Die Fürstin

Amalie Fürstin von Gallitzin, geb. Gräfin von Schmettau (1748-1806)

»Die Wissenschaft, mich selbst zu kennen, soll
der Hauptgegenstand meines Bestrebens bleiben.«
Amalie Fürstin von Gallitzin. Tagebucheintrag

Frauen der Goethezeit

Die Fürstin Gallitzin hatte nicht im Sinn, sich für immer in der »westfälischen Hauptstadt zu etablieren«, als sie — von ihren beiden Kindern und dem holländischen Philosophen Hemsterhuis begleitet — im Frühjahr 1779 für einige Tage nach Münster reiste. Ihr Besuch galt Franz von Fürstenberg, dem Generalvikar des Kurfürsten von Köln, der als souveräner Minister die Münsterlande regierte. Durch staatsmännische Klugheit und großzügige Schulreformen hatte er sich einen Namen weit über die Grenzen des kleinen Fürstbistums gemacht, und seine Verordnungen waren von der für alle Erziehungs- und Unterrichtsfragen lebhaft interessierten Fürstin ins Französische übertragen worden. Der Eindruck, den sie von Fürstenbergs Persönlichkeit und seinen Schuleinrichtungen gewann, war so bestimmend, daß sie ihren ursprünglich gehegten Plan einer Übersiedlung nach Genf aufgab, sich Münster zum Domizil erwählte und bald zum Mittelpunkt eines Kreises wurde, der unter dem Namen »familia sacra« Berühmtheit erlangen sollte.
Die Fürstin — von manchen als »excentrisch und närrisch« belächelt — war es gewohnt, sehr selbständig ihren Weg zu gehen und sich von konventionellen Rücksichten wenig beirren zu lassen. Auf Wunsch ihrer katholischen Mutter war sie — die Tochter des preußischen Feldmarschalls und Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften Samuel von Schmettau — in einem schlesischen Kloster aufgewachsen, ohne dieser Erziehung sehr viel mehr als die Einsicht zu verdanken, daß »die ganze christliche Religion dummes, von sich zu werfendes Zeug« sei. Die Berliner Pension eines freigeistigen Franzosen hatte dem ungewöhnlich bildungshungrigen jungen Mädchen den letzten gesellschaftlichen Schliff vermittelt, ehe sie sich dem Fürsten Dimitri von Gallitzin vermählte, der bald darauf zum russischen Botschafter am holländischen Hof in Den Haag ernannt wurde. Weder in der Ehe mit dem weltgewandten Diplomaten, der mit Voltaire und Diderot in Briefwechsel stand, noch in dem oberflächlichen Leben der großen Welt vermochte sie auf die Dauer Befriedigung zu finden. Sie scheute sich nicht, bald die Konsequenzen daraus zu ziehen. Diderot, der mehrere Monate lang bei den Gallitzins zu Besuch weilte, berichtete erstaunt: »Die Fürstin führt ein Leben, das sowohl mit ihrer Jugend und der Beweglichkeit ihres Geistes, als auch mit dem leichten Sinn ihrer Zeit in Widerspruch steht. Sie geht wenig aus, hat Lehrer in der Geschichte, der Mathematik, den alten Sprachen . . . ., überwacht selbst die Erziehung ihrer Kinder, hat allem Pomp entsagt, steht früh auf und geht zeitig zu Bett. Wir vertreiben die Zeit, indem wir wie die Teufel miteinander streiten.« Um keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Haltung aufkommen zu lassen, mietete sie sich in einem einfachen Landhaus unweit Den Haags ein, nannte es »Niethuys« — »Nicht zu Hause« — und führte hier ein einsiedlerisches Dasein, das ausschließlich ihren Kindern und eigenen Studien gewidmet war. Frans Hemsterhuis, Sproß einer berühmten Gelehrtenfamilie, philosophischer Schriftsteller, Kunstsammler und hoher Beamter im holländischen Staatsrat, wurde in dieser Zeit zu ihrem unzertrennlichen Freund. Er machte sie mit der griechischen Philosophie bekannt und flößte ihr eine leidenschaftliche Verehrung für die platonische Ideenwelt ein. Lehrer und Schülerin gemeinsam waren die Ablehnung sowohl der materialistischen  Anschauungen  der  damaligen  französischen Modephilosophie als auch des Christentums. Wie sehr sich beide im antiken Geist miteinander verbunden fühlten, zeigte die gegenseitige Namensgebung, Sokrates und Diotima.
Mit ihrem Einzug in Münster begann für Amalie von Gallitzin der zweite, entscheidende Lebensabschnitt. In ihrem Salon, der in den »Geist von Münster« ein durchaus fremdartiges, europäisches Element hineinbrachte — das der platonischen Diskussion, die sie bei Hemsterhuis gelernt hatte, und das Naturschwärmen im Sinne Rousseaus — verkehrten, neben Gelehrten der Universität, der Priester und spätere Beichtvater der Fürstin Bernard Overberg, der Jurist und Dichter Sprickmann, Graf Friedrich Leopold von Stolberg und die Brüder Droste-Vischering, daneben zahlreiche auswärtige Gäste wie Hemsterhuis, Friedrich Heinrich Jacobi, Hamann und Goethe. Brieffäden verknüpften den münsterischen Kreis mit allen geistigen Zentren Deutschlands.
Die überragende Gestalt des Zirkels war Fürstenberg, der auch auf das Leben der Gallitzin nachhaltigen Einfluß ausübte. Aus der Achtung, die sie seinen pädagogischen und staatsmännischen Fähigkeiten entgegenbrachte, hatte sich sehr bald eine herzliche Zuneigung entwickelte, die von dem Gedanken einer wechselseitigen Steigerung und Vergeistigung beherrscht war. »Wir können einander unser Gutes und Böses entdecken, ohne Scheu das eine, ohne Eitelkeit und Heuchelei das andere. Unsere Hoffnung, unser Endzweck war allezeit, Hand in Hand den steilen Pfad der Vervollkommnung uns hinauf zu helfen«, heißt es in einem Brief Fürstenbergs an die Freundin. Dieses Streben nach Selbstvervollkommnung, das noch in der ethischen Haltung der Aufklärung wurzelte, wandelte sich bei Amalie von Gallitzin mit den Jahren und unter dem Eindruck einer schweren Krankheit in ein christliches Vollkommenheitsstreben, das in der Imitatio Christi sein Ziel sah. Den äußeren Abschluß dieser Entwicklung bildete 1786 ihre Rückkehr zur katholischen Kirche. Die stark subjektive Ausprägung ihres Glaubens, von dem die Tagebücher Rechenschaft ablegen — Gewissenserforschung bis in die geheimsten Seelenregungen hinein, ständig bohrende Reflexion, Abwehr aller von außen kommenden Störungen—, läßt an eine katholische Variante des Pietismus denken. »Die glücklichsten Augenblicke meines Lebens sind jene, wo mir über diesen oder jenen Fehler, über diese oder jene Schwäche in mir ein bestimmtes Licht aufgeht«, vermerkte sie in ihren Aufzeichnungen. Auch ihren Kindern machte sie die fortwährende Selbstkontrolle zur Pflicht.
Ihre pädagogischen Bemühungen um Sohn und Tochter hinterlassen einen recht zwiespältigen Eindruck. In der Theorie bekannte sie sich zwar vorbehaltlos zur Lehre Rousseaus, der in der Erziehung an Stelle des Zwangs die innerliche Oberzeugung setzte. Doch ihre Sucht zu reglementieren, die »traurige Pflicht zu widerstreben und zu tadeln, zu spüren und wittern überall die Fäulniß — wo sie sich auch verbirgt«, nicht zuletzt ihr reizbares Temperament, das seinen Grund in »namenlosen Krankheiten und Schmerzen, Beängstigungen, Kopfzerrüttungen, Krämpfen und dergleichen Übeln« hatte, verleiteten sie häufig zu Mißgriffen und Übereilungen. »Ich durfte mich kaum räuspern oder schnäutzen, ohne einen langen Sermon darüber von ihr anhören zu müssen«, bekannte der erwachsene Sohn.
Schon Overberg hatte der Fürstin ihre »zu große Scrupulosität« in Glaubensdingen, ihre selbstquälerischen Reflexionen verwiesen. Doch erst durch die Begegnung mit dem Königsberger Philosophen und Protestanten Johann Georg Hamann, der 1788 in Münster starb und in dem Amalie Gallitzin das Bild eines wahren Christen, einer »anima naturaliter christiana« verehrte, scheint sich ihre oft hektisch anmutende subjektive Gefühlsfrömmigkeit geklärt und einer ruhigen Kirchlichkeit Platz gemacht zu haben.
Die letzten Lebensjahre der Fürstin waren überschattet von zunehmender Krankheit und der Unruhe des politischen Geschehens. Sie erlebte noch das Ende der eigenstaatlichen Existenz des Hochstiftes Münster, das 1802 zum großen Teil an Preußen angegliedert wurde. Mit ihrem Tode zerstob der münsterische Freundeskreis in alle Winde. Doch die neue katholische Innerlichkeit und Frömmigkeit, die sich in ihm entwickelt hatte, wurde Vorbild für die religiöse Romantik und die Konvertitenbewegung des 19. Jahrhunderts.

Amalie Fürstin von Gallitzin an Frans Hemsterhuis

Den 20. März 1780
Ich glaube fest, mein lieber Sokrates, daß, wenn einerseits das Jahrhundert des Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand (ein Charakter, dessen wirkliche Geschichte Sie nicht so kennen werden, wie wir sie in seinen eigenen Denkwürdigkeiten, die sehr merkwürdig und interessant sind, lesen, genau so, wie Goethe sie daraus genommen hat) Ihrem Geiste gegenwärtig wäre und Sie andererseits die Sprache verständen, so würden Sie gewiß in Beziehung auf Einfachheit und Verständlichkeit des Ausdrucks Goethe nicht beinahe unter Diderot stellen, sondern nur ihm zur Seite, in Beziehung auf die Kenntnis des menschlichen Herzens. Der Unterschied, der diese Idee veranlassen kann, ist vielleicht, daß das menschliche Herz, in Paris beobachtet, ein noch viel oberflächlicheres Abstraktum ist, als wenn es da beobachtet wird, wo Goethe es beobachtet. Es kann daraus hervorgehen, daß das, was Diderot malte, sich sicher überall findet, aber das, was sich überall findet, nicht von Diderot gemalt ward, wohl aber von Goethe; denn um im Stande zu sein, das sich offenbaren zu sehen, was überall ist, muß man, wie mir scheint, auch im Stande sein, den Gegenstand der Beobachtung unter jeder Art von Umständen zu sehen, und Augen haben, welche mehr als eine Oberfläche durchdringen; ich bin überzeugt, daß der eine wie der andere Vorteil auf Seite Goethens sich befindet. Was Iphigenie angeht, so freut es mich sehr, daß Sie dieselbe lesen, Sie werden wenigstens, indem Sie den ungeheueren Abstand des Tons dieser beiden Stücke vergleichen, die Kraft und den Umfang des Genius dieses Schriftstellers ersehen. Meinesteils versichere ich Sie, daß ich kein modernes, poetisches Genie kenne, welches mit Goethe sich vergleichen könnte, es wäre denn vielleicht Shakespeare; was Lope de Vega betrifft, so kann ich nicht darüber urteilen, da ich kein Spanisch verstehe ....

  • Amalie von Gallitzin blieb mit Hemsterhuis bis zu seinem Tode im Jahre 1790 in regelmäßigem Briefwechsel.

Amalie Fürstin von Gallitzin an Frans Hemsterhuis

25. November 1783
Sie wissen selbst, wie ich mich freiwillig von der Musik losriß, die mich ein wenig liebte, und für die ich mich noch leidenschaftlich interessieren würde, wenn ich mir dieses erlaubte; aber, außer daß sie mir oft Stunden nahm, welche ich für die große Anzahl von Bedürfnissen, welche ich für mich und meine Kinder nötig habe, so entnervt sie auch zu sehr die Seele, versetzt sie in einen Zustand der Passivität und Empfindlichkeit, welche der Festigkeit, der Gleichmäßigkeit, der Stille und Abwesenheit alles dessen, was man leidenschaftlichen Ton nennt, sehr nachteilig ist, welches doch Eigenschaften sind, die einen Erzieher charakterisieren müssen, von dessen Vollkommenheit ich freilich noch weit entfernt bin.

  • Diderot hatte sich nach seinem ersten Besuch bei den Gallitzins begeistert über die Fürstin geäußert und u. a. geschrieben: »Sie spielt Klavier und singt wie ein Engel«.

Amalie Fürstin von Gallitzin

Tagebucheintrag
13. 12. 1786
Mittwoch, den 13. kam Buchholz um 11 Uhr hierher; nie habe ich ihn so natürlich und liebreich bei mir gesehen. Er kam in der Absicht, durch freimüthige Fragen alle Irrungen zwischen uns aufzuheben, welche auch durch dieses Mittel gar bald und leicht erfolgte. Er fragte mich nämlich: erstens ob ich nicht blos aus Grundsätzen so liebreich und dienstfertig wäre und im Grunde ganz independent von den Menschen, mehr Kopf als Herz wäre, hierauf konnte ich ihm mit Wahrheit antworten, daß ich mehr Herz als Kopf wäre, meine Liebe und Dienstfertigkeit, Trieb und Bedürfniß mehr als Grundsatz wäre, und daß ich von Seiten der Dependance eher zu viel als zu wenig hätte. Ich erzählte ihm, wie ich von meinen Leuten sogar dergestalt dependent wäre, daß ich ein liebloses Gesicht von ihnen ohne Druck und Disharmonie zu tragen nicht vermöchte und daß ich mich täglich bestreben müsse, independenter zu werden. Das leuchtete ihm ein und er wunderte sich über sein so sehr entgegengesetztes Unheil. Weiter fragte er mich: zweitens, ob ich nicht meine Kinder nach einem ganz a priori gemachten Plane erzöge. Ich antwortete wiederum mit Wahrheit das Gegentheil wäre wahr und wenn meine Erziehung den meisten Menschen als ausserordentlich vorkäme, so hätte ich es bloß dem Grundsatze zu danken, daß ich gar keinen andern festen Grundsatz in meinem Erziehungsplan hegte, als den, mich von Kindheit auf um der Kinder vollständigstes Zutrauen bewerben und in ihnen durch alle Wege Wahrhaftigkeit zu entwickeln gestrebt hätte, welches ich bei Mimi im höchsten Grade erlangt hätte, und in ihnen tiefe Religionsgefühle zu bilden. Im Uebrigen hätte ich nichts gethan: als beständig die Kinder und mich selbst zu erforschen, mich, um ihnen überall mit gutem Beispiele vorzugehen — sie, um von ihnen ihre Bedürfnisse und folglich die Behandlungsart, die für jeden die angemessenste wäre, zu lernen. Drittens, ob ich nicht den Grundsatz hätte, Mitri müsse standesmäßig erzogen werden und einst standesmäßig leben. Ich antwortete ihm, die Hauptabsicht meiner Erziehung ginge dahin, aus ihm, wo möglich, einen Menschen zu bilden und seine künftige Bestimmung, die der Vater mir ganz überlassen hätte, solle durch Nichts, als durch seine Fähigkeiten, sich und andern nützlich zu sein, entschieden werden.
Nach Beantwortung dieser drei Fragen gestand B., mich völlig quer beurtheilt zu haben, sagte mir, er wäre seitdem er mich kenne, noch nie ruhig gewesen, immer im Streit zwischen einem unaufhaltsamen Bedürfnisse nach mir, und dem falschen Gedanken, ich müsse, da ich so genau mit Fürstenberg und andern dergleichen verbunden wäre, Kopf und nicht Herz (insonderheit weil ich stets viel von Vervollkommnung mit gesprochen hatte) sein. Wo er aber mich beständig so handeln sah, als wäre ich dennoch Herz, so hätte er, da er von seinem einmal angenommenen System über mich nicht abgehen wollte, geschlossen, meine Herzlichkeit, Dienstbereitwilligkeit und Güte sei bei mir bloß System des Kopfes, welches ihm dadurch, daß ich oft mit einer gewissen Vehemenz von meinen Meinungen Andere zu überzeugen suchte, bestätigt schien .... Wir gingen sehr froh und liebend auseinander. Ich dankte Gott, daß er mir die Gnade verliehen hatte, etwas Gutes an B. gethan und von ihm empfangen zu haben

  • Buchholz: Franz Kaspar Buchholtz, gehörte zum Kreis der Gallitzin und war der Mäzen und jugendliche Freund Hamanns. Hamanns Aufenthalt in Münster 1787/88 ging auf eine Einladung von Buchholtz zurück. — Mimi: Marianne von Gallitzin, damals 17 Jahre alt. — Mitri: Dimitri von Gallitzin, 16jährig. Er wurde später katholischer Missionar in Amerika.

Amalie Fürstin von Gallitzin

Tagebucheintrag
24. 5. [1788]
.... Von Hamann habe ich manches in dieser Zeit gelernt, aber aus Nachlässigkeit im Aufschreiben und Mangel an Zeit jedesmal gehörig darüber nachzudenken, liegt das meiste davon noch zu sehr in Dunkel gehüllt. Soviel ahndet mir immer mehr, daß Hamann der wahreste Christ ist, den ich noch gesehn habe. Seine dunklen Redensarten, seine anscheinenden Widersprüche, rühren meistens aus der reinsten erhabensten Quelle. Er will nie durch seine Meinungen und Reden glänzen, gefallen, andere hinreißen; daher nimmt er gewöhnlich, wenn er auch eine Meinung dahingegeben hat, gar bald die entgegengesetzte Partei, insonderheit wenn es Menschen betrifft, so bald er merkt, daß diese Meinung von andern mit Leidenschaft ergriffen wird. Beständig zeigt er sich beinah als ein Thor, damit nur andere, auf die er glauben kann Einfluß zu haben, die ihrer Lieblingsseite entgegengesetzte auch zu beherzigen Gelegenheit haben. Er selbst scheut nichts so sehr, als sich tugendhaft oder gelehrt wissend einem darzustellen; seine Demuth ist so ungekünstelt als Fürstenbergens Gerechtigkeit. Denn so wie dieser selbst seine Feinde so zu vertheidigen pflegt, daß er die Zuhörer wirklich überzeugt, so zeigt jener seine eignen wirklichen Schwächen, oder vielmehr er verbirgt sie nie und nirgends, so daß sein Zuschauer auch wirklich überzeugt wird, er habe sie; denn nichts ist ihm abscheulicher als Heuchelei; und auch Demuth ist Heuchelei, wenn sie nicht überzeugt, nur feinere, schlauere und daher satanischere Heuchelei. Er spricht stolz und zeigt sich niedrig. Falsche Demuth thut das Gegentheii. Auch Aufklärungssucht ist ihm als baarer Stolz, Eingriff in die Rechte der Vorsehung an der er mit kindlicher Ruhe hängt; diese zwei Dinge verfolgt er, wo er sie nur muthmaßen kann, überall mit Ironie. Es scheint mir seine ganze Philosophie mehr negativ und dem Satze ähnlich, den er mir letzthin zu Angelmodde mit einem Liebhaber-Nachdruck sagte: ma seule regle c'est de n'en point avoir. Ich muthmaße aus allem, was ich von ihm bemerkt habe, er denkt, und ich stimme ihm jetzt von Herzen bei, alles Gute, dessen wir Menschen fähig seien, ist bloß negativ; es sei in Betreff unsrer selbst oder andrer. Wir können bloß wegzuräumen streben, was uns verhindert den Einfluß der Gottheit lauter zu empfangen und aufzubewahren, ein Streben nach Systemlosigkeit und dem sokratischen, einfältig hohen Bewußtsein unserer Unwissenheit, Hinfälligkeit und Schwäche. Wer zu dieser gelangt, der wird ohne große Anstrengung demüthig, nachsichtig und folglich liebend von ganzem Herzen sein und den Frieden besitzen, der über alle Vernunft ist.

  • Der Kreis von Münster verehrte in Hamann weniger den Philosophen und Theologen als vielmehr den Mann des Glaubens. Für die Fürstin wurde er geistlicher Führer, väterlicher Seelsorger, schließlich fürbittender Heiliger. — Angelmodde: bei Münster, wo die Fürstin ein Landhaus besaß.

Amalie Fürstin von Gallitzin

Tagebucheintrag
6. Mai 1789
Als ich den Versuch wagte, mit 24 Jahren meine noch nie versuchten Kräfte aufzubieten und in völliger Unwissenheit aller Dinge eine Bahn zu betreten, deren Ziel nichts weniger als die zur Belehrung und Erziehung meiner Kinder nöthi-gen Einsichten war, glaubte ich mich nur muthig, ward aber bald stolz, denn ich rechnete bald auf eigne Kräfte, da Gott, der mit meiner Unwissenheit vermuthlich Mitleiden hatte, mir alles, was ich unternahm, so gut gelingen ließ. Dadurch vermehrte sich das Vertrauen auf eigne Kräfte, mein Muth wuchs, wie mein Stolz mit dem Erfolg. Ehrgeiz gesellte sich bald hinzu, und dieser mit der Liebe zu meinen
Kindern verbunden brachten mich zu der Art unerschütterlicher Festigkeit oder Hartnäckigkeit gegen alle Hindernisse, die sich mir auf der immer rauhern Bahn darboten und die mich dem übertriebensten Beifall und dem gefährlichen Ruhm von Größe, erhaben, Genie u. dgl. von den zu schmeichelhaften Seiten der berühmtesten Menschen, hülflos, da ich ohne Religion war, bloß stellten. Daß ich stolz und ehrgeizig war, merkte ich um so später, weil ich überaus vergnügt in der Einsamkeit stets alle äußerliche Auftritte scheute, weil mir Hemsterhuysen's auffallender Stolz, seine übertriebene Schätzung meines Werths immer fatal auffielen, und endlich weil Liebe dabei so auffallend die Haupttriebfeder meiner Handlungen und Wünsche und der entscheidende Richter in der Wahl meines Genusses mir schien, daß ich einen Tag freundschaftlicher Vertraulichkeit der eclatantesten Ehre schwerlich aufgeopfert hätte. Die all-mälige Verminderung der Leichtigkeit im Fortgang meiner sich grenzenlos ausdehnenden Wißbegierde, da ich durch Erschöpfung mißbrauchter Kräfte kränklich ward, war der Anfang, der mich über mich selbst erleuchtete. Da ich nun immer mehr Zeit bedurfte, um weniger zu thun, fing ich an unwillig von meinen Büchern ab, zu den sonst mir angenehmsten Stunden der Belehrung meiner Kinder zu gehen. Jede neue Wissenschaft, jede Sprache oder jedes Buch, von welchem ich reden hörte, zu welchem Fache es auch gehörte, hinterließ mir nicht, wie sonst, einen bloßen Trieb, sondern einen wahren hypochondrischen Schmerz, einen nagenden Wurm über meine Kränklichkeit, die sich mir nur immer als Hinderniß, meine unbegrenzte Wißbegierde befriedigen zu können, darstellte. Ich gerieth darüber in solches Gedränge, daß ich in den Tagen besserer Gesundheit mit Wuth studirte, dann bald wieder desto kränker ward, endlich in fortdauernde Hypochondrie verfiel und beinahe keinen gesunden Tag bis zur Epoche meiner gefährlichen Krankheit mehr kannte. Nach dieser erfolgten einige Monate gezwungener Unthätigkeit, während welcher die Erinnerung der mir unvergeßlichen Seligkeit, die ich am Rande des Todes im alleinigen Gefühl einer gewissen unbeschreiblichen Nähe Gottes, die mein Bedürfniß nach ihm vermehrte, genossen hatte, und die ununterbrochen durch kein Geschäft gestörte Übersicht (denn mit meinen Kindern durfte ich mich noch nicht beschäftigen) meines bisherigen Zustandes mir ein Licht aufgehen ließ. Mit einem wohlthätigen Schrecken erblickte ich zum ersten Male, wie nach und nach Ehrgeiz und Stolz sich meiner Seele bemächtigt hatten. Mit dieser Entdeckung war alle meine bisherige Freude an mir selbst dahin. Der Muth allein blieb. Mein erstes war der Vorsatz, auf alle fernere Gelehrsamkeit Verzicht zu thun, um mich einzig den Studien zu ergeben, die das Bedürfniß meiner Kinder in jedem Zeitpunkte erfordern werde. Es dauerte eine Weile, ehe ich mich dahin brachte, ruhig meine unbenutzten Bücher, meine unvollendeten Schriften liegen zu sehen, ruhig meinen gelehrten Freunden überall zu sagen: das weiß ich nicht, das habe ich nicht gelesen u. s. w. Doch brachte ich's insonderheit, als Christenthum mir immer dringenderes Bedürfniß ward, endlich dahin und noch weiter, als ich's jemals gehofft hätte. Gelehrsamkeit und Prätension darauf ward mir verhaßt und: »ich weiß nicht« meine liebste Antwort, einige Rückfälle aus alter Gewohnheit ausgenommen. Nun meinte ich den Stolz und den Ehrgeiz desto sicherer besiegt, da ich auf Reisen in Gelegenheiten mich darüber zu prüfen bestand. Göthe, der einzige der berühmten Männer, der mich als Mensch warlich begeistert und mein Herz berührt hatte, gab mir den schmeichelhaftesten Anlaß, in Correspondenz mit ihm zu treten, indem er mir nach meiner Rückkehr schrieb, ich allein hätte den Schlüssel seines lange verschlossenen Herzens gefunden, mir möchte er sich ganz öffnen, nach meinem gegenseitigen Vertrauen verlange ihn. Einen ganzen Winter blieb ich im Kampf, solle ich, solle ich nicht. Aber da ich keinen wahrscheinlichen Nutzen, Zeitaufwand und vielleicht zuviel Beschäftigung für mein Herz darin muthmaßte, konnte ich mich zu keiner Antwort entschließen. Kurz vorher hatte Lavater mir zweimal geschrieben und denselbigen Anlaß zu einer Verbindung angeboten. Diese unbeantwortet zu lassen kostete mich nicht einmal einen Kampf, und Herdern, der auch nachher an mich schrieb, dessen Berühmtheit aber meinem Herzen gar nichts anbot, zu antworten, fühlte ich, so zu sagen, einen unüberwindlichen Widerwillen. Diese Erfahrungen beruhigten mich ungeachtet der fortdauernden augenblicklichen Versuchungen über das, was man Zustand der Seele nennen kann, aber nun fing ich an, ein besonderes Wohlgefallen an meiner Ehrgeizlosigkeit und an der Verachtung der Gelehrsamkeit zu haben. Da mir aber nun das Christentum zur Seite stand, ließ mir dieses es nicht lange unbemerkt, daß auch das nichts taugte. Endlich kam Hamann und zeigte mir den Himmel wahrer Demuth und Ergebenheit — Kindersinn gegen Gott. Dieser begeisterte mich über alles, was ich bis dahin gesehen hatte, für die Religion Christi, indem er mir das Bild ihrer wahren Anhänger von der erhabensten Seite lebendig an sich wahrnehmen ließ. Ihm allein bis dorthin war es gegeben, mir die schwerste Kruste von den Augen zu reißen — er allein sah auch darin eine Kruste. Alle übrigen Freunde, Fürstenberg nicht ausgenommen, hatten bisher meinen starken Vervollkommnungstrieb als das liebenswürdigste, ja als etwas bewundernswürdig schönes an mir betrachtet. Weit entfernt also, selbst darin etwas böses zu sehen, war dieses beständige Gefühl ein Ruhkissen in drohender Muthlosigkeit für mich. Hamann aber sah darin Stolz und sagte es mir. Die Haut riß er mir mit dieser Erklärung von den Knochen, mich dünkte, man raubte mir Lahmen eine einzige Krücke, aber ich liebte und ehrte ihn zu tief, um seine Erklärung nicht in meine Seele aufzunehmen. Ja, ich liebte ihn mehr als jemals für diese väterliche Härte, wälzte daher die Sache ernsthaft in meiner Seele und befand sie wahr. Nach dieser Zeit ward unser Umgang immer vertraulicher, und siehe, ich verlor ihn mitten im besten Genuß dieser Vertraulichkeit, diesen ersten wahren Vater, der mich liebte, wie noch keiner mich geliebt hatte. Aber zum Glück verlor ich ihn den Tag vor seiner Abreise, da er mir ohnehin für immer entrissen werden sollte, und ich glaube, er betet dort wirksamer für uns, als er's zu Königsberg hätte thun können. Nach seinem Tode ging eine wunderbare Veränderung oder vielmehr die Fortsetzung der Veränderung in mir vor, die sein Umgang schon bei seinem Leben in mir angefangen hatte. Bisher hatten die Leidenschaften, bald mehrere auf einmal, bald eine nur mit Abwechselung der Art in meiner Seele gebrauset und sie in anhaltender Unruhe erhalten. Die letzte herrschende war Vervollkommnungssucht für mich, meine Kinder und Freunde. (Die Sorge für das künftige Schicksal meiner Kinder hatte sich schon seit der Annahme der katholischen Religion völlig gelegt). Jetzt ward mir ungefähr so zu Muthe, wie wenn man aus einem dauerhaften großen Lärmen mit einmal in eine totale Stille geräth. Unter allen Abwechselungen von Scenen, die auf Hamann's Tod folgten — Ankunft des Prinzen, Hemsterhuys Reise nach Düsseldorf, wo wir allerlei berühmte Menschen fanden und in einem Strudel von Reizungen zur Eitelkeit u. dgl. lebten, Hemsterhuys Todesgefahr, meine darauf folgende Krankheit — blieb meine Seele nie gleichgültig, aber doch stille. Ein gewisser von Hamann abgezogener, aber verhimmlischter Geist des Christen schwebte mir so habituell vor Augen, daß es mir bei jedem Anlaß zur Aergerniß, Gram, Empfindlichkeit, Betriebsamkeit, Reizbarkeit u. s. w. immer zu Muthe ward, als sagte ich zu diesen Anlassen: chut chut — störet mich nicht von meiner Achtsamkeit auf dieses Bessere.

  • nach meiner Rückkehr: Die Fürstin hatte in Begleitung ihrer Kinder, Hemsterhuis', Fürstenbergs und Sprickmanns im Herbst 1785 Weimar besucht. Ihre Begegnung mit Goethe war durah Friedrich Heinrich Jacobi vermittelt worden, der die Fürstin als »eines der außerordentlichsten, reinsten und edelsten Wesen« bezeichnete, die er je gesehen habe. Goethe bestätigte dieses Urteil und schrieb Jacobi u. a.: »Ich hätte sie da sie ging gerne halten mögen.« — Ankunft des Prinzen: ihr Gatte Fürst Dimitri von Gallitzin, der sie regelmäßig in Münster besuchte und zu dem sie bis zuletzt in einem höflich-korrekten Verhältnis stand, obwohl er ihr als ein »religions- und seelenloser Mann« galt, dessen gelegentliche Anwesenheit in ihrem Hause sie nur pflichtmäßig erduldete.

Johann Wolfgang Goethe
Aus: Campagne in Frankreich 1792

Münster November 1792.
Der Fürstin angemeldet hoffte ich gleich den behaglichsten Zustand; allein ich sollte noch vorher eine zeitgemäße Prüfung erdulden: denn auf der Fahrt von mancherlei Hindernissen aufgehalten, gelangte ich erst tief in der Nacht zur Stadt. Ich hielt nicht für schicklich, durch einen solchen Überfall gleidi bei'm Eintritt die Gastfreundschaft in diesem Grade zu prüfen; ich fuhr daher an einen Gasthof, wo mir aber Zimmer und Bette durchaus versagt wurde; die Emigrirten hatten sich in Masse auch hierher geworfen und jeden Winkel gefüllt. Unter diesen Umständen bedachte ich mich nicht lange und brachte die Stunden auf einem Stuhle in der Wirthsstube hin, immer noch bequemer als vor kurzem, da bei'm dichtesten Regenwetter von Dach und Fach nichts zu finden war.
Auf diese geringe Entbehrung erfuhr ich den andern Morgen das Allerbeste. Die Fürstin ging mir entgegen, ich fand in ihrem Hause zu meiner Aufnahme alles vorbereitet. Das Verhältniß von meiner Seite war rein, ich kannte die Glieder des Cirkels früher genugsam, ich wußte daß ich in einen frommen sittlichen Kreis, hereintrat und betrug mich darnach. Von jener Seite benahm man sich gesellig, klug und nicht beschränkend.
Die Fürstin hatte uns vor Jahren in Weimar besucht, mit von Fürstenberg und Hemsterhuis; auch ihre Kinder waren von der Gesellschaft; damals verglich man sich schon über gewisse Puncte und schied, einiges zugebend, anderes duldend, im besten Einvernehmen. Sie war eines der Individuen, von denen man sich gar keinen Begriff machen kann, wenn man sie nicht gesehen hat, die man nicht richtig beur-theilt, wenn man eben diese Individualität nicht in Verbindung, so wie im Conflict mit ihrer Zeitumgebung betrachtet. Von Fürstenberg und Hemsterhuis, zwei vorzügliche Männer, begleiteten sie treulich, und in einer solchen Gesellschaft war das Gute so wie das Schöne immerfort wirksam und unterhaltend. Letzterer war indessen gestorben, jener nunmehr um so viel Jahre älter, immer derselbe verständige, edle, ruhige Mann; und welche sonderbare Stellung in der Mitwelt! Geistlicher, Staatsmann, so nahe den Fürstenthron zu besteigen.
Die ersten Unterhaltungen, nachdem das persönliche Andenken früherer Zeit sich ausgesprochen hatte, wandten sich auf Hamann, dessen Grab in der Ecke des entlaubten Gartens mir bald in die Augen schien.
Seine großen unvergleichlichen Eigenschaften gaben zu herrlichen Betrachtungen Anlaß; seine letzten Tage jedoch blieben unbesprochen; der Mann der diesem endlich erwählten Kreise so bedeutend und erfreulich gewesen, ward im Tode den Freunden einigermaßen unbequem; man mochte sich über sein Begräbniß entscheiden wie man wollte, so war es außer der Regel.
Den Zustand der Fürstin, nahe gesehen, konnte man nicht anders als liebevoll betrachten; sie kam früh zum Gefühl, daß die Welt uns nichts gebe, daß man sich in sich selbst zurückziehen, daß man in einem innern beschränkten Kreise um Zeit und Ewigkeit besorgt sein müsse. Beides hatte sie erfaßt; das höchste Zeitliche fand sie im Natürlichen, und hier erinnere man sich Rousseau'scher Maximen über bürgerliches Leben und Kinderzucht. Zum einfältigen Wahren wollte man in allem zurückkehren, Schnürbrust und Absatz verschwanden, der Puder zerstob, die Haare fielen in natürlichen Locken. Ihre Kinder lernten schwimmen und rennen, vielleicht auch balgen und ringen. Dießmal hätte ich die Tochter kaum wieder gekannt; sie war gewachsen und stämmiger geworden, ich fand sie verständig, liebenswerth, haushälterisch, dem halbklösterlichen Leben sich fügend und widmend. So war es mit dem zeitlich Gegenwärtigen; das ewige Künftige hatten sie in einer Religion gefunden, die das, was andere lehrend hoffen lassen, heilig betheuernd zusagt und verspricht.
Aber als die schönste Vermittlung zwischen beiden Welten entsproßte Wohltätigkeit, die mildeste Wirkung einer ernsten Ascetik; das Leben füllte sich aus mit Religionsübung und Wohlthun; Mäßigkeit und Genügsamkeit sprach sich aus in der ganzen häuslichen Umgebung, jedes tägliche Bedürf-niß ward reichlich und einfach befriedigt, die Wohnung selbst aber, Hausrath und alles dessen man sonst benöthigt ist, erschien weder elegant noch kostbar; es sah eben aus, als wenn man anständig zur Miethe wohne. Eben dieß galt von Fürstenbergs häuslicher Umgebung; er bewohnte einen Palast, aber einen fremden, den er seinen Kindern nicht hinterlassen sollte. Und so bewies er sich in allem sehr einfach, mäßig, genügsam, auf innerer Würde beruhend, alles Äußere verschmähend, so wie die Fürstin auch. Innerhalb dieses Elementes bewegte sich die geistreichste herzlichste Unterhaltung, ernsthaft, durch Philosophie vermittelt, heiter durch Kunst, und wenn man bei jener selten von gleichen Principien ausgeht, so freut man sich bei dieser meist Übereinstimmung zu finden.
Hemsterhuis, Niederländer, fein gesinnt, zu den Alten von Jugend auf gebildet, hatte sein Leben der Fürstin gewidmet, so wie seine Schriften, die durchaus von wechselseitigem Vertrauen und gleichem Bildungsgange das unverwüstlichste Zeugniß ablegen.
Mit eigener scharfsinniger Zartheit wurde dieser schätzens-werthe Mann dem geistig Sittlichen, so wie dem sinnlich Ästhetischen unermüdet nachzustreben geleitet. Muß man von jenem sich durchdringen, so soll man von diesem immer umgeben sein; daher ist für einen Privatmann, der sich nicht in großen Räumen ergehen und selbst auf Reisen einen gewohnten Kunstgenuß nicht entbehren kann, eine Sammlung geschnittener Steine höchst wünschenswerth; ihn begleitet überall das Erfreulichste, ein belehrendes Kostbares ohne Belästigung, und er genießt ununterbrochen des edelsten Besitzes ....
Diese Sammlung hatte die Fürstin zum größten Theile entstehen sehen, Einsicht, Geschmack und Liebe daran gewonnen, und besaß sie nun als Nachlaß eines abgeschiedenen Freundes, der in diesen Schätzen immer als gegenwärtig erschien ....
Glücklicher als in diesen Vorträgen, war ich in Unterhaltung größerer Gesellschaft; geistliche Männer von Sinn und Verstand, heranstrebende Jünglinge, wohlgestaltet und wohlerzogen, an Geist und Gesinnung vielversprechend, waren gegenwärtig. Hier wählte ich unaufgefordert die Römischen Kirchenfeste, Charwoche und Ostern, Fronleichnam und Peter Paul; sodann zur Erheiterung die Pferdeweihe, woran auch andere Haus- und Hofthiere Theil nehmen. Diese Feste waren mir damals nach allen charakteristischen Einzelnheiten vollkommen gegenwärtig, denn ich ging darauf aus, ein Römisches Jahr zu sdireiben, den Verlauf geistlidier und weltlicher Öffentlichkeiten; daher ich denn auch sogleich, jene Feste nach einem reinen directen Eindruck darzustellen im Stande, meinen katholischen frommen Cirkel mit meinen vorgeführten Bildern eben so zufrieden sah, als die Weltkinder mit dem Carneval. Ja einer von den Gegenwärtigen, mit den Gesammtverhältnissen nicht genau bekannt, hatte im Stillen gefragt: ob ich denn wirklich katholisch sei? Als die Fürstin mir dieses erzählte, eröffnete sie mir noch ein anderes; man hatte ihr nämlich vor meiner Ankunft geschrieben, sie solle sich vor mir in Acht nehmen, ich wisse mich so fromm zu stellen, daß man mich für religiös, ja für katholisch halten könne.
Geben Sie mir zu, verehrte Freundin, rief ich aus, ich stelle mich nicht fromm, ich bin es am rechten Orte, mir fällt nicht schwer mit einem klaren unschuldigen Blick alle Zustände zu beachten, und sie wieder audi eben so rein darzustellen. Jede Art fratzenhafter Verzerrung, wodurch sich dünkelhafte Menschen nach eigener Sinnesweise an dem Gegenstand versündigen, war mir von jeher zuwider. Was mir widersteht, davon wend' ich den Blick weg, aber manches, was ich nicht gerade billige, mag ich gern in seiner Eigenthümlichkeit erkennen; da zeigt sich denn meist, daß die andern eben so Recht haben nach ihrer eigentümlichen Art und Weise zu existieren, als ich nach der meinigen. Hiedurch war man denn auch wegen dieses Puncts aufgeklärt, und eine, freilich keineswegs zu lobende, heimliche Einmischung in unsere Verhältnisse hatte gerade im Gegentheil, wie sie Mißtrauen erregen wollte, Vertrauen erregt.
In einer solchen zarten Umgebung war' es nicht möglich gewesen herb oder unfreundlich zu sein, im Gegentheil fühlt' ich mich milder als seit langer Zeit, und es hätte mir wohl kein größeres Glück begegnen können, als daß ich nach dem schrecklichen Kriegs- und Fluchtwesen endlich wieder fromme menschliche Sitte auf mich einwirken fühlte ....
Der Tag des Abschieds nahete heran, man mußte sich doch einmal trennen. Nun, sagte die Fürstin, hier gilt keine Widerrede, Sie müssen die geschnittenen Steine mitnehmen, ich verlange es. Als ich aber meine Weigerung auf das höflichste und freundlichste fortbehauptete, sagte sie zuletzt: So muß ich Ihnen denn eröffnen, warum ich es fordere. Man hat mir abgerathen Ihnen diesen Schatz anzuvertrauen, und eben deßwegen will ich, muß ich es thun; man hat mir vorgestellt, daß ich Sie doch auf diesen Grad nicht kenne, um auch in einem solchen Falle von Ihnen ganz gewiß zu sein. Darauf habe ich, fuhr sie fort, erwidert: Glaubt ihr denn nicht, daß der Begriff, den ich von ihm habe, mir lieber sei, als diese Steine? Sollt' ich die Meinung von ihm verlieren, so mag dieser Schatz auch hinterdrein gehen. Ich konnte nun weiter nichts erwidern, indem sie durch eine solche Äußerung in eben dem Grad mich zu ehren und zu verpflichten wußte. Jedes übrige Hinterniß räumte sie weg; vorhandene Schwefelabgüsse, katalogirt, waren zu Con-trolle, sollte sie nöthig befunden werden, in einem sauberen Kästchen mit den Originalen eingepackt, und ein sehr kleiner Raum faßte die leicht transportablen Schätze.
So nahmen wir treulichen Abschied, ohne jedoch sogleich zu scheiden; die Fürstin kündigte mir an, sie wolle mich auf die nächste Station begleiten, setzte sich zu mir im Wagen, der ihrige folgte. Die bedeutenden Puncte des Lebens und der Lehre kamen abermals zur Sprache, ich wiederholte mild und ruhig mein gewöhnliches Credo, auch sie verharrte bei dem ihrigen. Jedes zog nun seines Weges nach Hause; sie mit dem nachgelassnen Wunsche: mich wo nicht hier doch dort wieder zu sehen ....

  • Nach dem Feldzug in Frankreich hatte Goethe, von Jacobis aus Düsseldorf kommend, Amalie Gallitzin einen Gegenbesuch in Münster gemacht. — Hamann .... war im Tode den Freunden einigermaßen unbequem: Goethe war von Jacobi falsch unterrichtet worden. Die Bestattung Hamanns im Garten der Fürstin geschah auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Törichtem Gerede, die katholische Geistlichkeit habe dem Lutheraner den kirchlichen Friedhof verweigert, mußte sie öffentlich widersprechen. — Glücklicher als in diesen Vorträgen: über seine osteologischen Forschungen zum Studium der Physiognomik.

Amalie Fürstin von Gallitzin an Johann Wolfgang Goethe

Munster d. 24 ten Januar 1795
Ich kann mir Ordentlich gram werden, Lieber Göthe, wenn ich bedenke, wie lange es schon her ist, daß ich an Sie nicht geschrieben habe, und unter welchen Umständen ich geschwiegen habe, grade seit der zeit, da Sie so bieder und freundlich meine (wäre sie nicht auf so reine wahre Liebe für sie gegründet gewesen) unbescheidene Gewissens Erforschung beantworteten — grade in der Zeit, wo jacobi wie er mir gesagt hat, ihnen schrieb er habe mir ihre sogenannte Heucheleien entdeckt, in der that fühlte ich nie mehr Drang als grade in der Zeit, mich ihnen mitzutheilen — ihnen wenigstens zu sagen: daß ihre Heucheleien meine Liebschaft mit ihnen um kein Härchen gestört — daß ich, wofern sie Wirklich in der Zeit da sie bey uns waren von Christum übler dachten als sie es zeigten, ihnen da sie kein Bedurfniss fühlten besser von ihm zu denken und wenn sie dieses auch gefühlt hätten, die Befriedigung desselben bey meiner Dürftigkeit nicht suchen konnten, ihnen dafür dank wissen, indem ich in ihrem betragen nur zarte Schonung sähe, die ich nicht Heuchelei nennen mögte . . . .Was ich auf sie halte, Lieber Göthe, gründete sich weder auf das was sie über Xtum und Religion geredet, noch auf das, was sie darüber mögen verschwiegen und gedacht haben, sondern auf den Glauben, das sie das Schöne in allen Gattungen und arten, worin ihnen dasselbige ansichtig wird mit dem lebhaftesten Reichhaltigsten feinsten Gefühl, das Mutter Natur ihnen dafür gab, überall, nidit nur auser sich zu umfassen, sondern so viel davon als sie können durch Lebensähnlichkeit in sich zu bringen streben. Daß der Theil des in meinen äugen etwa Schönen, in meinen Augen etwa hasslichen, was sie nicht in sich zu bringen oder von sich zu entfernen streben, ihrem Aug unter dieser gestalt nicht erscheint und daß sie es so bald sich ihnen auch unter dieser gestalt zeigen werden — also bald unter die Gegenstande ihrer bestrebungen Ordnen werden, bei diesem fortgesetzten bestreben halte ich mit Plato, erblikt der Mensch über kurz oder lang die Urschöne, es gehet Einmal wie von sprühendem Feuer angefacht ein Licht in seiner Seele auf, sich selbsterhaltend und nährend, welches dann alles erleuchtet, was bis dahin bey ihm ein Schatten geblieben sein mochte. Dies ist mein Glaubensbekenntnis über sie Lieber Gothe ....

  • Gewissens Erforschung: Anspielung auf eine Anfrage der Fürstin im Januar 1794 über Goethes »häusliches Leben«.
    Durch den Sohn Jacobis hatte sie von Christiane Vulpius gehört.