Begrenzungen und Entgrenzungen im feministischen Diskurs -
Einleitende Gedanken zur Entstehung dieses Buches*
(* Die Durchführung einer vorbereitenden Tagung wurde durch einen Zuschuß des Ministers für Familie, Jugend und Gesundheit ermöglicht.)
Auf dem 4. Historikerinnentreffen vom 23. bis 25. März 1983 in Berlin stellten Historikerinnen aus den verschiedenen Ländern der Bundesrepublik ihre ersten Forschungsergebnisse zur Situation der Frauen in der deutschen Nachkriegszeit und der frühen 50er Jahre zur Diskussion.[1] Dieses Podiumsgespräch, das sehr lebhaft, sehr engagiert und sehr kontrovers verlief, bildet den Ausgangspunkt für diese Veröffentlichung. Denn hier in Berlin entstand erstmalig das Bedürfnis der engeren Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Frauengeschichte in der deutschen Nachkriegszeit. Sollten nicht Frauen, die sich trotz mancher Widerstände sachkundig gemacht hatten, in wissenschaftlichen Austausch treten und ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit vorlegen?[2]
Diese Anregungen, die insbesondere die Berliner Soziologinnen und Historikerinnen SIBYLLE MEYER und EVA SCHULZE vortrugen, wurden bald in die Tat umgesetzt. Am Seminar für Geschichte und ihre Didaktik in Bonn fand wenige Monate später die erste Sitzung aller interessierten Wissenschaftlerinnen statt.[3] Hier konnten auch die Beiträge dieses Bandes diskutiert werden.
Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt nun vor. Wie ist aber dieses gemeinsame Unternehmen zu beurteilen? Welche Ergebnisse haben wir erzielt? Haben wir es mit einer Ansammlung erster, vereinzelter Forschungsansätze zur Frauengeschichte in der deutschen Nachkriegszeit zu tun, die das große Loch in unserem Bild dieser Jahre deutscher Geschichte mit Inhalt zu füllen suchen? Diese Zielsetzung allein wäre schon löblich, denn Frauen werden in der Forschung zur Nachkriegsgeschichte bisher schlicht vergessen.[4] Denn auch für diese Jahre des »Frauenüberschusses« herrscht im allgemeinen und im wissenschaftlichen Bewußtsein die trügerische Annahme, allein die Männer machen Geschichte.
Zweifellos gilt es in erster Linie, die vergessene Frauengeschichte dieser Jahre sichtbar zu machen. In diesem Sinne ist auch dieser Band aufgebaut, der in den ersten drei Kapiteln die Frauengeschichte im Medium der drei bestimmenden Determinanten des gesellschaftlichen Lebens, im Medium der Politik, der Arbeit und der Sozialisationserfahrungen, aufzeigt und in einem letzten Absatz die zentralste Lebensfrage unserer Nachkriegsgesellschaft, die Möglichkeit des Friedens, als eine spezifische Frauenfrage herausgreift.[5] Dennoch geht die Zielsetzung dieses Bandes etwas über die Darstellung der vergessenen Frauengeschichte hinaus. Können wir nicht mit Hilfe dieser bisher unterschlagenen Frauengeschichte auch etwas zur Bedeutung der Nachkriegszeit für unsere heutige Gegenwart aussagen? Auch von dieser Perspektive ließen sich alle Autorinnen leiten.
Obgleich alle Teilnehmerinnen mehr daran interessiert waren, von einander zu lernen als ein theoretisch abgesichertes, in sich völlig konsistentes, gemeinsames Werk herzustellen, herrschte eine allgemeine, vortheoretische Übereinstimmung hinsichtlich sowohl der Prämissen als auch der Zielsetzung dieser Veröffentlichung. Denn diese Gruppe von Frauen, die seit vielen Jahren ihren selbstgewählten Forschungsinteressen nachgegangen war, wußte erstaunlich viel Neues aus dem arbeits- und erfahrungsreichen Leben unserer Mütter und Großmütter zu berichten. Sie hatte erkannt, daß erst die Arbeit dieser Frauen die Lebensgrundlagen in der Kriegs-, vor allem aber in der Nachkriegsgesellschaft gesichert hat, daß durch diese heute vergessene, unbezahlte und unbezahlbare Mehrarbeit der Frauen die entscheidenden Voraussetzungen sowohl für unsere Wohlstandsgesellschaft als auch für unsere Krisen in der Gegenwart geschaffen wurde. Die Erinnerung an diese gesellschaftliche Arbeit und die mit ihr verbundenen Erfahrungen von Frauen dürften nach unserer Überzeugung nicht verlorengehen.
In dieser Zielsetzung waren sich alle Frauen einig: durch unsere ersten Forschungsergebnisse aus den unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen und des Alltagslebens sollten die Frauen der Nachkriegszeit aus ihrer Unsichtbarkeit hervortreten. Allerdings war unser Anspruch weitreichender. Denn auch die Gründe, weshalb die Frauengeschichte unsichtbar gemacht wird, interessierten uns. In den letzten Jahren ist auch die Zahl der dokumentarischen Veröffentlichungen zum Alltagsleben in der Nachkriegszeit - und Alltagsleben ist vornehmlich Frauenleben - sprunghaft angestiegen. Memoiren der Frauen, Augenzeugenberichte, Bildbände und nacherzählte Interviews zur Nachkriegszeit sind leicht erhältlich.[6] Müßte nicht in diesem Rahmen über die reine Dokumentation hinaus auch eine wissenschaftlich-kritische Interpretation der Frauengeschichte der Nachkriegszeit geleistet werden? Die einzelnen Verfasserinnen haben jeweils diesen Anspruch in ihrem Beitrag zum Ausdruck gebracht. Ließ sich aber diese Forderung verallgemeinern? Sind verbindliche Interpretationen der Frauengeschichte der Nachkriegszeit aufgrund dieser wenigen Aufsätze möglich? Ist eine zusammenfassendere Erkenntnis der Frauengeschichte der Nachkriegszeit überhaupt zu diesem Zeitpunkt erstrebenswert?
Bei dieser Fragestellung herrschte zunächst eine gewisse Ratlosigkeit. Denn die verschiedenen Beiträge zeichneten sich durch sehr unterschiedliche methodische Vorgehensweisen und divergierende Erkenntnisinteressen aus. Archivmaterialien zu den politischen Aktivitäten und zu den Arbeitsleistungen von Frauen in der Nachkriegszeit waren erstmalig erschlossen worden; daneben galt es, mit den Methoden der mündlichen Geschichte auch die verborgenen Innenseiten der Frauengeschichte zu beleuchten. Aber nicht nur im methodischen Zugang unterschieden sich die Beiträge. In einzelnen Arbeiten stand der Vermittlungsgedanke im Vordergrund: Hier galt es vor allem aufzuzeigen, was Frauen heute aus der Geschichte ihrer Mütter und Großmütter lernen (ELKE NYSSEN/SIGRID METZ-GÖCKEL) oder wie diese Nachkriegsgeschichte der Frauen im Unterricht zu vermitteln ist (WILMA WIRTZ-WEINRICH/BEA WILDT).[7] Im Hinblick auf ein zusammenfassendes Ergebnis wog allerdings am schwersten, daß die einzelnen Autorinnen jeweils zu etwas unterschiedlichen Beurteilungen gelangt waren. Vor allem bei der Einschätzung der - von allen Verfasserinnen hervorgehobenen, übermäßig großen physischen und psychischen Überlebensarbeit der Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit sind wir nicht zu einer übereinstimmenden Einschätzung gelangt. War beispielsweise die fast grenzenlose Opferbereitschaft der Frauen in der Wiederaufbauphase nach '45 ein Ausdruck »weiblicher Stärke«, oder ist dieses Verhalten als »typisch weiblich« und somit als »weibliche Schwäche« zu (dis)qualifizieren? Können wir, um ein weiteres Beispiel herauszugreifen, die vielfältigen, halb privaten, halb öffentlichen Frauenaktivitäten, die in diesem Band dokumentiert werden, als »politisch« bezeichnen? Oder, etwas anders gefragt, wie sind die Erfahrungen der Frauen in den Jahren des Faschismus und des Krieges im Hinblick auf ihr Handeln in der Nachkriegszeit zu bewerten? Erwies sich nicht der alltägliche Faschismus als eine wirksame Schulungsstätte der Frauen, der sich in der Notzeit unmittelbar nach '45 »bewährte«?
Bei Fragestellungen dieser Art erkannte die Arbeitsgruppe die Diskrepanzen in unseren Beurteilungskategorien der Alltagsgeschichte und der »großen« politischen Geschichte und die Inadequanz unserer herkömmlichen politischen und gesellschaftlichen Begriffe. Vor allem im Hinblick auf die Frage nach einer (impliziten oder expliziten) Übernahme der Modernisierungstheorie fiel die Verständigung innerhalb der Arbeitsgruppe besonders schwer. Frauen hatten zweifellos im Faschismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Kompetenz- und Rollenerweiterung erfahren. Hier aber von einer positiven Emanzipationserfahrung der Frauen im Gefolge eines Modernisierungsschubs in unserer Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft zu sprechen, war nach Meinung der Arbeitsgruppe nicht möglich. Differenzierungen seien unumgänglich. Dennoch sei es notwendig, die erweiterten geschlechtsspezifischen Rollenerfahrungen der Frauen zu qualifizieren. Aber mit welchen Begriffen? Und innerhalb welchen gesellschaftlichen Bezugssystems?[8]
Diese und andere Fragen wurden in der abschließenden Diskussion in Bonn aufgeworfen, ohne daß es gelungen wäre, gemeinsame, verbindliche Antworten auf sie zu finden. Dennoch läßt sich ein gemeinsames Ergebnis dieses feministischen Diskurses festhalten.
Für alle Frauen stand fest, daß wir nicht von einem systematischen, verbindlich formulierbaren feministischen oder politikökonomischen Gedankengebäude her zu einer zusammenfassenden Gesamtinterpretation unserer bisherigen Ergebnisse gelangen können. Die Unterschiede in unseren Forschungsansätzen sollten weder verdeckt noch in künstlicher Weise zu akademischen Theoriekontroversen hochstilisiert werden. Dennoch stelle dieser Band in der Sicht aller Teilnehmerinnen mehr als eine unverbundene Sammlung einzelner Teilaspekte der deutschen Frauengeschichte dar.
Das in Bonn erzielte Ergebnis läßt sich am besten mit den beiden Begriffen der Begrenzung und der Entgrenzung im feministischen Diskurs fassen. Auf der einen Seite erwiesen sich der vorgegebene wissenschaftliche Begriffsapparat und die wissenschaftlichen Theorieangebote als unzulänglich. Unsere Ergebnisse ließen sich nicht in den vertrauten politikwissenschaftlichen Rahmen mit seinen fest bestimmbaren Bereichen der Politik, der Produktion, der Privatsphäre usw. zwingen. Dennoch bewegen sich die Einzelbeiträge wie auch die Konzeption des Gesamtbandes in einer gesamtgesellschaftlichen Rahmenvorstellung: Aus der dreifachen Perspektive der Frauen-Politik, der Frauen-Arbeit und der Frauen-Erfahrungswelt sollten diese Beiträge Frauengeschichte als entscheidendes Moment der Gesellschaftsgeschichte der Nachkriegszeit sichtbar machen. Der gesellschaftsgeschichtliche Bezugsrahmen wies aber über patriarchalische Gesellschaftsmodelle und die Zielvorstellung einer bloßen Restauration des kapitalistischen Systems hinaus. Hierin lag nach unserer Ansicht sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Frauengeschichte nach '45. Denn diese begrifflich schwer faßbare Dialektik von Stärke und Schwäche weiblicher Politik durchzieht alle Beiträge.
Aus der Einsicht heraus, daß wir uns bei unserer frauengeschichtlichen Forschung auf einem begrifflichen und theoretisch ungesicherten Boden bewegten, ist nicht der resignative Verzicht auf theoretische Klärung gezogen worden. Die Sprachnot in unserem feministischen Diskurs, die Erkenntnis, daß ein anderes Politikverständnis, eine andere Arbeitserfahrung, eine andere Qualität von weiblicher Erfahrung und weiblichem Selbstbewußtsein uns in den frauengeschichtlichen Quellen entgegentrat, bestärkte uns vielmehr in der Annahme, daß allen Interpretationsproblemen zum Trotz in diesem Band auch ein erster, konstruktiver Beitrag zur Reinterpretation der deutschen Nachkriegsgeschichte geleistet wird. Denn in der frauengeschichtlichen Entgrenzung traditioneller gesellschaftlicher Kategorien, die ihrerseits schon die geschlechtsspezifischen Aufspaltungen unserer Gesellschaft widerspiegeln, liegt die Chance, bisher unausgeschöpfte, gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, die auf eine demokratischere, humanere Gesellschaft jenseits der schlechten Alternativen Faschismus einerseits, Wohlstandsgesellschaft und Zwang zum Wirtschaftswachstum andererseits stehen. Die Frauengeschichte nach '45 birgt in sich Ansätze zu dieser Gesellschaftsalternative.
Alle Beiträge machen auf ihre Weise deutlich, daß die Frauengeschichte der Jahre 1945-1949 innerhalb der Zusammenbruchgesellschaft der Nachkriegszeit eine eigene alternative Geschichte mit weitreichenden Innovationsmöglichkeiten darstellt. Sie ist als mehr zu begreifen als eine nur Not- und Ausnahmegeschichte bis zur lautlosen Machtübernahme der Männer nach der »Normalisierung« der westdeutschen Zustände. Denn in der Lebenspraxis der Frauen nach '45 werden humane Handlungs- und Erfahrungsweisen sichtbar, die auf einen gesellschaftlichen Neuanfang mit neuen sozialen und politischen Normen hindeuten. Gewiß, alle Autorinnen waren sich darin einig, daß die Chancen der Durchsetzbarkeit dieser weiblichen Normen, die den herrschenden Interessen an der Wiederherstellung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in allen Lebensbereichen stracks zuwiderliefen, in den Jahren 1945 bis 1949 äußerst gering waren. Diese Entgrenzung traditioneller gesellschaftlicher Normen durch die Frauengeschichte vermag aber nach Ansicht aller Autorinnen auf künftige historische Möglichkeiten zu verweisen.
In dem Hannoveranischen Nachrichtenblatt vom 25. Juli 1945 berichtete ein Reporter von einer Frau, die mit ihrem Besen das Trümmergeröll in ihrem Garten zu beseitigen begann. Auf seine etwas spöttische Anfrage nach dem Sinn ihres Tuns:
»Was kann eine Frau mit ihrem Besen gegen die Folgen einer 2000 Pfund schweren Bombe ausrichten?« antwortete sie:
"Und wer wird denn das Gemüse und die Zwiebeln retten, wenn ich es nicht tue? Das ist alles, was von meinem Lebenswerk übriggeblieben ist, und irgendwer muß ja schließlich anfangen.«
In dieser Geschichte verbirgt sich manches von dem, was dieses Buch aussagen will. Die Arbeit dieser Frauen der Nachkriegszeit wird ernst genommen. In diesem Frauenleben geht es um nichts weniger als um die Produktion und die Reproduktion des Lebens. Es war so kindisch, so unpolitisch von den Frauen der Nachkriegszeit nicht, zum Besen zu greifen und nicht, wie der Reporter unserer alten Damen empfahl, auf die nachrückenden Armeetraktoren zu warten, um die von den Männern verursachten Zerstörungen zu beseitigen. Frauen haben in den ersten Jahren nach '45 auf produktive Weise festgefahrene gesellschaftliche Verhältnisse entgrenzt. Diese Verflüssigung erstarrter Normen, die eng mit den gesellschaftlichen Zielvorstellungen dieser Frauen-Politik, ein besseres, menschliches Leben, Frieden, Gleichberechtigung, verknüpft gewesen ist, wird in allen Beiträgen sichtbar. Allerdings wird auch die Begrenzung dieser Frauen-Politik sichtbar. Die Frauen-Politik der Nachkriegszeit kam nur in einer unreflektierten, naturwüchsigen Weise mit der Tagespolitik der Nachkriegszeit zur Deckung; die traditionellen, gesellschaftlichen Zwänge waren nur scheinbar aufgehoben. Diese Frauenpolitik der Nachkriegszeit war zwar realitätsnah, demokratisch, menschlich; sie stand aber der Durchsetzung der geschlechtsspezifischen Benachteiligungen der Frauen in der kapitalistischen Restaurationsphase, der bald nach '45 sich vertiefenden dualistischen Aufspaltung der Gesellschaft in eine männlich orientierte Produktions- und eine weiblich orientierte Reproduktionswelt als der alleinigen profitsichernden Form der gesellschaftlichen Organisation wehrlos gegenüber. Sie ließen sich, um im Bild zu bleiben, von den »nachrückenden Armeetraktoren« überrollen.
Es ist unhistorisch, von einer »verpaßten Chance« der Frauen im Jahr '45 zu sprechen. Dennoch können wir heute viel von dieser Frauen-Politik lernen. Denn Frauen wissen heute, daß sie ebenso wie die Männer »alles« wollen.[9] Die von ANTJE SPÄTH dokumentierte Diskussion um die nicht eingelöste Gleichheit von Männern und Frauen hat noch nicht an Aktualität verloren.