Teil A

Frühe Einflüsse: Entstehung des Mythos

»Das Ich bleibt im anderen ein verlorenes Stück
seiner selbst.«
(PROKOP 1976, S. 133)

Der soziale Rahmen, in den ein Mädchen hineingeboren wird, hat einen nachhaltigen Einfluß auf sein Lebenskonzept als Frau. Hier werden Grundlagen geschaffen für Gefühle von Glück und Unglück, für Abhängigkeits- oder Autonomiebedürfnisse, für Problematik und Stringenzen im weiblichen Leben. Wünsche, Möglichkeiten und Realisierung von Veränderung haben sich an dieser Basis abzuarbeiten. Neue Einflüsse werden nur erfahrbar auf diesem Hintergrund: »Das Selbst entwickelt sich nicht aus der allmählichen Verschmelzung isolierter Erfahrungen (»Selbstkernen«), sondern ist als Bewußtsein einer kohärenten Einheit schon vom frühesten Stadium an - rudimentär - vorhanden.« (TATSCHMURAT 1980, S. 149) So bauen neue Segmente nicht erst das Selbst auf, sie werden vielmehr in es eingebaut. Auch die von mir befragten Frauen messen den frühen Erfahrungen in ihrem Leben einen großen Einfluß auf ihre aktuelle soziale und psychische Situation bei, und das umso mehr, als je problematischer, widersprüchlicher sie ihre jetzige Realität empfinden.
Jedes Mädchen ist in unserer Kultur konfrontiert mit Normalitätsmustern, in denen

  • Kinder von Frauen erzogen werden, von Müttern, Großmüttern, Kindergärtnerinnen, Grundschullehrerinnen etc.
  • die Geschlechter aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung getrennte Wege im Alltag gehen - der Vater in die berufliche Außenwelt, die Mutter in die familiale Innenwelt,
  • das, was der Vater, der Mann, tut als das wesentliche, das Wertvolle gelernt wird, womit Männer und Jungen die wertvolleren Wesen sind,
  • die Frau, die Mutter, das Weibliche, das eigene Ich des Mädchens infolgedessen an einem sozial induzierten existentiellen Mangel leidet. Jedes Mädchen wird versuchen, diesen Mangel in irgendeiner Form aufzufüllen, zu begleichen. »Die zentrale, häufigste Fehlentwicklung besteht (...) in einer fortdauernden Idealisierung des Vaters Diese Störung ist so häufig, daß sie den Kern des weiblichen Sozialcharakters ausmacht.«
    (PROKOP 1976, S. 141)

Der Vater repräsentiert in seiner Bedeutsamkeit den sozialen Wert des Männlichen. Die Mutter ist die Kehrseite dieser Medaille. Ihre Existenz kann vom Mädchen nur als relativ erlebt, als nicht das Eigentliche sich angeeignet werden, obwohl ihre Bedeutsamkeit gerade in Abgrenzung zum Vater täglich real erfahren wird. Aber da das, was Frauen tun, unwesentlich ist, verliert jede Handlung an Wert, sobald sie von Frauen vollbracht wird. Die Hierarchie zwischen den Geschlechtern induziert eine grundlegende Diskrepanz zwischen Realität, Erfahrung auf der einen, und Bewußtsein und Mythen auf der anderen Seite.

1. Mütter und Töchter

Die soziale Stellung der Frau produziert für jede Mutter eine ambivalente Situation: so sehr die Familie der Bereich ist, in dem sie zu sagen hat, so selbstverständlich wird sie zumindest außerhalb der Familie der hierdurch erlangten partiellen Bedeutsamkeit durch die grundlegende soziale Minderbewertung der Frau und des Weiblichen wieder beraubt.
Nicht untypisch scheint es zu sein, daß Mütter Aufmerksamkeit in der Familie durch Ausdruck von Schwäche und Erzeugen von Mitleid zu erlangen versuchen:

* »meine Mutter war immer so ...[7]schwach autoritär ... sie wirkt immer ein bißchen schwächlich oder tut so, und dadurch kann sie unheimliche Autorität ausüben, das heißt Mitleid irgendwie« (Frau E, 26, Studentin, ledig)
* Mutter »hat eigentlich indirekt immer von uns Rücksicht gefordert und Mitleid ... das hat mich sehr belastet.« (Frau J, 41, Sekretärin, geschieden)

Für die Töchter bleibt damit ein grundlegendes Erlebnis weiblicher Schwäche zurück, ebenso, wie bei Müttern, die ganz in ihrer Mutterrolle aufgehen:

* »Sie ist eben nur Mutter gewesen, so wollte ich ja nie sein.« Sie »tat mir eigentlich immer nur leid, ich hab immer so die Frauenrolle . mehr weggeschoben, Frauen müssen immer nachgeben ... Frauen sind eigentlich bemitleidenswert ... ja, und so erlebte man viele Frauen.« (Frau N, 29, Sekretärin, geschieden)
* Meine Mutter, die »von sich aus ... das so gelebt hat,« was er wollte (Frau H, 28, Dipl.Päd., ledig)

Diese Mütter haben eine eigenständige Existenz, bei aller Weisungsbefugnis innerhalb der Familie, nicht erlebt. Die Mutter von Frau Q (25, Studentin, ledig) hat sich weniger angepaßt als, offenbar resignierend, zurückgezogen:

* »meine Mutter ... fiel ... unheimlich aus, weil die Alkoholikerin war und hat sich also nicht so doll gekümmert.«

Die Töchter dieser Frauen (Frau E, H, J, N, Q) gehörten im Rahmen meiner Befragung zu den Frauen sowohl mit    den negativsten Einstellungen zu ihren Müttern als auch mit auffallenden Identitätsproblemen, insbesondere bezogen auf den Bereich von Abhängigkeit versus Selbständigkeit in Beziehungen.
Interessant ist auch die Gruppe von Frauen, deren Mütter von ihnen als dominierend und selbständig erlebt wurden, und zwar selbständig im Sinne einer bemerkbaren psychischen Unabhängigkeit vom Mann. Diese kann sich zum einen in jahrelanger Berufstätigkeit ausdrücken, mehr aber noch in der Fähigkeit, ihren eigenen Lebensbereich zu gestalten, ohne ihn wertmäßig dem des Mannes unterzuordnen bzw. unterordnen zu lassen. Frau O (26, Krankenschwester, verheiratet) wuchs bei ihrer Großmutter auf, die alleine eine mittelgroße Pension leitete. Frau S (36, Sekretärin, geschieden) wird von den Großeltern und der Mutter erzogen.

* Der Großvater »war ein lieber, guter Mensch, aber ... der hatte in der Familie eigentlich nie sowas zu melden ... meine Oma war eigentlich dominierend bei uns im Haushalt .. meine Mutter war eben sehr selbständig und das sind dann eben so Dinge, die meine Oma wieder nicht haben konnte.« Die Mutter »hat eben einfach immer gemacht und selbst entschieden.«

Ähnlich erlebte Frau K (27, Dipl.Päd., ledig) ihre Mutter, wobei sich Anklänge an die erste Gruppe zeigen:

* »Meine Mutter war immer diejenige, die moralisch recht hatte.« Frau K. erfuhr »daß die Frauen unheimlich stark zusammenhielten ... und die Männer, die schwirrten als Individuen, die alle Scheiße machten, drumrum ... die Männer warn irgendwie nicht so wichtig ... die Frauen lebten alle viel länger, hatten alle viel mehr den Durchblick.«
* Frau T (31, Sachbearbeiterin, ledig): Meine Mutter »hat meinen Vater total in der Hand.«
* Frau P (18, Schülerin, ledig) erklärt die Scheidung ihrer Eltern damit, »daß beide sehr dominierende Persönlichkeiten sind ... und daß es von daher nicht ging ... die lebten nicht nebeneinander her, aber die hatten ihr eigenes Privatleben.«

Bezogen auf von den Frauen selbst geäußerte Identitätsdiffusionen gibt es deutliche Unterschiede dieser Gruppen zu den oben genannten Frauen, insbesondere hinsichtlich ihres gefestigteren Identitätsbewußtseins.
Frau K, O, S und T charakterisieren sich selbst eher als 'männlich' denn als 'weiblich'. Trotz des Vorbildes der Mütter ist es ihnen also offenbar nicht gelungen, deren Stärke und Selbständigkeit mit Möglichkeiten von Frauen und für Weiblichkeit in Verbindung zu bringen. Bei Frau T und auch bei Frau L (26, Lehrerin, ledig), die sich ebenfalls als eher 'männlich' bezeichnet, wird dies sehr deutlich: ihr Vorbild ist immer der Vater gewesen.
Anhand einiger Beispiele familialer Vorgaben deutet sich an, welchen sozial induzierten Arabivalenzen - zwischen personaler Werthaftigkeit und sozialer Entwertung - Frauen, Mütter und Töchter, in unserer Kultur ausgesetzt sind. Aufgrund widersprüchlicher Rollenanforderungen und Bewußtseinsprozesse kann die je spezifische Aufarbeitung dieser Ambivalenzen - in welcher Phase des Lebens auch immer - als differenzierendes Kriterium weiblichen Lebens angenommen werden und in dieser Studie untersucht werden. Dies beinhaltet den Blick auf die spezifische Art der Bewältigung existentieller Ich-Leerräume entweder durch Projektion des werthaften Männlichen auf den Mann, durch seine partielle oder vollständige Integration oder durch Entmythologisierung.

2. Wünsche, Versagungen, Einbrüche

»Damit gerät sie zur Wirklichkeit in ein eigenartiges Verhältnis. Sie kann ihre Träume nicht aufgeben und in Bescheidenheit und Alltäglichkeit integrieren, aber sie kann auch nicht handeln, ihre Träume entmystifizieren und die Wirklichkeit verändern: (...) Mme Bovary stirbt an dem Punkt, an dem sie sich hätte abfinden müssen. (...) Die Figur der Emma Bovary verkörpert den Versuch, die Widersprüche und Ambivalenzen der Weiblichkeit zu 'leben'«. (PROKOP 1976, S. 186) Aber man kann die Widersprüche der Weiblichkeit nicht in Bewußtheit leben. Dem Unglück in ihrer Zerrissenheit befangener Frauen begegnen wir an den verschiedensten Fluchtpunkten: in der Psychiatrie und den hauptsächlich von Frauen in Anspruch genommenen Beratungsstellen ebenso wie in der Einsamkeit des sogenannten Hausfrauensyndroms. Die Widersprüche verlangen nach Auflösung zu einer Richtung hin, entweder als Selbstfindung oder Selbstaufgabe, um in einen sozial akzeptierten, normalen Alltag zu führen. Der zweite Weg ist ein breiter, bequemer, weil vorgezeichneter, im Gegensatz zum ersten mit seinen vielen Hürden und Umwegen. In jedem Fall ist der existentielle soziale Mangel, die soziale Minderbewertung des Weiblichen auf der psychischen Ebene in irgendeiner Form zu beseitigen, meist durch Eliminierung aus dem Bewußtsein durch Verleugnung realer Erfahrungen.
Die meisten der von mir befragten Frauen sind nach eigenen Aussagen wie ein Junge aufgewachsen, oft außer Haus, wild, selbständig, kreativ. Allen hat dies großen Spaß gemacht. Einige (Frau L, P, S, T) erwähnen jedoch gleichzeitig, sie wären lieber ein Junge gewesen. Hier zeigen sich erste Diskrepanzen: ihre gelebte und positiv erlebte Selbstentfaltung scheint nicht mit der Bewertung dieser Aktivitäten als weibliche Möglichkeiten in Übereinstimmung gewesen zu sein. Frau P (18, Schülerin, ledig) auf die Frage, ob sie lieber ein Junge gewesen wäre:

* »immer, immer, weil die Jungen einfach mehr konnten als die Mädel.« Aber: Ich war »ein Wildfang« ... hab mit Pferden gespielt«.
* Ähnliches bei Frau T (31, Sachbearbeiterin, ledig): »ich war oft gewagter als die Jungs sogar, aber irgendwie merkte ich, daß da noch Vorbehalte da waren, weil ich eben ein Mädchen war.«

Äußerlich war auch sie, nach ihrer Aussage, nicht von einem Jungen zu unterscheiden.
Real bestand offenbar kein Unterschied zwischen diesen Mädchen und den Jungen. Es sind die Bilder über Jungen und Mädchen, die hier auseinanderklaffen. Sie sind derartig wirkungsvoll, daß sie das reale Erleben überlagern.
Auch Frau S (36, Sekretärin, geschieden).ergeht es ähnlich. Sie hat sich im Internat in ein Mädchen verliebt.

* Deshalb »wollt ich da immer ein Junge sein, das ist mir noch sehr bewußt ... weil ich mit der gerne schlafen wollte, zum Beispiel . das ging ja nun nicht ... aber auch so: Jungen durften das und Mädchen machten das nicht.«

Auch Frau S durfte, wie sie vorher schilderte, alles wozu sie Lust hatte, sie machte es zumindest.
Anders bei Frau K, M und R.

* Frau M (34, Kolleg, ledig) verneint meine Frage: »ich hab einfach so, wenn mir irgendwas Spaß macht, dann hab ich das getan.«
* Frau K (26, Dipl.Päd., ledig): »nee« nie . weil ich eben auch als Frau ... da konnt ich Trecker fahren, da konnt ich reiten ...«
* Sehr interessant ist die Antwort von Frau R (32, Sekretärin, geschieden): »ein Junge sein wollte? ... so direkt eigentlich nicht.«

Bei diesen drei Frauen ist die Interpretation der Realität mit der Realität selbst offenbar kongruent. Für sie stand nicht ein Bild von Weiblichkeit gegen das, was sie taten. Sowohl bezogen auf ihr Selbstverständnis als auch auf ihre Wirkung auf mich erscheinen sie geradliniger und selbstbestimmter, wenig konfliktbeladen. Dies unterstreicht Prokops Feststellung »Konflikte entstehen durch Widersprüche zwischen der Realität und den Interpretationen.« (PROKOP 1976, S. 98)
Einige der Frauen, die wie ein Junge aufgewachsen sind, erlebten massive Einbrüche ungefähr zur Zeit der sogenannten Pubertät, bei Frau J und L offenbar wie von selbst. Bei Frau N und P dagegen durch sichtbare    Einflüsse:

* Frau J (41, Sekretärin, geschieden): »... hab ich mich eigentlich total verändert zu dem     Punkt, wo dann ... meine Periode einsetzte     da wurd ich echt anders.«
* Frau L (26, Studienrätin, ledig), auch bezogen auf die Pubertät: »ich bin sehr brav geworden«

Frau N (29, Sekretärin, geschieden) hat ab diesem Zeitpunkt unter den Eltern und Lehrern zu leiden, die die Normalität der Weiblichkeit endlich etablieren wollen:

»das wurde nachher ganz schön unterdrückt, erstmal kriegten wir dann viel Prügel ... dann ham wir auch genug Druck bekommen von zuhause  ... und in der Schule ... mit allen Mitteln wurde man unterdrückt.«

Frau P fügt sich mit 13 Jahren freiwillig in die Wünsche ihres festen Freundes, der sie mit einer ersten Frisur, eleganten Kleidern, Schmuck und Schminke zum Essen ausführt. Auf meine erstaunte Frage, ob sie sich hierdurch nicht ihrer früheren Freiheiten beraubt fühlte, antwortete sie:   

 »gar nicht! ... ja, ich könnt wohl sagen, die Art und Weise, wie er mich dahin gebracht hat, war sehr einfühlsam und nicht zu schnell, sondern kam langsam aber sicher, ... ließ mir völlig freie Hand .. war doch sehr gewinnbringend für mich.«

Diese Einbrüche in der Zeit der Pubertät scheinen das Auftreten von Persönlichkeitsspaltungen zu begünstigen, die offensichtlich nur aufgrund ihrer Normalität und Häufigkeit nicht als bedrohlich erfahren werden. Während sie individuell-psychisch zwar ein hohes Konfliktpotential beinhalten, wirkt diese normale weibliche Schizophrenie sozial gerade stabilisierend. Frau J, N und P übernahmen das noch immer gängige und gangbare Angebot an jede Frau, ihre eigenen Wünsche und Möglichkeiten in bezug auf Selbstbestimmung, Autonomie, Stärke, Konsequenz etc. auf den Mann - den erwünschten Partner - zu projezieren. »Die eigene Veränderung wird durch Identifikation mit einem Objekt ersetzt, das die begehrten Eigenschaften besitzt.« (PROKOP 1976, S. 132) Diese Frauen gehen damit letztendlich bei den Auflösungsversuchen bedrückender Ambivalenzen einen ähnlichen Weg, wie Frau A, C, D, E und Q, die sich schon immer als 'brav' erinnern können. Der Bruch in der Persönlichkeit dieser Frauen scheint noch früher und damit außerhalb erzählbarer Erinnerung zu liegen. Gerade Frau A und E sind auch heute noch durch starke Autonomie-Abhängigkeits-Konflikte zerrissen. Dasselbe galt bis vor wenigen Jahren im extremsten Maße für Frau H (28, Dipl.Päd., ledig), bis sie ihre Lösung fand, nämlich 'lesbisch' zu werden, was für sie eine Befreiung war (»ich hatte das Gefühl, ich bin irgendwo angekommen«). Nun versucht sie, die Erlebnisweisen, die die anderen Frauen auf Männer projezieren, neben ihren weiblichen Anteilen in ihre eigene Persönlichkeit zu integrieren. Dies führt zu einer Abrundung und Stabilisierung ihres Selbst-Gefühls. Denselben Weg, jedoch weitaus geradliniger gingen Frau K, M, F und sogar Frau R, die für einige Zeit verheiratet war. Bei ihr wird deutlich, wie gefestigt sie schon vor ihrer Ehe gewesen sein muß. Bis auf äußerliche Veränderungen nahm die Ehe keinen grundlegenden Einfluß auf sie. Und mit ihrer Scheidung hat sie

»irgendwann diese ganzen Sachen verschenkt« und »alles neu gekauft, so gekauft, wie ich das haben wollte, damit basta, fertig.« Sie hat das Damenhafte »total abgestreift«.

Ähnlich wenig gespalten erschienen mir aufgrund ihrer Selbstdarstellung nur noch Frau G, O und F - alle >heterosexuell<. Frau F ist ledig (57, Telefonistin)

»ich weiß nicht, ob ich vielleicht gar nicht so geeignet bin zum Heiraten.«

An anderer Stelle deutet sie an, sie sei für eine Ehe wohl auch zu selbständig.
Frau G und O führen Beziehungen mit ihren Ehepartnern, die ich, gemessen an dem mir allgemein Bekannten, als außerordentlich gleichberechtigt und autonom einschätze. Als Sonderfälle würde ich Frau B und Frau L bezeichnen. Frau B hat die Enttäuschung über ihre Mann-Losigkeit (»das ist schlimm für mich«, »ich bedaure das Alleinsein«) in ausgeprägter Religiosität kompensiert. Allerdings ist sie sich aufgrund ihrer Ansprüche an Männern selbst darüber im klaren, daß es nicht leicht sein dürfte, einen entsprechenden Mann zu finden

»jetzt suchen Sie so einen Mann!!« »ich glaube nicht, daß es ihn gibt«

Für Frau L, eine sehr selbständige, reflektierende Frau, ist der Bereich ihrer Sexualität höchst problematisch. Hier, und nur hier, sieht sie ihre Selbstbestinmung gefährdet. Dies wurde für sie inzwischen derart belastend, daß sie erwägt, eine Therapie anzufangen.
In diesem kurzen Abriß erhalten wir erste Einblicke in Ansätze unterschiedlicher, typischer Aneignungsformen von Realität, die geprägt sind durch das Bemühen um AuffÜllung von Leerräumen im weiblichen Ich. Zu finden sind schon früh die unterscheidbare Ausrichtung auf Projektion oder Integration der Möglichkeiten und Fähigkeiten von Autonomie, Stärke, Kreativität etc.

3. Mädchenfreundschaften und Jungenbeziehungen

3.1. Jungen und Mädchen: Fremdbilder und Selbstbilder

Die geschlechtsspezifische Erziehung zeigt schon früh ihre Folgen, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Jungen und Mädchen: »bis zum Schulalter haben Jungen und Mädchen einen intensiven Spielkontakt« »angefangen mit dem siebten Lebensjahr verringern sich die informellen Beziehungen zwischen ihnen allmählich, die Jungen und Mädchen isolieren sich voneinander, wobei die Isolierung um das zehnte bis zwölfte Lebensjahr ihren Höhepunkt erreicht.« (KON 1979, S. 152) Viele Mädchen scheinen zu diesem Zeitpunkt durchaus Interesse an Jungen und an den Dingen, die sie machen, zu haben. Aber nur die rauhesten und jungenhaftesten Mädchen werden in den Jungencliquen zugelassen. Die Trennung wird also von Seiten der Jungen eingeleitet. Savier/Wildt über die »Auseinanderentwicklung ihrer Interessen»: »Dabei sind die Jungen tonangebend. Sie wollen nur noch mit Jungen spielen,    Mädchen wehren sich anfangs noch gegen die Zurückweisung.« (SAVIER/WILDT 1978, S. 37) Pleck/Sawyer (1974) erklären diese auch im späteren Alter größere Bedeutung der peer-group für Jungen aus der mehr abstrakten Art, ihre Geschlechtsrolle zu lernen: während die Mädchen immer am direkt-erfahrbaren Vorbild der gleichgeschlechtlichen Mutter als primärer Erziehungsperson orientiert sind und so über eine unmittelbare Beziehung ihre Rolle lernen, ist der direkte Bezug des Jungen zum Vater normalerweise abgeschnitten. Und da Erziehung immer noch in hohem Grade auf die Aneignung der jeweiligen Geschlechtsrolle ausgerichtet ist - was keine Notwendigkeit ist die Mutter also für den Jungen letztendlich ein Negativbild bietet, sucht er das Erlernen und Erfahren von Männlichkeit über den Zusammenschluß mit seinen Geschlechtsgenossen zu erreichen. Diese Art der Aneignung geht, wie Pleck/Saywer nachweisen, notwendig äußerlicher und weniger individuell vonstatten als in den konkreten gleichgeschlechtlichen Bezügen der Mädchen.
Inhalt der peer-group-Abschottung der Jungen ist konsequenterweise fast ausschließlich die ständige Verbündung gegen die Mädchen und ihre Beschäftigungen. »From preschool up to adolescence, sex homogenity is a prime element in friendships and clique memberships.« (CAMPBELL 1964, S. 305) Der Aspekt des Geschlechts dominiert von nun an, wie Campbell nachweist, die Ausformung jeglicher Beziehungen. Alter und Interessen sind nur noch zweitrangig, sie wurden längst durch Geschlechtsspezifika eingeholt. Jungen grenzen sich solidarisch von dem minderbewerteten Weiblichen ab; Mädchen kämpfen um die Anerkennung der Jungen, sei es, als 'andere Jungen', oder als Mädchen im Sich-Abfinden mit der eigenen Rolle. In jedem Fall spüren die Mädchen, daß die Jungen etwas Besseres sind. »Die Mädchen verspotten zwar die Jungen mit ihren Liedern. Sie versuchen, sie herabzusetzen. Aber es scheint, daß die Mädchen eigentlich die Jungen hoch einschätzen. Ja, sie würden sich sogar geschmeichelt fühlen, wenn sie von ihnen als Partner behandelt würden (...). Die bewegungsintensiven Jungenspiele sind für die Mädchen attraktiv. Jedoch mit zunehmendem Alter werden die Mädchen dabei weniger von den Jungen geduldet. Sie lernen dann, ihren Wunsch nach Teilnahme zu unterdrücken. Die Konsequenz kann für Mädchen nur bedeuten, sich ebenso eng abzuschließen von den Jungen, wie es umgekehrt geschieht.« (SIEGEL/CHRISTOPH 1979) Aus diesen Zusammenschlüssen entstehen schon im frühen Alter nahe zwischenmenschliche Beziehungen. Gerade aufgrund des oben beschriebenen engen Kontakts mit der Mutter sind Mädchen in weitaus höherem Maße in der Lage, intensive Freundschaften einzugehen. Die Mädchen sind mehr auf ihr Gegenüber ausgerichtet als auf eine Sache, wie dies bei den Jungen der Fall ist. Die Bindung der Jungen aneinander ist viel geringer, aus den oben beschriebenen Gründen viel äußerlicher.[8] Und dennoch: die Freundschaften der Jungen werden wesentlich aufmerksamer registriert als die der Mädchen. Es gibt »landläufig mehr Vorstellungen von Jungenfreundschaften (...) - da sind die Freunde, die durch dick und dünn gehen: Es scheint in unserem Bewußtsein eine merkwürdige Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse vorzuliegen, wenn die Neigung der Mädchen zu innigen Freundschaften gar nicht wahrgenommen, von den kaum vorhandenen Jungen-Freundschaften aber in einem verherrlichenden Ton geredet wird. Wahrscheinlich hat unser Alltagsverständnis über Jungenfreundschaften darin seinen Grund, daß sachlich gerichtetes Tun mehr gilt als Emotionalität und deswegen eher wahrgenommen wird. Die Freundschaft zwischen Mädchen, die mehr das Bezogensein auf Personen zum Inhalt hat, wird als wertlos angesehen.« (SIEGEL/ CHRISTOPH 1979)

3.2. Freundinnen

Wenn wir über Freundschaften von Mädchen in der Pubertät sprechen, so sind dies zunächst ihre Mädchenfreundschaften.

»mit Mädchen, das war immer selbstverständlicher, erstens mal war das ja so gewachsener von unten her, von früher her noch, wir kannten uns ja, seit wir 10 Jahre alt waren.«
(Frau G, 33, Hausfrau, verheiratet)

14 der von mir interviewten Frauen hatten eine, manchmal auch mehrere, oft langjährige feste Freundschaften zu anderen Mädchen. Frau J bedauert, nie diese Erfahrung gemacht zu haben und nur Frau P bringt zum Ausdruck, daß sie immer mit Jungen besser zurechtkam. Frau C, D und F erzählen von Spielen mit Mädchen, nicht aber von einer festen Freundin in dieser Zeit. Ist die Bedeutung dieser Mädchenfreundschaften im Leben nahezu jeder Frau nicht hoch genug einzuschätzen - in der Forschung suchen wir fast vergebens nach ihrer Aufarbeitung. Neben Kons in diesem Zusammenhang wenig ergiebigen Anmerkungen zum peer-group-Verhalten von Jungen und Mädchen und ihren sich verändernden Erwartungen an Freundschaften, beschäftigen sich nur Savier/Wildt tiefergehend und kritisch mit der sozialen und psychischen Situation der Mädchen dieses Alters.
Im Rahmen dieser Studie interessieren Entstehung, Verlauf, Bedeutung, Befriedigung und Ende von und in Mädchenfreundschaf.ten, ebenso wie der oft parallel verlaufende übergang zu Beziehungen der Mädchen mit Jungen und deren Rückwirkung auf die Freundschaften zwischen den Mädchen.
Schon früh zeigen sich Charakteristika, wie einzelne Mädchen mit der von den Jungen eingeleiteten peer-group-Abschottung umgehen.
Das Typische scheint eine vergleichbare Cliquenbildung der Mädchen zu sein. Neben diesen Cliquen bestehen dann meist zusätzlich feste Beziehungen zwischen Mädchen. Bei den Frauen, die sich mit Blick auf früher selbst als eher 'brav' und mädchenhaft kennzeichnen, wirkt sich diese frühe Persönlichkeitsstrukturierung in ganz spezifischer Weise auch auf ihre Beziehungen zu anderen Mädchen aus. Sie treffen sich zum Reden oder Spazierengehen, die Gespräche dr ehen sich oft um Äußerlichkeiten, um Jungen, später um Sexualität. Auch Konkurrenzerfahrungen sind nicht selten.

* Frau A (28, Dipl.Päd., ledig): »und danach« nach dem 13./14. Lebensjahr, - »kam dann sone Phase von so einer intensiven, das war, glaub ich schon, so ne ganz tolle Zeit, von soner intensiven Vierer-Frauenclique ... wir waren sehr viel zusammen ... das war, glaub ich, auch ganz toll, obwohl damals so Gespräche, wenn ich mir das heute überlege, es ging viel um Männer, so in der Tanzstundenzeit, wir ham Sonntage damit verbracht, die einzelnen Männer durchzuhecheln ... so mit 15, 16 war auch Sexualität ein großes Thema ... Kleidung wurde damals sehr groß geschrieben, es gab sehr weibliche Ausrichtungen in unseren Interessen.«
* Frau E (26, Studentin, ledig): »man war irgendwie schon sehr auf Beziehungen ausgerichtet.« Auch sie hatte eine >feste< Freundin.
* Frau Q (26, Studentin, ledig): »die Frauen erschienen mir so wichtig, die was über Männer erzählen konnten.«

Hier zeigen sich somit schon Folgen in der spezifischen    Verarbeitung der Ich-Leerräume. Sie verlangen nach Ergänzungen, die zunächst durch Phantasien befriedigt werden. Die Unentbehrlichkeit einer Freundin, und zwar einer Freundin, die ihren Mangel in ähnlicher Weise auffüllt, erwächst damit aus einer ganz spezifischen Bedürfnisstruktur. Die elementaren Wünsche dieser Mädchen sind auf Verständnis, Nachempfinden, Auffangen genau dieser psychischen Situation ausgerichtet. Die Aussage Kons »Mit zunehmendem Alter kommt dem Motiv des Verständnisses eine immer größere Bedeutung zu (...). Bei den Mädchen ist dieses Motiv im allgemeinen stärker ausgeprägt.« (KON 1979, S. 121) beleuchtet nur einen Teil der Realität. Die größere Nähe und psychische Relevanz der Freundschaften zwischen Mädchen konnten wir aus der typisch weiblichen, beziehungsorientierten Sozialisation verstehen. Diese Faktoren sind zutreffend als allgemeine Abgrenzung gegenüber den Jungen. Doch scheint es zudem Unterschiede sowohl zwischen den Mädchenfreundschaften verschiedener Frauen als auch in der Entwicklung der Mädchenfreundschaften jeder einzelnen Frau zu geben. Es handelt sich offenbar nicht nur um individuelle, sondern auch um strukturtypische Verschiedenheiten, da die Freundschaften zwischen Mädchen an differierende Arten in der Beseitigung des Mangels angebunden sind.
Die daraus resultierenden Unterschiede in Inhalt und Funktion dieser Freundschaften werden deutlich, wenn    den oben geschriebenen Frauen andere Frauen/Mädchen gegenübergestellt werden, die sich selbst als wild und jungenhaft bezeichnen. Ihre Bedürfnisse gehen in eine Richtung, die normalerweise eher Jungen zugeschrieben wird, die aber dennoch, weil es elementarmenschliche Wünsche sind, von beiden Geschlechtern erlebt und mit beiden Geschlechtern zusammen ausgestaltet werden können. Auch durch die beschriebene frühe Homo-Sozialisierung der Geschlechter verändern sich    diese Bedürfnisse bei vielen Mädchen nicht. Da die Jungen jedoch nun als problemlos zugängliche Kameraden ausfallen, suchen sich einige der Mädchen andere Mädchen als Freundinnen, die ebenso wild, kreativ und abenteuerlustig wie die Jungen und sie selbst sind. Es ist wieder ein Zusammenschluß unter Gleichen, von Mädchen mit kongtuenten Vorstellungen über Möglichkeiten von Selbstverwirklichung.

* Frau F (57, Telefonistin, ledig) war ein »Wildfang«, ist »gern auf Bäume geklettert« »also da     hab ich eigentlich überwiegend nur mit Mädchen     gespielt ... wir warn immer irgenwie sone gewisse Clique, ... dick befreundet mit einer und dann mal wieder mit ner anderen«.
* Frau G (33, Hausfrau, verheiratet): »da ham wir schon mal über Jungen gesprochen, aber das war alles so, och nee, interessierte uns eigentlich nicht weiter.«
* Frau M (34, Kolleg, ledig) hat mit ihrer Freundin zusammen »Fußball gespielt ... Sachen zusammen gebaut ... Fahrrad gefahren«.
* Frau N (29, Sekretärin, geschieden): »die F z.B. war auch son halber Junge, mit der war ich sehr eng befreundet ... die war auch son richtig wilder Bursche; ach, was wir alles da     gemacht haben, wir sind da stundenlang durch die Wälder gestreift«.

Diese Frauen gewannen das Gefühl von Selbstentfaltung aus anderen Befriedigungen als die oben beschriebene Gruppe. Also waren auch die Inhalte ihrer Mädchenfreundschaften andere. Im Gegensatz zu den Frauen der obigen Gruppe erleben sie massive Einbrüche mit daraus resultierender Ausrichtung auf den Jungen bzw. Mann - wenn überhaupt - erst später. So Frau N[9]. Ob ihnen dies widerfährt oder nicht, nimmt in jedem Fall Einfluß auf ihre Freundschaften zu anderen Mädchen.
Als sehr interessant bleiben noch Frau S und Frau T zu erwähnen. Beide äußern sich ähnlich abwertend über die Beschäftigungen der anderen Mädchen. Frau S (36, Sekretärin, geschieden) hat

* »immer mit Jungs gespielt, und wenn Mädchen mit Puppen spielten, dann fand ich das furchtbar doof und langweilig ... da passierte nichts»
* Frau T (31, Sachbearbeiterin, ledig) auf die Frage, mit wem sie gespielt hat: »meistens Jungs .. Mädchen auch, sofern sie das mitgemacht haben ... ich habs mir nicht ausgesucht, weils Jungs waren, sondern weil ich wußte, daß Jungen bestimmte Sachen taten ... abenteuerliche Dinge .. von morgens bis abends mit nem Puppenwagen um die Blöcke zu fahren, das war nicht so mein Geschmack...«

Beide haben bis zur Pubertät fast nur mit Jungen gespielt, die Spiele der Jungen, die sich jedoch in keiner Form von den Spielen der >wilden< Mädchen miteinander unterschieden. Doch dann kam das, was ich als Rolleneinbruch bei den Jungen bezeichnen möchte:

»das ging eigentlich von den Jungs aus, daß ich so merkte ... daß die eben was von mir wollten, in sexueller Hinsicht ... ich kannte das gar nicht« (Frau T)

Und später, zurückkommend auf diese Veränderung der Jungen, die vorher mit ihr

»durch dick und dünn« gegangen waren: »das hörte ja eben bei den Jungs bei diesem bestimmten Alter auf, weil dann eben bei denen die Sexualität vorkam und bei den Mädchen merkte ich halt, da kann ich das weiterführen.«

Frau T stellt sich also an diesem Punkt nicht auf die veränderten Forderungen der Jungen ein, wie dies bis dahin oder spätestens jetzt viele Mädchen getan haben bzw. tun. Sie wendet sich vielmehr einem Mädchen zu, dem es ähnlich geht wie ihr

»die anders war, als die üblichen Mädchen«.

Hier begegnet sie - und Ähnliches erlebte auch Frau S (sie allerdings verliebt sich jetzt zunehmend in diese Mädchen) - Mädchen wie Frau F, G, L, O, M und R in ihrer spezifischen Form, Mädchenfreundschaften zu erleben und zu leben, mit dem primären Inhalt weiterer Entfaltung und weniger ausgerichtet auf das Äußere und die Sexualität, d.h., Jungen zu gefallen, also mit Blick und Sehnsucht gerichtet auf Jungen und Männer. Diese Mädchen leben mehr als daß sie warten. So 'leben' sie auch mit ihren Freundinnen, während die anderen Mädchen gemeinsam warten. »Statt klar umrissener Pläne ein Phantasiereich vager und wieder wechselnder Träume; nicht Entwicklung zu eigener Identität, sondern Offenheit und Diffusität, Bereitsein für den Mann, Anpassung an ihn, der das 'Schicksal' ist.« (BECK-GERNSHEIM 1980, S. 114)
Während für die aktiven, ich-orientierten Mädchen gerade auch ihre Mädchenfreundschaften zur zunehmenden Selbstentfaltung und Ich-Entdeckung, zum Erwachsenwerden führen, sind diese intensiven Freundschaften der >wartenden< Mädchen »nicht eigentlich Erwachsenwerden - sondern viel eher Hinauszögerung und Verlängerung der Kindheit« (BECK-GERNSHEIM 1980, S. 114).
Genau diese Zwischenstufe hätte sich Frau J (41, Sekretärin, geschieden), eine in der Pubertät gebrochene Frau, von einer Freundin, die sie zu der Zeit nicht hatte, erwartet:

»im nachhinein hab ich das manchmal bedauert, weil mein Kindsein ging dann eigentlich ohne diesen Zwischengang über... in sone Beziehung zu nem Jungen, in ne feste Beziehung.«

Hier wird deutlich, welche unterschiedlichen Funktionen für die einzelnen Mädchen eine Mädchenfreundschaft haben kann: unabdingbares psychisches Sprungbrett in die Arme des erwarteten Mannes oder Selbstzweck, geschützter Raum für die Selbstentfaltung zweier Mädchen.
Trotz der unübersehbaren Bedeutung ihrer Freundschaft mit Mädchen, sind einige Mädchen/Frauen offenbar nicht in der Lage, deren Eigenwert, ihre unmittelbare Bedeutung wahrzunehmen. So wie sie sie später zugunsten eines Jungen oder Mannes hintanstellen, geschieht dies bei einigen im vorab schon in der Phantasie: Frau A im Anschluß an die Schilderung einer sehr intensiven Mädchenfreundschaft:

* »also, die Bedeutung ist ne große gewesen, obwohl die für mich in meinem Kopf . damals wahrscheinlich noch viel weniger, nicht Äquivalent für sone Jungenbeziehung war, da hatte ich in meinem Kopf noch ganz andere Sachen, auch an Phantasie so, dann Glück mit einem Manne zu finden.«
* Ähnliches schildert Frau H. Sie hat sich mit 13 »unheimlich verliebt in eine von den etwas älteren Mädchen ... da hab ich immer gedacht, das Gefühl ist ziemlich schön, und das werd ich wahrscheinlich mal eines Tages erleben, wenn dieser besagte Mann auftaucht«.

Dies ist die konsequente Folge der erlernten Wartehaltung. Die Erwartung der Ich-Abrundung durch den Mann kann bei solchen Mädchen jegliche noch so tiefen Erlebnisse mit anderen Mädchen aus dem Bewußtsein verdrängen und zur Unbedeutsamkeit verdammen. Diese Kluft zwischen der Realität und ihrer Verarbeitung begegnete uns schon in der augenscheinlichen Unmöglichkeit für einige Frauen, die Selbständigkeit ihrer Mütter mit weiblichem Leben in Verbindung zu bringen, und in ähnlicher Weise bei den Frauen, die lieber ein Junge gewesen wären und sich praktisch so entfaltet haben, dies jedoch nicht mit den Bildern von Mädchen in Beziehung bringen konnten.
Einige Frauen werden jedoch nicht oder kaum Opfer dieser Diskrepanzbildung Erfahrung versus Erwartung. Es waren dies schon früh Frau G, K, M, O, R, S, T und später auch Frau H, also alle der von mir interviewten später >lesbischen< und zudem drei der >heterosexuellen< Frauen.
Um zu überprüfen, ob das von mir gefundene Kriterium zum tieferen Verständnis weiblichen Lebens, nämlich die Entwirrung von Ambivalenzen und AufFüllung von Ich-Leerräumen durch Integration bzw. durch Projektion des werthaften Männlichen auf den Mann, haltbar ist, gehe ich zunächst den üblichen Differenzierungskriterien weiblichen Lebens - Heterosexualität versus Homosexualität nach und prüfe, inwieweit sie Gültigkeit beanspruchen können.
Diese Fragen werfen sich im Rahmen der Analyse von Mädchenfreudschaften auf, da gängigerweise davon ausgegangen wird, daß in diesem Alter erste Unterschiede zwischen >lesbischen< und >heterosexuellen< Frauen offenbar werden, was gemeinhin am differierenden sexuellen Interesse festgemacht wird.

3.3. 'Normalität' und 'Lesbischsein': Was ist ein homosexuelles coming out?

»Im Durchschnitt ist den von uns befragten Frauen mit 14 Jahren zum ersten Mal ihr 'besonderes Interesse' für eine Frau aufgefallen, (...) zunächst überwiegend affektiv, nicht eigentlich sexuell und äußert sich als Hingezogenfühlen, Zuneigung, Wunsch nach Freundschaft, Wunsch nach Zärtlichkeit und körperlicher Nähe. Die affektionalen Bedürfnisse stehen so sehr im Vordergrund, daß die im engeren Sinne sexuellen Wünsche zunächst nicht einmal wahrgenommen werden und sich Lesbierinnen in diesem Entwicklungsabschnitt ihrer Homosexualität noch keineswegs bewußt werden. Hinzu kommt daß sie fast alle an den gleichen sozialen Verhaltensweisen wie die heterosexuellen Mädchen teilnehmen (...), was die Ahnungslosigkeit über ihre sexuelle Orientierung noch weiter begünstigt.« (SCHÄFER 1975, S. 300) In Schäfers Aussagen scheinen grundlegende Probleme im Umgang mit dem Phänomen >Homosexualität< durch. Diese Problematik zeigt sich ebenfalls in meinen Interviews.
Ähnlich wie ein Großteil älterer Forschungen (KINSEY 1968, SAGHIR/ROBINS 1973 etc.) definiert auch Schäfer Lesbischsein durch den Geschlechtsverkehr und durch sexuelle Gefühle und Wünsche in Bezug auf Frauen (SCHÄFER 1973, S. 7). Auch feministische Forscherinnen schließen sich notgedrungen, weil in irgendeiner Form der Forschungsgegenstand auszuweisen sei - dieser Definition an.
Ich möchte dieser Not nicht nachgeben und statt i dessen den Forschungsgegenstand als solchen neu betrachten. Es stellt sich die Frage, welche Art von Erlebnissen eine Frau veranlassen, sich irgendwann einmal als >lesbisch< oder >heterosexuell< zu bezeichnen und zu erleben?
Bleiben wir zunächst bei Schäfers offenbar notwendig diffusem Kriterium des »besonderen Interesses« für eine Frau: in den obigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, daß fast alle Mädchen ein besonderes Interesse an einem oder mehreren anderen Mädchen hatten. Diesem Interesse liegt ein Bedürfnis nach Nähe, Partnerschaft, Verständnis zugrunde, das aus der vorangegangenen, spezifisch weiblichen Erziehung zu erklären ist. Die individuelle Funktion und Formgebung der Mädchenfreundschaften sind eng an je spezifische Strukturierungen der beteiligten Mädchen gebunden. Insofern ist das 'besondere Interesse' der Frau T an einem Mädchen ein anderes als das 'besondere Interesse' der Frau E. Auch nach meinen Analysen werden also Unterschiede,zwischen den einzelnen Frauen bzw. Mädchen deutlich. Aber sind dies die Unterschiede, die S. Schäfer in Hinblick auf 'Hetersexualität' und 'Homosexualität' meint? Das heißt: sind die aufgrund meiner Analyse tendenziell unterscheidbaren Strukturierungen identisch mit Schäfers Kriterium des unterscheidbaren »sexuellen Interesses»? Wir stehen hier vor einem doppelten Dilemma: Schäfer selbst, kann in der Zeit zwischen 13 und 17 bei den Mädchen kein speziell sexuell gefärbtes Interesse ausmachen. Lesbischsein wird also offenbar auch nach ihren Erkenntnissen nicht ausgelöst durch sexuelles Interesse an einer Frau. Diesen Widerspruch meint sie zu beseitigen, indem sie den Mädchen/Frauen zuschreibt, ihre >Homosexualität< zu dieser Zeit »noch keineswegs bewußt« zu haben. Es gäbe sie also, sie wüßten nur nicht darum.
Das andere Dilemma liegt darin, daß Frauen, die sich heute als lesbisch bezeichnen, von ihrem jetzigen Blickwinkel aus ganz andere Beschreibungen für ihre damalige Gefühlslage liefern als sie es früher einpfunden haben mögen.
Mit unserem Verfangensein in der Gegenwart besteht die Gefahr, Vergangenes nur noch aus der Sicht heute klar erscheinender Abgrenzungen zu betrachten und zu definieren.
Um über Erfahrung und Verarbeitung der Lebenswege von Frauen in Bezug auf ihre Freundschaften wie auch in Bezug auf ihre Selbstdefinitionen etwas zu lernen, wende ich mich zunächst dem >Lesbischwerden< heute >lesbischer< Frau zu und vergleiche dieses mit Erfahrungen heute >heterosexueller< Frauen.

* Frau R (32, Sekretärin, geschieden): eigentlich hatte ich ziemlich viel immer mit Frauen oder früher mit Freundinnen, das hat mich eigentlich immer mehr gereizt als Männer« obwohl ich mich irgendwann in son Jungen verliebt hab ..., den mocht ich ganz gerne, ich hatte damals überhaupt keine Ahnung davon, von wegen mit Lesbischsein, ich merkte wohl, daß ich mich irgendwo mehr zu Frauen hingezogen fühlte, aber wie weswegen ... hab ich erstmal gar nicht drüber nachgedacht.«
* Frau M (34, Kolleg, ledig) auf meine Frage, ob die Freundschaften zu Mädchen ihr wichtig waren: »das war ungeheuer wichtig« . »ganz speziell eine Freundin in N., die kannt ich ja seit meinem 9. Lebensjahr, wir haben uns immer kochendheiße Briefe geschrieben, das war für uns unheimlich wichtig ... da hatte ich keinen Gedanken, daß ich lesbisch sein könnte.« Und bezogen auf den Briefwechsel: das war »irgendwie sone emotionale Sache, die da einfach erledigt werden mußte«.
* Frau S (36, Sekretärin, geschieden) verliebte sich mit 17 in eine Schulkameradin: »wir verstanden uns gut, wir ham dann viele Sachen so freizeitmäßig zusammen gemacht«. Die beiden schliefen auch einmal miteinander, was den Lehrern zu Ohren kam: Da »sollten wir von der Schule fliegen, beide, da hörte ich z.B. das erste Mal das Wort lesbisch, und das auf mich bezogen.« »Das war furchtbar, ich konnt das gar nicht begreifen, ich wußte erst gar nicht, was die meinen.. das war schlimm ... man wußte, daß das was Verbotenes war ..., aber wir ham das beide als unheimlich schön empfunden.«

Von ähnlichen Erlebnissen berichten Frau K, H und T. Ihre Entdeckung liegt jedoch schon nach ihrem 20. Lebensjahr.

Frau K (26, Dipl-Päd.,ledig) auf die Frage, wann ihr klar wurde, lesbisch zu sein: »das erste Mal richtig bewußt gesagt hab ich das im Frühjahr '77 auf som Nationalen Kongreß in München.« »Vorher hätt ich nicht gesagt, daß ich lesbisch bin, weil ich mich da auch noch immer anders gefühlt hab als die Lesben.« Ich dachte »ich liebe zwar auch Frauen, aber irgendwie bin ich wohl nicht lesbisch.«

Frau H (28, Dipl.Päd., ledig) hat sich nach einem schmerzvollen Weg ihre größere Nähe zu Frauen zugestanden und

»daß das besser ist, daß ich mich wohler fühle, daß ich mit Frauen mehr machen kann. »Auch ...     Bedürfnisse nach Zärtlichkeit mit Frauen .. das hing nur nicht mit dieser Vokabel lesbisch zu    sammen, aber sonst war das eigentlich nichts anderes.«

Am prägnantesten äußert sich Frau T (31, Sachbearbeiterin, ledig) in diesem Zusammenhang auf meine Frage, ob sie sich nach ihrer ersten, auch sexuellen, Erfahrung mit einer Frau als lesbisch bezeichnete

»im Lauf der Zeit ... daß mir im Lauf der Zeit einfach klar wurde, wie man solche Beziehungen bezeichnet.«

Ähnliche Aussagen tauchen immer wieder in den Interviews von Renate Stenmans (STENMANS 1979) auf.

* »Mein Lesbischsein war mir zunächst gar nicht bewußt. Ich hab wohl mit 13 oder 14 mal überlegt, daß eine Beziehung zu einer Frau was Schöneres sein konnte als zu einem Mann, aber ich wußte nichts darüber, ich habe nie darüber nachgedacht, daß es das wirklich geben könnte. Die Idee, daß ich lesbisch bin, ist mir zwar ein- oder zweimal durch den Kopf geschossen, aber mit großem Schrecken, ich hab das zu der Zeit noch als abnorm oder krankhaft gesehen.«
* »Solange ich mich zurückerinnern kann, waren immer Frauen wichtig. In eine Lehrerin war ich sieben Jahre lang verliebt, aber mir war nie bewußt, daß das sowas wie eine lesbische Beziehung war - im nachhinein würde ich aber sagen, auch     wenn wir uns nicht angefaßt haben, daß das von meiner Seite aus eine sehr lesbische Beziehung war.«
* »Ich hatte zwar leichteren Zugang zu Frauen und fühlte mich mit ihnen wohler, aber ich hatte dafür keine Bezeichnung.«
* »Ich hatte mit 15 keine Ahnung davon, habe mich zwar auch in Lehrerinnen verliebt und auch in Schülerinnen, ich habe aber nie gewußt, daß es sowas gibt.«

Auch Furgeri stellt zusammenfassend fest: »The women stressed that often they did not ident ify the feeling as lesbian.« (FURGERI 1977, S. 151)
Auffallend an jeder dieser Aussagen so vieler Frauen ist, als wie unproblematisch, quasi natürlich, ihren Bedürfnissen entsprechend die schönen Erfahrungen mit anderen Mädchen erlebt werden. Diese Selbstverständlichkeit ist nur daraus zu erklären, daß sie sich selbst nicht als abweichend von ihrer Umwelt, den anderen Mädchen, erleben. Deren Freundschaften untereinander müssen also ähnlich intensiv und leidenschaftlich verlaufen. Nähe und Verbindlichkeit sind grundlegende emotionale Faktoren der Mädchenfreundschaften in dieser Zeit, bei aller unterschiedlichen Inhalts- und Funktionsgebung. Wie in der Tat ähnlich die Erfahrungen mit Freundinnen für später 'heterosexuell' empfindende Frauen sein können, zeigen einige Interviewauszüge:

* Frau A (28, Dipl.Päd., ledig): »und mit 17 habe ich dann die Rkennengelernt, ... und das war dann eine sehr innige, große Liebe.« Es folgt die Beschreibung einer tiefen Freundschaft: »Und da fällt mir auch die R. ein, daß ich mit der manchmal, da hab ich richtige Glücksgefühle gehabt, ..., daß ich richtig glücklich mich gefühlt habe, so einen Menschen zu haben, mit dem es so gut ging.«
* Frau P (18, Schülerin, ledig) hat mit 17 eine 28-jährige Frau kennengelernt und erlebt das, da sie, wie sie sagt, ansonsten besser mit Jungen und Männern zurechtkam[10]    als eine Ausnahme, wir haben uns auf Anhieb so !!! gut verstanden.« »ich glaube, das ist ne ähnliche Sache, als wenn man sich auf den ersten Blick ineinander verliebt.« »ich« werde »ganz wahnsinnig, wenn ich sie drei Tage nicht gesehen habe.«
* Frau Q (25, Studentin, ledig) berichtet Ähnliches: »damals zu der Zeit ... wenn ich die F. drei Tage nicht gesehen hab, dann gings mir unheimlich schlecht.« »irgendwann dann hab ich meine große Liebe kennengelernt, das war L., ... fortan hab ich immer mit der L. zusammengehockt ... Bedürfnis, einfach fortan alles mit der zusammen zu machen, alles mit der zu teilen und andauernd die zu sehen.« Frau Q, die nicht weiß, wie sie sich bezeichnen soll, obwohl sie heute nach gängigen Einschätzungen 'heterosexuell' lebt, hat ähnliche Erfahrungen wie die oben geschilderten lesbischen Frauen. Sie übernachtete bei L.: »am Anfang war das irgendwie so unheimlich schön, ... streicheln, kuscheln, und dann fand ichs schon ein bißchen seltsam, ... und das ist auch nicht so, daß ich dann gesagt hätte, ich hab was mit Frauen, ich bin lesbisch, sondern das war eben .. daß wir uns unheimlich gern hatten.«

Die realen Erfahrungen der meisten Mädchen mit anderen Mädchen und Frauen ähneln sich erstaunlich in dieser Zeit. »Daß zwischen homosexuellen und heterosexuellen Bedürfnissen ein Widerspruch bestehe, wird ihnen weniger aus eigenen Erfahrungen, Wünschen und Phantasien deutlich, sondern vielmehr aus den Reaktionen und Einstellungen zur Homo- und Heterosexualität, mit denen sie in zunehmendem Maße konfrontiert sind.« (SAVIER/WILDT 1978, S. 44)
Die geschilderten Erfahrungen sind für die Mädchen so selbstverständlich schön, daß sie zunächst nie auf die Idee kämen, sie mit einem Begriff zu belegen. Es gibt zu dieser Zeit in der Tat keinen Unterschied zwischen >homosexuellen< und >heterosexuellen< Bedürfnissen in bezug auf andere Mädchen.
Dies aber suggeriert die gesamte Forschung zum >lesbischen coming out<. Sie unterstellt, daß etwas spezifisch Lesbisches an derartigen Wünschen gegenüber anderen Mädchen existiere und geht davon aus, dies sei das sexuelle Interesse an einem Mädchen. Dieses >sexuelle< Interesse zeigt sich jedoch auch bei einigen später >heterosexuellen< Frauen, während es bei einigen >lesbischen< Mädchen nicht auftritt. Dieser Aussage wäre mit dem Hinweis auf die so proklamierte >homosexuelle Phase< vieler Jugendlicher zu widersprechen. Aber dadurch erhalten wir immer noch keine Antwort, was das spezifisch >Homosexuelle< an dieser Phase ist. Es gibt, wie wir sahen, kaum ein Mädchen, das keine intensiven Freundschaften zu anderen Mädchen hat. Das >Lesbische<, >Homosexuelle< tritt erst in Erscheinung, wenn es von außen als Bezeichnung für eine solch intensive Freundschaft an die Mädchen herangetragen wird. Es ist keine erlebte Erfahrung.
Im Gegenteil: die Bilder, die Vorstellungen, die diese Bezeichnungen vermitteln, stehen sogar in krasser Diskrepanz zu den wirklichen Erlebnissen der Mädchen. Diese werden, im Gegensatz zu den Inhalten der angebotenen Bilder, als etwas sehr Schönes erfahren. Durch die Irrealität und die moralische Abschreckung in den Bezeichnungen gelingt es, die tatsächliche Realität, ihre wirklichen Erfahrungen, in den Hintergrund zu d rängen. Schuldgefühle, Zweifel, Rückzug sind die Folge. Das in der Forschung so oft behandelte Phänomen des >homosexuellen coming out< ist offenbar in erster Linie die Auseinandersetzung mit der dargebotenen Horrorvision Homosexualität: das >Lesbischwerden< selbst scheint ganz andere Grundlagen zu haben.
Die versuchte Ausgrenzung zeigt den massiven Versuch, nun endlich die normierte Mann-Frau-Beziehung durchzusetzen, das Mädchen in all seinen Interessen auf die Jungen auszurichten.
Bedürfnismäßig und emotional stehen lange Zeit für fast alle Mädchen andere Mädchen im Vordergrund. Dies ist nicht zu unterbinden und bleibt gestattet, solange zur gleichen Zeit ein rollentypischer Umgang der Mädchen mit Jungen zumindest in der Phantasie stattfindet oder angestrebt wird. Und hier zeigen sich tatsächlich verschiedenartige Strukturierungen bei den Mädchen. Diese wirken sich indessen in der jeweils unterschiedlichen Fähigkeit aus, die reale Bedeutung gelebter Mädchenfreundschaften, ihren Eigenwert, zu erfassen. Bestimmte - die meisten - Mädchen sind daran gehindert durch ihre gelernte Ausrichtung auf den Mann. Und genau an diesem Punkt setzt fÜr einige Mädchen die Drohung mit dem Etikett >lesbisch< ein. Wenn sie sich anderen Mädchen zuwenden, wirkt sich die Drohung mit dem Begriff >lesbisch< unterschiedlich einschneidend aus. Je ausgeprägter die Mangelstruktur, umso bedrohlicher wird der Verlust des Mannes empfunden. Und je ausschließlicher sich die Mädchen auf ihre Mädchenfreundschaften konzentrieren und sich offensichtlich in ihnen wohlfühlen, umso schärfer wird die Drohung eingesetzt. Andererseits aber gibt es eben auch Mädchen, die sich, zumindest langfristig, nicht einschüchtern lassen. Sie sind offenbar in der Lage, emotional und sozial auch ohne den Mann zu leben, wenn sie es wollen.
Dann bleibt die Frage, warum einige Mädchen ihre Phantasien den Jungen zuwenden, während andere sich primär auf Mädchen ausrichten. Diese Unterschiede könnten darauf hindeuten, daß es doch so etwas wie >lesbische< und >heterosexuelle< Frauen gibt, daß dies nicht ausschließlich eine Angelegenheit der Zuschreibung von außen ist. Dies wird zutreffen. Es handelt sich tatsächlich um unterscheidbare, tiefe Strukturierungen. Wichtig war mir nur, diese Strukturierungen von der Kategorisierung in >homosexuell< und >heterosexuell< zu lösen, indem ich gezeigt habe, daß zum einen es keinen Sinn ergibt, die Bedürfnisse zwischen den Mädchen mit diesen Etiketten zu belegen, daß zum anderen diese Bedürfnisse zwischen den Mädchen unterschiedlich eindeutig von den Mädchen angeeignet, erlebt werden. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Mädchen liegen nicht auf der Ebene eines spezifischen >sexuellen Interesses< - was dies sein soll, bleibt ohnehin zu klären - sondern in den unterschiedlichen Möglichkeiten, reale Erfahrungen bewußt zu erleben. Diese Möglichkeit hängt offenbar von dem jeweiligen Grad ab,
den Mann für das eigene Lebenskonzept existentiell zu benötigen oder nicht.
Diese Typologie ist viel tiefgreifender als die zumindest nichtssagende, wenn nicht ideologische Aufteilung in >heterosexuelle< und >homosexuelle< Frauen. Beide sind zwar zum Teil deckungsgleich, aber eben nur zum Teil, da es sich zum Beispiel bei Frau G, O, F, L um sogenannte heterosexuelle Frauen handelt, die aber dennoch den Mann für ihre eigene Existenzfähigkeit wesentlich weniger grundlegend benötigen als andere Frauen.

3.4. Jungenbeziehungen

Die Geschlechtsrolle prägt schon im frühen Alter die Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen. Unterschiedliche Erziehung und Erziehungsziele verursachen eine sozial-psychische Abschottung der Geschlechter ihre Homosozialität. Diese wiederum führt zu einem tief emotionalen Umgang der Mädchen miteinander, auf der andere»n Seite jedoch zu einer Erstarrung, Entindividualisierung der Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen. Diese Unbekanntheit hat weitreichende Verunsicherungen, aber auch Erwartungshaltungen zur Folge.

* Frau E (26, Studentin, ledig): »wenn du keinen Kontakt zu Jungs hast, dann weißt du gar nicht wie die wirklich sind ... ich glaube, daß das einfach auf ner gemischten Schule vielleicht ein bißchen lockerer gewesen wäre, nicht so verklemmt, nicht nur diese Vorstellungen, sondern das war auch irgendwo Realität ... man kann das eher wirklich sehen, ob das auch so ist, was man sich vorstellt.«
* Ganz ähnlich erging es Frau A (28, Dipl.Päd., ledig): »... ich hab eigentlich auch in einer unheimlichen extremen Weise so ne Frauensozialisation hinter mir ... ich glaub, mit 6, 7 Jahren, daß ich nicht mehr so zu Jungengeburtstagen hingehen sollte, ... mit Jungen, das war ihnen auch schon zu gefährlich ... bis 19, ich muß auch sagen später, als ich dann hier im Studium so Jungen im normalen Alltag miterlebt hab, war ich zu Anfang erstaunt darüber, daß Jungen krank werden, daß Jungen im Bett liegen, oder daß Jungen Süßigkeiten essen, .. das sind Menschen vom andern Stern irgendwo gewesen.«

Es scheint nicht untypisch zu sein, daß diese Aussagen gerade von Frau A und Frau E kommen, die sich selbst als schon früh angepaßt, brav und auf ebensolchen Mädchen orientiert beschreiben. Bei Frauen, deren Interessen eher in wilden abenteuerlichen Spielen mit Jungen oder mit entsprechenden Mädchen lagen, finden sich keine derartigen Äußerungen. Hier gewinnt ein Ergebnis Greens Brisanz, dem er selbst allerdings recht hilflos gegenüber steht:

»The manner which preadolescent homosocial peer group relationships typically envolve into adolescent and adult heterosexual relationships and heterosocial peer group relationships into homosexual one's is a little understood facet of sexual identity development.«
(GREEN 1974, S. 344)

Diese Erkenntnis sollte zu grundlegenden Neustrukturierungen hinsichtlich des Verständnisses von >Homosexualität< und >Heterosexualität< genau in dem Sinne führen, wie ich sie in dieser Studie aufzeige. Unter dem Aspekt des Bekanntheitsgrades mit dem anderen Geschlecht deuten Greens Schlußfolgerungen ebenso wie meine Ergebnisse darauf hin, daß, je größer die Unbekanntheit, sie umso mehr Mythologisierung und damit Rollennorm- und Konventionsorientierung nach sich zieht, eben das, was wir oben schon fanden: das Mädchen wartet auf Ich-Er-Füllung durch einen Mann, den Mann schlechthin, den Prinzen, dessen individuelle Werte unbedeutsam sind in Anbetracht seiner Funktion, der 'Rolle', die er im Leben des Mädchens zu spielen hat. Neben dieser realitätsfernen Fixierung verliert jede noch so befriedigende Mädchenfreundschaft an Bedeutung: sie ist nur für sich, sie ist kein Programm, nicht die Zukunft. Jedoch gerade aufgrund dieser unterscheidbaren Funktionen von Mädchenfreundschaften und Jungen im weiblichen Leben schließen diese Beziehungen einander nicht aus. Im Gegenteil, je mehr ein Mädchen die abstrakte Erwartung an den Mann auf Erfüllung in sich trägt, umso mehr wird sie die realen Trost und Wärme spendenden Mädchenfreundschaften benötigen. Dasselbe gilt für die Frauenfreundschaften im Erwachsenenalter. Die Befriedigung der obigen Bedürfnisse wird zwar auch und gerade von einem Jungen bzw. Mann erhofft, indessen durch die mythische, entindividualisierte Beziehung nahezu verunmöglicht. Nur konkret personenbezogene, am jeweiligen Gegenüber ausgerichtete Bedürfnisse können zu einer solchen Befriedigung führen. Doch hierauf ist die Beziehung zwischen den Geschlechtern längst nicht mehr angelegt.
Haben die Mädchen ihre Rolle bis zur Pubertät noch nicht gelernt, so ist den Forderungen der Jungen nun Genüge zu leisten. Spätestens jetzt entwickelt sich aus der typischen Abschottung der Jungen, die recht wenig um die Mädchen bekümmert war, eine spezifische Ausrichtung auf sie, mit den Hauptmerkmalen Großspurigkeit, Potenzbeweisen, Frauenverachtung, Sexualitätsund Genitalitätsfixierung. Frau T hat die Konfrontation mit letzterem lebhaft im Gedächtnis behalten und sich damals zunächst von den Jungen abgewandt. Für die Jungen werden Männlichkeitsbekundungen und Sexualität Hauptverbindungslinien zu den Mädchen. Diese spüren, daß es mit den Jungen irgendwas auf sich hat. Bei ihnen aber steht im Vordergrund noch die Unbekanntheit des Sexuellen, das sie in seiner Tabuisierung ständig erahnen. Es macht ihnen Hoffnung, aber auch Angst.
Die Verknüpfung Junge/Mann und Sexualität wird zunehmend unausweichlich, ebenso wie sie auf Mädchen bezogen für die meisten Mädchen undenkbar wird oder bleibt. Dies scheint eher am gelernten Verständnis von Sexualität zu liegen als an den realen Aktivitäten in den Freundschaften zwischen Mädchen, wo körperliche Zuwendung durchaus üblich ist.
Zunächst aber steht für das Gros der Mädchen, anders als bei den Jungen, die Sexualität noch in einer Reihe mit dem grundsätzlich Unbekannten an den Jungen. Ihr funktionaler ohnehin kaum bedürfnisbezogener Wert, ist noch im Hintergrund gegenüber der grundlegenden Erfordernis, sich nun den Jungen zuzuwenden. Es geht hier um das Genügenleisten einer Konvention, einem sozialen Muß, das als selbstverständliche, wenn auch unvermittelte Verpflichtung empfunden wird. Die Notwendigkeit, sich auf diesen Weg zu begeben, wird von den Mädchen erkannt, meist auch anerkannt. Hier zeigt sich ein krasser Gegensatz zu den spontanen, realitätsbezogenen Bedürfnissen, die auf Mädchenfreundschaften gerichtet und in ihnen gelebt werden.

* »Ich hab eigentlich früh angefangen, dann auch nach Jungs zu schielen, aber dann schon so bewußt ... ich wußte wohl, daß das in der Zeit wohl so einsetzt; doch! das war mir klar, daß das irgendwann mal kommen mußte, sowas ...« (Frau J, 41, Sekretärin, geschieden)
* Frau E (26, Studentin, ledig), gefragt nach dem Grund, warum sie »einfach nen Freund haben wollte: weißt du, das war einfach Prestige, glaub ich, also das gehörte zum Erwachsenwerden, sone Vorstellung. Nicht, weil man die jetzt besonders schön fand oder so: die Jungs an sich warn völlig uninteressant ... aber man hatte jedenfalls dann nen Freund ...« Ihr erster Tanzstundenpartner war dann auch ihr erster Freund »der mußte es dann sein.« Sie fand ihn unausstehlich, aber eine Lösung des Verhältnisses war riskant, solange kein anderer da war.: »daß du also zum Beispiel, wenn der jetzt nicht kam ne Zeitlang, dann mußte man das ja vor den anderen verantworten . es ging eigentlich nicht um den Typ, sondern um die andern...«
* Sehr widerwillig genügt Frau L (26, Studienrätin, ledig) diesen Konventionen: »irgendwie hatte ich wenig Interesse an all diesen Jungengeschichten, die hab ich ziemlich abgelehnt ... ich hab nie irgendwelche Männer angehinmelt, ... das war so, daß ich dann irgend jemanden wußte zu nennen gegenüber den Freundinnen, die darauf bestanden, daß man sowas hatte ... das war sone Art Klassenzwang, Gruppenzwang.«
* So auch Frau Q (25, Studentin, ledig): »die erste Zeit fanden wir das ziemlich albern dann irgendwann sicher schon ... dann kam auch  ... was mit Jungs machen, weil dann die andern Mädchen, mit denen ich was gemacht hab, eben auch was mit Jungs machten ... die Frauen erschienen mir so wichtig, die was über Männer  erzählen konnten.«

Die Mädchen, die sich selbst und einander nicht mehr genügen, pochen auf soziale Wert-Setzung durch den Jungen das Männliche. So rücken sie ihre eigene Person zunehmend in die soziale Bedeutungslosigkeit. Aber auch »in ihren Wunschvorstellungen drückt sich ein Realitätsbewußtsein aus Sie glauben und hoffen, (...) daß sie durch Beziehungen zu Jungen aufgewertet sind und teilhaben an der gesellschaftlichen Anerkennung,« (SAVIER/WILDT 1978, S. 49) Das Realitätsbewußtsein äußert sich hier in dem Erspüren, daß die Anpassung an soziale Normalitätsmuster, auch wenn sie im Gegensatz zu den eigenen spontanen Bedürfnissen stehen, ein leichteres Leben versprechen. Folge ist jedoch eine grundlegende Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit durch die Jungen. So ging Frau G (33, Hausfrau, verheiratet) in die Tanzstunde

»mit Zittern und Zagen, daß mich bestimmt kein Mensch, also kein Mann, nett finden würde.« Dabei hatte sie vorher ganz andere Dinge im Kopf, doch »mit der Tanzstunde fing das an, interessant und wichtig zu werden, das hatt ich ja vorher nicht, vorher war ich mit meinen Freundinnen zusammen und fertig.«

Die Abhängigkeit von der Anerkennung des Mannes untermauert und fördert den Mythos um ihn. Hiergegen ist selbst Frau S (36, Sekretärin, geschieden) machtlos. Sie erinnert sich an diesen Einbruch, primär festgemacht an der gebotenen Kleidung:

»wollt ich das Kleid nicht anziehen und Büstenhalter anziehen war also ne furchtbare Qual und diese dämlichen Schuhe ... aber trotzdem wollt ich da auch wieder hin, um nicht abseits zu stehen.«

Die soziale Wert-Setzung des Mädchens durch den Jungen wird zunehmend zur Normalität und als solche akzeptiert.
Frau R (32, Sekretärin, geschieden), die sich immer als auf Frauen bezogen verstanden hat, auf die Frage, ob sie sich mal in einen Jungen verliebt hat: 

* »irgendwie schon, war das halt das Normale, in diese Rolle wird man halt einfach reingedrängt und man macht das halt, bis man selber drauf kommt, daß das nicht richtig ist, nicht geht.
* Frau M (34, Kolleg, ledig) erging es sehr ähnlich. Sie »hatte auch nie so Bedürfnisse«, mit Jungen etwas anzufangen. Trotzdem erinnert auch sie sich »man meint ja, das müßte man tun, weil da ja auch noch so Leute dabei sind, versuchst du ja, dann auch so den üblichen Anforderungen zu entsprechen.«

Wir würden es uns zu leicht machen zu behaupten, Frau R und M hätten kein wirkliches Bedürfnis nach Jungen gehabt, weil sie >lesbisch< sind. Tendenziell trifft, wie sich zeigte, sogar das Gegenteil zu: viele der später >lesbischen< und einige andere Frauen wünschen sich gerade einen natürlichen, spielerischen Kontakt mit Jungen. Wird er ihnen verweigert, wenden sie sich anderen Mädchen zu, wie es jedes Mädchen entsprechend seiner jeweiligen Strukturierung tut. Und gerade die noch heute stark männerbezogenen Frauen schildern eine rein konventionell geprägte Hinwendung zum Jungen bzw. zum Mann. Ein auf spezifische individuelle Anziehung des Gegenübers gerichtetes Bedürfnis läßt sich bei keiner von ihnen erkennen.
Die Mädchen gehen ihre Beziehungen zu Jungen in erster Linie aus Konventionsgründen ein, verursacht durch die zunehmende Notwendigkeit sozialer Wert-Setzung durch die Jungen.
Zu demselben Ergebnis gelangen Savier/Wildt bzgl. der Motive für die Aufnahme einer Koitusbeziehung. Während dies bei 76% der Jungen »aus sexueller Lust« geschieht, tun 71% der Mädchen es »um ihren Freund nicht zu verlieren«, 6% »aus Angst, als altmodisch zu gelten« und 16% »aus Neugierde«. (SAVIER/WILDT 1978, S. 60)
Sexuelle Befriedigung bringt der Koitus für 86% der Jungen, dagegen für nur 56% der Mädchen (SAVIER/WILDT 1978, S. 61). »Wenn sie (die Mädchen) dennoch sagen, sie seien glücklich (...) so läßt mich das zu der Vermutung kommen, daß sie damit nicht ihre sexuellen Erlebnisse meinen, sondern vielmehr die Tatsache, daß sie glücklich sind, mit einem Jungen geschlafen zu haben.« (SAVIER/WILDT 1978, S. 64)
Auch Savier/Wildt bemerken hier die Kluft zwischen realer Erfahrung und ihrer Aneignung: Es geht nicht um das Erlebnis selbst, sondern um die soziale Bedeutung, die eine Frau hiermit durch einen Mann erhält, nicht zuletzt vermittels der Sexualität.
Ich vermute, das Ergebnis Savier/Wildts erweiternd: Die Aussage eines Mädchens oder einer Frau, sich in einen Jungen oder Mann verliebt zu haben, bringt in nicht geringem Maße die Freude und Euphorie darüber zum Ausdruck, eine grundlegende Beziehung zu ihm hergestellt zu haben und damit in die Reichweite sozialer Anerkennung und Werthaftigkeit gerückt zu sein.
Sich-Verlieben möchte ich demnach als eine Haltung untersuchen, die an den gelernten Wert des Gegenübers gebunden ist.
Frauen verlieben sich, trotz oft beträchtlicher Nähe, nur selten ineinander.