Die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft wird nicht zuletzt durch ihre Gebärfähigkeit bestimmt; diese hat Einfluß auf die Entfaltung ihrer Persönlichkeit, auf ihr soziales Ansehen, auf ihre Gesundheit und ihr Lebensalter. Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt werden in jeder Gesellschaft von einer Reihe sozialer Normen begleitet, die nahezu ohne Ausnahme die Frau allein betreffen. In Gesellschaften, die nur über ungenügende medizinische Kenntnisse verfügen, droht mit jeder Schwangerschaft der Tod von Mutter und Kind. Die Frage nach den Kenntnissen zur Geburtenplanung und ihrem Einsatz führt daher immer auch zu den sozialen Problemen der Frau in einer Gesellschaft. Die Untersuchung dreier Quellengruppen - der »libri poenitentiales«, der frühen Volksrechte und einiger medizinischer Quellen - zeigte, daß auch im frühen Mittelalter abortive und kontrazeptive Mittel und Methoden bekannt waren und auch Kindesaussetzung und -tötung zur Anwendung kamen.[1]
Schon in antiker Zeit hatte sich die christliche Kirche mit den ethischen Fragen der Geburtenplanung beschäftigt. Sie hatte in Auseinandersetzung mit der heidnischen Umwelt und im Kampf gegen die Gnostiker und andere christlichen Sekten eine rigide Lehre zur Zeugung des Nachwuchses entwickelt. Ähnlich wie ihre Gegner führte auch sie die Sünden der Menschen auf den Körper und seine Bedürfnisse, besonders die geschlechtlichen, zurück. Doch die Erkenntnis, daß nicht alle Menschen ein keusches Leben führen können, führte dazu, die Ehe als Institution für diejenigen einzusetzen, die dem Geschlechtsverkehr nicht entsagen konnten. Doch sollte nicht die Erfüllung sexueller Bedürfnisse, sondern die Zeugung Ziel des ehelichen Verkehres sein. Geschlechtsverkehr, Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und die Aufzucht der Kinder zu gläubigen Christen wurden im Rahmen der Ehe als ein zusammengehöriger von Gott gewollter Prozeß angesehen, in den der Mensch nicht eingreifen durfte. Empfängnisverhütung wurde daher nicht nur als Eingriff in die gottgewollte natürliche Ordnung, sondern auch als Ehebruch betrachtet. Die Abtreibung nach dem 40. Tag wurde, da der Embryo danach als beseelt und als vollwertiger Mensch galt, mit Mord gleichgestellt - ebenso wie der Infantizid und die Kindesaussetzung.[2] In den »libri poenitentiales«,[3] katalogartigen Zusammenstellungen von Verfehlungen und deren Bußen, die dem Seelsorger bei der Beichte als Leitfaden dienten, spiegeln sich die Schwierigkeiten, die die Kirche bei der Durchsetzung dieser Lehre in der Bevölkerung hatte.[4] Schon in den frühesten irischen Bußbüchern des 6. Jahrhunderts wird die Abtreibung als »maleficium« - als böse, zauberische Tat - bestraft. Erste konkrete Erwähnungen der Empfängnisverhütung findet man in den irischen Bußbüchern des 6. Jahrhunderts wird die Abtreibung als »maleficium« - als böse, zauberische Tat - bestraft. Erste konkrete Erwähnungen der Empfängnisverhütung findet man in den irischen Bußbüchern des 8. und den fränkischen des 9. Jahrhunderts.[5] Die Kindestötung wurde zum ersten Mal im 6. Jahrhundert [6] und die Aussetzung im 8. Jahrhundert erwähnt.[7]
Laien - Männer wie Frauen -, aber auch Kleriker werden im Zusammenhang mit Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung angesprochen. Die Empfängnisverhütung hingegen wird vorwiegend mit Frauen in Zusammenhang gebracht. Männer erscheinen lediglich als Opfer eines Zaubers, der Sterilität bewirken sollte. In den jüngeren Bußbüchern versuchte man auch die Hersteller und Verbreiter kontrazeptiver und abortiver Mittel zur Rechenschaft zu ziehen.[8]
Vier verschiedene Motive werden in den Bußbüchern erwähnt: Frauen, die Geburtenplanung aus wirtschaftlichen Gründen vornahmen, oder gar um schwere Krankheit oder Tod zu vermeiden, unterlagen einer milden Bestrafung. Personen, die aus Mißgunst und Feindschaft andere unfruchtbar machen wollten und sogar eine Abtreibung hervorriefen, Laien und Kleriker, die mit Hilfe von Abtreibung und Empfängnisverhütung verbotenen Geschlechtsverkehr geheimhalten wollten, wurden wesentlich strenger bestraft. Den Formulierungen ist zu entnehmen, daß die Verfasser der Bußbücher vor allem verbotenen Geschlechtsverkehr als Hauptmotiv für den Einsatz der verschiedenen Methoden ansahen.[9] Ein anderes Bild bieten vor allem die vom Christentum noch wenig beeinflußten Volksrechte. Hier wird lediglich eine Abtreibung durch Dritte bestraft. Auch im salfränkischen Gesetz, das als einziges die Empfängnisverhütung behandelt, unterlagen lediglich die Frauen, die andere Frauen unfruchtbar machen wollten, einer Bestrafung. Abtreibung und Empfängnisverhütung, die Frauen aus eigenem Ermessen vornahmen, finden keine Beachtung. Die Lex Frisionum geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie der Mutter ausdrücklich erlaubt, ihr Neugeborenes, das noch keine Nahrung zu sich genommen hat, straflos zu töten.
Auch in der Beurteilung der Tat unterscheiden sich diese Volksrechte von den Bußbüchern. Während das germanische Rechtsbewußtsein den Verlust der Sippe in den Vordergrund stellte, galt den Christen der Fötus als Geschöpf Gottes und als vollwertiger Mensch. In den Bußbüchern, wie auch in den christlich beeinflußten Gesetzen, wurde die Abtreibung daher als Mord betrachtet. Darüber hinaus fragen die Volksrechte nicht nach den Motiven für Abtreibung, Empfängnisverhütung, Kindesaussetzung und -tötung.[10] Die ausschließliche Festlegung des Geschlechtsverkehrs auf den Zweck der Zeugung und die daraus resultierende Wertung der Geburtenplanung als unmoralisches und sündiges Vergehen ist rein christlicher Natur. Daher muß man die von den Bußbüchern angegebene Hauptmotivation, mit Hilfe dieser Mittel ein Unzuchtsvergehen verbergen zu wollen, mit Vorsicht betrachten. In bezug auf die Art der abortiven und kontrazeptiven Kenntnisse nennen beide Quellengruppen Kräutertränke und magische Praktiken«. Zur Erforschung dieser Kenntnisse ist man auf die medizinische Literatur der Klöster angewiesen.[12] Sie basiert vor allem auf der antiken Überlieferung. Eigenständige Quellen zur Volksheilkunde existieren nicht. Die antike Medizin wurde in den Klöstern Italiens teils durch Übersetzungen, teils durch neue, für die Praxis zusammengestellte Rezeptarien und Antidotarien weitergegeben. Auch die iroschottische Mission brachte im 8. Jahrhundert einen Teil der klassischen Überlieferung, die durch einen lebhaften Austausch zwischen Irland und Rom in den Norden gelangt war, auf den Kontinent. Auf diese Weise lebten die Kenntnisse des Hippokrates, des Soranus, des Dioskurides und Plinius, wenn auch oft in stark verstümmelter Form, fort.[13] Obwohl die Überlieferungen aus der Feder von Mönchen stammen, denen der Glaube die Leugnung und Verfolgung dieser Mittel gebot, sind sie dennoch nicht frei von Hinweisen auf eine abortive und kontrazeptive Praxis. Vor allem die für die praktische Anwendung bestimmten Antidotarien und Rezeptarien enthalten im Rahmen der Geburtshilfe auch Rezepte zur Geburtenregelung. Neben Wehenmitteln, Tot- und Nachgeburt fördernden Mitteln, findet man hauptsächlich Emma-nagoga und Abortiva.[14] Es handelt sich zumeist um Tränke, die durch Sitzbäder oder Auflagen auf den Nabel verstärkt werden konnten. Sade, Sellerie, Petersilie, Raute, Wermut und Fenchel, deren ätherische Öle je nach Konzentration eine schwache bis sehr starke Wirkung auf den Beckenbereich ausüben und so die Menstruation oder eine Fehlgeburt auslösen können, wurden in den Rezepten häufig verwendet.[15] Daneben findet man auch viele abergläubische, aber medizinisch wohl wirkungslose Praktiken. Dies trifft besonders auf die ganz selten verzeichneten Kontrazeptiva zu.[16]
Die Aussagen der Bußbücher und der medizinischen Quellen lassen kaum noch Zweifel daran, daß auch das frühe Mittelalter verschiedene Praktiken der Familienplanung kannte. Die Fragen nach der tatsächlichen Praxis und dem Erfolg der bekannten Methoden lassen sich jedoch kaum beantworten. Demographisch verwertbare Materialien, die uns z. B. für die Neuzeit gestatten, detaillierten Einblick in das Fortpflanzungsverhalten der verschiedenen Bevölkerungsschichten zu nehmen, gibt es für das frühe Mittelalter nicht.[17]
Zu den wenigen demographisch auswertbaren Quellen gehören die Polyptycha. Diese Güterverzeichnisse von Klöstern und adligen Grundbesitzern führen nicht nur den Landbesitz und die zu erwartenden Einnahmen, sondern auch die abhängigen Personen auf. Besonders die sogenannten großen Polyptycha sind von Interesse, da sie pro Hof und Herdstelle den Haushaltsvorstand, seine Ehefrau, seine Kinder und manchmal auch Knechte und Mägde verzeichnen. Es handelt sich hierbei um das Polyptychon von Saint-Germain-des-Pres (811-826), das von Saint-Victor in Marseille (813-814), um Fragmente des Polyptychons von Santa Maria di Farfa (um 820), um das Polyptychon von Saint-Remi (um 861) und das Güterverzeichnis der Abtei Prüm (893).[18] Sie erfaßten die vom jeweiligen Kloster abhängige bäuerliche Bevölkerung. Zur Stadtbevölkerung im frühen Mittelalter können aufgrund fehlender Quellen keine demographischen Aussagen gemacht werden, und auch die Versuche, an Hand von Chroniken nähere Aussagen zum generativen Verhalten des Adels zu machen, sind wenig repräsentativ.[19] Emily Coleman stellte nach einer Untersuchung des Polyptychons von Saint-Germain-des-Pres die These auf, daß die abhängigen Bauern auf dem Land dieses Klosters den weiblichen Nachwuchs durch Infantizid und Aussetzung stark begrenzten. Als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung diente ihr die Unterrepräsentation der Mädchen und Frauen in diesem Polyptychon. Mit Hilfe von Korrelationsrechnungen versuchte sie nachzuweisen, daß die Zahl der Mädchen von der Größe des Hofes und der schon auf dem Hof lebenden Frauen abhängig war. Jedes Neugeborene bedeutete eine zusätzliche Belastung der hart erarbeiteten Lebensgrundlage der Bauernfamilien. Die weiblichen Säuglinge stellten nach ihrer Meinung jedoch eine größere Gefahr für die Zukunft der Familienmitglieder dar. Da sie vor allem im Haushalt tätig gewesen seien, sei ihr Beitrag zur lebenserhaltenden Feldarbeit nur gering gewesen. Darüber hinaus schmälerten sie durch ihren Anspruch auf Mitgift und Erbe die ökonomische Basis der Familien. Daher vermutete Coleman, daß die Geburt eines Mädchens starke Antipathien in der Familie auslöste, die zur Vernachlässigung des Mädchens führten, wenn es nicht gar sofort ausgesetzt oder getötet wurde.[20]
Die naheliegende Vermutung, daß die Unterrepräsentation der Mädchen und Frauen auf eine ungenaue Erfassung zurückzuführen ist, konnte von Coleman, die davon ausgeht, daß das Polyptychon sorgfältig alle auf dem Klosterland lebenden Personen auflistet, nicht schlüssig widerlegt werden.[21] Die von Richard R. Ring am Polyptychon von Farfa erprobte Methode, die die Vermutung nahelegt, daß dort - vor allem in Familien mit einem Kind - Mädchennamen in der männlichen Form oder Mädchen als Jungen verzeichnet wurden, sollte bei einer weiteren Untersuchung des Polyptychons von Saint-Germain herangezogen werden, um diese Frage genauer zu klären.[22]
Für ihre Berechnungen summierte Coleman einerseits die als Erwachsene und andererseits die als Kinder aufgeführten Personen, da sie davon ausging, daß das in der Quelle dokumentierte, verwandtschaftlich begründete Eltern-Kind-Schema mit einer altersmäßigen Teilung der Bevölkerung in Erwachsene und Minderjährige gleichzusetzen ist. Auf diese Weise hat sie wahrscheinlich Jugendliche und junge Erwachsene, die wegen fehlender Möglichkeiten, sich selbständig zu machen, noch auf dem Hof ihrer Eltern lebten, mit in die Gruppe der Kinder aufgenommen.[23] Wenn das der Fall ist, kann der hohe Maskulinitätsindex der »Kinder« nicht allein auf einen Infantizid an Mädchen zurückgeführt werden. Die Frage, ob die sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen Jungen und Mädchen zu verschiedenen Zeiten veranlaßten, den Haushalt der Eltern zu verlassen, muß in stärkerer Weise berücksichtigt werden, als Coleman dies tat. Auch der hohe Maskulinitätsindex der erwachsenen Bevölkerung kann nicht monokausal auf einen Infantizid zurückgeführt werden. Die hohe Sterblichkeit der Frauen im gebärfähi-gen Alter, die durch archäologisch-anthropologische Untersuchungen von Reihengräberfeldern belegt ist, spielt hier wahrscheinlich eine größere Rolle.[24] Ein Infantizid an Mädchen ist, wenn überhaupt, nur ein Faktor in einem komplexen Faktorenbündel, das zu einer Unterrepräsentation der Frauen in dieser Quelle führte.
Dieser Versuch Emily Colemans, die demographischen Auswirkungen einer Familienplanung im frühen Mittelalter zu erforschen, lenkte die Aufmerksamkeit auf das Polyptychon von Saint-Victor in Marseille.[25] In diesem Polyptychon sind die meisten Kinder im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren mit Altersangaben verzeichnet. Die jüngeren Kinder (0 bis 1 Jahr) nannten der oder die Verfasser »infantes ad über« und die älteren, unverheirateten (ab 16 Jahren aufwärts) »filiae baccalariae« oder »filii baccalarii«.[26] Es erhob sich die Frage, ob man aufgrund dieser Altersangaben Näheres über die Geburtenfolge in den abhängigen Familien aus der Gegend von Marseille erfahren kann. Die Demographen Edward Anthony Wrigley, Jacques Dupáchier und Marcel Lachiver entwickelten Modelle, mit deren Hilfe man die »Natürlichkeit« der Geburtenfolge, das heißt das Fehlen bewußter Geburtenplanung, ermitteln kann.[27] Die Fruchtbarkeit und die Abstände zwischen den Geburten werden nicht nur durch einen planenden Eingriff der Frauen und Paare in die Geburtenfolge, sondern auch durch physische, psychische und soziale Faktoren beeinflußt, die vom menschlichen Willen weitgehend unabhängig sind.[28] Wrigley ermittelte, daß ein Ge-burtenabstand bis zu 31,5 Monaten noch als »natürlich« betrachtet werden kann. Als kürzestes intergenetisches Intervall gibt er 16,5 Monate an. Diese beiden Zahlen setzen sich aus einem zwischen 4 und 6 Monaten veranschlagten Zeitverlust durch Amenorrhoe, 1,5 bis 2,5 Monaten verlorener Zeit durch Fötalsterblichkeit, 2 bis 4 Monate für andere, schwer meßbare Faktoren und der neunmonatigen Schwangerschaft zusammen. Geburtenabstände, die den Zeitraum von 31,5 Monaten überschreiten, sind laut Wrigley nur durch fehlenden Geschlechtsverkehr oder bewußte Geburtenplanung zu erklären. Dupächier und Lachiver erhöhen den als »natürlich« anzusehenden Abstand auf 48 Monate.
Da im Polyptychon von Saint-Victor nur die zum Zeitpunkt der Zählung im Haushalt der Eltern lebenden Kinder erfaßt werden, konnte dieses Modell nicht ohne weiteres übernommen werden. Das Polyptychon dokumentiert nur die Altersabstände zwischen diesen Kindern, die nicht mit den Geburtenabständen gleichgesetzt werden können, da über mögüche Fehl- und Totgeburten, die Zahl der verstorbenen und der aus dem Elternhaus fortgezogenen Kinder keine Angaben gemacht werden. Man kann allerdings versuchen, aus dem Bild der ungefähren Altersabstände Rückschlüsse zu ziehen. Geringe Altersabstände verweisen auf jeden Fall auf eine schnelle Geburtenfolge, während lange Altersabstände auf mancherlei Einflüsse zurückzuführen sind. Eine kritische Untersuchung der Quelle ergab, daß das Polyptychon mit großer Wahrscheinlichkeit den tatsächlichen Stand der abhängigen Bevölkerung wiedergibt, da die Maskulinitätsindizes bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen annähernd normal sind, und der oder die Verfasser fehlende Informationen oder Unsicherheiten durch den Hinweis »ad requirendum« kennzeichneten.[29]
Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die Abhängigen des Dorfes Agrus Galadius.[30] Daneben verzeichnet die Quelle noch Besitzungen und die darauf lebenden Bauern und Handwerker in weiteren 12 Dörfern im weiten Umkreis von Marseille. Vieles weist darauf hin, daß das Kloster und der Dom nicht die gesamten Dörfer besaßen.[31] Wieviele Familien jedoch darüber hinaus dort wohnten, läßt sich nicht mehr feststellen.
Von den ca. 100 Familien des Dorfes wurden lediglich 10 Familien für eine Untersuchung der Altersabstände herangezogen.[32] Von den übrigen Familien konnten einige aufgrund des Aufzeichnungsmodus nicht eindeutig rekonstruiert werden, andere wiesen für einen Vergleich nicht genügend Kinder mit Altersangaben auf. Daher wurden weitere 15 Familien aus dem übrigen Polyptychon in die Untersuchung einbezogen«. Die physischen, psychischen und sozialen Faktoren, die den Geburten-abstand ohne einen Eingriff der Frauen und Paare verlängern, sind in dem »natürlichen« Geburtenabstand von 34 bis 48 Monaten zusammengefaßt. Die Altersabstände von 1 bis 2 Jahren konnten daher mit einiger Sicherheit mit Geburtenabständen gleichgesetzt werden. Ein Vergleich der rekonstruierten Familien ergab, daß vor allem in den »jüngeren Familien«, d. h. Familien mit Kindern bis einschließlich 5 Jahren,[34] die Altersabstände den Zeitraum von 3 Jahren nur in wenigen Fällen überschritten. Hohe Altersabstände, die den noch »natürlich« zu nennenden Zeitraum von ca. 4 Jahren überschritten, lagen vor allem in den »älteren Familien«, d. h. Familien mit Kindern aller Altersklassen,[35] vor.
Diese hohen Altersabstände können jedoch nicht ohne weiteres durch Geburtenplanung erklärt werden. Die Ergebnisse von Grabungen früh-und hochmittelalterlicher Gräberfelder zeigen, daß für diesen Zeitraum mit einer Säuglingssterblichkeit von 20 bis 25% und einer Kindersterblichkeit zwischen 40 und 60% zu rechnen ist.[36] Die zumeist gleichmäßig zwischen den Kindern auftretenden hohen Altersabstände müssen zum großen Teil durch die hohe Kindersterblichkeit erklärt werden. Denn ein Vergleich der altersspezifischen Verteilung aller Kinder im Polyptychon zeigte, daß auch in der Gegend von Marseille die Kinder in den Phasen Infans I (0 bis 5 Jahre) und Infans II (6 bis 15 Jahre) von einer hohen Sterblichkeit betroffen waren. Unter allen im Polyptychon verzeichneten Kindern finden sich - soweit sich ihr Alter feststellen läßt - 100 0- bis 5jährige, jedoch nur 54 6- bis 10jährige und 18 11- bis 15jährige.[37] Die letzte Gruppe könnte auch größer gewesen sein. Da die Kinder im Mittelalter schon recht früh als selbständig betrachtet wurden, kann es sein, daß die Altersgruppe aufgrund von Abwanderung aus dem Elternhaus so klein war.[38] Doch selbst wenn 50% dieser Kinder die Haushalte ihrer Eltern verlassen hatten, entspräche ihre Anzahl immer noch den Werten der Kindersterblichkeit, die sich den Grabungsergebnissen entnehmen läßt.
Die Familien geordnet nach dem Alter der Kinder
Einige Familien fielen dadurch auf, daß einer Gruppe älterer Kinder mit großem zeitlichem Abstand ein oder mehrere jüngere Kinder mit geringen Altersabständen folgten.[39] Hatten diese Ehepaare eine Zeitlang erfolgreich Geburtenplanung betrieben? Dies ist nicht völlig auszuschließen. Wahrscheinlicher erscheint es mir jedoch, daß es sich hier -entgegen der ursprünglichen Annahme, daß alle verzeichneten Kinder, so nicht anders gekennzeichnet, leibliche Kinder der angegebenen Frau waren - um Fälle von Wiederheirat handelt. Die niedrige Lebenserwartung der Frauen - im Alter von 15 Jahren konnten sie damit rechnen, 30 bis 40 Jahre alt zu werden [40] - macht es unwahrscheinlich, daß in allen diesen Fällen die Kinder von einer Frau stammten. Diese These erklärt, daß zum Teil fünf bis sechs älteren Kindern - und es könnten noch mehr gewesen sein, da die Quelle nur die im Hause lebenden Personen erfaßt -wesentlich jüngere in geringen Abständen folgten. Insgesamt bietet die Betrachtung der wenigen rekonstruierbaren Familien das Bild einer natürlichen Geburtenfolge. Besonders in jungen Familien scheinen die Frauen in rascher Folge Kinder bekommen zu haben. Die hohen Altersabstände führe ich auf die Kindersterblichkeit und die Abwanderung von Kindern aus dem Elternhaus zurück. Die hier untersuchten Familien stellen nur einen kleinen Ausschnitt der Bevölkerung um Marseille dar. Es sind Familien abhängiger Bauern und Handwerker. Andere Bevölkerungsschichten konnten, teils weil das Polyptychon sie nicht erwähnt, teils weil die Angaben zu ungenau waren, wie z. B. bei den Familienverhältnissen der Mägde und Knechte, nicht untersucht werden. Da dieses Polyptychon keine verwertbaren Angaben zur wirtschaftlichen Situation der Familien macht, konnte auch der Zusammenhang zwischen Kinderzahl und ökonomischer Situation nicht berücksichtigt werden.
Es ist daher fraglich, inwieweit das Ergebnis meiner Untersuchungen verallgemeinert werden kann. Selbst eine umfassende Analyse des gesamten Polyptychons wird nicht zu Ergebnissen führen, die sich auf den ganzen Süden Frankreichs ausdehnen lassen. Da das Polyptychon von Saint-Victor jedoch die einzige frühmittelalterliche Quelle ist, die das Alter der Kinder einer größeren Bevölkerungsgruppe vermittelt, wird man eine weite Verbreitung der Familienplanung und deren Auswirkungen auf das Bevölkerungswachstum kaum exakt nachweisen können.
Die weitere Forschung muß sich daher auf die schon erwähnten und mögliche andere Quellen stützen. Die von der Frauenforschung aufgeworfene Frage, in wessen Händen die Kenntnisse zur Geburtenplanung gelegen haben und ob dieses Wissen den Frauen im Hinblick auf ihre Rolle als Gebärende und Mütter einen gewissen Freiraum zu eigenen Entscheidungen gegeben hat,[41] muß im Rahmen eines Forschungsprojektes über das Leben der Frauen im frühen Mittelalter im Vordergrund stehen.
Suzanne Fonay Wemple stellte die These auf, daß der merowingische und karolingische Adel das Gebären und die Aufzucht der Kinder als Hauptaufgaben ihrer Frauen ansahen. Besonders in merowingischer Zeit sicherte den Frauen ihre Fruchtbarkeit Einfluß und Sicherheit an der Seite ihres Ehemannes. Frauen, die unfruchtbar waren oder deren Kinder früh verstarben, wurden häufig von Konkubinen verdrängt oder von ihrem Ehemann gänzlich verstoßen. Unter den Karolingern konnte die Kirche langsam die Monogamie durchsetzen. Hierdurch wurde der Status der Ehefrau und ihre Sicherheit wesentlich verbessert. Gleichzeitig band dies die Frauen aber auch stärker an Haushalt und Kinder.[42] Den hohen Wert gebärfähiger Frauen dokumentieren nicht nur die Ehen der Adligen, sondern auch die Volksrechte, in denen der Tod von Mädchen und gebärfähigen Frauen durch höhere Blutgelder gesühnt wurde als der von Männern und alten Frauen.[43] Wie groß war aber der Spielraum der Frauen, eigenständig über Schwangerschaft und Nachwuchs zu entscheiden, in einer Gesellschaft, die Fruchtbarkeit und Kindersegen hoch zu würdigen scheint? Geben die Bußbücher die Motive, wenn auch stärker aus Sicht ihrer Ethik, doch korrekt wieder? Griffen also vor allem Familien mit wirtschaftlichen Problemen, ledige Frauen und Prostituierte zu den bekannten Methoden der Geburtenplanung? Neben der Frage nach dem Wert von Schwangerschaft und Nachwuchs und der damit verbundenen Frage nach dem Frauenbild und der Selbsteinschätzung der Frauen müssen die Ehevorstellungen und die Sanktionierung von Ehebruch und vorehelichem Verkehr in die Untersuchung unseres Problems einbezogen werden.
Im Hinblick auf die Praktiken der Geburtenplanung steht die Frage nach Verbreitung und Wirksamkeit abortiver und kontrazeptiver Kenntnisse im Vordergrund. Die Tatsache, daß uns die frühmittelalterliche Heilkunde nur aus den Schriften der Mönche bekannt ist, erschwert die Klärung der Frage, welches Wissen in der Bevölkerung bekannt war und ob es bestimmte Wissensträger gab. Hinzu kommt, daß die Mönche potentielle Gegner der Geburtenplanung waren. Dies spiegelt sich schon darin, daß die Zahl der geburtsfördernden Mittel die Zahl der Abortiva und Kontrazeptiva überwiegt. Wurden Emmana-goga, Wehen-, Nach- und Totgeburt fördernde Mittel vielleicht auch als Abortiva eingesetzt?
Vor allem in bezug auf Emmanagoga ist diese Frage schwer zu beantworten. Die Vorstellung, daß der Körper der Frau sich durch den Blutfluß von unreinen Substanzen befreie und ein Ausbleiben der Regel zu Krankheit führe, war im Mittelalter weit verbreitet. Die Emmanagoga können daher tatsächlich nur zu therapeutischen Zwecken eingesetzt worden sein. Um dieses Problem genauer eingrenzen zu können, sind einerseits die Wirkungsweisen der Rezepturen und andererseits die Vorstellungen vom Zeugungsvorgang zu untersuchen. Wie und ab welchem Zeitpunkt waren die Frauen in der Lage, eine Schwangerschaft festzustellen? Waren sie sich bewußt, daß sie mit der künstlichen Einleitung der Menstruation eine mögliche Schwangerschaft zu einem frühen Zeitpunkt unterbrechen konnten?
Eine Analyse der verwendeten Pflanzen und deren Wirkungsweise ist auch zur Einschätzung der Gefahren für Leib und Leben der Frauen notwendig. Falls sie nur unter Schmerzen und Lebensgefahr verhüten und abtreiben konnten, zogen sie die Aussetzung und Tötung der Kinder vielleicht vor; zumal die Familie dann noch die Wahl zwischen der Aufzucht von Jungen und Mädchen, kranken oder gesunden Kindern hatte.
Inwieweit sich in den Rezeptarien neben dem antiken Wissen auch volksheilkundliches Wissen verbirgt, kann durch einen gründlichen Vergleich der mittelalterlichen Rezepturen mit ihren antiken Quellen beantwortet werden. Hierbei sollte nicht nur nach neuen, in den antiken Schriften nicht überlieferten Rezepten, sondern auch nach geographisch bedingten Varianten in der Pflanzenauswahl gesucht werden44. Auf diese Weise könnte vielleicht ein eigenständiges Wissen der Bevölkerung in den Rezeptarien entdeckt werden.
Man wird wohl aufgrund der schwierigen Quellenlage den wahren Wert der Geburtenplanung im Leben der frühmittelalterlichen Frauen nie ganz klären können, doch sollten die schon vorliegenden Ergebnisse Ermutigung genug sein, sich weiter mit diesem schwierigem Thema zu beschäftigen.