Reklame für Simone W.

Warum?

Warum sollte man nicht einmal für einen Menschen, für seine Art zu leben und zu denken Reklame machen? Jemand, der auf Erkenntnis aus ist, auf Teilhabe an der Wahrheit. Jemand, der nie seine Skepsis ablegt, nie sein Kritikvermögen ausschaltet. Der Weg der Erkenntnis führt bei dieser Frau zu einem Punkt, da der Zustand von Zeit und Welt als hoffnungslos empfunden wird. Diese Hoffnungslosigkeit, in die sie ihr radikales Denken gestürzt hat, scheint für sie nicht mehr auszuhalten gewesen sein. Es erfolgt ihr Sprung in den Glauben, in die Mystik. Doch bei aller Intensität ihrer religiösen Gefühle gibt sie gewisse Vorbehalte niemals auf.
Glaube — ja. Kirche - nein. Keine Taufe, keine Konversion. Aus verschiedenen Gründen. Letztlich aber wohl vor allem aus diesem: Zweifel und Kritik hätten abdanken müssen. Für sie waren sie ein Teil ihrer Menschlichkeit. Der unabdingbare Teil. Sie schreibt:

  • Ich gestehe der Kirche kein Recht zu, die Operationen des Verstandes oder der Erleuchtungen der Liebe im Bereich des Denkens zu begrenzen.

Und:

  • Bisweilen habe ich mir gesagt, ich ließe mich sofort taufen, wäre an den Kirchenpforten angeschlagen, daß für jeden, dessen Einkommen eine bestimmte geringfügige Summe übertrifft, der Zutritt verboten sei.

Sie empörte sich über Geld als Ursache für soziale Ungleichheit, über Kapital und die Gier nach mehr und mehr materiellen Gütern.

  • Man muß das Geld in Verruf bringen. Es wäre nützlich, daß diejenigen, die höchstes Ansehen oder sogar Macht besitzen, gering entlohnt werden. Die menschlichen Beziehungen müssen der Kategorie nicht meßbarer Dinge zugeordnet sein. Öffentlich soll anerkannt sein, daß ein Bergmann, ein Drucker, ein Minister einander gleich sind.

Sie hielt die Kirchen für korrumpiert durch Macht und Reichtum. Vor allem aber empörte sie sich über deren Möglichkeit, Menschen zu verdammen.
Wenn sie von Kirche spricht, so ist damit die Kirche als einflußreiche Institution gemeint, an deren Stelle jede beliebige andere Institution stehen könnte.
Ihr Selbsthaß, ihre Selbsttäuschungen, die Widersprüche, in die sie sich verstrickte, ihre Verstörtheit, ihre Zerrissenheit sollen nicht verschwiegen werden. Auf nicht wenige ihrer Zeitgenossen wirkte sie komisch, irr. Nicht zuletzt deshalb, weil sie das Übliche, Gewohnte durch ihre Art des Lebens in Frage stellte. Letztlich ist
sie immer, auch als Mystikerin, eine Anarchistin gewesen. Somit war sie damals, als sie lebte, vielen ein Ärgernis.
Welch ein Ärgernis wäre sie uns erst heute.
Jene Frau, von der hier die Rede ist, heißt Simone Weil.

Vater, Mutter, Bruder, Erziehung

Geboren am 3. Februar 1909 in einer nicht-orthodoxen jüdischen Familie in Paris. Der Vater, Bernard Weil, ist Arzt. Er stammt aus Straßburg, wo der Name Weil häufig vorkommt. Die Mutter, eine geborene Salome Reinherz, ist in Rostow in der Ukraine zur Welt gekommen und später von dort mit ihren Eltern nach Amsterdam ausgewandert. Simone hat einen um drei Jahre älteren Bruder, André, bei dem früh eine ausgeprägte Begabung für Mathematik zu erkennen ist. Im Haushalt der Weils gibt es keine Puppen, kein Kinderspielzeug.
Der Vater ist ein etwas ängstlicher, überempfindlicher Mann mit einem Hygiene-Tick.
Die Mutter erscheint auf Fotos aus späteren Jahren als der Inbegriff einer jüdischen »mame« voll aufopfernder Fürsorge für die Ihren, realistischer als die Tochter, doch voller Verständnis für deren idealistische Lebenshaltung. Sie taucht immer wieder in Simones Lebensgeschichte in der Rolle eines Schutzengels auf, der die leeren Speisekammern in den Wohnungen der Tochter füllt, die Zimmer aufräumt und ein paar Geldscheine zurückläßt, von denen Simone dann jeweils annimmt, sie habe sie verlegt und nun seien sie zufällig wieder aufgetaucht.
Auch besonders geduldige Mütter und Schutzengel erlauben sich manchmal einen Stoßseufzer. So auch Madame Weil, die während eines Besuches bei ihrer zu diesem Zeitpunkt schon zweiundzwanzigjährigen Tochter schreibt:

  • »Nun bin ich schon acht Tage bei ihr, rackere von morgens bis abends, und es ist mir immer noch nicht gelungen, ihre Sachen in Ordnung zu bringen.«

Aber vorerst noch einmal zurück in die Kindheit.
Bei Kriegsausbruch 1914 wird Dr. Bernard Weil, der Vater, zum Militär eingezogen. Es beginnt für die Familie eine Zeit häufiger Umzüge von Garnison zu Garnison. Es ist André, der ihr, noch ehe sie ins schulpflichtige Alter kommt, das Lesen beibringt. Beide Geschwister wetteifern im Auswendiglernen Racinescher Verse. Wer steckenbleibt, erhält vom anderen eine Ohrfeige. Simone hört ihren Bruder mathematische Formeln ab und eignet
sie sich dabei auch selbst gleich an. Als die Vierjährige wegen einer Blinddarmoperation ins Krankenhaus kommt, verblüfft sie die Ärzte durch ihren Scharfsinn.
Eine Dame, die in der Straßenbahn eine Unterhaltung zwischen Simone und André anhört, empört sich über die Altklugheit der Geschwister: »Ich steige aus. Das ist ja nicht zu ertragen, man muß ja diese Kinder daheim wie Papageien abrichten!«
Das ist keineswegs der Fall. Kinder sind nun einmal anstrengend. Genialische erst recht. Gerade weil beide ungewöhnlich begabt sind, sind sie aufeinander bezogen, schließen sich eng aneinander an und gegen andere ab.
Die Eltern sind recht aufgeschlossen, aber auch in dieser Familie erwartet man von einem begabten Jungen selbstverständlich, daß er Wissenschaftler wird. Von einem wahrscheinlich nicht minder begabten Mädchen erwartet man dies durchaus nicht. Daß Simone sich schon sehr früh gegen Ungleichheit auflehnte, steht außer Frage, auch wenn sich manche Episoden aus ihrer Kindheit wie Heiligenlegenden alten Stils anhören: Das kleine Mädchen, das beim Umzug nicht eher die Wohnung verlassen will, bis man ihr ein Bündel gegeben hat, das schwerer ist als das des Bruders, oder das äußert, es wäre besser, wenn alle Menschen die gleichen Kleider trügen, billige Kleider.
In manche ihrer Eigenarten, die sich ohne weiteres erklären lassen, ist von etwas schwärmerisch veranlagten Biografen ein tieferer Sinn hineininterpretiert worden. So ist Simones Abneigung, sich tätscheln oder - wie das in Frankreich ja allgemein üblich ist - von Besuchern auf beide Wangen küssen zu lassen, wohl weniger früher Ausdruck eines metaphysischen Bedürfnisses nach Reinheit als die ganz natürliche Reaktion eines kleinen Mädchens, das den Vater ständig einen unerbittlichen Feldzug gegen Bazillen führen sieht.
Als Erwachsene wird Simone erklären, sie sei als Kind vergiftet worden. Tatsache ist, daß die Mutter erkrankt, als die Tochter sechs Monate alt ist und das Kind dann über Jahre hin an Darmerkrankungen gelitten hat. Der behandelnde Arzt soll gesagt haben, das Kind sei nicht lebensfähig. Um so eifriger wurde es danach gefüttert, was nun dazu führte, daß Simone sich zu essen weigerte, aber nach den Mahlzeiten, zusammen mit ihrem Bruder, an den Türen von Nachbarn klingelte, um dort um etwas zu essen zu bitten. Es kommt auch vor, daß Simone sich im Winter weigert, Socken anzuziehen, aber dann auf der Straße, wenn sie vor Kälte zu zittern anfängt, der Mutter Vorwürfe macht, sie nicht dazu gezwungen zu haben.
Die Verweigerung der Nahrungsaufnahme, der Drang, sich körperlichen Strapazen auszusetzen - Eigenarten, die sich in Simones Leben auch später immer wieder beobachten lassen -, dürfen nicht als >heilig< und altruistisch hingestellt werden, wie das in einigen Biografien bisher geschehen ist. Sie sind vielmehr Gesten des Protests, Versuche, Aufmerksamkeit zu erzwingen, die dem Mädchen in der Familie und von der Umwelt her in geringerem Maße zuteil wird als dem hochbegabten älteren Bruder, der auch von ihr bewundert wird.

Goldmarie und Pechmarie

Simone W. hat zeit ihres Lebens eine ausgeprägte Vorliebe für Märchen gehabt. Die Diktion vieler ihrer literarischen Arbeiten ist von der Sprache des Märchens geprägt. Simone hat die klare Unterscheidung des Märchens zwischen Gut und Böse geliebt und auf deren Notwendigkeit für die Gewissensbildung des Kindes hingewiesen. Sie hat davon gesprochen, daß Märchen genauer, gerechter und wahrer seien als das Denken. Ihr Lieblingsmärchen war das von Frau Holle. Die Geschichte von Goldmarie und von Pechmarie, so lautet ein Selbstzeugnis, habe ihrem Charakter die Richtung gegeben.
Wagen wir eine Interpretation: Im Märchen von Frau Holle ist jene der beiden Schwestern, die zur Goldmarie wird, eben jene, die wagt, die vormacht, die springt, die Risiko eingeht, die auf den Anruf der Dinge antwortet, die sich, entgegen der einer Frau ihrer Gesellschaftsschicht zugedachten Rolle, zur Arbeit nicht zu schade ist. So betrachtet, erweist sich die Gestalt als Wunschbild davon, wie Simone W. sein wollte, als Ideal, auf das hin sie sich orientierte.

Die Krise

Eigentlich sind es zwei Krisen, die Simone nun durchmacht. Eine seelisch-geistige und eine körperliche, aber gewiß hängen beide miteinander zusammen, und gewiß haben beide mit der Pubertät zu tun, mit der Tatsache, daß sich Simone ihres Geschlechts entschieden bewußt wird, daß nun endgültig ein Trennungsstrich zur Welt des geliebten, bewunderten, aber wohl im stillen auch beneideten Bruders gezogen wird. Simone selbst fragt nicht nach den Ursachen der Krise. Sie berichtet lediglich:

  • Mit vierzehn Jahren verfiel ich einer jener grundlosen Verzweiflungen des Jugendalters, und ich wü nschte ernstlich zu sterben wegen der Mittelmäßigkeit meiner natürlichen Fähigkeiten.

Die körperliche Krise ist dem vorausgegangen: jene Anfälle von Migräne, Neuralgien und Kopfschmerzen, die 1922 einsetzen, kurz ehe der Bruder André in die Ecole Normale Superieure aufgenommen wird.
Es ist die Zeit, zu der französische Truppen das Ruhrgebiet besetzen, weil Deutschland mit seinen Reparationszahlungen im Rückstand ist, die Zeit des Novemberputsches von Hitler und Ludendorff in München.

  • Seit meinem zwölften Jahr bin ich heimgesucht von einem Schmerz, der um den Mittelpunkt des Nervensystems angesiedelt ist, an dem Punkt, wo Seele und Leib verbunden sind; er dauert auch im Schlaf fort und hört niemals eine Sekunde auf.

Diese Kopfschmerzen bewirken bei ihr den Wunsch,

  • jemand anderen genau auf die gleiche Stelle zu schlagen oder verletzende Worte zu sagen. Das heißt, der Schwerkraft gehorchen. Die größte Sünde. Man verdirbt dadurch die Funktion der Sprache, die darin besteht, die sachlichen Verhältnisse der Dinge auszudrücken.

Das Erstaunliche sind nicht so sehr die hier aufgedeckten Zusammenhänge. Freilich müssen solche Schmerzen zu Aggressionen führen. Das Erstaunliche ist die Fähigkeit zu so rigoroser Selbstanalyse.

Schülerin, Studentin

Mit fünfzehn legt Simone W. den ersten Teil ihrer Bakkalaureatsprüfung in Griechisch und Latein ab. Für den zweiten Teil des Examens muß sie zwischen Mathematik und Philosophie wählen.
Sie läßt eine Münze entscheiden. Das Orakel sagt Philosophie. Nach erfolgreichem Abschluß des zweiten Prüfungsteils geht sie im Oktober 1925 an das Lycee Henri IV. in Paris. Dort lehrt Emile Chartier, genannt Alain, einer der bedeutendsten Moralisten der Gegenwart. Dieser Mann, der einem auf Photographien wie ein weises Walroß vorkommt, hat viele französische Gymnasiallehrer, Wissenschaftler und Intellektuelle dieser Generation entscheidend beeinflußt. In seiner Philosophie versucht er die Religion der Griechen mit dem Christentum zu versöhnen. Wichtiger als sein System wird für Simone der Stil seines Denkens, die Tatsache, daß er sie zum Schreiben ermuntert und einen ihrer Aufsätze in seiner Zeitschrift >Libres Propos< abdruckt. Was lernt Simone bei Alain?
»Das menschliche Paradoxon«, sagte er seinen Schülern, »besteht darin, daß alles schon gesagt ist und nicht begriffen wurde.« Denken heißt: wieder und wieder das gleiche wiederholen. Denken heißt nicht glauben: es bedeutet, jedesmal das zu Denkende neu zu erobern - zunächst der Zweifel, dann die Übernahme. Denken bedeutet Verstehen, und der Bemühung um Verständnis ist kein Ende.
Alain sagt ihr auch: »Philosophieren heißt.. .das Klare durch das Unklare erklären.«
Von ihm lernt sie Disziplin des Ausdrucks, der Sprache. Sie hört ihn sagen, daß Macht immer von jenen, die sie besitzen, mißbraucht zu werden pflegt. Daß in dieser Zeit vor allem Vorsicht und Mißtrauen gegen Macht angebracht ist.

  • Die Freiheit ist kein äußeres Gut. Jeder muß sie sich selbst und für sich selbst erobern. Auf diese Weise wird er am besten für andere arbeiten können.

Alain lehrt auch den Lob des Zweifels, das Recht, ja die Pflicht, alles und jedes kritisch zu befragen und erklärt seinen Schülern:

  • Die Politik ist eine verdrießliche und häßliche Sache, mit der man sich gleichwohl befassen muß, wie mit so vielen anderen verdrießlichen, mittelmäßigen und häßlichen Sachen.

Auch als sie 1928 an die Ecole Normale überwechselt, behält sie Alain als Philosophielehrer. Zu dieser Zeit wird Simone de Beauvoir auf sie aufmerksam. In ihren Memoiren schreibt sie:

  • Sie interessierte mich wegen des großen Rufes der Gescheitheit, den sie genoß, und wegen ihrer bizarren Aufmachung; auf dem Hof der Sorbonne zog sie immer, von einer Schar alter Alain-Schüler umgeben, umher, in der Tasche ihres Kittels trug sie stets eine Nummer der Libres Propos, in der anderen ein Exemplar der Humanité.

Ihre äußere Erscheinung: Eine zierliche Gestalt, nur 1,59m groß, häufig in eine düstere Pelerine gehüllt.
Nicht alle Urteile der Menschen, die ihr zu jener Zeit begegnen, fallen positiv aus. Eine Mitschülerin erinnert sich:

  • Sie zeigte völligen Nonkonformismus in Fragen der Mode und Extremismus in solchen der Politik, was bei ihrer Jugend etwas Affektiertes hatte.

Und ein Klassenkamerad: »Ich habe Simone W. gekannt auf dem Henri IV, sie war ungenießbar.«

  • Mit flachen Kinderschuhen und dem ungeschickten Gang eines kleinen Mädchens kam sie in die Cafes, um zu diskutieren; lebhaft ihre Blicke und Bewegungen, aber betont langsam, ja eintönig die Sprechweise, fast wie mit ausländischem Akzent, zumal sie die im Französischen stummen h fast alle aussprach: »wie Predigten einer Heilsarmee-Schwester.«

1926/27 hat sie, statt zu lernen, ständig rauchend und diskutierend in Cafes herumgesessen. Sie fällt in Geschichte durch und muß ein Jahr auf dem Lycée wiederholen. Während sie die Ecole Normale Superieure erreicht, promoviert ihr Bruder, der einige Semester in Rom und dann in Göttingen verbracht hat. Die Familie Weil wohnt jetzt in der Rue Auguste Comte 3, gegenüber dem Jardin du Luxembourg.
In der Ecole Normale schreibt Simone W. in der Klasse Alains einen Aufsatz: Alexander der Große zieht mit seinen Truppen durch die Wüste. Es ist nicht mehr genügend Wasser vorhanden, um allen etwas zu trinken zu geben. Alexander lehnt es ab, sich von den noch vorhandenen Vorräten etwas geben zu lassen. »Denn«, so kommentiert Simone, »es war ihm unerträglich, derart sich durch einen Genuß von seinen Männern zu unterscheiden, von ihnen abgeschnitten zu sein.«
Auf der Ecole Normale Superieure gibt es außer ihr nur noch drei Mädchen. Von ihnen versucht sie sich deutlich abzusetzen. Sie raucht demonstrativ und viel. Sie liest Marx, verkehrt mit Anarchisten und Gewerkschaftlern. Das alles verträgt sich durchaus mit den Lehren Alains, bei dem sie liest: »Von zwei Menschen ohne Gotteserfahrung ist der, welcher ihn leugnet, ihm vielleicht am nächsten.«
In der Berührung mit der Moralphilosophie Alains, mit Anarcho-Syndikalisten und mit dem Marxismus bildet sich ihr Bewußtsein. Daß Simone eine sorgfältige und umfassende Ausbildung in Philosophie erhalten hat, wird man, um ihren Sprung in den Glauben, in die Mystik beurteilen zu können, mitbedenken müssen. Sie ist jemand, der sehr wohl weiß, was in der Geschichte der europäischen Philosophie über Religion und Glauben gedacht worden ist. Das beweist ein Satz wie der folgende, der allerdings aus einer späteren Zeit ihres Lebens stammt:

  • Soweit die Religion ein Quell des Trostes ist, ist sie ein Hindernis für den wahren Glauben... Ich soll Atheist sein mit dem Teil meiner selbst, der nicht für Gott gemacht ist.

In Gesprächen mit ihrem Bruder, der 1930 einen Lehrauftrag an einer indischen Universität annimmt, entwickelt sich ihre kritische Haltung gegenüber dem bestehenden Bildungswesen. André hat die Sorbonne ein unförmiges Haupt, die französischen Provinzuniversitäten die blutleeren Glieder genannt. Simone kritisiert, daß sich Bildung in einem erstickenden Dunstkreis der Abgeschlossenheit vollzieht, daß sie in ihren Höhen, aber auch bis in die Niederungen zu einer Sache der Spezialisten geworden ist. Später wird sie noch pointierter schreiben:

  • Bildung ist ein Werkzeug in der Hand von Professoren zur Erzeugung von Professoren, die ihrerseits wieder Professoren erzeugen. Von allen gegenwärtigen Formen, unter denen die Krankheit der Entwurzelung auftritt, gehört die Entwurzelung der Bildung zu den besorgniserregendsten.

Simones Versuche, sich aus ihrer intellektuellen Isolierung zu befreien, muten zunächst fast rührend an. 1930 tritt sie beispielsweise dem Sportklub »Femina« bei und beginnt, Rugby zu spielen. Eine Erkältung, die sie sich bei einem der Spiele im Winter zuzieht, verschlimmert das Kopfweh. Erst nach Jahren stellt sich heraus, daß sie inzwischen unter einer chronischen Stirnhöhlenentzündung leidet.
Zusammen mit Sartre, Romain Rolland und anderen protestiert sie mit einem Aufsatz in Alains Zeitschrift dagegen, daß für die männlichen Schüler der Ecole Normale Superieure die Offizierslaufbahn obligatorisch ist.
Sie unterrichtet an einer Art Volkshochschule für Eisenbahnarbeiter, die - auch Frankreich ist von der Weltwirtschaftskrise betroffen - arbeitslos geworden sind und nun in Büroberufe vermittelt und dafür umgeschult werden sollen. Im Juli 1931 besteht sie die strenge Staatsprüfung für das höhere Lehramt. In ihrer Beurteilung heißt es:

  • Glänzende Begabung, offenbar sehr bewandert, nicht nur in Philosophie, auch in Literatur und zeitgenössischer Kunst. Urteilt manchmal vorschnell, ohne Einwände und Schwierigkeiten hinreichend zu berücksichtigen.

Ganz bewußt - ihr politisch-soziales Engagement in Paris hat Aufsehen und Mißfallen erregt und dazu geführt, daß der Direktor der Ecole Normale Superieure ihr den Spitznamen >vierge rouge< (rote Jungfrau) gegeben hat - schickt man sie als Gymnasiallehrerin in die tiefste Provinz, in eine Kleinstadt, nach Le Puy im Department Haute Loire. Ehe sie diese erste Stelle antritt, macht sie Ferien an der normannischen Küste und besteht dort darauf, die Arbeit der Fischer nicht nur kennenzulernen, sondern dabei auch selbst mit Hand anzulegen.

Eine rote Lehrerin

Ihre Art zu leben wird bald zum Skandal. Nicht nur daß sie, als Gymnasiallehrerin in der Kleinstadt eine Respektsperson, mit Arbeitern und Arbeitslosen fraternisiert, nicht nur, daß man sie in den Proletarierkneipen sitzen sieht, sie beteiligt sich an den Protestdemonstrationen der Linken in Le Puy. Sie besteht darauf, die Lebensbedingungen der Bergleute in dieser Gegend kennenzulernen. Sie nimmt mit der Gewerkschaft der Bergleute, Maurer und Eisenbahner im benachbarten Saint-Etienne Kontakt auf. Ihre Vorstellungen von den Aufgaben eines Lehrers, von dem, was für Kinder und Jugendliche wichtig sei und was nicht, müssen auf die Vertreter des etablierten Schulsystems als Provokation gewirkt haben. Oberster Wert ihrer Pädagogik ist es, den Schüler Aufmerksamkeit lernen zu lassen. Gelinge ihm das, dann könne er sich damit vieles auch selbst erschließen. Aufmerksamkeit als Kategorie ist ihr auch als die Voraussetzung für Kritikvermögen und selbständiges Urteilen wichtig.
Natürlich meint Aufmerksamkeit in diesem Sinn nicht sture Disziplin, nicht Stillsitzen und Geradeausschauen. Es ist im philosophischen Sinn aufzufassen. Es bedeutet die Eigenschaft, selbständig sich seiner kognitiven Fähigkeiten zu bedienen, ja diese überhaupt erst einmal für sich zu entdecken. Es bedeutet das Gegenteil von mechanischem Lernen, von sturer Paukerei, es bedeutet Problembewußtsein, Abstand nehmen, Distanzierung, um so den Punkt zu finden, wo man den Hebel ansetzen muß. Es bedeutet ziemlich genau das, was wir heute mit dem Stichwort »das Lernen lernen« umschreiben.
Einmal kommt der Schulrat zur Inspektion und prophezeit ihr, sie werde mit ihrer Methode absoluten Schiffbruch erleiden: »Was Sie da vortragen, mag ja ganz gelehrt sein, aber die meisten Schülerinnen werden die Schlußprüfung nicht bestehen.« Ihm antwortet sie: »Monsieur l'inspecteur, das ist mir ziemlich gleichgültig.«
Prüfungen bedingen Mechanik. Es widerstrebt ihr, den Jugendlichen Stoff massen einzutrichtern, vielmehr wird ein Thema, wie sie das bei Alain gelernt hat, unter verschiedenen Aspekten befrachtet: sozial, philosophisch, realpolitisch. Für diese Zeit und bei den starr ausgerichteten Lehrplänen ist eine solche Methodik sensationell.
Im Philosophieunterricht liest sie mit ihrer Klasse mit derselben Selbstverständlichkeit Marx wie Descartes. Besonders ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest, das sie mit ihren Schülern ausführlich diskutiert, beschäftigt die Klatschmäuler der Kleinstadt. Die Familie, soll es da geheißen haben, sei vom Gesetz gebilligte Prostitution.
Auf eine Verwarnung durch ihren unmittelbaren Vorgesetzten antwortet Simone: »Herr Rektor, ich habe stets meine Entlassung als den angemessenen Höhepunkt meiner Karriere betrachtet.« Bei ihren Schülern ist sie beliebt. Sie nennen sie »la Simone« oder »la mere W.« Bei den ersten Angriffen treten immerhin auch noch einige Eltern für sie ein, weil sie spüren: hier ist jemand, der seinen Beruf nicht nur mechanisch abwickelt, sondern ernst nimmt, der zwar hohe Ansprüche stellt, aber auch ein glänzender Pädagoge ist - nur keiner, wie ihn das System schätzt und verlangt. Sie ist entschieden gegen eine Begabtenauslese und fordert mit Nachdruck eine Verlängerung der Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr. Sie setzt sich leidenschaftlich für die Teilhabe der Arbeiter an der menschlichen Kultur, an den Werken der Kunst und der Philosophie ein. Ihr Einsatz ist nicht nur theoretisch. In der Kleinstadt klatscht man voll Empörung darüber, daß sie als Gymnasiallehrerin in einer Rollkutscherkneipe verkehrt, dort Rotwein trinkt, mit den Männern Karten spielt. Bis nach Paris dringt die Kunde, sie lege an jedem Ersten ihr Gehalt auf den Tisch und jeder könne sich bedienen. Sie habe unter Schienenarbeitern auf der Strecke gearbeitet und einer Abordnung von Arbeitslosen geholfen, auf dem Rathaus ihre Ansprüche zu vertreten.
Es dauert nicht lange, da wird sie von der Schulbehörde in Clermont-Ferrand vorgeladen und verwarnt. Anfang 1932 erscheint in der Zeitschrift der Lehrergewerkschaft ein Artikel von ihr. Er trägt die Überschrift >Fortbestehen des Kastenwesens<. Sie schreibt da:

  • Die Universitätsverwaltung ist um einige tausend Jahre hinter der menschlichen Zivilisation zurückgeblieben. Sie ist noch beim Kastensystem. Für sie gibt es Unberührbarkeit ganz wie bei der rückständigen Bevölkerung Indiens.
    Es gibt Leute, die ein Gynmnasiallehrer notfalls noch in der Verborgenheit eines gut verschlossenen Saales treffen kann, denen er aber auf gar keinen Fall auf der Place Michelet die Hand schütteln darf, wenn Eltern und Schüler es sehen könnten.

Es sind die Unorthodoxen der französischen Linken, mit denen Simone in den Gewerkschaften in Berührung gerät: die Anarcho-Syndikalisten um Pierre Monatte, die die Zeitschrift Revolution proletarienne herausgeben, in der an die proudhonistische Tradition der französischen Gewerkschaften vor dem I.Weltkrieg angeknüpft wird.
Schon früh wird in diesen Kreisen die Entwicklung in der Sowjetunion kritisiert. Albertine Thevenon, die Frau eines Gewerkschaftlers in Saint-Etienne, die Simone W. gut gekannt hat, schreibt dazu:

  • Die Russische Revolution, ursprünglich Künderin einer ungeheueren Hoffnung, war vom Ziel abgewichen. Die Proletarier wurden von der Bürokratie, einer neuen Privilegiertenkaste, niedergehalten, die bewußt Industrialisierung und Sozialismus einander gleichsetzte.

Simone empfand zuviel Liebe und Achtung für den einzelnen, um den Stalinismus akzeptieren zu können, den sie 1933 mit den Worten kennzeichnete:

  • Tatsächlich ähnelt dieses Regime dem, das Lenin zu errichten glaubte, insofern es das kapitalistische Eigentum fast vollständig ausschließt, im übrigen ist es das genaue Gegenteil.

Mit Thévenon, dem stellvertretenden Sekretär des Gewerkschaftsbundes des Loire-Departements und mit dem C.G.T.-Sekretär Pierre Arnaud, der gerade aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden ist, lernt Simone zwei Männer kennen, die in Sprache, Umgangsformen, Kleidung und Klassenbewußtsein kampferprobte Proletarier sind. Aber hier tut sich auch gleich eine Kluft auf:

  • Simone suchte sich ihnen anzuschließen. Es war nicht leicht. Sie verkehrte mit ihnen. Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch in einer Kneipe, um mit ihnen zu essen oder Karten zu spielen, sie ging mit ihnen ins Kino, auf Volksfeste und bat, sie in ihren Wohnungen besuchen zu dürfen, ohne daß vorher die Ehefrauen verständigt würden. Sie waren ein wenig überrascht von dem Verhalten dieses überaus gebildeten jungen Mädchens, das sich einfacher als ihre Frauen kleidete und dessen Interessen ihnen ungewöhnlich schienen.

Einer dieser Arbeiter urteilt rückblickend: »Sie konnte nicht leben, sie war zu gebildet und sie aß nichts.«
Die Klasse, in die man hineingeboren ist, kann man nicht so ohne weiteres verlassen. Simone merkt, daß sie so etwas wie ein Zaungast bleibt, daß ihrem Umgang mit den Arbeitern etwas Künstliches anhaftet, wie sehr sie sich auch bemüht, so zu sein wie sie.
Was sie versucht, ist mehr als nur ein Flirt mit dem Proletariat. Es hat Radikalität. Das hört man aus Jean Paul Sartres Bericht über die junge Philosophielehrerin aus Le Puy heraus:

  • ...sie lebte in einem elenden Hotel und legte auf den Kamin das Geld, das sie besaß; die Tür blieb offen; wer wollte, konnte es nehmen: das ist besser. Der Wohltätertauscht eine Aktiegegen eine gute Tat... die Generosität ist die hauptsächliche Tugend des Besitzenden. Simone W. wollte keine Tugend erwerben, nicht einmal einen Verdienst: sie gab nichts, da sie sich nicht vorstellte, das Geld gehöre ihr... diesbezüglich rede man nicht von Entsagung« oder »Heiligkeit«. Simone W. dachte ganz einfach nicht, daß das Geld ihr gehöre, weil sie das gegenwärtige System der Arbeitsentlohnung als absurd ansah.

Interessant ist, wie Simone de Beauvoir, damals durchaus auch schon eine sich bewußt emanzipierende Frau, auf die Berichte, die vom Leben der »roten Lehrerin«: zu ihr dringen, reagiert:

  • Ihre Intelligenz, ihr Asketentum, ihr Extremismus flößten mir Bewunderung ein; ich wußte, umgekehrt würde es nicht so sein, hätte sie mich gekannt. Ich konnte sie nicht für mein Universum annektieren und fühlte mich vage bedroht. Wir lebten jedoch so weit voneinander entfernt, daß ich mir keine zu großen Sorgen machte. Ich ließ mich trotzdem nicht verleiten, meine Vorsicht aufzugeben: ich wollte nicht wahrhaben, daß auch andere genau wie ich Subjekt, Bewußtsein sein könnten. Ich wollte mich nicht in sie hineindenken: deshalb flüchtete ich auch gern in die Ironie, öfter als einmal verleitete dieses leichtfertige Vorurteil mich zu Härte, Feindseligkeit und Irrtümern.

Simone W. war ein Mensch, der mit einer geradezu rücksichtslosen und für andere bestürzenden Intensität sich mit den zentralen Fragen unserer modernen Existenz auseinandersetzen wollte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ihr Satz: »Man muß über ewige Dinge schreiben, um mit Sicherheit aktuell zu sein.« Man muß die Fahrten der jungen Studienrätin aus Le Puy nach Saint-Etienne und zu anderen Orten, an denen sie sich mit Gewerkschaftsmitgliedern und Arbeitern traf, auch als den Versuch verstehen, die Trennungswand zwischen Theorie und Praxis, zwischen der Gruppe der Hand- und Kopfarbeiter, zwischen der Klasse der Bourgeoisie und der des Proletariats zu durchbrechen.
Sie arbeitet an einem Arbeiterbildungszirkel in Saint-Etienne mit. Sie hilft mit, ihn in Gang zu halten, indem sie einen Teil ihres Gehaltes, das sie als ein ihr schon fast unerträgliches Privileg ansah, zum Ankauf von Büchern verwendet. Sie unterstützt die Solidaritätskasse der Bergarbeiter, denn sie hatte beschlossen, von fünf Francs täglich zu leben, jene Summe, die ein Arbeitsloser in Le Puy bekommt. Albertine Thevenon schreibt:

  • Was sowohl ihrer Intelligenz als auch ihrer Sensibilität, zwei etwa gleichrangige Vermögen ihres Wesens, als entscheidend erschien, war die intime Kenntnis der Beziehung zwischen Arbeit und Arbeitern. Sie dachte, es sei unmöglich, dieses Wissen zu erwerben, ohne selbst Arbeiter zu werden.

Aber Albertine schreibt auch:

  • Ich meinte und meine noch heute, daß die elementaren Reaktionen einer Arbeiterin anders sind als die einer promovierten Philosophin bürgerlicher Herkunft.

Simone konnte sich nicht damit abfinden, »eine in der Arbeiterklasse nur herumreisende Studienrätin« zu sein. Sie lebte auf das Ziel hin, ganz dazuzugehören. Das wird sie trotz leidenschaftlicher Anstrengungen nie ganz erreichen.

Besuch in Deutschland

Im August und September 1932 reist Simone W. während der Schulferien nach Berlin. Ergebnis dieses Auslandsaufenthaltes sind eine Anzahl von Artikeln, die teils in der Zeitschrift Revolution proletarienne, teils in Alains Libres Propos, aber auch in der Zeitschrift der Lehrergewerkschaft erscheinen. Sie enthalten scharfsinnige und desillusionierende Analysen der politischen Lage am Vorabend der Machtergreifung durch Hitler. Simone verstand diese Reise als politische Erkundungsfahrt. Sie will wissen, wie der politische Alltag in der Hauptstadt Deutschlands aussieht, wie die Arbeiter leben, was sie denken, für welche politischen Gruppen sie bereit sind sich zu engagieren. Sie ist sich darüber im klaren, daß eine Machtübernahme durch Hitler und die Nationalsozialisten nicht nur für Deutschland selbst, sondern für ganz Europa grundsätzliche Bedeutung haben wird. Simone geht von der Frage aus, die Trotzki angesichts der Weltwirtschaftskrise Anfang 1932 gestellt hatte: Wird diese Krise der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft zum Faschismus führen oder zur Weltrevolution? Dazu schreibt sie:

  • Die jetzige Etappe des kapitalistischen Regimes - die meisten Untersuchungen der bürgerlichen Ökonomen führen zu diesem Schluß - ist weder mit dem wirtschaftlichen Liberalismus noch folglich mit der bürgerlichen Demokratie vereinbar. Wirtschaft und Staat müssen durch Arbeiter für die Arbeiter gelenkt werden oder durch den Bank- und Monopolkapitalismus gegen die Arbeiter. Die Krise stellt die Frage auf verschärfte Weise. Die normalen polizeilichen Mittel reichen nicht mehr aus, um die kapitalistische Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten. Das ist die Stunde der faschistischen Taktik.

Mit anderen Worten: die herrschende Klasse einer spätkapitalistischen Gesellschaft benutzt den Faschismus als Mittel zur Aufrechterhaltung der überkommenen Gesellschaftsordnung. Wird ihr das gelingen, kann ihr das gelingen oder wird die Revolution des Proletariats kommen?
Solche Sätze, eine solche Fragestellung verraten eine Denkweise, die an der marxistischen Geschichtsphilosophie orientiert ist. Aber Marxismus ist für Simone W. ein Werkzeug für das Verständnis der Wirklichkeit, nicht absolutes Dogma. In Berlin wird sie zum erstenmal auf die Totalität des Politischen aufmerksam, auf die damals gerade für Intellektuelle nicht selbstverständliche Erfahrung, daß politische Ereignisse alle Lebensbereiche durchdringen:

  • Die Revolutionäre lehren seit langer Zeit, das Individuum sei eng und in seiner Gesamtheit mit der Gesellschaft verbunden, die selbst wesentlich durch ökonomische Bedingungen konstituiert werde. Aber in einer normalen Periode ist das nur eine Theorie. In Deutschland ist diese Abhängigkeit ein Fakt, gegen das sich jeder unablässig mehr oder weniger heftig, doch stets schmerzhaft stößt.

Ihr soziales Beobachtungsvermögen ist erstaunlich. Sehr anschaulich schildert sie die lähmende, die Betroffenen in Lethargie stürzenden Auswirkungen der Arbeitslosigkeit:

  • In Deutschland verdienen ehemalige Ingenieure eine kalte Mahlzeit pro Tag durch Vermieten von Stühlen in öffentlichen Parks; Greise mit steifem Kragen und Melone betteln an den U-Bahn-Ausgängen oder singen mit gebrochener Stimme auf der Straße. Studenten verlassen die Universität, um Erdnüsse, Streichhölzer, Schuhriemen zu verkaufen; bisher glücklichere Kommilitonen, zumeist ohne Aussicht auf eine Stelle am Ende des Studiums, wissen, daß es ihnen von einem auf den anderen Tag genauso ergehen kann. Die Bauern sind durch niedrige Preise und Steuern zugrunde gerichtet. Die Betriebsarbeiter empfangen einen unsicheren und elend herabgedrückten Lohn. Jeder erwartet, eines Tages in jenen erzwungenen Müßiggang geworfen zu werden, der das Schicksal von fast der Hälfte der deutschen Arbeiterklasse ist. Mit anderen Worten: in das ermüdende und erniedrigende Hin- und Herlaufen von einer Behörde zur anderen, um zu stempeln und eine Unterstützung zu erhalten. Die Unterstützung ist nach dem vor der Entlassung empfangenen Lohn berechnet und nimmt vom Beginn des Ausscheidens aus der Produktion immer mehr ab, bis sie beinahe den Nullpunkt erreicht.
    Ein Arbeitsloser oder eine Arbeitslose, die bei dem beschäftigten Vater, der Mutter oder dem Ehegatten wohnen, erhält nichts. Ein Arbeitsloser unter zwanzig Jahren erhält nichts. Die vollständige Abhängigkeit des Erwerbslosen, der nicht anders als auf Kosten der Seinen leben kann, verbittert alle Familienbeziehungen. Oft vertreibt diese Abhängigkeit, wenn sie durch Vorwürfe seitens unverständiger und von der Not vergrämter Eltern unerträglich wird, die jungen Arbeitslosen aus der elterlichen Wohnung, um zu vagabundieren, zu betteln, manchmal sich zu töten. Eine eigene Familie gründen, heiraten, Kinder haben: daran können die meisten jungen Deutschen noch nicht einmal denken...

Bedeutet das nun, daß in Deutschland alles auf die Revolution des Proletariats hintreibt?
Seltsamerweise nicht.
Die Tatsache, daß so viele nichts zu verlieren haben, begünstigt, so Simones Urteil, eben nicht die Chance einer Revolution von links.
Vielmehr stellt sie fest: »Die Arbeitslosen gewöhnen sich an ihr Schicksal. Die Arbeiter fürchten, zu den outcasts gestoßen zu werden.«
Daß dem so ist, hat mit der Situation und der Taktik der drei wichtigsten politischen Parteien, der SPD, KPD und der NSDAP zu tun. Simone W. sieht die NSDAP als eine Art Marionette, als Handlanger der herrschenden kapitalistischen Klasse. Das sei der Mehrzahl ihrer Anhänger sogar bewußt:

  • ...sie rechnen auf diese Kraft, um ihre eigene Schwäche zu kompensieren und, ohne zu wissen, wie das geschehen soll, um ihre wirren (kleinbürgerlichen) Träume zu verwirklichen.

Gegen die so an Anhängerschaft und Macht gewinnende faschistische Bewegung könne nur ein Bündnis aller Gruppen des Proletariats helfen. In Wirklichkeit aber herrscht im proletarischen Lager Streit und Zerrissenheit:

  • Mein bisheriger Eindruck läßt mich sagen, daß die deutschen Arbeiter* (*Gemeint ist der sich seiner Klassenzugehörigkeit und seiner Klasseninteressen bewußte Teil der Arbeiterschaft) keineswegs kapitulieren wollen, aber daß sie zu kämpfen unfähig sind. Kommunisten und Sozialdemokraten beschuldigen sich gegenseitig (und sehr zu Recht), daß die jeweils andere Partei kein Vertrauen verdient.

Aber warum ist das so?
Als Antwort verweist Simone auf die historische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie und führt auf, wie die Deutsche Kommunistische Partei letztlich nur Befehlen aus Moskau gehorcht. Sie räumt ein, daß die Sozialdemokraten durchaus gewisse Verdienste hätten, indem ihre Politik auf konkrete Veränderungen zugunsten des Arbeiters abgezielt habe. Diese Politik, die sich mit dem Stichwort >Reformismus< charakterisieren lasse, hat die deutschen Arbeiter zwar nicht von ihren Ketten befreit, aber sie hat ihnen kostbare Güter verschafft: ein wenig Wohlstand, ein wenig Freiheit, Bildungsmöglichkeiten. Doch die deutschen Gewerkschaften haben sich nicht allein den Bedingungen des Regimes angepaßt. Sie sind dem Regime (der Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik) selbst durch Fesseln verbunden, die sie nicht sprengen können.
Die Gewerkschaften, so kritisiert Simone W., seien mit »goldenen, selbstgeschmiedeten Ketten« an den Staatsapparat gefesselt, die Arbeiter aber ihrerseits an den Gewerkschaftsapparat. Wenn Gewerkschaften und Sozialdemokratie durch ihre Verflechtungen mit einem letztlich eben doch bürgerlichen Staat gelähmt seien und somit unfähig, wirksam etwas gegen Hitler und den Nationalsozialismus zu unternehmen, so sei die KPD noch nicht auf diese Weise zum Feind übergelaufen.

  • Sie begab sich noch nicht in die Abhängigkeit des deutschen Staates. Aber von der russischen Staatsbürokratie vollständig beherrscht, ist sie, ähnlich der SPD, von dem gleichen Schwindelgefühl ergriffen, das jeden Bürokraten, der handeln soll, auszeichnet.

Simone kritisiert die Politik der deutschen KPD von einem marxistischen Standpunkt. Das gerade macht ihre Argumentationsweise so interessant, erweist sich doch auch hier, daß Sympathien für ein bestimmtes Lager sie nicht zu Wunschdenken verführen, ihr kritisches Urteil nicht beeinträchtigen können.

  • Lange Zeit war die offen eingestandene Theorie der die KPD führenden Bürokraten, man sollte Hitler ruhig an die Macht kommen lassen. Er würde sich dann schnell abnutzen und der Revolution den Weg ebnen. Gleichwohl hat das italienische Experiment nur zu deutlich gezeigt, daß die Eroberung des Staates durch die faschistischen Banden die Auflösung der Arbeiterorganisationen und die Vernichtung der Funktionäre bedeutet. Gewiß hat die KPD diese Theorie, noch feiger als dumm, später aufgegeben; jetzt stehen ihre Mitglieder täglich im Kampf gegen die Hitlerbanden. Aber im Grund hat die Partei in Gänze ungefähr die gleiche Haltung bewahrt. Sie wartet ab. Statt den scharfen Konflikt, den die SPD und sogar das Zentrum mit dem Faschismus austragen, auszunutzen, wartet sie mit ihren Aktionen, bis die deutsche Arbeiterklasse die Einheitsfront unter ihrer Führung hergestellt hat. Mit anderen Worten: um zu handeln, wartet die KPD, alle deutschen Arbeiter hinter sich zu haben. Aber da sie nichts tut, ist sie noch nicht einmal fähig, einige tausend sozialdemokratische Arbeiter zu gewinnen. Sie begnügt sich damit, alles als faschistisch zu bezeichnen, was nicht kommunistisch ist...

Der nächste Schritt der Analyse befaßt sich dann mit der Frage, warum selbst revolutionär-klassenbewußte Arbeiter »durchschnittlichen Bürokraten« blind vertrauen und folgen.

  • Der Grund besteht in der engen Abhängigkeit derKommunistischen Internationale von einem Staatsapparat (dem der Sowjetunion). Trotzki zufolge entspricht dieser Staat einer bürokratischen Entartung der Diktatur, einer persönlichen Diktatur, die sich auf einen unpersönlichen Apparat stützt und die herrschende Klasse des Landes am Hals würgt.
    Man wird darauf erwidern, die gegenwärtige Regierung hätte in Rußland große Dinge vollbracht. Aber eine Staatsbürokratie kann in dem von ihr beherrschten Land mit Hilfe des Zwanges wie des von der Oktoberrevolution ausgelösten Elans weit größere industrielle Fortschritte erzielen als Aktiengesellschaften der kapitalistischen Länder... aber was eine Bürokratie nicht zu verwirklichen vermag, ist die Revolution. Die beiden Merkmale einer Staatsbürokratie sind die Furcht vor einer entscheidenden Aktion und der von Trotzki erwähnte bürokratische Ultimatismus. »Der Stalinsche Apparat kommandiert nur. Die Sprache des Kommandos ist die Sprache des Ultimatums. Jeder Arbeiter hat im voraus alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Beschlüsse des ZK als unfehlbar anzuerkennen.«

Tiefere Ursache der falschen, weil im Kampf gegen den Faschismus unwirksamen Politik der KPD ist die Gängelung dieser Partei durch die Sowjetunion und durch den dort herrschenden Stalinismus. Die sowjetrussische Führungsspitze, allen voran Stalin, so erklärt Simone, könne gar nicht daran interessiert sein, die kritische Lage revolutionär auszunutzen.

So erstickt die auf der russischen Arbeiterklasse lastende bürokratische Diktatur auch die deutsche Revolution. Würden die Russen imstande sein, sie (die bürokratische Diktatur) zu erschüttern, dann wäre das für die deutschen Arbeiter eine machtvolle Hilfe. Umgekehrt gäbe die deutsche Revolution der russischen einen neuen Aufschwung, der den bürokratischen Apparat zweifellos wegfegen würde.

Die Prognose, zu der Simone W. kommt, ist bitter, aber, wie wir rückschauend wissen, richtig:

  • Die deutschen Arbeiter, die gegen die faschistischen Banden das Erbe der Vergangenheit und die Hoffnung der Zukunft verteidigen, stoßen auf den Widerstand jeder konstituierten Macht, jedes Establishments. Deutscher Staat und russischer Staat, bürgerliche Parteien und traditionelle Arbeitervertreter: entweder als zu überwindendes Hindernis oder als wegzuräumendes totes Gewicht trägt dies alles zur Lähmung der deutschen Arbeiter (und zum Sieg des Faschismus) bei.

Eine ungeschickte Arbeiterin

Im Herbst 1932 wird Simone strafversetzt nach Auxerre. Während in Deutschland Hitler Reichskanzler wird, während der Reichstag brennt, Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftler, Juden und Zigeuner in die KZs gesperrt werden, wiederholt sich für Simone der Mißerfolg von Le Puy. Auch in Auxerre bestehen von den zwölf Kandidaten ihrer Klasse nur drei oder vier die Bakkalaureatsprüfung in Philosophie. Der Philosophiekurs wird daraufhin aufgelöst.
Zwischen dem 5. und 7. August 1933 spricht Simone W. auf einem Kongreß der Vereinigten Lehrerverbände und der Gewerkschaften in Reims. Ihre Kritik an der Deutschlandpolitik der Sowjetunion und der von ihr dirigierten kommunistischen Internationale löst auf dem Kongreß einen Tumult aus. Als Simone nach Rußland reisen möchte, verweigert ihr die sowjetrussische Regierung die Einreise.
Ihre Ferien verbringt sie nun in dem vom Faschismus bedrohten Spanien. Das neue Schuljahr sieht sie am Lycee von Roanna, Loire. Bei Demonstrationen der Bergarbeiter marschiert sie mit, trägt die rote Fahne, hält eine Ansprache. Ende des Jahres trifft sie im Haus ihrer Eltern Leo Trotzki. Beim Abschied sagt Trotzki zu Monsieur und Madame Weil: »Sie können sagen, daß die Vierte Internationale in Ihrem Haus gegründet worden ist.«
Aber später, Mitte 1936, äußert sich Trotzki in einem Brief an Victor Serge eher kritisch über Simone:

  • Sie erzählen mir immer noch von Simone W. Ich kannte sie sehr gut. Ich habe lange Gespräche mit ihr geführt. Einige Zeit hat sie mehr oder weniger mit uns sympathisiert. Dann hat sie allen Glauben an das Proletariat und den Marxismus verloren; sie schrieb nun absurde idealistisch-psychologische Artikel, worin sie die Verteidigung der Persönlichkeit« übernahm; mit einem Wort, sie entwickelt sich zum Radikalismus. Es ist möglich, daß sie sich von neuem nach links wendet. Aber lohnt es die Mühe, noch länger davon zu reden?

Während in Deutschland Hitler beim sogenannten Röhm-Putsch unliebsame Leute in den eigenen Reihen liquidieren läßt und ihm nach dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg die uneingeschränkte Macht zufällt, handelt sich Simone bei den Genossen damit Ärger ein, daß sie fordert, alle Flüchtlinge aus Deutschland, ohne Ansehen der Tatsache, ob sie Kommunisten seien oder nicht, müßten unterstützt werden.
Am 1. Oktober läßt sie sich »zu persönlichen Studien« vom Schuldienst beurlauben und wird Anfang Dezember 1934 Hilfsarbeiterin in der Elektrofirma Alsthom. Als sie an einer Ohrenentzündung erkrankt, kriecht Simone bei ihren Eltern unter, fährt mit ihnen in die Schweiz und versucht dort als Hauslehrerin zu arbeiten. Zwischen dem 11. April und dem 7. Mai arbeitet sie wieder in der Fabrik. Sie wird arbeitslos. Sie bemüht sich um Wiedereinstellung in den Schuldienst. Ihre täglichen Ausgaben schränkt sie auf 3,50 Francs ein. Sie hungert eigentlich ständig. Zwischen dem 5. Juni und dem 22. August arbeitet sie als Fräserin bei Renault. Dann wird sie auch dort wieder entlassen. Ihr schlechter Gesundheitszustand macht einen Urlaub in Portugal nötig.
Warum geht Simone W. in die Fabrik?
Die Erfahrungen in Deutschland, in der Gewerkschaftsbewegung, aber auch die Gespräche mit Trotzki, haben bei Simone neue Überlegungen ausgelöst:
Die zur Doktrin erstarrte überlieferte Lehre des Marxismus reicht nicht aus, um bestimmte Probleme der aktuellen politischen Entwicklung zu lösen. Die Hitlerdiktatur, die Deformation der UdSSR zu einer Gesellschaft des Staatskapitalismus, die Entwicklung der Kommunistischen Internationale zu einem Herrschaftsinstrument im Dienste des Stalinismus - all dies durfte nicht sein und war doch. All dies diente längst nicht mehr der Befreiung der Arbeiter, der Proletarier, für deren Befreiung sich die junge Frau engagiert hatte.
Es mußten in all dem Denkfehler verborgen sein. Fehler in der Theorie. Fehler bei der Übersetzung von Theorie in Praxis, bei der Erklärung und Überprüfung der Praxis durch die Theorie. Vielleicht war es einer der ärgsten Fehler, daß die großen richtungsweisenden Theoretiker des Marxismus nie die Wirklichkeit des Arbeitslebens kennengelernt hatten. An Albertine Thevenon im Frühjahr 1934:

  • ...doch wenn ich daran denke, daß die bolschewistischen Führer eine freie Arbeiterklasse zu schaffen behaupteten und daß wahrscheinlich keiner von ihnen-Trotzki sicher nicht und Lenin, glaube ich, auch nicht-je den Fuß in eine Fabrik setzte und folglich nicht die leiseste Ahnung von den wirkl ichen Bedingungen hatte, die die Knechtschaft oder Freiheit der Arbeiter bestimmen, dann erscheint mir die Politik als ein übler Witz.

Simone verschafft sich praktische Erfahrung, sie erlebt in einem theoretisch nie vorstellbaren Maße die Auslöschung der menschlichen Selbstbestimmung durch die Maschine.

  • In dieser Sklaverei gibt es zwei Faktoren: Geschwindigkeit und Befehle. Geschwindigkeit: um »es« zu schaffen, muß man jede Bewegung in einem Rhythmus wiederholen, der rascher als das Denken, nicht nur das Denken, sondern auch das Träumen verbietet. Wenn man sich an eine Maschine stellt, muß man acht Stunden täglich seine Seele knebeln, sein Denken, seine Empfindungskraft, alles.
    Ist man verärgert, traurig oder angeekelt, muß man dies hinunterschlucken, verdrängen: Ärger, Trauer oder Ekel würde das Arbeitstempo verlangsamen. Und sogar die Freude. Befehle. Von der Stechuhr beim Hineingehen bis zum Hinausgehen an der Stechuhr vorbei kann man jeden Augenblick irgendeinen Befehl bekommen. Und immer muß man schweigen und gehorchen. Die Ausführung der Anweisungen kann mühselig, gefährlich oder sogar unmöglich sein; auch können zwei Chefs einander widersprechende Anweisungen erteilen; es macht nichts: schweigen und gehorchen. Sich an den Chef wenden - selbst für etwas Notwendiges - heißt immer, auch wenn es sich um einen netten Typ handelt (auch nette Typen haben ihre Launen), sich einer möglichen Zurechtweisung aussetzen; und wenn dies geschieht, muß man ebenfalls schweigen. Die Anwandlungen von Nervosität und schlechter Laune muß man niederhalten; sie dürfen sich weder in Worten noch in Gesten bekunden, denn die Gesten sind in jedem Augenblick durch die Arbeit bestimmt. Diese Situation hat zur Folge, daß das Denken verkümmert, sich verkrampft wie das Fleisch vor dem Messer. Man kann nicht >bewußt< sein.
    All dies gilt natürlich für die ungelernte Arbeit. (Hauptsächlich die der Frauen.)
    Ein Lächeln, ein gütiges Wort, einen Augenblick menschlichen Kontaktes, die durch all dies hindurchscheinen, sind wertvoller als die ausgreifenden Freundschaften unter den großen und kleinen Privilegierten. Aber es gibt nur wenige, sehr wenige solcher Zeichen. Meist spiegelt selbst die Beziehung zwischen Arbeitskollegen die Härte, die dort drinnen alles beherrscht...

Menschen, die so arbeiten, stellt sie fest, verwandeln sich in »ergebene Lasttiere«, in »Sklaven«. Wer ihr in dieser Zeit entstandenes Fabriktagebuch und die damit zusammenhängenden Aufsätze und Briefe liest, wird auf Hunderte von präzisen Detailbeobachtungen darüber stoßen, was Akkordsystem, automatische Arbeit und Unterwerfung des Menschen unter den erbarmungslosen Rhythmus der Maschinen konkret bedeuten. Simone berichtet mehr als einmal von Menschen, die kapituliert haben, völlig abgestumpft sind, aber auch von ihren eigenen Anstrengungen, sich nicht um die Fähigkeit, »denkend zu leben«, bringen zu lassen.

Arbeiterleben

In ihrem 1936 entstandenen Text Leben und Streik der Metallarbeiterinnen macht Simone W. deutlich, was >Fabrikalltag< heißt, was >Unterdrückung< und >Ausbeutung< jenseits ihres Gebrauchs als ideologisch-propagandistische Schlagworte bedeuten.
Einige Auszüge, neu zusammengestellt, vermitteln wohl am besten Simones Erfahrungen.

  • Arbeit
    ...jetzt stehe ich an der Maschine. Fünfzig Stück abzählen... sie nacheinander auf die Maschine legen, auf die eine Seite, nicht auf die andere... jedesmal einen Hebel bedienen... das Stück herausnehmen... ein anderes hineinlegen... noch ein anderes... wieder zählen... ich bin nicht schnell genug. Schon macht sich Müdigkeit bemerkbar. Man muß sich beeilen, verhindern, daß eine kurze Unterbrechung eine Bewegung von der nachfolgenden Bewegung trennt. Schnell, immer noch schneller! Also ran! Ein Stück habe ich auf die falsche Seite gelegt. Wer weiß, ob es das erstemal ist? Man muß aufpassen. Dieses Stück liegt richtig. Auch jenes. Wie viele habe ich in den letzten zehn Minuten geschafft? Ich bin nicht schnell genug. Ich beeile mich noch mehr. Allmählich verführt mich die Arbeitsmonotonie zum Träumen. Während einigerSekunden denke ich an allerlei Dinge. Plötzliches Erwachen: Wieviele Stücke habe ich gemacht? Es sind bestimmt nicht genug. Nicht träumen. Sich noch mehr beeilen. Wenn ich nur wüßte, wie viele man schaffen muß! Ich blicke mich um. Niemand hebt den Kopf, niemals. Niemand lächelt. Niemand spricht ein Wort. Wie einsam man ist. Ich schaffe 400 Stück in der Stunde. Wie soll ma n wissen, ob es genug ist? Wenn ich dieses Tempo wenigstens halten könnte... Klingelzeichen mittags, endlich. Jeder stürzt an die Stechuhr, in den Umkleideraum, aus der Fabrik hinaus. Man muß essen. Glücklicherweise habe ich noch Geld. Aber man muß haushalten. Wer weiß, ob man mich hier behalten wird? Ob ich nicht wieder weitere Tage arbeitslos sein werde?
  • Hunger
    Verdient man 3 Francs pro Stunde oder gar4 Francs, dann genügen irgendein Unglück, eine Arbeitsunterbrechung, eine Verletzung, um eine Woche oder länger hungernd arbeiten zu müssen. Keine Unterernährung, sondern wirklicher Hunger. Mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden, ist Hunger ein qualvoller Zustand. Man muß ebenso schnell wie gewöhnlich arbeiten. Und vor allem riskiert man einen Rüffel wegen unzulänglicher Produktivität, vielleicht sogar die Entlassung. Es ist keine Entschuldigung zu sagen, man habe Hunger. Man hat Hunger, dennoch sind die Forderungen jener Leute zu erfüllen, die einen in jedem Augenblick dazu verurteilen können, noch mehr hungern zu müssen. Wenn man nicht mehr weiter kann, muß man sich eben noch mehr anstrengen. Beim Verlassen der Fabrik sofort nach Hausegehen, um der Versuchung des Essens zu entkommen und auf den Schlaf zu warten, der übrigensgestört wird, weil man selbst in der Nacht Hunger spürt...
  • Furcht
    Selten sind die Augenblicke im Laufe eines Tages, da das Herz nicht von Furcht geplagt ist. Am Morgen die Furcht vor dem ganzen Tag, den es zu überleben gilt. In der Metro unterwegs nach Billancourt gegen 6.30 Uhr früh steht auf den meisten Gesichtern die Spannung dieser Furcht. Hat man nicht reichlich Zeit, so fürchtet man die Stechuhr. Bei der Arbeit fürchten alle, denen es schwerfällt mitzuhalten, nicht ausreichend flink und schnell zu sein. Die Furcht, Stücke zu verderben, wenn man das Tempo beschleunigt, weil die Geschwindigkeit eine Art Trunkenheit erzeugt, die die Aufmerksamkeit auslöscht. Die Furcht vor all den kleinen Pannen, die Stücke verderben oder ein Werkzeug zerbrechen lassen. Im allgemeinen die Furcht vor Rügen. Man nähme viele Schmerzen in Kauf, um nur eine Rüge zu vermeiden. Der geringste Verweis ist eine schwere Demütigung, weil man nicht zu antworten wagt. Und wie viele Vorfälle und Handlungen können in einen Verweis münden! Die Maschine wurde vom Einrichter schlecht eingestellt; ein Werkzeug ist aus schlechtem Stahl; manche Stücke sind schwer einzulegen: man wird angeschnauzt. Man sucht den Chef in der ganzen Werkhalle, um Arbeit zu bekommen: man wird zurechtgewiesen. Hätte man vor seinem Büro auf ihn gewartet, hätte man ebenfalls einen Rüffel riskiert. Beklagt man sich über eine zu schwere Arbeit oder ein zerstörerisches Arbeitstempo, wird man brutal daran erinnert, daß Hunderte von Erwerbslosen auf einen Arbeitsplatz warten...
  • Situationen
    ...Frauen warten vor einem Fabriktor. Man darf erst zehn Minuten vor Arbeitsbeginn hinein, und wenn man entfernt wohnt, muß man zwanzig Minuten früher kommen, um keine Minute Verspätung zu riskieren. Eine kleine Tür steht offen, aber offiziell ist »nicht geöffnete Es gießt in Strömen. Die Frauen stehen im Regen vorder offenen Tür...
  • Was noch? Ein Fabrikumkleideraum während einer kalten Winterwoche. Der Raum ist ungeheizt. Man betritt ihn bisweilen, nachdem man einige Stunden lang vor einem Ofen gearbeitet hat. Man schreckt zurück wie vor einem kalten Bad. Aber man muß eintreten, muß dort seine mit Schnittwunden bedeckten Hände in eiskaltes Wasser tauchen, sie kräftig mit Sägemehl reiben, um öl und Metallstaub zu entfernen. Zweimal täglich. Natürlich ertrüge man noch schlimmere Leiden, aber diese hier sind unnötig! Sich bei der Betriebsleitung beschweren? Niemand denktauch nur einen Moment daran. »Sie scheren sich nicht um uns.« Das mag wahr sein oder nicht - jedenfalls machen sie auf uns diesen Eindruck.
  • Eine Entlassung
    Man entläßt mich aus einem Betrieb, in dem ich einen Monat arbeitete, ohne daß man je Kritik an meiner Tätigkeit geübt hätte. Was hat man gegen mich? Niemand hielt sich für verpflichtet, es mir zu sagen. Bei Arbeitsschluß kehre ich zurück. Da ist der Werkmeister. Höflich bitte ich um eine Erklärung. Er antwortet: »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig« und läßt mich stehen. Einen Skandal machen? Ich würde riskieren, nirgendwo mehr eingestellt zu werden. Nein, ich gehe fort, wandere wieder die Straßen entlang, stehe vor Fabrikbüros. Je mehr Wochen verstreichen, desto stärker spüre ich in mir ein Gefühl, von dem nicht zu sagen ist, ob es Angst oder Hunger meint...

Brief an eine Schülerin

In die ersten Monate der Fabrikarbeit fällt ein Brief an eine Schülerin, den ich für eines der wichtigsten Zeugnisse über Simone W.'s Bewußtsein halte. Er gibt Aufschluß über das sehr enge Verhältnis zu bestimmten Schülerinnen ihres Philosophiekurses, ein Verhältnis, bei dem es Simone mehr darum ging, die Schülerinnen auf eine humane Lebenshaltung und Lebensführung in schlimmen Zeiten vorzubereiten als auf das sieghafte Bestehen von Examen.
Mehr noch: Der Brief gibt Auskunft über ihr Privatleben, ihre Gefühlswelt, über jenen Bereich ihrer Persönlichkeit, der, bedingt wohl durch ihre Präsentation als >religiöse Schriftstellerin< in den Publikationen über Simone Weil eher verschleiert denn erhellt wird.
Angelica Krogmann gibt sich damit zufrieden, bei Simone W. eine gewissermaßen angeborene Neigung zu Askese, Reinheit und Keuschheit anzunehmen. Das ist natürlich, milde gesagt, unzureichend und weicht dem Problem aus. Auch keiner der beiden großen französischen Biografen Simone W.'s reflektiertes hinreichend, und selbst Heinz Abosch, dessen Verdienst es ist, die Gesellschaftskritikerin Simone W. für den deutschsprachigen Raum entdeckt zu haben, schreibt reichlich kryptisch:

  • W. scheint ihre Weiblichkeit abgelehnt zu haben; ihre Haltung zum Geschlechtlichen trug gewiß anomale Züge. Von psychoanalytischen Beiträgen ist einiger Aufschluß zu erhoffen.

Angesichts solchen Sich-Zierens und solcher Unsicherheit scheint es am vernünftigsten, sich an Aussagen Simones zu halten. Sie sind rar, aber bezeichnend. Ihrer Schülerin schreibt sie:

  • In bezug auf die Liebe kann ich Ihnen keine Ratschläge geben, bestenfalls Warnungen. Die Liebe ist etwas Ernstes, wobei man oft für immer sein eigenes Leben und das eines anderen Menschen aufs Spiel setzt. Das tut man allemal, es sei denn,einerder beiden mache aus dem anderen sein Spielzeug, aber in diesem letzten, sehr häufigen Sinn ist die Liebe etwas Schändliches. Sehen Sie, das Wesen der Liebe besteht im Grund darin, daß ein Mensch ein vitales Bedürfnis nach einem anderen Menschen verspürt, je nach den Umständen ein wechselseitiges Bedürfnis oder nicht, dauerhaft oder nicht. Das Problem ist nunmehr, ein solches Bedürfnis mit der Freiheit zu versöhnen, und die Menschen haben sich mit diesem Problem seit undenklichen Zeiten herumgeschlagen. Daher erscheint mir der Gedanke als gefährlich und vor allem kindisch, Liebe zu suchen, um festzustellen, was sie ist, um ein trostloses Dasein ein wenig zu erfrischen usw.
    Ich kann Ihnen gestehen, daß ich in Ihrem Alter und auch später, als die Versuchung kam, Liebe kennenzulernen, mich dagegen zur Wehr gesetzt habe, indem ich mir sagte, es sei besser, mei n ganzes Leben nicht in einer unvorhersehbaren Richtung zu orientieren, bevor ich einen Reifegrad erreicht habe, der mir zu wissen erlaubt, was ich im allgemeinen vom Leben verlange und erwarte. Ich zitiere Ihnen dies nicht als ein Beispiel; jedes Leben entfaltet sich nach seinen eigenen Gesetzen. Aber Sie mögen darin Stoff zum Nachdenken finden. Ich füge hinzu, daß die Liebe eine noch schrecklichere Gefahr zu enthalten scheint, als wenn man blind seine Existenz aufs Spiel setzt; es ist die Gefahr, der Schiedsrichter einer anderen menschlichen Existenz zu werden, sofern man wirklich geliebt wird. Meine Schlußfolgerung (die ich Ihnen nur als Hinweis mitteile) lautet nicht, man solle die Liebe fliehen, sondern man solle sie nicht suchen, vor allem, wenn man sehr jung ist. Ich glaube, es ist dann besser, ihr nicht zu begegnen.

Die Realität des Lebens, schreibt Simone, liege nicht in Empfindungen, sondern in der Tätigkeit.

  • Empfindungen zu suchen, schließt einen Egoismus ein, der mich entsetzt. Natürlich verhindert dies nicht zu lieben, aber es impliziert, die geliebten Wesen für bloße Ablässe des Genusses oder des Leidens anzusehen und vollständ ig zu vergessen, daß sie selbständig an sich und für sich existieren. Man lebt inmitten von Gespenstern. Man träumt, statt zu leben.

Aus der emphatischen Formulierung besonders des letzten Satzes läßt sich schließen, daß Simone hier eigenes, sehr persönliches Erleben verarbeitet. Nahe liegt die Vermutung, daß das erste Liebeserlebnis, auf das der Brief anspielt, als Objekt der Wünsche den Bruder hatte. Dem steht nur scheinbar entgegen, daß auch jener Bruder nach Simones Tod zu ihrer Stilisierung zur Heiligen beigetragen hat. 1975 erklärte der zu diesem Zeitpunkt 69jährige Professor André Weil auf einem Symposion des Massachusett Institute for Technology in Harvard:

  • Aus mir zum Beispiel ist ein Mathematiker geworden. Von einem sehr frühen Alter an gab es bei mir nie eine Frage darüber, ob ich ein Mathematiker werden wolle oder werden würde oder nicht, ich war einer. Ihre (meiner Schwester) Berufung, Rolle oder Geschäft im Leben war von einem sehr frühen Alter an das einer Heiligen, und sie bereitete sich ganz ehrlich auf dieses Geschäft vor. Es ist eine Frage der persönlichen Ansichten, ob man findet, sie sei eine gute Heilige, eine mittelmäßige Heilige oder eine erstklassige Heilige gewesen.

Bei einer Heiligen ist eine nichtsanktionierte Liebe zum leiblichen Bruder natürlich undenkbar. Aber wäre die Stilisierung zur Heiligen nicht eine prächtige Lösung, ein perfekter Abwehrmechanismus für das Objekt dieser Liebe? Auf eine einfache Formel gebracht, läßt sich als Hypothese abnehmen, Simone, noch die Simone der Pubertät, liebte ihren Bruder. Diese Liebe verstieß gegen die Normen, sie mußte deswegen verdrängt werden. Eine erstaunliche Perspektive eröffnet sich, wenn man die mögliche Konsequenz bedenkt: Weil man seinen leiblichen Bruder nicht lieben darf, entschließt man sich zur Leidenschaft der Brüderlichkeit, zur Liebe zu allen Menschen.

Grenzsituation

Wir lesen in der modernen Literatur häufig von Menschen in Extremsituation. Dieses Spiel auf der Bühne eines Romans gefällt und fasziniert uns, solange wir Zuschauer sind. Haben wir eine Vorstellung davon, wie wir reagieren würden, sollten wir Stiller, Katharina Blum oder Oskar Matzerath in der Wirklichkeit begegnen? Manchmal bekommen wir eine Andeutung von einer Ahnung, wie das sein würde. Beispielsweise bei Simone W. Gewiß erregt sie Ärgernis, Anstoß. Ein Geistlicher, der ihr nahestand, viel mit ihr umging, läßt einen Stoßseufzer hören, daß reale Heilige schwierige Menschen seien. Doch vor brutaler Repression schützte sie die Heiligenrolle, deren geschichtliche Tradition. Heilige sind eben so, dürfen so sein. Wie, wenn ich den Spieß einmal umdrehte, wenn ich Gudrun Ensslin als eine Heilige vorstellte?

Marx wiederbetrachtet

Wenn theoretische Überlegungen Simone W. dazu drängen, die Praxis kennenzulernen, so haben umgekehrt die Erfahrungen der Praxis ihre Auswirkungen auf ihre theoretischen Überlegungen. Bestürzt von der Wucht des Elends in der Arbeitswelt, geht sie noch einmal die Lehre von Karl Marx kritisch durch.
Sie beginnt konsequent dort, wo Marx in seinem Denken seinen Ausgang nimmt, bei Hegel. Marx, so stellt sie fest, sei schließlich selbst derselben Versuchung erlegen wie Hegel. Der kanonisierte Marxismus ist für sie umgekehrtes Hegelianertum. Bei der Entwicklung seiner Geschichtsphilosophie, also der Erklärung, wie Geschichte verläuft, welche Kräfte sie wie antreiben, setzt Marx an Stelle des Geistes (bei Hegel) die Materie, die Produktivkräfte, denen die Funktion zukommt, die nach Hegel das Wesen des Geistes ausmacht, »ein unendliches Streben nach Besserem.«
Die Emanzipation des Menschen ergibt sich bei Marx aus der Entfaltung der Produktivkräfte. Er erklärt die Geschichte als eine Folge von Klassenkämpfen. Dialektisch trägt die eine Gesellschaftsordnung den Keim der kommenden in sich. Der Kapitalismus gedeihe bis zu einem Punkt, da er durch die Struktur seiner Produktivkräfte in etwas anderes umschlägt. Für Marx ist somit jeder Fortschritt der Produktivkräfte auch ein Schritt auf dem Weg zur Befreiung des Menschen.
Schon Marx, aber erst recht seine russischen Nachfolger, so Simone W., hätten aus den Produktivkräften eine Gottheit werden lassen, aus dem technisch-industriellen Fortschritt eine Religion.
Diesen >Glauben< meint Simone W. auch bei den Machthabern in der Sowjetunion zu erkennen. Sofern sie nicht Zyniker der Macht seien, bezögen sie aus diesem Glauben »die moralische Sicherheit«, die demokratischen Rechte zu vernichten. Sie trösteten sich damit, daß die unter solchen Opfern vorangetriebene Industrialisierung irgendwann zwangsläufig das Reich der Freiheit oder der klassenlosen Gesellschaft bringen werde.
Simone W. macht die bestür2ende Feststellung: Man kann durchaus den Kapitalismus beseitigen, wie dies in der Sowjetunion geschehen ist, ohne ein Mehr an menschlicher Freiheit zu schaffen. Jener »Übergangsstaat«, der dort entstanden ist, ist in ihren Augen keine Vorstufe zum »Reich der Freiheit«, zur klassenlosen Gesellschaft, sondern eine neue Form bürokratischer Herrschaft, ein totalitärer Staat. Sie entdeckt etwas, das Marx und Engels entgangen zu sein scheint und auch sonst von keinem marxistischen Theoretiker erkannt worden ist: Die in der Großindustrie bestehenden Herrschaftsverhältnisse scheinen gegen die Emanzipationsbestrebungen der Menschen resistent zu sein.
An der in der Realität zu beobachtenden Fehlentwicklung sei aber auch Marx insofern nicht unschuldig, als er Produktion und Genußerfahrung propagiert habe. So wenn er in den Grundrissen schreibe

  • Also keineswegs Entsagen von Genuß, sondern Entwickeln von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl die der Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses

Simone W. beurteilt eine immer mehr sich ausweitende Genußfähigkeit (man könnte auch sagen: Bedürfnis nach zivilisatorischem Komfort), verbunden mit einer Ausweitung und Differenzierung der Produktivkräfte, höchst skeptisch. Es scheint ihr unvorstellbar, daß je alle schwere Arbeit dem Menschen durch Maschinen abgenommen werden könnte. Sie schreibt:

  • Überdies sind die automatischen Maschinen nur in dem Maß vorteilhaft, wie man sie serienweise und in großen Mengen arbeiten läßt: ihr Arbeitseinsatz ist folglich mit jener Unordnung und Vergeudung verbunden, die eine übertriebene ökonomische Zentralisierung hervorruft; andererseits sind sie eine Versuchung, viel mehr zu produzieren, als dies zur Befriedigung wirklicher Bedürfnisse notwendig wäre, wodurch nutzlose Schätze an menschlicher Arbeitskraft und an Rohstoffen vergeudet werden.

Im Gegensatz zu Marx und Lenin sieht Simone W. als Ergebnis der Ausweitung und Differenzierung der Produktivkräfte nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern eine Überflußgesellschaft. Sie erkennt, daß eine fortschreitende Technik mit einem breiten Angebot an Komfort zugleich auch Leiden produziert, Herrschaft nicht abgebaut, sondern neue Formen von Herrschaft entwickelt werden.
Und noch eine Entdeckung macht Simone in diesem Zusammenhang: Die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß die proletarische Revolution nur in dem einen oder in dem einen und anderen Land in einer Epoche siegt, keineswegs aber weltweit. Weil das aber so ist, sieht sich auch eine Gesellschaft, in der eine Revolution des Proletariats stattgefunden hat, zunächst gezwungen, Ausbeutung und Unterdrückung erst einmal zu verstärken.

  • In der Darstellung von Marx ist die wirkliche Ursache der Ausbeutung der Arbeiter nicht der Genuß- und Konsumwunsch seitens der Kapitalisten, sondern die Notwendigkeit, das Unternehmen so rasch wie möglich zu vergrößern, um seine Macht gegenüber Konkurrenten zu erhöhen.
    Nun muß jedoch nicht nur ein Unternehmer, sondern jede maximal arbeitende Gesellschaft den Konsum ihrer Mitglieder maximal einschränken, um möglichst viel Zeit der Herstellung von Waffen gegen rivalisierende Gemeinschaften zu widmen. Solange auf der Erdoberfläche ein Machtkampf stattfindet und solange der entscheidende Siegfaktor die Industrieproduktion ist, werden daher die Arbeiter ausgebeutet sein...

Im Grund polemisiert Simone W. gegen blindes Geschichtsvertrauen, wie sie es im marxistischen Lager sieht, gegen die Vorstellung, der Lauf der Geschichte müsse das Paradies bringen. Die Lehre von einem mechanischen Ablauf von Geschichte stützt die Zyniker der Macht, sichert die Herrschaft der Bürokraten. Das fördert somit nicht die Befreiung des Proletariats und des Menschen überhaupt, sondern dient einem Pseudo Sozialismus als ihn rechtfertigende Ideologie.

Sie besteht darauf, unglücklich zu sein

In den acht Monaten, in denen Simone W. als Fabrikarbeiterin lebt, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand entscheidend. Immer wieder muß sie wegen Ohrenschmerzen, Stirnhöhlenvereiterung oder Kopfschmerzen aussetzen. Trotz aller Anstrengungen und eiserner Selbstdisziplin ist es ihr fast nie gelungen, die bei Akkordarbeit geforderten Normen zu erfüllen. Daß sie sich gleichzeitig oder kurz danach über schwerwiegende Fehler im Denkgebäude der Marxschen Lehre und über deren katastrophale Auswirkungen klar geworden ist, ohne aber eine Lösung der erkannten Probleme anbieten zu können, dürfte zu jenem Sturz in den Pessimismus geführt haben, der in vielen Äußerungen und Reaktionen deutlich wird. In den Osterferien 1936 arbeitet sie auf einem Bauernhof. Auch dieses Experiment mit körperlicher Arbeit< verläuft eher frustrierend. Die Bauersfrau, Madame Belleville, berichtet:

  • Sie wusch sich nie die Hände, ehe sie die Kühe molk. Sie wechselte nie ihre Kleider, und sie hörte nie auf, vom künftigen Martyrium der Juden, von der Armut, von Deportation und den Schrecken des Krieges, den sie für die nahe Zukunft voraussah, zu lamentieren. Als wir ihr schönen sahnigen Käse vorsetzten, schob sie ihn fort und erklärte, sie könne nichts davon essen, solange Kinder in Indonesien hungerten.

Schließlich gibt man ihr zu verstehen, man werde es begrüßen, wenn sie sich irgendwo anders Arbeit suche. Madame Belleville erklärt später, das viele Denken und Studieren müsse die junge Dame wohl um den Verstand gebracht haben. Der Spanische Bürgerkrieg ist ausgebrochen. Eine innerlich zerstrittene Demokratie muß sich gegen den Putsch faschistischer Generale zur Wehr setzen. Für Hitler und Mussolini wird Spanien zum Übungsfeld jener Waffen, mit denen sie später den II. Weltkrieg zu führen gedenken. Die Sowjetunion unterstützt die schwache Republik nur zögernd. Für die westlichen Demokratien stellt der Konflikt eine unliebsame Störung ihrer Befriedigungspolitik dar.
Ohne ein Wort Spanisch zu sprechen, reist Simone W. nach Katalonien und schließt sich dort der Arbeiterpartei der marxistischen Einigung (POUM) an. Sie meldet sich freiwillig zu einem gefährlichen Unternehmen hinter den feindlichen Linien und ist enttäuscht, als man sie abweist. Sie trägt Uniform und ein Gewehr, aber offenbar ist sie nicht in der Lage, damit umzugehen. Man teilt sie zur Küchenarbeit ein. In ihrer Ungeschicklichkeit tritt sie in eine Pfanne mit siedendem Fett und zieht sich schwere Verbrennungen zu. In Sitges bei Barcelona spüren die Eltern die Verletzte auf. Durch das Eingreifen des Vaters kann verhindert werden, daß sie durch unsachgemäße Behandlung der Brandwunden das Bein verliert. Die Eltern nehmen sie mit zurück nach Frankreich. Sie selbst hat aus ihrer etwas voreiligen Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg, zu der sie ihr so ausgeprägter Sinn für Solidarität verleitet hatte, gelernt, daß man »der Angst zu töten und der Lust zu töten gleichermaßen widerstehen muß.« Ihr ist auch klar geworden, daß aus einem gerechten Kampf der hungernden Bauern gegen die Grundbesitzer und einen Klerus, der mit diesen weitgehend gemeinsame Sache macht, ein Machtkampf der Großmächte geworden ist, bei dem es schließlich am allerwenigsten noch um die Interessen des spanischen Volkes geht. Später nennt sie den Bürgerkrieg einen »Söldnerkrieg« und ist selbstkritisch genug, einer Freundin einzugestehen: »Mein Unfall in Spanien war mein Glück.«

Toujours Antigone

»Toujours Antigone« ist ein Wort aus den allerletzten Lebenstagen Simones. Zusammen mit der Vorstellung, daß man jeweils der leichteren Waagschale sein eigenes Gewicht beizusteuern habe, definiert es wohl am besten jene individuelle Moral, mit der sie versucht, einem Leben in barbarischen Zeiten Sinn beizulegen. Indem Simone diese Parole gegen jeden zu wenden bereit ist, unter Umständen, wie sie selbst sagt, auch gegen die Kirche, ja selbst gegen Gott, erfüllt sie jene Aufforderung ihres Lehrers Alain, der ihr einmal geschrieben hatte: »Behalten Sie, was ich gesagt habe: Was menschenfeindlich ist, das ist falsch.« Diese Moral umschreibt auch ein anderes Stichwort: Flucht aus dem Lager des Siegers.
Vieles an ihrem Leben, was einem bizarr, fragwürdig, verrückt vorkommt, erscheint, gemessen an diesem ethischen Anspruch, wohl als ein Verstoß gegen vertraute Normen, aber im Sinn dieser Ethik völlig plausibel.

Finstere Zeiten

Wegen ihrer Brandwunden bleibt sie vom Schuldienst beurlaubt. Im Frühjahr 1937 reist sie nach Italien, nach Mailand, Assisi, Florenz, Rom. Klar ist zu erkennen, daß nun der entscheidende Schritt zur Mystik erfolgt: »In Assisi zum erstenmal auf den Knien.« Das Bedürfnis nach transzendentaler Kommunikation nimmt bei ihr mehr und mehr zu. Am Palmsonntag 1938 hat sie ein mystisches Erlebnis beim Anhören einer Gregorianischen Messe in der Benediktiner-Abtei Solesmes.

  • Ich hatte bohrende Kopfschmerzen; der Ton tat mir weh wie ein Schlag, und da erlaubte mir eine äußerste Anstrengung der Aufmerksamkeit, aus diesem elenden Fleisch herauszutreten, es in seinen Winkel gekauert allein zu lassen.

Ihre erste Christuserscheinung hat sie im Herbst, zu einer Zeit großer politischer Bedrohung: Einmarsch der deutschen Truppen ins Sudetenland, am 9. November Ausschreitungen in Deutschland gegen die Juden, >Reichskristallnacht<. Später wird man Simone vorwerfen, daß sie zwar gegen Hitler, nicht aber gegen seinen Antisemitismus Stellung genommen habe. 1938 vertritt sie, wie viele Franzosen, einen radikalen Pazifismus, der auch einen Frieden mit dem Dritten Reich anstrebt. Zu diesem Zweck sollen sogar antikommunistische und antijüdische Gesetze in Kauf genommen werden. Dies wäre »an sich ziemlich gleichgültig«, meint sie in sträflicher Gelassenheit. Tatsächlich verstärken sich bei ihr gewisse antijüdische Tendenzen mit der Hinwendung zum Katholizismus.
Bereits vor Kriegsausbruch hat sie ihren Pazifismus verworfen und dazu aufgerufen, Hitler entschieden entgegenzutreten. Ihr Bruder, der einen Lehrstuhl in Straßburg innehatte, kann noch rechtzeitig nach Skandinavien und dann nach Amerika flüchten. Sie selbst empfindet Skrupel darüber, ob Frankreichs Sache in diesem Krieg eine gerechte Sache sei, »wegen der Kolonien.« 1940 plant sie eine Truppe von Frontkrankenschwestern, natürlich unter ihrer Beteiligung. Bei Hitlers Blitzkrieg im Westen bleibt sie bis kurz vor Einmarsch der deutschen Truppen in Paris, flieht dann mit den Eltern über Vichy nach Marseille, das in der von den Deutschen nicht besetzten Zone der Petain-Regierung liegt. Dort wird sie wegen Beteiligung an der Resistance und Verteilens verbotener Schriften inhaftiert. Man läßt sie als >geistesgestört< wieder frei.
Noch in Paris oder schon in Marseille, ganz genau läßt sich das nicht rekonstruieren, schreibt sie folgenden Text nieder:

  • Er trat in mein Zimmer und sagte: Elendes Geschöpf, du verstehst nichts, du weißt nichts. Komm mit mir, und ich werde dich Dinge lehren, von denen du keine Ahnung hast. Ich folgte ihm. Er führte mich in eine Kirche. Sie war neu und häßlich. Erging mit mir vor den Altar und sagte: Knie nieder. Ich sagte ihm: Ich bin nicht getauft. Er sagte: Fall auf die Knie an diesem Ort in Liebe, denn hier ist der Ort, wo Wahrheit ist. Ich gehorchte.
    Er führte mich hinaus und stieg mit mir bis zu einer Mansarde in einem Haus hinauf... Das Licht der Sonne stieg auf, wurde blendender und wieder schwächer und dann blickten die Sterne und der Mond durch das Fenster. Und wieder stieg Morgenröte auf. Manchmal legten wir uns auf den Boden der Mansarde, und es überkam mich die Süßigkeit des Schlummers. Dann erwachte ich und trank das Licht der Sonne. Zuweilen hielt er inne, holte aus einem Schrank ein Brot, und wir teilten es. Dieses Brot schmeckte wirklich nach Brot. Niemals mehr habe ich diesen Geschmack wiedergefunden. Er schenkte mir und sich Wein ein, der nach Sonne schmeckte und nach der Erde, auf der diese Stadt gebaut ist...

Nach Simones Vorstellung handelt es sich um den Bericht über eine Christuserscheinung. Beachten sollte man, daß der Mann, den sie trifft, der sie erst in eine Kirche, dann in eine Mansarde führt, mit dem sie redet, eine Nacht verbringt, Brot und Wein teilt, nirgends mit Namen genannt wird. Deutlich hat der Text den Unterton einer erotischen Phantasie, wie übrigens die meisten Texte von Mystikerinnen.
Vergleicht man diesen Erguß mit ihren früheren Schriften, so wird die Wandlung mit besonders erschreckender Deutlichkeit sichtbar. Verständlich wird das nur durch einen unerträglichen Mangel an Kommunikation und Liebe, durch die Einsamkeit, in die sich Simone W. zum Teil selbst hineinmanövriert hatte, die aber durch die Zeitumstände noch verstärkt wurde.
Im Frühsommer 1941 macht Simone die Bekanntschaft des Dominikanerpaters Jean-Marie Perrins in Marseille, eines älteren, halbblinden Mannes, der ihr Gesprächspartner und geistlicher Beistand wird. Im Sommer und Herbst arbeitet sie wieder in der Landwirtschaft bei Perrins Freund Gustave Thibon, später inkognito in Saint-Marcel d'Ardeche im Department Gard. Der Versuch, sich durch Arbeit, der sie nicht gewachsen ist, selbst zu bestrafen, selbst auszulöschen, ist nicht zu übersehen. Im Oktober kehrt sie zurück nach Marseille. Als Jüdin darf sie nicht mehr als Lehrerin beschäftigt werden. Sie schreibt einen ironisch-höhnischen Brief an den »Kommissar für Judenfragen«. Die Deutschen locken sie in eine Falle. Sie wird wieder verhaftet, und wieder läßt man sie, »da harmlos«, laufen. Ein andermal leert sie beim Einsteigen in eine Straßenbahn einen Koffer, der Papiere und Unterlagen der Widerstandsbewegung enthält, auf dem Pflaster aus. Ihre Ungeschicklichkeit hat keine Folgen. Am 14. Mai 1942 reisen die Eltern mit der Tochter auf dem Schiff Marechal Lyauthey nach Algier aus. Sie gehören zu jenen Glücklichen unter den französischen Juden, denen es gelungen ist, ein amerikanisches Visum zu bekommen. In Nordafrika werden die Weils drei Wochen in einem Lager festgehalten. Anfang Juni 1942 fahren sie mit einem portugiesischen Schiff nach New York.
Simone versucht, so rasch wie möglich nach Europa zurückzukommen. Sie will mit dem Fallschirm über Frankreich abspringen, gegen die Okkupanten kämpfen. Bei einer späteren Eingabe mit diesem Vorschlag schreibt Charles de Gaulle an den Rand: »Sie ist verrückt!«
9. November 1942: Abschied von New York. Überfahrt mit dem schwedischen Schiff Vanessa nach Liverpool. Dort wird sie wegen Spionagegefahr zunächst isoliert. Auf freien Fuß gesetzt, arbeitet sie für die »Force de la France Libre.«
In ihrem Büro schreibt und schreibt sie: Über Gerechtigkeit und Nächstenliebe, über die Unreduzierbarkeit des Guten, die Bedürfnisse der Seele, Gnade, Verantwortung, Strafe. Schon aus dem Jahr 1942 stammt der Satz:

  • Die Welt braucht Heilige, so wie die von einer Pestepidemie befallene Stadt Ärzte braucht. Wo es Not gibt, gibt es auch eine Verpflichtung.

»Wenn Sie eine Tochter haben, monsieur«, soll ihre Mutter zu dem französischen Dichter Jean Tortel einmal gesagt haben, »so beten Sie darum, daß sie keine Heilige wird.« Immer wieder dringt jetzt Simone darauf, als Partisanin nach Frankreich gehen zu dürfen. Aber in diesem Punkt bleiben die sonst offenbar recht toleranten Vorgesetzten unnachgiebig. Zu augenscheinlich ist, daß sie bei ihrer Ungeschicklichkeit auf der Stelle gefangengenommen würde und das Leben anderer gefährden könnte, die nicht so besessen und todeswütig sind wie sie. In ihrem möblierten Zimmer schläft sie auf dem Fußboden. Sie besteht darauf, nur soviel zu essen, wie ihre Landsleute im besetzten Frankreich auf Lebensmittelkarten zugeteilt bekommen. In diesem Zustand der Überreiztheit verfaßt sie jenes Buch, das als ihr Hauptwerk gilt: Die Entwurzelung.
Es ist ein widersprüchliches Werk, das sehr unterschiedlichen Deutungen offen ist. Die abendländisch-christliche Kultur, besonders das Kolonisieren und Christianisieren fremder Völker, ist in ihren Augen eine Fehlentwicklung, die mit den römischen Eroberungen und dem Verzicht der Kirche auf die hellenistische Philosophie begonnen habe. Entwurzelung - im Sozialen, Nationalen und Religiösen - heiße das Grundübel der Neuzeit, an dem die Kirche mit Schuld trage, aber auch das Geld und die materialistischen Denkgewohnheiten.
Das Buch ist auch als eine Art Entwurf für die Gesellschaftsordnung in Frankreich nach Ende des Krieges gedacht, und seine politisch-gesellschaftlichen Aussagen sind erstaunlich, um nicht zu sagen: bestürzend. Simones Ideal ist nun eine »christliche Gesellschaft.« Die jüdische Minderheit soll verschwinden, indem man zur Mischehe ermutigt. Die Rebellin gegen jegliche Art versteinerter Institutionen fordert plötzlich strenge staatliche Autorität. Heinz Abosch hat wohl recht, wenn er diese seltsame Wende als Fall jüdischen Selbsthasses erklärt, wie er auch bei Karl Marx und Karl Kraus zu beobachten sei. Was hier geschieht, muß man sich aber doch genauer klarmachen: Der Antisemitismus bedeutet für Simone Angst, Verfolgung, die Erfahrung, über Jahre hinweg hilflos Zielscheibe des Hasses zu sein. Und all das führt zu einer Verinnerlichung, bei der der Betreffende den Auslöser seiner Situation, in diesem Fall den Antisemitismus, >adoptiert<.
Gewissermaßen parallel zum Selbsthaß einer auch in Frankreich immer wieder verketzerten und bedrohten jüdischen Minderheit scheint bei Simone W. ein Selbsthaß gegen ihre Weiblichkeit bestanden zu haben. Auch hier ist die Wurzel in der langen Erfahrung von Ängsten und Unterdrückung zu suchen, die sich aus dem Dasein als Frau ergeben.
Ihren schlechten gesundheitlichen Zustand erwähnt sie in den Briefen an die Eltern in Amerika nicht. Am 17. August 1943 wird sie in das Grosvenor Sanatorium in Ashford/Kent eingeliefert. Dort stirbt sie, 34 Jahre alt, am 24. August 1943 an einer Herzmuskelschwäche, verursacht durch Hunger und Lungentuberkulose. Der Leichenschauer hat geschrieben:

  • Die Verstorbene tötete sich, indem sie bei gestörtem Geisteszustand sich weigerte, hinreichend
    Nahrung zu sich zu nehmen.

An dem Begräbnis auf dem Friedhof Ashford nehmen acht Trauergäste teil. Ein Priester, der aus London anreisen wollte, versäumte, wahrscheinlich wegen eines Fliegeralarms, den Zug.

Machtverzicht

Noch einmal: Warum sich mit Simone W. beschäftigen? Eine Frau, die selbständig denkt und handelt. Eine Frau mit Passion. Eine Frau in Rebellion. Jemand, der fragt: »Ich möchte wissen, ob es in Amerika Nachtigallen gibt?«
Ihr Leben betrachten, heißt auch einsehen, unter welchen Schwierigkeiten eine Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft lebt, welche Kräfte und Möglichkeiten bei so vielen Frauen durch gesellschaftliche Normen blockiert werden und welcher Anstrengung es bedarf, sich zu befreien. Scheitern ist keine Schande.
Aber vielleicht gibt es einmal Frauen, die verwirklichen können, was Simone W. und vielen anderen noch mißlang. Diese Hoffnung ist keineswegs utopisch. In der Frühgeschichte der Menschheit gab es durchaus auch ein anderes Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Herrschaft der Männer über die Frauen ist also nicht naturgegeben, ist nicht in der Wesensart des Menschen angelegt. Sie ist entstanden unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, die sich feststellen und erklären lassen. Nicht wenige Männer haben Angst, daß auf eine Herrschaft der Männer eine Ära der Herrschaft von Frauen folgen könnte. Sie haben Angst davor, zu Opfern jener Art von Unterdrückung zu werden, die sie heute noch selbst gewohnheitsmäßig praktizieren.
Aber Emanzipation der Frau muß nicht zur Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse führen, sie könnte auch Aufhebung von Herrschaft bedeuten.