worden sind. Utopie heißt dabei nicht schlichte Projektion einer historischen Gesellschaftsform in die Zukunft, sondern sie heißt, die positiven Züge der geschichtlichen Gesellschaftsform mit den gegenwärtigen veränderten Bedingungen in Einklang zu bringen. So anregend die Gedanken Adornos und Marcuses zur kritisch-utopischen Funktion der Kunst und zur Ästhetisierung der Gesellschaft auch sind, so wenig können wir ihnen deshalb bis zu Ende folgen. Denn sich über die gesellschaftliche Rolle von Kunst in Geschichte und Gegenwart klar werden zu wollen ohne die fundamental patriarchalen Strukturen dieser Gesellschaften mitzubedenken, muß notwendig in eine Sackgasse führen.

Kunsttheorie der Gegenwart (formalistische Richtung)

Bei manchen Theoretikern der formalistischen Richtung geht es um das Problem der Auflösung von »Kunst« ins »Leben«, nachdem die domestizierte Muse jegliche Beziehung dorthin verloren hat. Aber leider wird durch das Duchamp-Paradox nur eine andere Sackgasse kunsttheoretischen Nachdenkens wie praktischer Kunstversuche bezeichnet. In der »Kommunikationstheorie« [22] wird Kunst als ein Austauschsystem zwischen dem, der Kunst macht (Autor), dem, der Kunst vermittelt (Markt), dem, der Kunst aufnimmt (Rezipient), und dem, der Kunst verarbeitet (Kritiker, Theoretiker, Epigone, Vermittler in ein anderes Medium, Interpret), betrachtet. Daß es sich bei den Gegenständen in diesem Austauschsystem um »Kunst« (Literatur, Musik, Bildende Kunst) handelt, wird stets durch bestimmte konventionelle Spielregeln festgelegt, Diese weisen darauf hin, daß die Gegenstände im Austauschsystem den Charakter von Fiktionen haben, weshalb ihnen der Titel, »Kunst« zu sein, zugeschrieben wird. Auf diese Weise wird das Kommunikationssystem »Kunst« vom Kommunikationssystem »Leben«, das nicht auf Fiktionalität, sondern auf Erfahrungswirklichkeit beruht, abgegrenzt. Wohlgemerkt: Es geht hier nur um ein Abgrenzungskriterium von Kunst und sozialem Leben nicht aber um ein Wertkriterium, das »gute« von »schlechter« Kunst unterscheidet. Das wäre der zweite Schritt, während »Kunst« beim ersten Schritt allemal beides zugleich ist: gute und schlechte. Es ist der Begriff »Fiktionalität«, durch den Kunst ganz allgemein gekennzeichnet wird. Fiktionalität meint den bestimmten Rahmen, in dem Kunst stattfindet, durch den sie als solche kenntlich wird: das Museum, das Theater, die Galerie, die Lesung oder auch nur die Bühne, der Bilderrahmen, die Buchdeckel.

Irgendein Zeichen wird gegeben um kenntlich zu machen, daß der Kontext, in dem etwas geschieht, das »Kunst« sein soll, ein anderer ist als der Kontext des normalen gesellschaftlichen Lebens. Ein solches »ikonisches Zeichen« ist wie ein Signal, das den Fluß des normalen Lebens unterbricht, um den Freiraum für die nun stattfindende »Kunst« zu schaffen. Ist das ikonische Zeichen für »Kunst« gesetzt, ändert sich nämlich die Einstellung der an diesem Austauschsystem Beteiligten im Vergleich zum Austauschsystem »soziales Leben«: Die Einstellung des Autors in diesem System ist gekennzeichnet durch »Polyfunktionalität«. Das heißt, er verwendet Materialien oder Gegenstände nicht mehr in der Weise wie im normalen Leben, wo sie für einen einzigen praktischen Zweck dienen, sondern er verwendet sie so, daß sie mehrfache, Bedeutung erhalten. Die Einstellung der Rezipienten ist gekennzeichnet durch »Polyvalenz«. Das heißt, Betrachter, Leser, Hörer von Kunst erwarten beim Aufnehmen nicht, daß es nur eine einzige Bedeutung für das Betrachtete, Gelesene, Gehörte gibt, sondern sie nehmen es in mehrfacher Bedeutung auf. Die Kunstgegenstände sind dabei nur die materielle Grundlage, um diesen »ästhetischen Prozeß« des Zuschreibens von Viel-Deutigkeit durch den Autor und Viel-Wertigkeit durch die Rezipienten in Gang zu setzen.
In der Kommunikationstheorie gilt daher als »Kunstwerk« nicht der einzelne Gegenstand, sondern der gesamte »ästhetische Prozeß«, der zwischen Autor Vermittler/Rezipent-Verarbeiter abläuft. Das läßt sich besonders gut erläutern durch die Richtung des »objet trouvé«, deren Künstler völlig unbearbeitete Alltagsgegenstände wie eine Axt, einen Schuh, einen Kleiderbügel ausstellten. Der ungewohnte Rahmen, nämlich in einer Ausstellung vertreten sein, vielleicht auf einem Sockel in der Glasvitrine liegen, mit dem Namenszug des Künstlers versehen sein, hob für diese Gegenstände ihre einfache, vertraute Funktionalität auf. Vieldeutig hatte es der Autor gemeint, und auf vielfache Weise versuchten die Rezipienten dieses Faktum zu werten. Damit wurde es zum Artefakt und der ganze Deutungsprozeß zwischen Autor und Rezipienten zum ästhetischen. Die Trennung der Kommunikationssysteme »Kunst« und »Leben« ist dabei scharf markiert, denn niemand nimmt jenen Gegenstand noch als gewöhnliches Nutzding. Durch ein ikonisches Zeichen (Museum, Galerie, Sockel, usw.) wurde er fiktionalisiert und damit zum Objekt in einem ästhetischen Prozeß. In der experimentellen Kunst seit Duchamp gibt es nun Versuche, irgendeinen der vier Faktoren in diesem Modell der ästhetischen Kommunikation zugunsten eines anderen aufzuheben und damit die unüberschreitbare Schranke zwischen »Kunst« und »Leben« zu durchbrechen. Doch zugleich soll der ästhetische Prozeß gewahrt bleiben.

Aber das Duchamp-Paradox zeigt, daß dies unmöglich ist. Zum Beispiel sollte im »Happening« die Rollenverteilung zwischen Autor und Rezipient wegfallen, indem sich Leute treffen und aus dem Augenblick heraus gemeinsam etwas entstehen lassen. Die Schranke zwischen »Kunst« und »Leben« sollte durch die gemeinsame Praxis überwunden werden. Zu erreichen war dies nur, wenn auf ein vorgegebenes Text-Formular, wie offen auch immer, verzichtet wurde. Was aber bannte die Gefahr, daß ein Happening zur blinden Affektabfuhr zwischen den Teilnehmern verkam? Und was machte es für Außenstehende erkennbar, daß es sich nicht um ein Alltagsgeschehen handelte: Es mußte ein ikonisches Zeichen, ein minimaler Text oder ein Symbol, gesetzt werden, um es überhaupt als ästhetischen Prozeß zu kennzeichnen. Damit wurde aber seine beabsichtigte Grenzüberschreitung wieder rückgängig gemacht. Das besagt das Duchamp-Paradox. Den umgekehrten Weg versuchte die »Art & Language« Gruppe. Hier wollte man die Schranke zwischen Kunst und Leben mithilfe der Theorie aufheben. An die Stelle künstlerischer Texte wurden jetzt Meta-Texte zur Kunst gesetzt, Texte, die über Kunst nachdenken und aus Philosophie und Wissenschaft stammen. Den Faktor »Kunstgegenstand« im Kommunikationsmodell vertritt nun der Faktor »Gegenstand (Text) über die Kunst«. Damit würde Kunst aber unweigerlich zu Philosophie und Wissenschaft, es sei denn, die Autoren markierten auch hier deutlich, (laß es sich um einen ästhetischen und nicht um einen wissenschaftlichen Prozeß handelt. Nicht anders könnten sie dies aber tun als durch ein ikonisches Zeichen - und das bringt die Paradoxie wieder auf den Plan.  Was ist an diesen Gedankengängen und Experimenten für uns wichtig? Ich denke, das Entscheidende ist, daß Kunst konsequent nicht als ein Ding aufgefaßt wird, sondern als ein ästhetischer Prozeß zwischen vielen auf unterschiedliche Art Beteiligten: der Autor, der etwas macht, die Rezipienten, die es deuten und werten, die Verarbeiter, die es umformen. Dabei treten die Kunstprodukte als Gegenstände in den Hintergrund, im Vordergrund stehen die Interaktionen, die bei ihrer Herstellung und Aufnahme ablaufen.
Dieses Prozeßhafte durchbricht den Fetischcharakter, den hohe Kunst als Legitimation in patriarchalen Gesellschaften immer gehabt hat. Dennoch erreichen diese Theorien und die dazugehörigen Experimente keinerlei neuen Anfang, obwohl sie, in avantgardistischer Pose, dies von sich selber glauben. An einem entscheidenden neuen Beginn hindert sie schon ihre Verstiegenheit. Große Wörter wie »Polyfunktionalität - Polyvalenz« werden erfunden, die nur scheinbar den Bedeutungsreichtum moderner Kunst kennzeichnen, in Wahrheit aber ihre Bedeutungsarmut bemänteln. Die uralten Bedeutungen von Kunst, durch die patriarchalen Jahrtausende verzerrt, deformiert und zerschlagen, zersplittert in die Atome subjektiver Bedeutungswillkür - ganz gleich ob diese nun von Autoren oder Rezipienten oder beiden zugleich stammt - haben sich endgültig verflüchtigt. Diese Abwesenheit aller Inhalte, diese gähnende Bedeutungsleere, entstanden aus der Langeweile beliebiger Interpretierbarkeit, wird nur verschleiert durch einen aufwendigen intellektuellen Apparat. Er allein stützt noch ab, daß Kunst aus irgendwelchen gleichgültigen Objekten besteht ("objet trouvé") oder daß sie einerseits zur Affektabfuhr degeneriert (»Happening«), andererseits als Wissenschaft erstarrt (»Art & Language«). Da Kunst als formalisierte Muse nichts mehr zu sagen hat, redet an ihrer Stelle die Kommunikationstheorie. Aber auch diese geht von falschen Voraussetzungen aus. Das Duchamp-Paradox bringt nicht so sehr die unüberwindliche Schranke zwischen »Kunst« und »Leben« zum Ausdruck, sondern praktisch und theoretisch etwas ganz anderes: Praktisch kennzeichnet es die unüberwindliche Leere von Kunst in ihrer patriarchalen Endphase, markiert ihre Selbstauflösung. Wenn Kunst nur unter der Bedingung der Fiktionalität angetreten ist, dann ist klar, daß sie sich auflöst, sobald sie diese Bedingung durchbricht. Theoretisch formuliert das Duchamp-Paradox ein grundsätzliches Fehlurteil über Kunst. Denn es ist auf der falschen Definition aufgebaut, die Kunst durch »Fiktionalität« rein logisch von den anderen Bereichen abgrenzen will. Dabei wird übersehen, daß die Fiktionalisierung von Kunst einmal historisch geschah und deshalb zur uneingeschränkten logischen Definition gar nicht taugt.

Nur in patriarchalen Gesellschaften beruhen Kunst und Leben auf unvereinbaren Grundlagen. Denn hier war es für die neue Herrschaftsschicht von großer Wichtigkeit, mythisch-ästhetische Prozesse zum schönen Schein zu machen, um ihnen den matriarchalen politischen Realitätsgehalt zu nehmen. Das ist der ideologische Gehalt des so neutral scheinenden Fiktionalitätsprinzips, den kein Kommunikationstheoretiker je ins Auge gefaßt hat. Will man daher Kunst wieder ins Leben integrieren, so gibt es nur einen Weg: als grundlegende Änderung das Fiktionalitätsprinzip selber aufheben, indem man seinen ideologischen Charakter durchschaut. Geschieht das aber, dann kommen wir zu den vorpatriarchalen Kunstformen zurück und entdecken sie wieder neu.

Theorie der weiblichen Ästhetik

Keine von den beiden herrschenden Richtungen in der Ästhetiktheorie ist von Theoretikerinnen oder Künstlerinnen mitbestimmt worden. Deshalb kommen in keiner von ihnen, so universell sie sich auch gebärden, Frauen als Künstlerinnen vor, sowohl was ihre gesellschaftliche und kulturelle Situation betrifft als auch die Gehalte ihrer Werke. Sie sind in der theoretischen Reflexion und in der Auswahl der Beispiele ausgeschlossen. Dabei ist Frauenkunst in Geschichte und Gegenwart durchaus ein Problem. Nur scheinbar sind Frauen als Malerinnen, Bildhauerinnen, Schriftstellerinnen, Musikerinnen in der Gegenwart anerkannter als ihre Vorfahrinnen in der offiziellen Kunstgeschichte. Auch heute müssen Frauen ihre Arbeiten in einer Gesellschaft präsentieren, deren Kulturinstitutionen männlich beherrscht sind (Verlage, Buchmärkte, Messen, Akademien, Konservatorien, Universitäten, etc. bis zum Kultusminister) und deren Wertesystem in den Grundzügen patriarchal ist. Sie sehen sich den Kunstnormen der männlichen Kunstkritik gegenüber und sind den Kunstmoden der Medien, die ebenfalls nicht in weiblicher Hand liegen, ausgeliefert. Hinzu treten die von dieser männlichen Öffentlichkeit bestimmten Weiblichkeitsbilder, die alten und neuen Projektionen von Sehnsüchten und Ängsten, für welche Frauen nichts anderes als Spiegelfläche sein dürfen.
Auf diese Weise kommt eine Selektion unter der Kunst von Frauen nach Normen und »Sachzwängen« zustande, die nicht die ihren sind. Deshalb ist es niemals möglich, Frauenkunst einfach als solche zu betrachten, sondern wir müssen sie, erstens, für die offizielle Kunstgeschichte im Rahmen der verstreuten ästhetiktheoretischen Reflexionen von Männern über Frauenkunst betrachten und, zweitens, für die Gegenwart im Rahmen ästhetiktheoretiscber Reflexionen von Frauen über ihre eigene Kunst und die Kunst ihrer Geschlechtsgenossinnen. Gerade dieses neue Aufkommen von Konzepten zu einer eigenen Ästhetik aufseiten einiger Theoretikerinnen zeigt, wie brennend das Problem ist und wie wenig naiv es gelöst werden kann. Zugleich stellt diese erste theoretische Eigenbewertung von Frauenkunst, die andere Beurteilungskriterien als die herrschenden sucht, eine entscheidende Wende dar. Das Problem der Fremdbewertung von Frauenkunst in der offiziellen Kunstgeschichte hat Silvia Bovenschen [23] knapp und eindringlich dargestellt.
Sie zeigt in ihrer Studie über die »imaginierte Weiblichkeit«, daß Frauen in der Kunst- und Literaturgeschichte zwar als Figuren, als Thema reichlich vorkommen, wo sie imaginierte Ideal- oder Angstbilder von Männern darstellen, aber als Künstlerinnen und Literatinnen höchst unterrepräsentiert sind. Die wenigen Frauen, die sich dennoch als Autorinnen behaupten konnten und der kunstgeschichtlichen Nachwelt (mehr oder weniger) bekannt geblieben sind, stellen in Werk und Leben Musterbeispiele für männliche Theorien über Kultur, Kunst und die Rolle der Frau darin dar. Nur die extreme Anpassungsleistung hat es diesen Frauen ermöglicht, als Künstlerinnen und Literatinnen überhaupt ein gewisses Maß an Geltung zu erlangen. Dies macht noch einmal deutlich, wie wenig wir die Formen von Frauenkunst in der patriarchalen Geschichte und die überlieferten Urteile über sie unbesehen hinnehmen können; es gilt hier stets mit ideologiekritischer Vorsicht heranzugehen. Denn einmal sind diese Frauen mit eingebunden in die Spielregeln der »hohen Kunst«, der domestizierten Muse, die keine Schöpfung ihrer Gesellschaftsform ist. Zum andern aber scheinen ihre Werke, trotz extremer Anpassung an die herrschenden Normen, Sprünge und Brüche aufzuweisen, die der Domestikation der Muse widersprechen. Daher so rasch nach den Lobpreisungen der offiziellen Kunstkritik die abwertenden Verdikte.  Die Sphäre der Muse im Ghetto taucht in Silvia Bovenschens Studie leider nicht auf. Hier tradierten Frauen (und Männer) noch ungebrochen vorpatriarchale Gehalte und Formen von Kunst, nur daß diese Traditionen nicht in die offiziellen Kunst- und Literaturgeschichten hineingenommen wurden.

Erst die Romantik deckte solche Strömungen auf, aber leider deckte sie deren gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung mit ihrem verblasenen Begriff vom »Volke« sogleich wieder zu. Einen ersten Wendepunkt in dieser Situation der Fremdbewertung von Frauenkunst stellt die Theorie der »weiblichen Ästhetik« dar, die von den französischen Philosophinnen Julia Kristeva [24] und Luce Irigaray [25] entwickelt worden ist. Dabei geht es diesen Theoretikerinnen nicht um eine neue Beurteilungsweise von Frauenkunst in der Geschichte, sondern darum, auf dem Boden ihrer Überlegungen eine ganz neue »weibliche« Schreibweise zu schaffen. Julia Kristeva hält ihre Formulierungen noch allgemein und nimmt nicht direkt Bezug auf weibliche Ästhetik oder weibliches Schreiben. Aber sie entwickelt von einem ganz anderen Ausgangspunkt her als die formalistische Ästhetiktheorie mit ihren strukturalistischen, semiotischen und linguistischen Apparaten einen ähnlichen Begriff vom ästhetischen Prozeß. Auch sie versteht einen poetischen Text nicht als Ding, sondern als Prozeß, das besagt ihr Begriff »Text als Praxis«. »Praxis« ist ein Prozeß des Subjekts, der ständige subjektive Prozeß der Sinngebung, der in der Sprache stattfindet. Das Subjekt stellt sich nur als sinngebende Praxis dar. Kristeva leitet ihren Praxisbegriff von Hegel und aus der marxistischen Theorie her. Dabei stützt sie sich vor allem auf Mao Tse-tung, welcher der unmittelbaren, subjektiven Erfahrung gegenüber den gesellschaftlichen Bindungen des Subjekts einen gewissen Raum zugestanden hat. Diese unmittelbare Erfahrung beschränkt sich bei Mao allerdings auf die Produktionstätigkeit.
Hier interpretiert Kristeva Maos Erkenntnismodell auf eine andere Weise, indem sie das Subjekt von der Fessel der bloßen Produktionstätigkeit löst und nach seiner Bildung in vielfältigeren praktischen Erkenntnistätigkeiten fragt. Das stellt sie sich so vor: Das Subjekt, das in einer Welt von Widersprüchen lebt, kommt, wenn es aktiv wird, mit einem äußeren Widerspruch in Konflikt. Dabei verwirft es sich, verliert sich, weiß sich nicht mehr. Es arbeitet sich an diesem äußeren Widerspruch ab, der dabei zu einem inneren wird, und überschreitet sich schließlich selbst. Nach vollzogener Erkenntnisarbeit findet es sich anders wieder, etwas Neues ist zu ihm hinzugetreten. Es nimmt nun eine eigene Position gegenüber dem Widerspruch ein, es ist ein neues »hochmütig gefestigtes Ich«, das seine aufgefundene Position gegenüber anderen Widersprüchen behaupten oder infrage stellen muß. Diese Position ist ein Gedanke, eine These, ein Text, kurz: eine neue sprachlich geformte Sinngebung. Denn der Prozeß der Sinngebung des Subjekts, in dem es immer wieder praktisch mit Widersprüchen fertig wird, geschieht in der Sprache. Die Sprachpraxis ist damit die Quelle des Widersprüche bewältigenden und sich selbst darstellenden Subjekts. Die Poesie ist ein solcher Prozeß aus Ganzheiten und Bruchstellen und neuen Ganzheiten, und sie hört damit auf, im herkömmlichen Sinne »Kunst« zu sein. Es ist ihre Funktion, auf die der menschlichen Praxis zugrundeliegende Widersprüchlichkeit hinzuweisen, dem Sinnvergehen eine neue Sinngebung entgegenzusetzen und dessen Reichweite auszuloten. Soweit Kristeva. Wir halten ihren spannenden Gedanken fest, daß Poesie nicht ein Ding ist, sondern ein Prozeß, eine Praxis, in der sich das Subjekt im Handeln spricht. Dadurch verändert es die subjektive und objektive Welt.

Bedauerlich ist nur, daß bei Kristeva nicht klar wird, ob sie mit diesem neuen Begriff vom poetischen Text eine neue Schreibweise einführen möchte oder alle bisherige poetische Praxis in diesem Sinne verstanden wissen will. Hier ist Luce Irigaray klarer und radikaler: Es geht ihr um die Einführung eines neuen, des »weiblichen« Schreibens. Wie es überhaupt erst Irigaray ist, die Kristevas Subjektbegriff auf die Frauenbewegung bezieht. Das Subjekt, das sich im Handeln spricht und damit Texte als seine Widersprüche bewältigende Praxis schafft, ist bei Irigaray - anders als bei Kristeva, die sich unablässig und ermüdend in neutraler Terminologie bewegt eindeutig die Frau. Es ist die Frau, die immer wieder neuen äußeren Widersprüchen ausgesetzt ist, die aus der Gesellschaft auf sie zukommen, die sie zu ihren inneren Widersprüchen machen muß, sich an ihnen abarbeitet, um sie durch neue Sinngebung zu überwinden. Und was dabei entsteht, ist das Frau-sprechen und das Frau-schreiben, die »weibliche« Schreibweise, die sie in ihrer Theorie der »weiblichen Ästhetik« näher zu erfassen und zu charakterisieren sucht. Dabei ist Irigarays Ausgangspunkt wiederum ein ganz anderer als der Kristevas: Sie beginnt mit einer leidenschaftlichen Freud-Kritik, in der sie die Freudsche Weiblichkeitstheorie und ihre Fortsetzung in der symbolischen Psychoanalyse bei Lacan angreift. Sie übernimmt dann aber Freudsche Grundbegriffe, um durch sie die Problematik der Frau an einer ihr fremden Welt zu beschreiben. So formuliert sie im Anschluß an die Konzeption des Unbewußten bei Freud, daß auch für sie das Unbewußte der Ort geschichtlich verdrängter Wünsche und Sehnsüchte sei, aber nicht eines Lustprinzips allgemein, wie Freud (und Marcuse) annahm, sondern des Inhalts des Weiblichen. Es seien die historisch verdrängten Merkmale des ganz Anderen, nämlich der Frau, deren Verdrängung einmal gesellschaftlich geschah und dann im Psychischen immer wiederholt wurde. Dabei sieht Irigaray diese Verdrängung total: Im Psychischen ist die Frau nichts als der Projektionsschirm für die unbewußten Wünsche und Ängste des Mannes, nicht einmal eine eigene Sexualität wird ihr zugesprochen. Im gesellschaftlichen System, dem Patriarchat das Irigaray mit Freud und Lévi-Strauss seit Menschheitsbeginn gegeben sieht - ist ebenfalls der Mann das Subjekt des Handelns, die Frau nur sein Tauschobjekt, ein Zeichen, eine Ware, die zwischen Männern Tauschwert und für einen einzelnen Mann Gebrauchswert hat.

Der Tauschwert einer Frau ist umso höher, je mehr sie den gerade geltenden Projektionen von Weiblichkeit, die Fetischcharakter haben, entspricht. Unter diesen Bedingungen kann die Frau kein Bild, keinen Begriff von sich selbst haben, sie hat nicht einmal eine eigene Sprache. Sie ist in sich selbst nur unbestimmt, nur unendlich anders. Ihr Reden ist widersprüchlich, unhörbar in den schon fertigen Rastern, unfaßbar im gängigen Code, ein wenig verrückt für die Logik der Vernunft, eigentlich stumm im Rahmen des Logozentrismus, den Irigaray im patriarchalen Denken und Sprechen von Anfang an gegeben sieht. Bleibt als Ort für das Weibliche allein das Unbewußte. Dort ist es abgelagert als uralter Inhalt, verdeckt und zum Schweigen gebracht, aber dennoch nicht ganz verschwunden. Gelegentlich bricht es aus: in den Symptomen der Hysterie, der Sprache der Stummheit, die sich nur noch in Ausbrüchen des Unbewußten artikulieren kann. Hysterie ist die Kulturneurose der Frauen in einer fremden Welt. Es fragt sich, wie dieses ganz Andere, das Weibliche, wiederzugewinnen sei: nach Irigaray durch Aufhebung der Mechanismen, die es verdrängten. Sie rät zu zwei Wegen: die Suche der Frauen nach sich selbst, ihrer eigenen Lust, und die Suche der Frauen nach einer eigenen Sprache, in der ihre Lust zum Ausdruck kommt. Diese Sprache muß durch ihren neuentdeckten Körper gehen. Denn auch Hysterie ist Körpersprache: Sie ist hysterische Gestik, die nicht zur Rede paßt, welche die männliche Sprache zu mimen versucht und sie dadurch karikiert. Die Aufhebung der Hysterie würde dagegen zu einer Sprache führen, die sich frei und harmonisch mit der Gestik, der Mimik, dem körperlichen Ausdruck verbindet. Diese weibliche Sprache sei nicht begrifflich, sondern sinnlich, körpergebunden.

Darin gewinne sie ästhetische Dimension, aber nicht als körperabgelöstes Kunstwerk, sondern als die ästhetische Erscheinung eines freien Menschen in seinem Umfeld. Irgendwo nebenbei erwähnt Irigaray, daß diese weibliche Sprache wohl ihre Wurzeln hatte in archaisch-matriarchalen Beziehungen, die heute restlos zerstört seien. Diese müßten erst in ihrem vollen Gehalt wiedergefunden werden. Irigaray kommt meinen eigenen Ideen von der Entwicklung eines neuen Typs von Kunst aus dem Wiederfinden und der Analyse der matriarchalen Gesellschaftsform sehr nahe; wenigstens weist sie einmal in diese Richtung. Genau der matriarchale Kult ist es, wo in den magisch-rituellen Festen die Menschen vollkommen in den symbolischen Vollzug ihrer komplexen Praxis integriert waren, wo Tanz, Musik, Sprache, Gestik in eins verschmolzen, wo Kunst ein Kontinuum zwischen Körper, Sinnlichkeit und kosmisch erfahrener Welt war. Aber leider bleibt es bei ihrem Hinweis, wirkliche Kenntnis hat sie nicht darüber und verfängt sich konsequent in den Geschichtskonstrukten Freuds und der strukturalen Anthropologie (Lévi-Strauss), die dem Patriarchat Ewigkeitsgeltung zuschreiben. Kein Wunder, daß sie unter diesen Voraussetzungen das Weibliche nur als das Verdrängte ausmachen kann, dem kein anderer Ort bleibt als das Unbewußte; kein Wunder, daß ihre Konstruktion von Gesellschaft abstrakt und pessimistisch bleibt. Denn auf der psychischen Ebene herrscht absoluter Phallozentrismus, auf der Ebene des Denkens ist der Logozentrismus total, die soziale Ebene ist durch ewiges Patriarchat gekennzeichnet und die Ökonomie durch eine Tauschwertlogik, welche die Frau zum Objekt und zur Ware macht. Dabei bleiben fast alle diese Begriffe, die sie einführt, ungeklärt, ohne inhaltliche Beschreibung, leer. Das Problem liegt darin, daß sie in psychoanalytischer Terminologie und Denkweise stecken bleibt. Nur durch den Filter des psychoanalytisch deklarierten Unbewußten mit seinen geheimnisvollen Inhalten bekommen wir einen Blick auf archaisch Historisches, das sich bei solcher Betrachtens weise verflüchtigt.

Und wie die historische, so bleibt auch die soziale Welt mit ihren Strukturen weitgehend im Dunkeln. Aber nur eine genaue sozialhistorische Analyse kann die Regeln der matriarchalen Sozialform wiederfinden und die Regeln der patriarchalen Sozialform durchschauen. Und nur auf gleiche Weise nähern wir uns dem ganz anderen Kunsttyp der Matriarchate und der Art, wie Frauen dort sprachen, sangen und tanzten. Die Analyse kann uns auch die Regeln der Transformation klarmachen, nach denen die eine Gesellschafts- und Kunstform in die andere umschlug. Diese Regeln sind die Mechanismen, welche die Frauen in die kulturelle Stummheit drängten. Erst wenn sie bekannt sind, läßt sich erreichen, was Irigaray anstrebt: diese kulturelle Stummheit zu durchbrechen. Außerdem wird die ästhetische Dimension, die Irigaray gerade von den verdinglichten Kunstwerken wieder auf Körper, Psyche, unmittelbare Gestik, spontanen, leibgebundenen Ausdruck, die schöne Erscheinung eines freien Menschen in seinem Umfeld ausgedehnt hatte was ihr zweifellos einen Liquiditätsgrad zurückgibt, den sie unter der Herrschaft des Fiktionalitätsprinzips nicht mehr besaß - diese ästhetische Dimension wird sogleich auf das weibliche Geschlecht wieder eingeengt. Aber eine »weibliche« Ästhetik kann es nicht geben, es sei denn, wir wüßten genau, was »Weiblichkeit« ist. Irigaray umgeht solche Festlegung mit ironischer Selbstaufhebung, doch die Ironie gelingt ihr nicht immer. Dann gerinnt ihr »Weiblichkeit« zur versteckten Definition: sie sei das Fließende, Fluktuierende, Flunkernde, sie sei das Zweifache, Dreifache, Vielfache, sie sei das nicht Bestimmbare, sich immer Entziehende - eine merkwürdige Begriffsbestimmung! Was »Weiblichkeit« ist, läßt sich in der Tat nicht bestimmen, denn es ist von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche zu Epoche verschieden. Dagegen läßt sich aber genau bestimmen, wie Frauen in den verschiedenen Gesellschaften und in den verschiedenen Epochen lebten. Aber das leistet keine noch so schöne Spekulation. Deshalb halte ich die Überlegungen zu einer »weiblichen« Ästhetik (Sprache, Schreibweise, Kunst, Philosophie, usw.) für weniger fruchtbar als die zu einer matriarchalen.

Denn letztere werden nicht im geschichtslosen Raum angestellt, sondern beziehen sich stets auf eine konkrete Gesellschaftsform zurück. Auch unsere Fragen werden dann konkret. Wie lebten Frauen in der von ihnen geschaffenen Gesellschaftsform, wie dachten und sprachen sie? Welche Vorstellung hatten sie von ihrer Lust, ihrer Erotik, welches Bild entwarfen sie von sich selbst und welches vom Mann? Und wie setzten sie ihre komplexe Praxis um in ungeahnte Formen von Ausdruck, von Kunst? Eine matriarchale Ästhetik oder Kunst ist nicht an ein Geschlecht gebunden, sie besitzt jedoch eine zu allen Ästhetiktheorien und Kunstformen andersartige Perspektive. Gesellschaft und Kunst nicht unter der Herrschaft des Mannes, sondern als Schöpfung der Frau. Dies zu Ende zu denken ist viel radikaler als die allzu rasch ausgrenzenden, verkürzenden Weiblichkeits-Utopien.