Begegnung mit den Schwestern

Ich lernte Frieda Lawrence in Taos (Neumexiko) 1955 kennen - ein Jahr, bevor sie starb. Vor allem erinnere ich mich an ihre Stimme, die alles rechtfertigte, was Lawrence über sie geschrieben hatte: Sie war kraftvoll, rauh, voller Leben und ganz ungekünstelte Lebensbejahung. Es war eine hinreißende Stimme, allerdings ohne die geringste Spur keltischen Dunkels; in ihr schwang natürliche Freude und Energie mit, eine Stimme, die in sich das Versprechen der Tiefe, Wahrheit und Reinheit barg und die wie Musik klang.
Diese Stimme »rechtfertigte« Frieda deshalb, weil der Körper, zu dem sie gehörte, von kleinem Wuchs war. Und obwohl diesem Gesicht, das ich vor mir sah, einst jenes löwenhafte Wikingerprofil eigen gewesen sein mußte, dem wir in Zeichnungen von ihr begegnen, und obwohl da immer noch die berühmten lohfarbenen Augen waren, kehrte sie keinen dieser Züge heraus. Vor mir saß eine lebhafte, kleine, alte Frau. Sie widmete ihre ganze Energie der Konversation, und da ich das Pelican-Taschenbuch über den Islam bei mir hatte, unterhielten wir uns angeregt über die Weltreligionen. So intensiv war unser Gespräch verlaufen, daß ich beim Abschied nicht umhin konnte, ihr dieses Büchlein zum Geschenk zu machen. Zwar protestierte sie, doch hatte sie sich so brennend interessiert gezeigt, daß sie sich zur Annahme mehr oder minder gezwungen sah. So kam es, daß ich selbst ein zweites Exemplar erwarb, während sie mein Buch höchstwahrscheinlich nie wieder zur Hand nahm. Ebenso sicher bin ich mir, daß sie sich, als ich gegangen war, mit einem Seufzer der Erleichterung ihrem Gatten - der sich bei meiner Ankunft freundlich selbst hinauskomplimentiert hatte zuwandte, um nun von jener Lebensqualität zu sprechen, von der Lawrence so viel und seine Bewunderer so wenig hatten. Trotzdem nehme ich an, daß sie einerseits über genügend Wohlwollen verfügte, um diesen letzten Punkt nicht allzusehr überzubewerten, und daß sie andererseits genügend Vorstellungsgabe besaß, um einige Spekulationen darüber anzustellen, wer ich wohl gewesen sein mochte.
Diese halbe Stunde vermischt sich mir heute mit Anekdoten und Fotografien. Die Frau, der ich begegnete, hatte wenig gemein mit jenem Mädchen im gefälbelten Satin, das unter seiner Flachsfrisur klaren und doch schüchternen Blicks zum Fotografen emporblickt. Oder mit jenem bezaubernden Schnappschuß, der sie in einem riesigen schwarzen Umhang zeigt - Frieda als Filmstar. Oder mit dem Bild, auf dem sie mit ihrem Sohn als Säugling zu sehen ist - eine großäugige Madonna mit Kind. Und ebensowenig mit jener lachenden, vollbusigen Matrone, zu der sie sich bald entwickelte, und die einem - zumindest auf einigen Fotos - wie Trug und Betrug des unfreundlichen Schicksals selbst vorkommt. Doch aus all diesen Bildern spüre ich das »Hier bin ich - ja, ich bin es« heraus, diese zugleich anmaßende und dünnhäutige Offenbarung ihres Selbst, das tief verwundbar ist, wenn es nicht angenommen, nicht seiner eigenen Wertung gemäß akzeptiert wird. Und Hand in Hand mit dieser Eigenschaft eines verwöhnten Kindes geht ein erstaunliches Maß an Intelligenz, Feingefühl, Mut und Scharfsinn, nur daß eben diese Gaben untereinander und hinsichtlich der fundamentalen Selbstbehauptung dieser Frau allzu dürftig abgestimmt sind. Vor allem stößt man hier auf die Behauptung, daß diese Widersprüchlichkeit unwichtig sei: »Vielleicht drücke ich mich nicht richtig aus, aber recht habe ich doch, nicht wahr?« Sie lebt in der Zuversicht (und fordert doch Bestätigung), daß sie im Besitz all dessen ist, was wirklich zählt - warum sich also um die Ordnung der Dinge oder um die treffende Formulierung kümmern? »Sie sollen sich glücklich schätzen, daß ich überhaupt da bin. Und das tun Sie ja schließlich auch, nicht wahr?«

Das ist die Stimme, die ich aus all diesen Fotografien und Erinnerungen heraushöre.
Es war 1971, als ich Friedas Schwestern - Frau Krug in München und Frau Jaffe in Heidelberg - kennenlernte. Nun wußte ich (verglichen mit 1955) eine ganze Menge mehr über Lawrence und Frieda, doch über Friedas Schwestern wußte ich wenig. Die Richthofen-Schwestern sind immer schon sehr diskret gewesen - das gilt sogar für Frieda. Über Otto Groß zum Beispiel äußerte sie sich so wenig wie möglich. Und ich habe den Eindruck, daß sie gegenüber jedem Mann, was dessen Vorgänger betraf, sehr verschwiegen war und daß sie höchstens ihre Gefühle offenbarte. Jede der drei Schwestern besaß die bemerkenswerte Gabe, Männer zu beschämen, wenn sie ihnen gegenüber Banalitäten äußerten, während sie selbst sich im Gespräch nur an Gemeinplätze hielten. Der Reiz lag in der Art, wie sie antworteten, und dies geschah fast immer stoßweise, hastig, nicht syntaktisch geglättet.
Frau Krug war immer noch eine beachtliche Schönheit; ihre dunklen Augen waren von einer Klarheit, wie sie bei alten Frauen ungemein selten ist; ihre Haut war mit Ausnahme jener Stellen, wo sie Rouge aufgelegt hatte, fleckenlos, ohne die geringste Rötung oder Verfärbung, weiß wie Wachs. Sie konnte sich kaum noch bewegen, war aber immer noch schlank und hielt sich aufrecht. Und obwohl das, was sie sagte, keinen kohärenten
Zusammenhang ergab, vermittelten ihre Worte immer noch jene Magie, die sie - wie man sagt - in ihrer Jugend besessen hatte. Sie funkelte mich mit ihren Augen an, und als sie ihren großen, bemalten, kannibalisch anmutenden Mund öffnete, zeigte sie ein gesundes Gebiß, das immer noch begehrlich aufblitzte. In ihrem Sessel sitzend, wandte sie sich mir mit einer heftigen Bewegung zu, und während sie mir ihre lebhaften Erinnerungen von Boston erzählte, ergriff sie »zerstreut« meine Hand - Boston, so stellte sich später heraus, war ein Mann, den sie glaubte gekannt zu haben. Sie hatte Stil - sie war so phänomenal stilvoll, daß sich auch die leiseste Kritik beschämt in sich selbst zurückzog. Eine reizende alte Dame bedarf keiner anderen Rechtfertigung. Baron von Richthofen bezeichnete seine Töchter als »die drei Grazien«, Lawrence nannte sie »der Göttinnen drei«, und wenn man ihre Bilder betrachtet, so kommt man sich tatsächlich vor wie Paris, der vor der Aufgabe steht, den Apfel der Schönsten zu verleihen.
Denn ihre Art des Liebreizes war völlig verschieden. Frau Krug, also Johanna von Richthofen, war von einer reichen, blühenden, ornamentalen Schönheit, verschwenderisch in Farbe und Textur, mit einer Fülle dunklen Haares und rosigdämmrigen Konturen. Ihre Schwestern dagegen waren beide blond und von weißer Haut. Doch während Frieda eine Schönheit war, die sich selbst bestätigte - die Bestätigung eines Selbst, welches mehr als das bloße Ich umschloß - war Elses Schönheit eine Schönheit fast der Selbstverneinung: eine Form und Linie gewordene Schönheit, ein ästhetischer Triumph, ihr Antlitz ganz Reinheit der Züge und Klarheit des Ausdrucks, ihre Gestalt ganz Gertenwuchs, aufrechter Gang und Elfenbeinkühle. Auf den Fotografien scheint sie sich ganz bewußt dem prüfenden Auge der Kamera auszusetzen. Sie gibt sich nicht, wie sie ist, sie wirft sich nicht zur Kandidatin eines Schönheitswettbewerbs auf und noch weniger zur Dienerin des Eros. Sie ist da - sonst nichts, geprüft zu werden nach jedem beliebigen Maßstab. Frieda und Johanna fordern dich heraus, ihre Schönheit in Frage zu stellen. Else fordert dich heraus, die ihre zu entdecken vielmehr: sie überläßt das Problem einfach dir selbst.

Frau Jaffe begegnete ich 1971 in einem Altersheim in Heidelberg, wo sie versuchte, niemandem zur Last zu fallen. Als ich ihr Zimmer betrat, stand sie dort, auf einen Stock gestützt, und dennoch hielt sie sich kerzengerade. Ihre Stimme ähnelte auffällig der von Frieda, nur daß ihre Ausdruckskraft nicht vorwärts zum nächsten Wort drängte - Frau Jaffe kehrte gern zum Anfang ihres Satzes zurück, um dem Gesprächspartner ihren Gedanken sozusagen seziert darzulegen. Wir führten mehrere Gespräche, in denen sie es immer wieder ablehnte, mir über das, was ich wissen wollte, Auskunft zu geben; doch obwohl ihre Ablehnung still und nachdrücklich war, unterhielt sie mich königlich. Sie zeichnete sich nicht durch die überwältigende Selbst- und Lebensbejahung Friedas aus, sondern durch ihre herausfordernde Ironie und ihre Einfühlungsgabe, durch ihre Bereitschaft, eine treffende Antwort meinerseits zu würdigen, der die Bereitschaft entsprach, unzulängliche Reaktionen sogleich zu mißbilligen, verbunden mit der Herausforderung, auch ich möge sie nach Möglichkeit mißbilligen. Es waren dies Gespräche, in denen sie mir Fragen stellte - über eine Menge Dinge, die alle darauf abzielten, wer ich nun eigentlich war. Doch was nun die Frage anging, wer sie war, so erhielt ich von ihr lediglich einen Abklatsch der öffentlichen Meinung; aber sie gab mir auch zu verstehen, daß wir beide daran unsere Freude haben sollten. Und in ihrer Darstellung der Akademiker, die sie besuchten, sowie ihres Freundes Professor Baumgarten, der »erst siebzig war, ein bißchen um die siebzig«, und den sie hin und wieder »schimpfen« mußte - in dieser Darstellung erkannte ich das strukturierte Bild, das ihre Gegenwart in vollendeter Weise vermittelte. Sie war eine Königin Elisabeth, und wir alle waren vom Schlage der Essex und Leicesters, einzig und allein dazu da, gehänselt, gefordert, umschmeichelt, geprüft zu werden. Sie wollte erfahren, was wir sie lehren konnten, und sie war bereit zu lernen, doch wollte sie uns auch wissen lassen, daß unserer Macht über sie Grenzen gesetzt waren.
Ich halte sie für eine der ironischsten Gesprächspartnerinnen, denen ich je begegnet bin. Als sie mir von einer Schale selbstgebackener Plätzchen anbot, die ihr eben eine jüngere Freundin mitgebracht hatte, meinte sie, sie sähen doch herrlich aus, und: nein, diese Liebenswürdigkeit! Doch als ich ihr überschwenglich zustimmte, bemerkte sie: »Aber sie schmecken nicht gut. Versuchen Sie eins.« Und die ganze Liebenswürdigkeit und Aufmerksamkeit dieser jungen Freundin und der leckere Anblick und Geruch der Plätzchen wurden mit einem unmerklichen Schürzen der Lippen genüßlich ausradiert. Nicht, daß die wertvollen Eigenschaften dieser Freundin nicht existiert hätten. Niemand hätte sie eindeutiger anerkennen können. Doch mit den Werten eines guten Plätzchens hatten sie wenig gemein, nicht wahr? Auch in Frau Jaffes Fall gibt es Darstellungen, Anekdoten und Fotos, die die Erinnerung an sie komplizieren. Sie war eine wirklich schöne Erscheinung, schlank und elegant, mit stolz gesenktem Kopf und traurig gesenkten Lidern. Es schimmert so viel Verwundung, Kummer und Verzicht durch ihr sardonisches Funkensprühen und durch die reizende Beherrschtheit ihrer Haltung. Immer wieder fühlte sie sich in die Defensive gedrängt von Friedas Begeisterung und von den Männern, die diese Art geradezu vergötterten, ebenso wie Frieda gegen die Eleganz und die Traurigkeit ihrer Schwestern rebellierte, um sich nicht immer fehl am Platze zu fühlen. Nie in ihrem Leben wäre Else auf den Gedanken gekommen, die Leute müßten »sich glücklich schätzen«, mit ihr verkehren zu dürfen, und daß sie das auch noch zugeben sollten - sie hätte das nie verlangt. Doch es gab bestimmte Menschen, »bedeutende Männer«, von denen sie erwartete, daß sie ihren besonderen Wert anerkannten - allein kraft des Zeichens der Anerkennung, die sie ihnen zollte. Die Anerkennung durch diese Männer aber mußte voller Achtung sein. »Sie brauchen nicht zu meinen, ich ließe mich von Ihrer Klugheit blenden, denn ich bemerke durchaus, wenn Sie so gar nichts Originelles von sich geben. Auch brauchen Sie nicht zu meinen, ich sähe es nicht, wie klug Ihnen dieser Herr da auf so köstliche Weise widerspricht. Doch auf Unstimmigkeiten wollen wir verzichten, nicht? Und auch die persönlichen Häßlichkeiten eines jeden wollen wir einander ersparen, nicht wahr? Um die sollte sich jeder selbst kümmern.«
So klang in meinen Ohren ihre Stimme.
Diese beiden Stimmen waren insofern reiner Gegensatz, als jede von ihnen immer dann dominierte, wenn die andere zögerte - so aber erklärte die eine die andere. Diese beiden Persönlichkeiten ergänzten einander - wenn man sie im Geiste verglich - wie die Teile eines Puzzlespiels. Sie gehörten in dasselbe Bild, in denselben Lebenskontext; sie gehörten zueinander. Sie waren einander sehr ähnlich. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen »Aussage« ähnelten sich die Stimmen der Schwestern in ihrer Stärke, in ihrer Vitalität und in der Kraft ihrer Forderungen an das Leben - das aber war ihre tatkräftige Reaktion auf die Anforderungen des Lebens selbst.