1. Einleitung
»Frauenrechte«[10] in einer frühmittelalterlichen Gesellschaftsordnung - ein Widerspruch in sich? Ja und nein.
Dieser Begriff wird sogleich mit der modernen Frauenbewegung assoziiert, mit der Herausforderung überlebter »Herr«-schaftsstrukturen in Bewußtsein und Realität. Er ist verbunden mit dem modernen Rechtsgrundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Solcherart assoziiert, läßt sich der Terminus nicht auf frühmittelalterliches, hier: angelsächsisches, Rechtsdenken übertragen, dem andere Werte zugrunde liegen. Die gesellschaftliche Ordnung der damaligen Zeit zielt auf die Gemeinschaft, nicht auf das Individuum; Leben und Denken sind konformistisch. Der Mensch ist in die Organisationsstrukturen der Gemeinschaft eingebunden, innerhalb derer er bestimmte Funktionen und, daraus abgeleitet, seine Identität zugewiesen erhält. »Individualität«, »Freiheit«, »Selbstbestimmung« gelten ausschließlich innerhalb dieses Rahmens und erfordern, wenn sie überhaupt verwendet werden sollen, klare Definition und behutsamen Gebrauch. Es gibt kein gleiches Recht für alle. In der hierarchischen Sozialstruktur der angelsächsischen Gesellschaft bemißt sich der Wert eines Menschen nach Klassen- und nach Geschlechtszugehörigkeit. Keine der beiden Kategorien darf isoliert betrachtet werden, wollen wir nicht ein schiefes Bild vom Verhältnis der Geschlechter zueinander erhalten. Bildlich gesprochen, wird die horizontale Gliederung der Gesellschaft in Klassen von einer vertikalen Linie durchschnitten. Auf den beiden Seiten der so geteilten Waagerechten stehen sich Frauen und Männer gegenüber (Geschlechterpolarität).
Die Vertikale bezeichnet die Kategorie »Geschlecht«; die daraus abgeleitete Geschlechterpolarität ist ebenso wie die Polarität der Klassen durch ein hierarchisches Ordnungsprinzip gekennzeichnet. Konkret bedeutet dies z. B. für freie Frauen eine rechtliche Überordnung gegenüber Unfreien beiderlei Geschlechts, innerhalb ihrer eigenen Klasse aber die Unterordnung unter einen Mann.
Ausgangs- und Konzentrationspunkt des vorliegenden Beitrags ist somit die These, daß das Geschlechterverhältnis bei den Angelsachsen durch Polarität gekennzeichnet ist, deren Merkmal wiederum die Herrschaft von Männern über Frauen ist.[2] In bezug auf Terminologieprobleme heißt dies: Im Zusammenhang mit der Geschlechterpolarität können wir tatsächlich von »dem« Mann und »der« Frau sprechen (nicht allerdings, wie oben aufgezeigt, im Zusammenhang mit Klassengegensätzen).
Gesellschaftliche Verhältnisse spiegeln sich in der Rechtsordnung. Es wird im folgenden zu untersuchen sein, welchen Ausdruck die Geschlechterpolarität in einer ausgewählten Gruppe von Rechtstexten findet, und zwar am Beispiel sprachlicher Merkmale, konkreter rechtlicher Handlungsmöglichkeiten sowie bestimmter Verbrechen und damit zusammenhängender Strafbestimmungen. Herauszuarbeiten sind hier im einzelnen:
- zunächst einmal grundlegende, außerhalb der konkreten rechtlichen Bestimmungen liegende Aussagen über das angelsächsische Menschenbild. Welche Eigenschaften erhalten die Geschlechter als quasi »naturgegeben« zugewiesen, auf welche Weise bestimmen diese »Geschlechtscharaktere«[3] Identität und Handeln in der Gemeinschaft?
- die Rechtsinhalte. Welcher Art sind die Rechtspositionen von Männern und Frauen; inwieweit definieren sie sich über »Klasse« und »Geschlecht«, und welche Positionen nehmen sie einerseits in der Gesellschaft als »Außenverhältnis«, andererseits zueinander als »Innenverhältnis« ein? Gibt es geschlechtsspezifische Verbrechen?
- historische Entwicklungslinien. Lassen sich veränderte Ansichten über Geschlechtscharaktere und entsprechend veränderte Rechtsbestimmungen erkennen? Auf wen und auf welche Motive lassen sie sich zurückführen? Welches Gewicht ist Veränderungen in bezug auf die genannten Faktoren beizumessen?
Diese Fragen werden an die angelsächsischen Gesetze gestellt, die nun kurz vorgestellt werden sollen.
2. Quellen und Forschungsprobleme
Der Begriff der altenglischen oder auch angelsächsischen Gesetze bezeichnet die vom 7. bis zum 12. Jahrhundert auf dem Boden des heutigen England entstandenen Gesetzeskodifikationen. Sie zählen zu den westgermanischen leges, da sie ihren Ausgang von den Partikularrechten der seit dem 5. Jahrhundert bestehenden angelsächsischen Teilreiche nahmen. Diese Partikularrechte bestanden bis in die Zeit nach der normannischen Eroberung nebeneinander fort, auch von den fremden Herren (zunächst dem Dänenkönig Cnut, nach 1066 den Normannenkönigen) wurden sie aufgezeichnet.
Die ihnen früher besonders aufgrund ihrer Niederschrift in der altenglischen Volkssprache zuerkannte »Ursprünglichkeit«, d. h. eine besonders starke Prägung durch vorchristlich-germanisches Rechtsdenken, wird von der neueren leges-Forschung in Zweifel gezogen4, denn entgegen früherer Lehrmeinung enthalten die Gesetze neben dem althergebrachten Gewohnheitsrecht bereits von Anfang an - und in der weiteren Abfolge in zunehmendem Maße - königs- und kirchenrechtliche Satzungen. Königtum und Kirche, die zusammenwirkenden Institutionen einer sich etablierenden »Staatlichkeit«, greifen durch eigene Gesetzgebung in die traditionell privatrechtlich organisierte und vom Sippenverband getragene Rechtsordnung ein. Damit zusammenhängend ist die Kodifikation, d. h. die schriftliche Niederlegung von Recht und Gesetz, als äußeres Zeichen des Machtanspruchs von Königtum und Kirche zu werten; sie diente Zwecken der Selbstdarstellung sowie einer Orientierung und Vereinheitlichung der Rechtsprechung an bzw. von überkommenem Recht und zunehmend auch eigener Gesetzgebung. Die Kodifikation erfolgte auf Veranlassung des Königs und unter Zustimmung der geistlichen und weltüchen Großen seines Reiches.[5] Adressaten sind die Freien, d. h. die verschiedenen Schichten der freien Bevölkerung, und noch genauer: nur die voll rechtsfähigen Männer. Die hier konstatierte Verfügungsgewalt von Männern über das Recht - eine in bezug auf die zentrale Fragestellung essentielle Feststellung - wird zu untersuchen und zu belegen sein.
Die Kodices sind nicht als Konstruktion eines kompletten Rechtsgebäudes zu verstehen, d. h. sie geben nur Teilauskünfte über gesellschaftliche Zustände. Daraus ergeben sich Fragen in bezug auf Auswahlkriterien und Aussagewert: Welche Rechtssätze wurden aufgenommen bzw. weggelassen, und warum; worin spiegelt sich Rechtswirklichkeit, welche Satzungen sind rein normativ; welche sind gewohnheits-, königs- oder kirchenrechtlicher Natur?
Die Gesetze sind in verschiedenen mittelalterüchen Abschriften - keines der Originale ist erhalten - überliefert, deren Texte F. Liebermann zu Beginn dieses Jahrhunderts edierte, übersetzte und erläuterte. Editionen jüngeren Datums lassen an Vollständigkeit und Stoffülle keinen Vergleich mit dem Standardwerk Liebermanns zu. Ebenso verhält es sich mit der Sekundärliteratur. Ein neueres Standardwerk zu den angelsächsischen Gesetzen oder etwa zur hier untersuchten Problematik liegt nicht vor; uns bleiben Überblickswerke und Einzeluntersuchungen, letztere meist in Aufsatzform. Als hilfreich erweisen sich ältere Werke zur germanischen Rechtsgeschichte, z. B. Grimm und Brunner, da sie - im Gegensatz zu vielen neueren Veröffentlichungen - detailgenau und quellennah arbeiten. Einen Überblick über die gesellschaftliche Situation angelsächsischer Frauen bietet Doris M. Stenton, allerdings mit romantisierenden Tendenzen in Richtung auf »germanische Freiheit und Gleichberechtigung« sowie mit selektiver Betrachtungsweise durch Hervorhebung »großer« Frauen (Königinnen). Sehr empfehlenswert sind die Aufsätze von Dietrich und Klinck, da sie, obwohl auch Klincks Quellenarbeit deskriptiv und selektiv ist, Forschungskritik und neuere Ansätze beinhalten.
Interdisziplinäre Arbeit läßt neue Anregungen und Erkenntnisse erwarten, besonders in bezug auf die Schwierigkeiten, aus bruchstückhaften Quellenaussagen grundlegende Denk- und Verhaltensmuster zu rekonstruieren, d. h. einen Grundzug der gesamtgesellschaftlichen Situation von Männern und Frauen im allgemeinen und des Geschlechterverhältnisses im besonderen herauszuarbeiten. Dies soll hier anhand von Thesen des Ethnologen Müller versucht werden. Das Quellenmaterial, Gesetzeskodifikationen ebenso wie weitere für uns aufschlußreiche Quellengruppen,[6] liegt zum großen Teil bereits befriedigend ediert vor. Wie aber lesen wir die Quellen »gegen den Strich«? Einige methodische Überlegungen, die sich aus der Beschäftigung mit dem vorliegenden Thema ergaben, seien abschließend genannt. Eine Untersuchung des Sprachgebrauchs im Zusammenhang mit der Beschreibung der Geschlechter, ihren Beziehungen zueinander und ihren Verhaltensweisen ermöglicht Aufschlüsse über das Menschenbild der Sprecher und über die Funktion von Sprache als Herrschaftsinstrument.[7] Des weiteren erschließt genaue Wort- und Begriffsanalyse den Sinngehalt einer Aussage und schützt vor übereilten Schlüssen, deren Zustandekommen übrigens durch vorgegebene Übersetzungen gefördert werden kann. Übersetzungskritik ist daher unabdingbar. Vergleichendes Vorgehen kann auf verschiedenem Wege erfolgen: Innerhalb der Quelle ist, bedingt durch den relativ systematischen Aufbau der Gesetze, die Einordnung einzelner Aussagen oder ganzer Kapitel in einen Sinnzusammenhang mit den umgebenden Kapiteln zu beachten; der Vergleich mit älteren oder jüngeren Gesetzestexten verdeutlicht historische Veränderungen; schließlich empfiehlt sich ein Vergleich mit weiteren germanischen leges, Rechtsquellen benachbarter Kulturbereiche (hier z. B. Kelten) und anderen Quellengruppen, z. B. Chroniken, erzählenden Quellen und Urkunden - bis hin zur Bibel.[8] Einige dieser methodischen Schritte dienen als Grundlage der anschließenden Betrachtung.
3. Geschlecht und Sprache
Im folgenden soll untersucht werden, welche Aufschlüsse uns sprachliche Bezeichnungen für »Mann« und »Frau« über die Zuweisung von Geschlechtscharakteren und den darin begründeten Platz der Geschlechter in der angelsächsischen Gesellschaft bieten.[9] Auf der Suche nach Geschlechtsbezeichnungen fällt bereits eine geschlechtsspezifische Eigentümlichkeit auf: Frauen werden im Vergleich zu Männern relativ selten erwähnt.[10] Während sie in den meisten Fällen im Zusammenhang mit geschlechtlichen Beziehungen wie Ehe und Sittlichkeitsdelikten erscheinen, werden Männer auch in vielen anderen Bereichen, z. B. Handelsabschlüssen und in allen Rechts- und Herrschaftspositionen bzw. -funktionen genannt. Bei Männern fällt auf, daß Abstufungen im sozialen Rang und erst recht ihre Geschlechtszugehörigkeit häufig keiner besonderen Erwähnung bedürfen; sie sind man (ebenso hwä). Die Wortbedeutungen dieses - maskulinen - Indefinitpronomens reichen von »Mann« über »Mensch, jemand« bis »eine begrenzte Gemeinschaft. Demnach könnte der Begriff zumindest in bestimmten Zusammenhängen geschlechtsneutral, d. h. beide Geschlechter bezeichnend, verwendet werden, z. B. im Zusammenhang mit Körperverletzungen.[12] Wo jedoch ein Indefinitpronomen einer geschlechtlich bezeichneten Person eindeutig zugeordnet werden kann, handelt es sich dabei immer um Männer, z. B. wenn man bei einer Frau »liegt« oder wenn man einen anderen Mann (mannan) mit Waffen versieht.[13] Der auf Ausnahmen beschränkte Gebrauch von man für das weibliche Geschlecht wird durch einen Wortzusatz klar erkennbar, wie etwa bei der Bezeichnung eines »(unerwachsenen) Mädchens« = (ungewintredes) wifmonnes bzw. des »so beschaffenen [ = weiblichen] Menschen« = swa gerades monnes.[14] »Jungfrau«/»unverheiratetes Mädchen« (wifman,[15] mcegöman), »Ehefrau« (cewe, cwene) und »Witwe« (widuwe): Nur Frauen definieren sich durch Lebensabschnitte, die sich auf die Ehe beziehen.[16] In diesen drei Abschnitten, vor allem als Ehefrau, erscheinen sie auch einfach als »Weib« (wif)«, d.h. die allgemeine weibliche Geschlechtsbezeichnung steht synonym zur sozialen Funktion: Erst durch die Verbindung der Gebärfähigkeit des Geschlechtswesens Frau mit der ehelichen Bindung an einen Mann erfüllt sich die soziale Zweckbestimmung weiblicher Existenz.[18]
Daraus erklärt sich die oben festgestellte Erwähnung von Frauen im spezifischen Zusammenhang mit geschlechtlichen Beziehungen.
Ganz anders verhält es sich beim Mann. Die männliche Geschlechtsbezeichnung wer = »männlicher, wehrhafter Mensch«, das Pendant zu wif, wird erst in spätangelsächsischer Zeit als Synonym für »Ehemann« gebraucht,[19] und zwar nur in Bestimmungen, die von der kirchlichen
Eheauffassung geprägt sind: Hier stehen sich wer und wif als zusammengehörige und, in bezug auf das Ehesakrament, als gleichwertige Teile der göttlichen Ordnung gegenüber. So wird im Gesetz von Cnut der Mann durch erklärende Worthinzufügungen als »rechtmäßiger« (rihtwer; weibliche Entsprechung: rihtwif) und »an ein Weib gebundener Mann« (wiffast wer) gekennzeichnet. Diese gleichwertige Zuordnung und Bindung im theologischen Sinne bewirkt jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, keine rechtliche Gleichheit der Eheleute; vielmehr beschreibt rihtwer in bezug auf die Eheinstitution nur das Außenverhältnis zu einem Nebenbuhler, d. h. den Rechtsanspruch auf die Ehefrau gegenüber einem Ehebrecher; nach innen, d. h. im Verhältnis zu seiner Frau, ist der Ehemann der ceorl= »Haus- und Eheherr«.[20] In der Verwendung der Begriffe rihtwer und ceorl für ein- und dieselbe Person verbinden sich christliche und heidnische Eheauffassungen. Die vorchristlichem Denken entstammenden Begriffe für Ehemänner, die von den ältesten Gesetzen bis in die Spätzeit reichen, bezeichnen nicht eine gottgewollte Rechtmäßigkeit der Verbindung, sondern deren innere Struktur: Hier tritt der Gatte seiner Frau nicht als »Mann«, sondern als Inhaber von Herrschaftsrechten gegenüber. Synonym für »Ehemann« steht die Bezeichnung für den sich durch Hausherrschaft definierenden freien Bauern und Herrn, nämlich ceorl,[21] hlaford,[22] ealdor [23] und (hus-) bonda.[24] Daß sogar der verheiratete Unfreie in seiner Ehegattenfunktion als ceorl, d. h. als Autorität, erscheint,[25] verdeutlicht die - klassenübergreifende - Beziehungsstruktur: Die Ehegatten stehen einander als das zur Ehe bestimmte »Weib« und der zur Herrschaft über seine Frau bestimmte »(Haus-) Herr« gegenüber. An diesem Innen Verhältnis der Eheleute zueinander ändert sich, wie oben gezeigt, auch mit wachsendem Einfluß kirchlichen Eheverständnisses nichts.
Das bisher Dargestellte zeichnet ein Grundmuster patriarchalischer Gesellschaften: Frauen treten vergleichsweise selten in Erscheinung, sind dann aber begrifflich klar bezeichnet und stehen zumeist im Kontext geschlechtlicher Beziehungen, in der Regel der Ehe. Diese Gegensätze spiegeln sich bereits in den funktionszuweisenden Geschlechtsbezeichnungen: In einer Männergesellschaft - »Mann« = »Mensch(en), Volk«[26] - werden alle Bereiche einschließlich des Hauses, »das die für die Frauen zweifellos wichtigste Lebensordnung darstellte«,[27] von Männern - den »Haus- und Eheherren« - dominiert und kontrolliert, denen die Frauen zu- oder genauer: untergeordnet werden. Die Frau steht meist im Objektstatus zum Mann, z. B. als »eines freien Mannes (Ehe-)Weib« = fries mannes wif,[28] niemals aber der Mann zur Frau.
4. Geschlecht und Herrschaft
In den angelsächsischen Gesetzen beruht Herrschaft auf zwei Grundlagen: erstens der Klassenzugehörigkeit, d. h. dem Geburtsrang, und zweitens dem Geschlecht.
Vom Geburtsrang her sind Männer und Frauen »gleich-berechtigt«; durch ihre Zugehörigkeit zu den Klassen der Freien oder Unfreien (einschließlich der weiteren Ausdifferenzierung von Rangunterschieden innerhalb dieser beiden großen Klassen) haben sie Rechte oder sind rechtlos.
Ein Recht zu haben bedeutet aber nicht, es auch ausüben zu können. Über letzeres entscheidet die Geschlechtszugehörigkeit: Die - aktive -Regelung aller Rechtsangelegenheiten obliegt dem wer, dem waffenführenden Mann. Alle als »unwehrhaft« und damit als »unselbständig«[29] geltenden Personen - das sind Frauen allgemein sowie Unfreie, Gebrechliche und Kinder beiderlei Geschlechts - sind der Munt eines Herrn, in der Regel des Haus- und Hofherrn, unterworfen. Als zwei Seiten des Muntverhältnisses bedingen Herrschaft und Schutz einander. Der Muntherr besitzt die Rechtsverantwortung und Strafgewalt über die ihm Unterworfenen; er regelt alle sie betreffenden Rechtsangelegenheiten, vertritt sie nach außen und beherrscht sie nach innen. Dies gilt auch für Rechtsansprüche ebenbürtiger »unwehrhafter« Personen, z. B. der unter seiner »Geschlechtsvormundschaft« stehenden Frauen der eigenen Sippe und der Ehefrau.
Das Wesen der Munt läßt sich nicht genau definieren. Die Schwierigkeit, Munt als personenrechtliches Verhältnis (zwischen Freien) klar vom Eigentums- bzw. Sachenrecht (des Herrn über Unfreie) abzugrenzen,[30] wird am folgenden Beispiel der Position der Braut bei Verhandlungen über das Eingehen einer Muntehe deutlich werden. Fraglich ist auch, ob bei der Verheiratung die Munt vom bisherigen Muntherrn, dem nächsten männlichen Verwandten, ganz auf den zukünftigen Ehemann übergeht, denn die verwandtschaftlichen Bande der Frau mit der eigenen Sippe und daraus abgeleitete Rechtsverbindlichkeiten bleiben bestehen.[31] Die eheherrliche Munt über die Frau, (ehe-) vertraglich durch Muntkauf erworben, entspricht jedenfalls inhaltlich der Vatermunt über die Tochter. Der Ehemann fordert nicht nur Gehorsam,[32] sondern verwaltet und nutzt das eheliche Vermögen einschließlich desjenigen der Frau [33] und besitzt ihr gegenüber eine Strafgewalt, die bis zum Tötungsrecht bei handhaftem Ehebruch reicht.[34] Die Muntehe ist in den angelsächsischen Gesetzen die einzige legale Beziehungsform zwischen Freien, vor allem wohl aufgrund des Zusammentreffens traditionell germanischer Vorstellungen und an römischer Tradition orientierter Elemente des Kirchenrechts, die nun als grundlegend für eine rechtmäßige Eheschließung angesehen werden. Sie setzen sich zusammen aus dem Verlobungsvertrag (disponsatio), vertraglich geregelter materieller Absicherung der Braut durch Mitgift und Gabe des Bräutigams (dotatio) sowie der Brautübergabe (traditio puellae).[35]
Über die Formalitäten der Eheschließung verhandeln Männer, auf der einen Seite der werbende Mann mit Unterstützung seiner Verwandten, auf der anderen Seite der Muntwalt der umworbenen Frau als Vertreter der Sippe.
Die Braut selbst ist Objekt des Vertrages. Sie wird vom Bräutigam, im Austausch für eine vertraglich geregelte Gabe »erworben«, bei yEthel-bert wörtlich »gekauft«.[36]
Die Literatur hat immer wieder die Frage aufgeworfen, ob dieses Verfahren mit dem sachenrechtlich begründeten Verkauf bzw. Erwerb von Unfreien oder Vieh gleichzusetzen sei, d. h. ob es sich um eine »Kauf-« oder eine personenrechtlich begründete »Vertragsehe« handelt.[37] Gegen den Begriff »Kaufehe« läßt sich wie folgt argumentieren: Freie Frauen besitzen Rechtsansprüche gegenüber dem Ehemann in bezug auf guter- und erbrechtliche Absicherung in Ehe und Witwenschaft; das frühmittelalterliche Prinzip von Gabe und Gegengabe gilt nicht nur für sachenrechtliche Handelsabschlüsse, sondern auch für das Eingehen personenrechtlicher Verhältnisse, z. B. der Garantie, wörtlich dem »Verkauf von Friedens- und Rechtsschutz.[38] Personenrechtlich begründete Verhältnisse lassen sich wieder lösen, so auch die Muntehe: iEthelbert regelt Gütertrennung und Verbleib der Kinder für den Fall, daß die Frau aus der Ehe ausscheidet.[39] Insofern erlaubt der Status einer freien Frau in einer Muntehe keinen Vergleich mit dem einer als Eigentum behandelten Unfreien, den der Begriff »Kaufehe« nahelegen würde. Andererseits weist die Begründung sachen- und personenrechtlicher Verhältnisse bestimmte Ähnlichkeiten in den Verfahrenswegen auf, z. B. neben dem erwähnten Prinzip von Gabe und Gegengabe auch Sicherungsklauseln gegen Vertragsbruch, die yEthelbert wie folgt festlegt:[40] Fühlt sich der junge Ehemann durch ein »trügerisches Rechtsgeschäft« beim Erwerb seiner Frau betrogen, darf er diese zurückbringen und erhält den »Braut(kauf)preis« zurück, wobei offenbleibt, ob sich der Betrug auf die Person der Braut oder auf Fehlerhaftigkeit bzw. Bruch von Vertragsvereinbarungen bezieht.
Eine umgekehrte Möglichkeit, d. h. Rückgängigmachung von Eheschließungen durch die Brautseite, erwähnen die Gesetze nicht. Rechtssubjekte der Verfahrensregelungen sind Männer; Frauen sind - unabhängig von ihrem Rechtsstatus - Vertragsobjekte, die »vergeben« und »zurückgegeben« werden können.
Erst im 11. Jahrhundert richten sich gesetzliche Bestimmungen gegen den Geschäftscharakter von Eheschließungen. Kirchliche Bestrebungen, die Eigenständigkeit der Eheinstitution und damit der Eheleute gegenüber der Sippe zu betonen, die Ehe aus der Sippenbindung herauszulösen und eigener Kontrolle zu unterwerfen, finden ihren Niederschlag nun auch in den Gesetzen. Gefordert werden nicht nur die Anwesenheit eines Priesters bei der Brautübergabe an den neuen Muntherrn und Benediktion des Brautpaares,[41] sondern bei Cnut heißt es:
»Und man zwinge weder [verwitwete] Frau noch Jungfrau zu dem, der ihr selbst mißfallt, noch soll sie für einen Wertbetrag [sceat] weggegeben/verkauft [syllej werden, außer wenn er [der Freier] aus eigenem Antriebe etwas geben will.«[42]
Der aus gleicher Zeit stammende Verlobungstraktat Be Wifmannes Beweddunge spricht nicht mehr von »Kauf, wohl aber weiterhin von obligatorischen Gaben des Bräutigams und ihrer genauen Zweckbestimmung: Die bisherigen Sorgeberechtigten der Braut erhalten einen »Pflegelohn« (fosterlean),[43] wobei es sich wahrscheinlich um das Äquivalent zu dem nun sittlich unakzeptabel gewordenen »Braut(kauf)preis« (sceat) handelt. Ein weiteres Geschenk, wohl die ursprüngliche Morgengabe, geht direkt an die Braut; der Bräutigam wirbt damit um ihre Zustimmung, »seinen Willen« zu »erkiesen«,[44] d. h. ihn als ihren neuen Muntherrn anzuerkennen. Daß die Einwilligung der zu Verheiratenden nicht übergangen werden darf, wird bereits an hervorgehobener Stelle des Traktats, im einleitenden Satz, gefordert:
»Wenn man ein Mädchen oder eine [verwitwete] Frau verloben will, und dies ihr und den Freunden [Blutsverwandten] so genehm ist. . .«[45]
Die Bestimmungen schwächen den bisherigen Objektstatus von Frauen ab, indem sie rein materielle Aspekte und Zwangsverheiratungen verurteilen. In der Literatur werden sie als Maßnahme zugunsten der in ihrem Willen unterdrückten Frauen gewertet.[46] Und doch lassen diese neuen Normen Konzessionen an traditionelle Strukturen, die anscheinend erhalten bleiben, erkennen:
Wif belegt, daß die Braut weiterhin von ihren Verwandten verlobt wird, und die Eheschließung muß ihrer Sippe »genehm« sein - »man verlobt« sie. Die Braut verbleibt in einer nicht mit »Selbstbestimmung« gleichzusetzenden Abhängigkeit, die sich in der Ehe unter ihrem neuen Munt-herrn, dem sie »gehorchen«[47] soll, fortsetzt.
Wie das oben zitierte Kapitel aus Cnuts Gesetzen belegt, verliert die Brautsippe bzw. der Muntherr zwar das althergebrachte Recht zum Empfang einer Gegengabe, erhält es aber andererseits zurück, indem er ein »Geschenk« des Bräutigams annehmen »darf: Aus der ursprünglich obligatorischen Zahlung wird eine sittlich gebotene. Die Verpflichtungen bleiben bestehen; sie werden lediglich mit Rücksicht auf kirchliche Postulate neu begründet: Der »Braut(kauf)preis« wird zum »Pflegelohn«.
Dennoch bedeutet die Erhebung des Mitspracherechts für Frauen zur Norm einen positiven Entwicklungsschritt - dem jedoch die Rechtswirklichkeit noch lange Zeit nicht folgen wird.[48]
5. Geschlecht und Verbrechen
Als geschlechtsspezifische Verbrechen lassen sich solche Vergehen klassifizieren, bei denen das Geschlecht als maßgebliche Kategorie für Täter bzw. Opfer sowie für die Rechtsfindung dient. Dies soll am Beispiel der gegen Frauen gerichteten Vergewaltigung und des gegen Männer gerichteten Ehebruchs verdeutlicht werden. Die in den Quellen beschriebenen nichtehelichen und daher unrechtmäßigen sexuellen Handlungen lassen sich je nach ihrer wörtlichen Beschreibung in zwei Gruppen gliedern: diejenigen ohne erkennbaren Gewaltcharakter und diejenigen mit einem solchen Charakter. Eine Gewalthandlung kann nicht daraus abgeleitet werden, daß »jemand« (= ein Mann) bei einer Frau - erwähnt werden Frauen verschiedenen freien und unfreien Ranges - »liegt« oder daß er eine Jungfrau »verführt und beschläft«.[49] In all diesen Fällen gilt jedoch allein der Mann als Täter; Opfer ist nicht die beschlafene Frau, sondern deren Muntherr, an den jeder äußere Zugriff auf seinen Hausstand gebüßt wird. Von diesem Tatbestand und seinen Rechtsfolgen unterscheiden sich die - nur bei Alfred abgehandelten - sexuellen Gewalthandlungen von Männern gegen Frauen in bezug auf Begrifflichkeit und geschädigte Person.[50] Vergewaltigung umfaßt hier nicht allein erzwungenen Beischlaf, sondern auch »Versuchsdelikte« (zum Beischlaf) wie Berühren der Brust und das schwerer wiegende, da dem Ziel geschlechtlichen Verkehrs näher kommende Niederwerfen der Frau. Präzise beschrieben wird der Gewaltcharakter des Versuchsdelikts durch »Niederwerfen« und der des erzwungenen Beischlafs durch den Begriff des »erzwungenen unsittlichen Beischlafs« (ni[e]dhcemed).
Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Beischlafdelikten beansprucht die vergewaltigte freie Jungfrau die Buße selbst. Dies unterstreicht den Gewaltcharakter der Tat, denn hätte sie darin eingewilligt, ginge die Buße an ihren Muntherrn.
Anfassen der Brust wird mit 5 Schillingen gebüßt, Niederwerfen mit 10 Schillingen. Für vollzogenen Beischlaf sind 60 Schillinge zu zahlen; wenn die vergewaltigte »Jungfrau« jedoch bereits vor der Tat Geschlechtsverkehr hatte, halbiert sich die Buße auf 30 Schillinge. Die Bußen gelten für Delikte an gemeinfreien Jungfrauen; höherrangige beanspruchen eine entsprechend höhere Summe. Für Sklavinnen gilt: Ist der Täter ein Freier, büße er 5 Schillinge an den gemeinfreien Herrn und 60 Schillinge an den König; ist der Täter ein Sklave, wird er kastriert. Die beschriebenen Versuchsdelikte verletzen zwar die Jungfrauen- und Familienehre sowie das Schutzrecht des Muntherrn, werden aber vergleichsweise milde geahndet, da sie ohne weiterreichende Konsequenzen für die soziale Identität des Opfers bleiben.
Anders verhält es sich im Falle vollzogenen Beischlafs, denn voreheliche Defloration - gewaltsam oder nicht - entehrt das wertvollste, da der Reproduktion dienende und die soziale Identität der Frau konstituierende weibliche Körperteil; sie bedroht direkt die Existenzbasis der Frau durch geminderte Heiratschancen. (Eheschließung mit dem Vergewaltiger ist ausgeschlossen.) So erklärt sich die hohe Buße von 60 Schillingen vermutlich besonders aus dem Motiv, soziale Folgen der Entjungferung durch materielle Kompensation aufzufangen, sowohl im Interesse der Vergewaltigten als auch deren schütz- und unterhaltspflichtiger Sippe. Daß die Rechtsfindung sehr viel mehr auf Sühne des Ehr- und Wertverlustes der Jungfrau als auf Bestrafung der Gewalthandlung an sich bedacht ist, legt die Regelung nahe, nach der sich die Bußleistung halbiert, wenn die unverheiratete junge Frau bereits vor ihrer Vergewaltigung nicht mehr »unberührt« war: Ehre und Ehefähigkeit der Frau wurden hier bereits durch früheren sexuellen Kontakt verletzt bzw. beeinträchtigt; die Tat, d. h. der sexuelle Angriff des Mannes, bleibt zwar die gleiche, aber der Täter ist für die sozialen Folgen nicht allein verantwortlich und zahlt daher eine geringere Buße. Es bleibt unerwähnt, ob die vorangegangenen Geschlechtskontakte ebenfalls erzwungen wurden; dann nämlich wäre die Frau doppelt betroffen, d. h. obwohl doppelt vergewaltigt, verlöre sie beim zweiten Mal einen Teil ihres Anspruchs auf Buße.
Alfred versteht Vergewaltigung nicht im modernen Sinne als Angriff auf die Integrität der Frau als ÜbergesellschaftUches Individuum, sondern er mißt das Verbrechen an zwei Wesenselementen der sozialen Ordnung, erstens der geschlechtsspezifischen - klassenübergreifenden - weiblichen Funktionsbestimmung als Ehefrau und Gebärerin, zweitens dem Geburtsrang, und zwar sowohl dem des Opfers als auch dem des Täters. Kastration, bei Elfred noch eine sklavenspezifische Leibesstrafe, trifft gegen Ende des 11. Jahrhunderts jeden Vergewaltiger.[51] Die häufige Behandlung und Bewertung von Ehebruch erklären sich aus der sozialen Bedeutung und der inneren Struktur der Institution Ehe sowie aus kirchlichem und staatlichem Zugriff auf das privatrechtlich organisierte Eherecht.
Zwei Aspekte verdienen besondere Beachtung: die geschlechtsspezifische Definition von Ehebruch und ihre Entwicklung unter Einfluß kirchlicher Ehepostulate.
Als Ehebrecher werden beide Geschlechter genannt. Dennoch verletzt Ehebruch nach vorchristlich-germanischem Verständnis nur das Recht des »betrogenen« Ehemannes; Frauen (auch deren Sippe) können gleiche Rechte gegenüber »untreuen« Ehemännern nicht einklagen. Sexuelle außereheliche Beziehungen eines verheirateten Mannes verletzen weder die eigene Ehe als Rechtsinstitution noch die eigene Ehefrau, sondern immer nur die Rechte desjenigen Hausherrn, in dessen Munt sich die beteiligte Frau - ob frei oder unfrei, ledig, verheiratet oder verwitwet - befindet. Im Wort »Ehebruch« klingt noch heute die Vorstellung vom »Gehegebruch«, dem Einbruch in den rechtlich geschützten Bereich (»Gehege«) eines anderen Mannes, an.[52] Bei Ethelbert wird Ehebruch rein privatrechtlich geregelt, d. h. König und Kirche greifen noch nicht ein. Für den Ehebruch mit der »Frau eines freien Mannes« muß ein Freier sein Wergeld zahlen; er kauft sich damit von der Rache des Ehemannes, der ihn bei handhafter Tat straffrei erschlagen darf, los.[53] Zweitens soll der Ehebrecher dem geschädigten Ehemann mit eigenem Geld eine neue ebenbürtige Frau beschaffen. Auch hier erscheint die Frau in krasser Form als Objekt männlicher Rechtsangelegenheiten, einerseits des Ehemannes: in seinem Exklusivrecht auf die Frau verletzt, darf er sie gegen eine andere austauschen, andererseits aber auch des Ehebrechers: dieser befreit sich durch »Beschaffung« einer neuen Frau von einem Teil seiner Schuld.
Beim ebenfalls von Ethelbert erwähnten Ehebruch eines Freien mit einer verheirateten Unfreien fällt eine vom oben erwähnten Beispiel gänzlich verschiedene Rechtsfolge auf [54]: Der Täter zahlt kein Wergeld, denn der Bruch einer unfreien Ehe gilt nicht als todeswürdiges Verbrechen; die am Ehebruch beteiligte Frau wird nicht ausgetauscht, denn ein Unfreier hat weder Herrschaftsrechte noch eine »Ehre«, die verletzt werden könnten. Verletzt wird dagegen der Herr der unfreien Eheleute in seinem Friedensschutz- und Herrschaftsrecht. Er, nicht der Ehemann, gilt als Geschädigter und empfängt die Bußleistung vom Täter.
Im Unterschied zum vorangehenden Fall wird Ehebruch hier nicht personen-, sondern sachenrechtlich bestraft, d. h. die beteiligte Frau steht hier ihrem geschädigten Herrn nicht als seine nach sozialem Rang ebenbürtige Ehefrau, sondern, ebenso wie ihr unfreier Ehemann, als rechtlose »Sache« gegenüber. Eine Verletzung dieser Beziehung wiegt daher weniger schwer.
Im 10. Jahrhundert verdeutlicht ein Gesetz Eadmunds, daß sich Ehebruch von einem privatrechtlichen zu einem öffentlichen Delikt wandelt. Der Ehebrecher ist geweihter Grabstätte nicht mehr würdig, es sei denn, er büßt.[55] Unklar bleibt allerdings, ob sich diese kirchliche Strafe lediglich, analog zum traditionellen weltlichen Rechtsempfinden, gegen Bruch der Ehe anderer und damit gegen Verletzung der Rechte anderer Männer richtet oder ob sie bereits die Verletzung des eigenen religiös überhöhten und als unverletztlich angesehenen Ehebundes sühnt. Einen solchen Einfluß kirchlicher Eheauffassung belegen Cnuts Gesetze aus dem 11. Jahrhundert, die sich ausführlich mit Ehebruch befassen.[56] Bemerkenswert ist hier die Gegenüberstellung und unterschiedliche Wertung männlichen und weiblichen Ehebruchs. Erstmals werden genaue Strafbestimmungen für ehebrecherische Frauen, die vorher im Ermessen des Ehemannes lagen, gesetzlich gefaßt. Sie fallen - und darin stehen sie in heidnisch-germanischer Tradition -ungleich härter aus als diejenigen für ehebrecherische Männer:
»Wenn zu Lebzeiten des Ehemannes seine Frau mit einem anderen Manne hurt, und es offenkundig wird [handhaft oder notorisch], so werde sie dann sich selbst zur Schande vor der Welt [sie wird wahrscheinlich schimpflich aus dem Hause gejagt], und der rechtmäßige Ehemann erhalte alles, was sie besitzt; und sie verliere Nase und Ohren. «[57]
Im Gegensatz dazu muß ein ehebrecherischer Mann nur eine vom Bischof vorgeschriebene, in Form und Höhe nicht benannte Buße leisten und ist, wenn er in einer polygynen Beziehung mit Ehefrau und Kebse lebt, für die Dauer dieser Verbindung aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen. Neben dem Konkubinat werden weitere Formen männlichen Ehebruchs in der Abfolge ihrer Schwere aufgelistet und gebüßt: Als »schlimmer« Ehebruch, als Vergehen gegen die eigene Ehe - eher jedoch gegen die geweihte Institution als gegen die Ehefrau selbst - wird sexueller Verkehr des Ehemannes mit einer Ledigen und mit der eigenen Sklavin gewertet; »viel schlimmer« ist die Tat, wenn sie zusätzlich einen weiteren heiligen Bund verletzt, sei es der Ehebund Dritter - durch sexuellen Verkehr eines Verheirateten mit der Ehefrau eines Dritten werden zwei Ehen gebrochen - oder der Bund einer »Gottgeweihten« mit den Herrn.
Die Einbeziehung des eigenen Hausbereiches in Person der Sklavin und der Konkubine läßt darauf schließen, daß der ehebrecherische Mann erstmals nicht nur Ehen Dritter bzw. die Rechte eines anderen Ehe- oder Muntherrn bricht, sondern gemäß kirchlicher Eheauffassung nunmehr auch den eigenen Ehebund gegenüber seiner Frau verletzt. Dies mag die Position von Ehefrauen gestärkt haben, allerdings weniger durch Zugeständnis eines Rechts als vielmehr eines moralischen Anspruchs auf eheliche Treue, denn der Mann büßt nicht seiner Frau, sondern der Kirche.
Umgekehrt jedoch besitzen Männer - als »Eheherren« - weiterhin einen Rechtsanspruch auf die Treue ihrer Frauen.[58] Verstoßenen Ehebrecherinnen wird infolge von Vermögensverlust und Verstümmelung eine Zweitehe unmöglich gemacht und damit ihre soziale und wirtschaftliche Existenzbasis gefährdet. Ehebrecherische Männer gehen kein derartiges Risiko ein. Weibliche Untreue wird nicht nur ungleich härter, sondern auch besonders schimpflich bestraft: Verstümmelung des Antlitzes ist grundsätzlich keine frauenspezifische Strafe, sondern wird auch an Unfreien, Wiederholungstätern und Geiseln vollzogen.[59] Die geschlechtsspezifische Anwendung einer solchen Leibesstrafe bei Ehebruch könnte als ein weiterer Beleg für einen Grundzug der Geschlechterpolarität gewertet werden, der trotz Abschwächungen auch in kirchlich geprägten Rechtssatzungen der angelsächsischen Gesetze fortlebt: Frauen stehen Männern ähnlich wie Unfreie ihrem Herrn gegenüber.[60]
6. Zusammenfassung
Abschließend eine Zusammenfassung von Einzelergebnissen in bezug auf die Ausgangsfragestellung:
- Geschlechtscharaktere: »Der« Mann repräsentiert die Gemeinschaft und definiert sich durch sie (Mann = Gemeinschaft), woraus folgt, daß soziale Normen und Zuweisungen sozialer Funktionen bzw. Identität auf den Mann hin ausgerichtet (androzentrisch) sind. Die soziale Identität »der« Frau bestimmt sich durch zwei Kriterien und deren Verbindung; erstens durch Körperbeschaffenheit (Frau = Geschlechtswesen, Jungfrau = »unberührte« Frau, Wertverlust durch Vergewaltigung), zweitens durch Zuordnung zum Mann (auf die Ehe bezogene Lebensstufen). Der »wehrhafte« Mann ist der Frau übergeordnet (Verbindung von Wafknrecht und Muntgewalt); in der Ehe ist er der »Herr« über das »Weib« (sogar der Unfreie).
- Rechtsinhalte: Freie Frauen sind rechts-, aber nicht handlungsfähig (eingeschränkter personenrechtlicher Status, 2-Kategorien-Modell von »Klasse« und »Geschlecht«); Muntherren »vertreten« Frauen ihres Rechtsbereiches nach außen bzw. entscheiden über Frauenangelegenheiten (Ehehandel); das kirchliche Ehekonsenspostulat gewährt der Braut Mitspracherecht, dessen Wirksamkeit jedoch angesichts weiterbestehender Elemente des Ehehandels fraglich ist (Sippeninteresse, »Geschenk« des Bräutigams). Am Beispiel geschlechtsspezifischer Verbrechen wird die androzentrische Orientierung gesellschaftlicher und rechtlicher Wertmaßstäbe deutlich: Die Rechtsfolgen von Vergewaltigung lassen erkennen, daß nicht der individuelle Wert einer Frau, sondern ihr Wert für den Mann (»Unberührtheit«) zählt. Die Bewertung von Ehebruch erklärt sich aus der hierarchischen Ordnung von Geschlechterbeziehungen, da nämlich der Bruch der eigenen Ehe nur einseitig durch das »Weib« gegenüber seinem »Herrn« erfolgen kann; kirchenrechtlich geprägte Satzungen verurteilen erst im 11. Jahrhundert männlichen Ehebruch, ohne allerdings bestehende Strukturen und Rechtsmaßstäbe grundlegend zu verändern (kein Rechtsanspruch der Frau auf »Treue«, weiterhin ungleich härtere Bestrafung von Frauen).
- Historische Entwicklungen, Veränderungen: Immer wieder ist auf kirchenrechtlichen Einfluß hingewiesen worden. In bezug auf die Ehe bewirkt er zwar eine äußere Umbewertung ihres Charakters, d. h. die Verlagerung vom rechtlichen zum sakramentalen Charakter der Ehe, läßt aber die innere Struktur, das Verhältnis von »Eheweib« und »Eheherr«, unangetastet.
Die vorliegenden Ergebnisse verdeutlichen die zentrale Bedeutung von »Geschlecht« als Wertmaßstab angelsächsischer Gesellschafts- und Rechtsordnung. Daß damit gleichzeitig der Wert der »Gechlechts«-Kategorie als Orientierungskriterium für sozialgeschichtliche Untersuchungen erwiesen ist, sollte zu weiteren Überlegungen und Nachforschungen in dieser Richtung ermutigen.