Die Herzogin

Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar und Eisenach, geb. Prinzessin von Braunschweig (1739—1807)

»Ein jeder hat so viel Kraft in sich, als er vonnöten hat.«
Herzogin Anna Amalia in den Betrachtungen über Kultur

Frauen der Goethezeit

Weimar im März 1756: ein kleines, armseliges Landstädtchen von knapp sechstausend, meist bäuerlichen Einwohnern, niedrigen Häusern und schmutzigen Gassen, das sich begeistert zum Empfang seiner neuen Landesmutter rüstet. Im golddurchwirkten blauen Seidenkleid, eine Rose im hochtoupierten, weiß gepuderten Haar, begleitet von dem achtzehnjährigen Gatten Ernst August Constantin, so zeigt sich die kaum den Kinderschuhen entwachsene Fürstin ihren Untertanen zum ersten Male. Wohl mag ihr Blick leise Enttäuschung nicht verhehlt haben. Zu auffällig ist der Kontrast zum heimatlichen Braunschweig und der geistig lebendigen Atmosphäre am Wolfenbüttler Hof. Aber Anna Amalia ist es nicht gewohnt, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dazu war die Schule, in der sie aufwuchs, zu streng und hart. »Nicht geliebt von meinen Eltern, immer zurückgesetzt, meinen Geschwistern in allen Stücken nachgesetzt, nannte man mich nur den Ausschuß der Natur.« Mit dem Weimarischen Herzog wird sie verheiratet, »so wie man gewöhniglich Fürstinnen vermählt«. Noch ahnt sie nicht, daß sie sich bald, allein in einer fremden Umgebung, in Jahren der Pflichterfüllung bewähren muß und daß sie diese Aufgabe überraschend gut meistern wird.
Was ausgereicht hätte, einem ganzen Leben Inhalt zu geben, drängt sich für Anna Amalia in eine kurze Spanne Zeit. Mit sechzehn Jahren ist sie regierende Herzogin, mit achtzehn Mutter zweier Söhne, Witwe, Obervormünderin und Regentin und Mitte der Dreißig bereits die »alte Herzogin«, deren Sitz das Wittumspalais an der Esplanade ist und die an den Regierungsgeschäften und öffentlichen Angelegenheiten des Landes keinen Teil mehr nimmt. Kein leichtes Los, wenn man bedenkt, daß siebzehn Jahre lang sie ganz allein mit Geschick und Umsicht den Staat regierte, und sie sich nun, noch sprühend vor Aktivität und Lebenslust, mit dem Altenteil begnügen muß. Daß sie auch jetzt nicht in Resignation verbittert, sondern ihr Leben gleich einem Kunstwerk rundet und vollendet, ist nicht weniger bemerkenswert als der Mut, mit dem die Achtzehnjährige, zu allem, nur nicht zur Regentin gebildet, die Herrschaft über das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach antrat.
»Ich fühlte meine Untüchtigkeit, und dennoch mußte ich alles in mir selber finden.« Der Ehrgeiz, vor keiner noch so großen Schwierigkeit zu kapitulieren und sich dem Ruhm ihres Hauses würdig zu erweisen, ist in Anna Amalia ebenso leidenschaftlich ausgeprägt wie in dem verehrten Vorbild, dem Oheim Friedrich dem Großen. Nur sind es friedliche Ziele, denen ihr Augenmerk gilt. Das Land nicht in den Strudel des Siebenjährigen Krieges geraten zu lassen, der verarmten, ausgesogenen Bevölkerung bescheidenen Wohlstand zu sichern, das erschreckend niedrige Niveau der Volksschulen, des Gymnasiums, der Universität in Jena zu heben, Kirche und Wohlfahrtspflege zu unterstützen und durch ein geordnetes Theaterwesen, Musik, Literatur und Geselligkeit für eine reichere Bildung des Geistes zu sorgen — das sind ihre Bestrebungen. Sie hat einen untrüglichen Instinkt für das, was ihre Stellung als Regentin und Vormund ihrer Kinder von ihr fordert und — nach einem Wort der Gräfin Egloffstein — die Fähigkeit, »die Menschen zu durchschauen, ihre Eigentümlichkeit zu erkennen und ihnen freien Spielraum zu geben, damit solche sich ungehindert entfalten und im hellsten Lichte zeigen könne«.
Dem Sohn und künftigen Herzog Carl August die beste Ausbildung zu geben, ihm bedeutende, unvoreingenommene Männer als Erzieher und Berater zur Seite zu stellen, ist ihre wichtigste Sorge. Mit dem gleichen Scharfblick, mit dem sie den bürgerlichen Wieland zum Mentor ihres Sohnes bestimmt, Knebel, Einsiedel, den Märchendichter Musäus und Bertuch, den Literaten und klugen Kaufmann, ihrem Hof verbindet, erkennt sie sogleich nicht nur das Genie, sondern auch die großen menschlichen Qualitäten in Goethe. Das Schreiben, mit dem sie den Minister von Fritsch veranlaßt, nicht — wie er gedroht hatte — sein Amt bei Goethes Eintritt ins Geheime Conseil niederzulegen, sondern dem jungen Herzog treu zu Diensten zu bleiben, ist eines der schönsten Zeugnisse ihrer von Standesdünkel freien, vorurteilslosen Denkungsart. Das gleiche beweist ihre innige Freundschaft mit dem Kriegsrat Merck und Goethes Mutter. Ihre Briefe sind sachlich und unpretentiös, gelegentlich voll Humor und herzlicher Wärme. Sicher weiß sie stets den Ton zu treffen, der dem Angeredeten am gemäßesten ist.
Als Anna Amalia 1775 die Regierungsgeschäfte ihrem Sohn überläßt, darf sie mit einigem Stolz von ihren Untertanen behaupten, daß sie »vielleicht seit langer Zeit nicht eine ähnliche Glückseligkeit genossen haben, wie während meiner Regentschaft«.
Frei von Pflichten, kann sie ihr Leben ganz nach ihrem Geschmack einrichten, und mit Feuereifer nutzt sie diese Möglichkeit. Im nahe gelegenen Tiefurt, am Ufer der Um, schafft sie sich ein Refugium, »daß Faunen und Nymphen sich nicht zu schämen brauchen, ihren Aufenthalt darinnen zu haben«. Mit Wielands Hilfe treibt sie lateinische und griechische Studien und ist selig, als sie die Komödien des Aristophanes im Urtext lesen kann. Im Zeichnen und Malen ist sie recht begabt. Zur besseren Unterweisung läßt sie häufig den alten Freund und Maler Oeser, den Leipziger Akademiedirektor und einstigen Lehrer Goethes, nach Tiefurt rufen. Am leidenschaftlichsten ist ihr Verhältnis zur Musik. Sie spielt Klavier, Laute und Harfe, sorgt für gute Konzerte und versucht sich selbst im Komponieren. Goethes Singspiel Erwin und Elmire regt sie 1776 zu einer Reihe von Melodien an, und als ein paar musikalische Freunde zu Besuch kommen, da stürzt sie sich, nach Wielands Aussage, »tete baissee in die Musik, dergestalt, daß Kranz mit ein paar Kammermusizis drei Wochen lang Tag und Nacht in Ettersburg residieren mußten und geklimpert, gegeigt, geblasen und gepfiffen wurde, daß die Engel im Himmel ihre Freude daran hätten«. — Ein Traum ihres Lebens verwirklicht sich, als sie gemeinsam mit ihrer Hofdame Göchhausen und wenigen Getreuen auf Goethes Spuren durch Italien reist.
Wo immer die Herzogin erscheint, ob im Ausland oder im heimischen Weimar, am liebsten aber in dem kleinen, bescheidenen Tiefurt, immer weiß sie die Besten anzuziehen und eine Geselligkeit zu pflegen, die Goethe im Alter wie »mythologische Szenen« erschien. Wieland rühmte sie als »Pallas und Palladium Weimars«, und Goethe charakterisierte sie lange nach ihrem Tod als »eine vollkommene Fürstin mit vollkommen menschlichem Sinn«.

Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar

Meine Gedancken
Von Kindheit an — die schönste Frühlingszeit meiner Jahre — was ist das alles gewesen? nichts als Aufopferungen für Andere. Ein liebendes Herz war es was ich von Dir, o Schöpfer! erhielt. — Dieses nach Deinem Bilde geschaffene sollte hier mein Glück ausmachen — aber ach! dies theure Geschenk ist eben das, was meine Ruhe verstört; jeder Tag und jede Stunde ist mit Schmerz und Kummer angefüllt. Bald sorget das zärtliche Mutterherz um das Wohl ihrer Kinder; bald hat es mit Neid, Tücke und Arglist zu kämpfen; bald hat es nöthig der eigenen warmen Empfindungen Einhalt zu thun. — Ach! und zu warmes Blut, welches durch jede meiner Adern wühlet! Jeder Pulsschlag ist ein Gefühl von Zärtlichkeit, von Schmerz, von Zerknirschung der Seele. Gott! jeder Gefangene sucht sich von seinen Ketten loszureißen: und ich — ich soll mit Geduld, mit so sehr bestürmter Sanftmuth meine Bande tragen! Ist das die Bestimmung die Du mir zugedacht hast? Doch murren will ich nicht. — Ein glückliches Gefühl ist mir übrig geblieben, dieß soll mir keine menschliche Kraft benehmen; die Wollust andere Mitmenschen glücklich zu machen, an ihren Vergnügen, an ihrer Zufriedenheit Antheil zu nehmen. Dieß sanfte Gefühl, diese entzückende reine Freude versüßt mir alle Leiden. Aber ach! es läßt mich nur desto schwerer empfinden, wie wenig ich glücklich bin. O, Ruhe der Seele, wo soll ich Dich finden! Nicht bei dem schimmernden Glänze der Ehre, nicht in den Gütern der Welt — Bey Dir, o Schöpfer! bey Dir allein, o Quelle des Friedens! in der engsten Verbindung mit Dir hoffe ich sie zu finden! —
Meine Erziehung zielte auf nichts weniger als mich zu einer Regentin zu bilden; sie war wie alle Fürsten Kinder erzogen werden. Diejenigen, die zu meiner Erziehung bestimmt waren hatten noch selbst nöthig gouvernirt zu werden. Eine Person die sich völlig ihren Leidenschaften überließ, war die, die ein junges Herz führen sollte. Sie hatte leider viele Leidenschaften, folglich auch viele Launen, die ich allein entgelten mußte. Nicht geliebt von meinen Eltern, immer zurückgesetzt, meinen Geschwistern in allen Stücken nachgesetzt, nannte man mich nur den Ausschuß der Natur. Ein feines Gefühl, welches ich von der Natur bekommen hatte, machte, daß ich sehr empfindlich die harte Begegnung fühlte; es brachte mich öfters zur Verzweiflung, so, daß ich einmal mir das Leben nehmen wollte. Durch diese harten Unterdrückungen zog ich mich ganz in mich selbst zurück, ich wurde zurückhaltend; ich bekam eine gewisse Stand-haftigkeit, die bis zum Starrsin ausbrach. Ich ließ mich geduldig schimpfen und schlagen und that doch soviel wie möglich nach meinem Sinne.
In meinem löten Jahre wurde ich aus den harten Banden erlöst; man verheirathete mich, so wie man gewöhniglich Fürstinnen vermählt; Sie werden glauben, befreit von jenen Fesseln, müßte ich nun wie ein junges Füllen gewesen seyn, welches seine Freyheit bekommt, nichts weniger, ich fühlte mich vielmehr wie eine Person, die nach einer überstandenen großen Krankheit in ihrer Genesung sich noch kraftlos fühlet.
Im 17ten Jahre wurde ich zum erstenmal Mutter. Könnte ich Ihnen die Gefühle schildern welche durch diesen Zustand bey mir sich entwickelten! Es war die erste und reinste Freude die ich in meinem Leben empfunden; mir war als wenn ich auch von verschiedenen neuen Empfindungen entbunden worden. Mein Herz wurde leichter, meine Ideen wurden klarer, ich bekam mehr Zutrauen zu mir selbst.
In meinem 18ten Jahre fing die größte Epoche meines Lebens an; ich wurde zum zweitenmal Mutter, wurde Witwe, Obervormünderin und Regentin. Die schnellen Veränderungen welche Schlag auf Schlag kamen machten einen solchen Tumult in meiner Seele, daß ich nicht zu mir selbst kommen konnte: ein Zusammenfluß von Ideen, von Gefühlen die alle unentwickelt waren, kein Freund vor dem ich mich aufschließen konnte. Ich fühlte meine Undichtigkeit und dennoch mußt' ich alles in mir selber finden. Wenn man die Gefahr vor Augen sieht, oder der Mensch viele Leiden hat, so nimmt er seine Zuflucht zum Gebeth; nie hab' ich mit mehr und wahrer Inbrunst gebethet als zu dieser Zeit: ich hätte die größte Heilige werden können. In den Jahren wo sonst um uns alles blühet, war bei mir Nebel und Finsterniß.
Nachdem der erste Sturm vorüber war, und ich mit mehr Ruhe und Gelassenheit mich selber fühlen konnte, war meine erste Empfindung, daß meine Eitelkeit und Eigenliebe erwachte: Regentin zu seyn, in solcher Jugend, unabhängig schalten und walten dürfen, konnte wohl nichts anders hervorbringen. Eine heimliche Stimme aber rief mir zu, ich hörte sie an, und kehrte in mich zurück. Da stand ich nun ganz nackend, meine Eigenliebe wurde gedemüthiget durch das Gefühl meines Unvermögens. Ich sah auf einmal das Große was meiner wartete und fühlte dabei meine gänzliche Untüchtigkeit, Wahrheit und Eigenliebe kämpften, zum Glück daß Wahrheit die Oberhand behielt. Ich hatte schon Stolz genug um mich in der Welt hervor zu thuen, er war aber nur noch in einem Schlummer. Meine Unvermögenheit kränkte mich sehr; ich. wurde gegen mich mißtrauisch, ich fühlte immer und wußte nicht was. Ach! wie glücklich wäre ich gewesen wenn ich damals einen Freund gehabt hätte, der die große Kenntniß des menschlichen Herzens besessen hätte mir das aufzuschließen was mir selber ein Räthsel und in mir so tief verschlossen war! — Es sollte aber nicht seyn, und es schien ich sollte ganz durch eigene Erfahrung gebildet werden. Wenn jeder Mensch sich selbst genau durchforschte und bisweilen an seine jungen Jahre zurückdächte, so würde er öfters finden, daß dasjenige was wir dem Verstände zuschreiben oft ein Werk des Instinkts und ein bloßes Ungefähr gewesen ist. Ich ließ mich, was mich selbst betraf, der Natur lediglich über, und gegen meine Kinder überließ ich mich der mütterlichen Liebe. Die Geschäfte, von denen ich nun gar nichts wußte, vertraute ich Leuten an die durch lange Jahre und Routine Kenntniß davon besaßen.
Ich blieb eine Weile in dieser Dumpfheit der Sinne, auf einmal erwachten bey mir alle Leidenschaften; Mir war wie einem Blinden der auf einmal das Gesicht erhält. Es war Krieg; mein Bruder und nächsten Verwandten die alle darinne verwickelt waren erwarben sich den größten Ruhm; man hörte nichts als den Namen Braunschweig, er wurde besungen von Feind und Freund, mit Lorbeeren bekränzt. Alles dieses erweckte meinen Stolz, meine Eitelkeit, ich angelte nach Ruhm und Lob. Tag und Nacht studirte ich, mich selbst zu bilden und mich zu den Geschäften tüchtig zu machen; da fühlte ich nun wie sehr ein Freund mir nöthig wäre auf den ich mein ganzes Vertrauen setzen könnte. Es waren viele die sich um meine Gunst und Freundschaft bewarben. Einige suchten sie durch Schmeicheleyen, Andere durch den falschen Schein der Wahrheit und frommen Aufrichtigkeit, unter welchem sie ihr eigenes Interesse suchten, noch Andere aus Eitelkeit, um sich damit zu brüsten. Es vergnügte mich inniglich zu sehen, wie man nach meinem Zutrauen strebte. Ich erhielt sie alle in der Hoffnung, nahm sie bey ihrer schwächsten Seite, lernte sie dadurch kennen und hütete mich wohl vor ihrer Freundschaft. Mein Herz war zu voll, es wollte Luft haben, mir war alles zu eng; es war mir wie einem Fisch der nach frischem Wasser schnappt. — Ich fand endlich einen Freund, mit aller der Freude die man empfindet, wenn man einen Schatz gefunden hat. Wie glücklich und wie froh war ich!
Mit Freuden unternehme ich von diesem ehrwürdigen Manne zu sprechen und meine Dankbarkeit gegen ihn der ganzen Welt zu bekennen. Er hieß Greiner, war Geheim-rath und saß mit in dem Geheime-Conseille. Er war nicht von den außerordentlichen großen Köpfen, aber ein gerad denkender mit viel Vernunft begabter Mann. Er hatte von unten hinauf zu dienen angefangen, also daß er in denen Geschäften sehr wohl unterrichtet war und sich viele Kennt-niß darin erworben hatte. Ein feines Gefühl beseelte ihn, also war er einer wahren Freundschaft fähig. Er war Freund seiner Freunde; seine Seele war zu edel als daß er schmeich-len konnte. Dieses war der Mann in dessen Arme ich mich warf; ich liebte ihn als meinen Vater. Von ihm habe ich die Wahrheit kennen und sie lieb gewinnen lernen.
Wenn der Fürst und sein Freund edel gesinnt sind, so kann wohl nichts anders als die größte und edelste Freundschaft entstehen, und so ist wohl die Frage entschieden, ob Fürsten Freunde haben können. Wenige Große und wenige Menschen überhaupt besitzen ein edles Gefühl, und also auch keine Fähigkeit zu einer wahren Freundschaft. Der größte Haufen macht leichtsinniger Weise Freundschaft ohne sich einander zu kennen, lernen sie sich aber kennen, so fühlen sie, daß ihr Gemüth, ihre Denkungsart und Sitten so verschieden sind, daß es gar nicht möglich ist daß Freundschaft unter ihnen existiren kann. Daher kommt es auch daß so viele Freundschafts-Brüche entstehen und das ewige Klagen über Mangel wahrer Freunde. So ist es bey Fürsten und privat Leuten. Bey Fürsten aber ist es doppelt schwel wahre Freunde zu finden, und wenn es wahre Freunde sind, sie zu erhalten: Sie sind von Jugend auf mit Ungeziefer umringt, hierdurch werden sie entweder mißtrauisch gegen Alle, oder werfen sich unwürdigen Menschen in die Arme. Treffen sie Jemand an, den sie ihrer Freundschaft würdig achten, so ist es etwas sehr seltenes daß dieser nicht in seinem Gemüth sich über sich selbst erhebt und die freundschaftliche Neigung des Fürsten nicht mißbraucht; Es 'ist alsdann kein Wunder wenn des Fürsten Freundschaft nicht lange besteht. Es dauert ja auch unter privat Leuten die Freundschaft nicht lange, wenn sich ein Theil von ihnen über die gebührenden Schranken erhebt und wider die Pflichten der Freundschaft handelt.

  • Unter der Überschrift »Meine Gedancken« fanden sich in Goethes Nachlaß einige Blätter von der Hand der Herzogin, die vielleicht als Einleitung zu einer umfassenderen Niederschrift gedacht waren. Der Adressat ist vermutlich Wieland, an den Anna Amalia im Frühjahr 1772 Briefe ähnlichen Inhalts schrieb.

Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar an Christoph Martin Wieland

Weimar, den 29. März 1772
Es würde mir eine große Genugtuung bereiten, wenn meine Feder beredt genug wäre, Ihnen die Freude auszudrücken, die ich beim Lesen Ihres Briefes empfand. Ich fühle jedoch, daß meine Feder zu schwach ist, um Ihnen ein lebhaftes Bild der Empfindung zu geben, die mein Herz erfüllt und die durch die Gefühle der Zuneigung und Anhänglichkeit hervorgerufen ist, die Sie mir bezeugen. Auch muß ich Ihnen sagen, daß meine Eigenliebe sich so sehr geschmeichelt fühlt, Mittel und Wege gefunden zu haben, mir einen Mann zu verbinden, der so gut wahren Verdienst kennt, daß ich darüber gar eingebildet werden und von mir eine allzu hohe Meinung gewinnen könnte. Aber nein! Ihre Freundschaft wird mir ein Ansporn sein, mich noch stärker meinen Pflichten zu widmen, um so in der Tat die Hochachtung eines Danischmende zu verdienen, für den ich selbst die größte Bewunderung hege.
Es ist sicher, daß ein wahres Giück die empfindsamen Seelen und die Fürsten vereinigen müßte. Die Beispiele bezeugen jedoch das Gegenteil. Ein feinempfindendes Gemüt scheint mir beklagenswerter als ein alltägliches. Zwar fühlt es mit aller Lebhaftigkeit das Glück, aber mit der gleichen Lebhaftigkeit — vielleicht noch stärker — das Unglück. Mir kommt eine solche Seele vor wie ein bewegtes Meer. Die Lage der Fürsten ist ähnlich einem schönen Rosenstrauch, der eine Schlange verbirgt. Es wäre eine große Anmaßung, wenn ich einem Danischmende gegenüber den Ton des Philosophen anschlagen wollte, sieht er doch selbst mit scharfsichtigen Augen und hat die Großen und die Höfe genugsam ergründet, um nicht überzeugt davon zu sein, daß es für einen Fürsten schwer ist, so glücklich zu sein wie jene, die einen geringeren Platz einnehmen. Von Ihnen erwarte ich die Lösung des Rätsels!
Es wäre sehr undankbar gegen die Vorsehung, wenn ich mich unter die Unglücklichen zählen wollte. Hat sie mich dodi auf einen Platz gestellt, wo ich Tausende glücklich machen kann, was wahrlich die Befriedigung eines Regenten ausmacht, der darin seine Aufgabe sucht. Aber die ausgeprägte Empfindsamkeit, die mir eigen ist, läßt mich zugleich auch das ganze Gewicht meines Standes fühlen. Vielleicht bin ich zu gefühlvoll und eine stärkere Seele als die meine würde sich darüber hinwegsetzen. Ich gestehe, daß ich mich bei diesem Gedanken ein wenig schwach fühle — kann eine Frau überhaupt eine starke Seele haben? Noch eine Frage an den Herrn Danischmende!
Wenn ich mich jetzt über den Charakter meines ältesten Sohnes beruhigt fühle, so danke ich das Ihnen. Manche Eigenschaften, die mich früher an ihm ängstigten, haben Sie mir in Ihrem Brief von einer anderen Seite gezeigt. Sie versichern mir, daß er ein gutes Herz habe. Daran habe ich nie gezweifelt. Aber ich habe in seinem Charakter immer eine gewisse Härte zu bemerken geglaubt, die meiner Meinung nach stets ein großes Laster und ein doppelt großes bei einem Regenten ist.
Ihr Urteil über diese Dinge ist so durchdacht und tief, daß es mich von meinem Irrtum überzeugt. Was ich für Härte nahm, ist vielleicht bei ihm eine seltene Geistes- und Gemütsstärke. Was man hofft, wünscht man leicht, bin ich nur darüber beruhigt, daß er ein gutes Herz hat. Das ist doch das Wichtigste für einen Menschen, der zürn Regieren bestimmt ist. Denn was seinen Verstand und sein Genie anlangt, so kann ich mir schmeicheln, daß mein Sohn vielleicht einer der ersten des Geschlechts ist, der über beides verfügt. Ich bin weit entfernt, meinem Sohn die niedrigen Laster beimessen zu wollen, die nur für gemeine Seelen existieren, ich meine Falschheit und Heuchelei. Aber er ist doch noch weit entfernt von jener Offenheit, die man im allgemeinen bei Kindern seines Alters antrifft. Nur zu gut versteht er sich zu verbergen. Täusche ich mich nicht, so ist dies ein Fehler in der Erziehung oder es hat seinen Grund in seiner großen Eigenliebe, die ihm nicht erlaubt so offen zu sein, wie es einem hochherzigen Menschen zukommt. Ich zweifle nicht, daß — wenn Sie ihn gründlicher kennen lernen — Sie mir nicht ganz unrecht geben werden. Ich fürchte fast, daß dieser Fehler sehr schwer, möglicherweise gar nicht zu korrigieren ist, er hat zu tief Wurzeln geschlagen. Ich gestehe Ihnen offen, daß wenn ich noch einmal von vorne zu beginnen hätte, ich meinen Kindern eine ganz andere Erziehung geben würde.
Ihre gründliche Einsicht, die Sie mir wegen der weiteren Behandlung dieser jungen Pflanze mitgeteilt haben, soll mich ferner leiten. Das Glück meines Sohnes liegt mir zu sehr am Herzen, als daß ich nicht auf alles einginge, was zur Erfüllung meiner Wünsche beitragen kann. Ermessen Sie demnach die Größe meines Dankes, den ich Ihnen schulde. Meiner Meinung nach muß eine auf Achtung und Dankbarkeit gegründete Freundschaft die beste und dauerhafteste sein. Solch eine Freundschaft habe ich Ihnen für das Leben gewidmet und mit ihr werde ich nie aufhören zu sein
Ihre sehr gewogene Freundin Amelie.

  • In Erfurt, als Professor der Philosophie in kurmainzischen Diensten, hatte 'Wieland seine berühmte Scbrifi »Der goldene Spiegel« veröffentlicht, in der er das Gemälde eines idealen Staates entwarf. Die Lehren, die der Autor dem Philosophen Danischmende in den Mund legt und dessen weise Prinzenerziehung hatten auf Anna Amalia größten Eindruck gemacht. Sie wandte sich mehrfach an Wieland um Rat bei der Ausbildung ihrer Söhne und berief ihn im Juli 1772 als Erzieher des Erbprinzen an den Weimarer Hof. Der Brief ist die Antwort auf ein Schreiben Wielands, das die trefflichen Anlagen Carl Augusts rühmte und mit den Worten schloß: »Man mache aus ihm einen aufgeklärten Fürsten und ich stehe für sein Herz ein.«

Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar an Jakob Friedrich Freiherrn von Fritsch

Sie kennen die Gesinnungen, die ich für Sie hege und eben diese sind es, die mir die Feder in die Hand drücken, um Sie zu beschwören, einer Freundin Gehör zu schenken, die nur das Beste will. Mein Sohn, der Herzog, hat mich vertrauensvoll in die Korrespondenz eingeweiht, die zwischen ihm und Ihnen gewechselt wurde betreffend der neuen Einrichtungen, die gemacht werden müssen. Mit Schmerz ersah ich daraus, daß Sie die Absicht haben, meinen Sohn zu verlassen und dies zu einer Zeit, da er Ihrer am nötigsten bedarf.
Die Gründe, die Sie anführen, haben mich zutiefst bekümmert. Eines geistreichen Mannes wie Sie, der die Welt kennt, sind sie nicht würdig. Sie sind voreingenommen gegen Goethe, den Sie vielleicht nur aus unwahren Erzählungen kennen oder den Sie von einem falschen Gesichtspunkt aus beurteilen. Sie wissen, wie sehr mir der Ruhm meines Sohnes am Herzen liegt und wie sehr ich darauf hingearbeitet habe und noch täglich arbeite, daß er von ehrenhaften Männern umgeben sei. Wäre ich überzeugt, daß Goethe zu den kriechenden Geschöpfen gehörte, denen kein anderes Interesse heilig ist als ihr eigenes und die nur aus Ehrgeiz handeln, so würde ich die erste sein, gegen ihn aufzutreten. Ich will Ihnen nicht von seinen Talenten, von seinem Genie sprechen; ich rede nur von seiner Moral. Seine Religion ist die eines wahren und guten Christen; sie lehrt ihn seinen Nächsten zu lieben und zu versuchen, ihn glücklich zu machen. Und das ist doch der erste, hauptsächlichste Wille unseres Schöpfers.
Aber lassen wir Goethe und kommen wir zu Ihnen. Gehen Sie in sich, mein Freund! Sie, die Sie so religiös, so gewissenhaft sind: können Sie einen jungen Regenten verlassen, der Vertrauen in Ihre Talente, Ihre Herzensgüte zeigt? Und noch dazu in einem Augenblick, wo Sie ihm so notwendig sind? Und das (erlauben Sie mir es auszusprechen) nur einer unrichtigen Idee wegen, die Sie sich in den Kopf gesetzt haben?
Sie sagen, man würde meinen Sohn überall tadeln, wenn er Goethe in das Konsilium setze. Aber wird man nicht auch Sie tadeln, Sie, der Sie den Dienst meines Sohnes einer so geringfügigen Ursache halber verlassen? Machen Sie doch Goethes Bekanntschaft, suchen Sie ihn selber kennenzulernen! Sie wissen, daß ich meine Leute erst sehr genau prüfe, bevor ich über sie urteile, daß die Erfahrung mich in solcher Menschenkenntnis vielfach belehrt hat und daß ich ohne Vorurteil richte. Glauben Sie einer Freundin, die Ihnen sowohl aus Dankbarkeit wie aus Zuneigung zugetan ist.
Selbst wenn der Herzog, mein Sohn, einen übereilten Schritt getan hätte, haben Sie nicht Ihre Schuldigkeit getan, wenn Sie ihn darauf aufmerksam machten? Und wenn er darauf besteht, ist es dann Ihre Schuld? Es scheint mir, die Welt würde es Ihnen verargen, wenn Sie einen Fürsten verlassen, der Ihrer Einsicht und Ihrer Rechtschaffenheit bedarf. Urteilen Sie selbst, ob sich das mit der Religion verträgt, die Sie bekennen.
Noch einmal: gehen Sie in sich. Ich weiß, Sie sind dankbar. Darum bitte ich Sie, aus Liebe zu mir meinen Sohn unter diesen Umständen nicht zu verlassen. Ich rate es Ihnen und ich bitte Sie darum, aus Liebe zu meinem Sohn und aus Liebe zu Ihnen.
Ich bin in herzlicher Freundschaft
Ihre Ihnen sehr wohlgesinnte Freundin
Amelie.
d. 13. Mai 1776

  • Des Herzogs Entschluß, Goethe als regierenden Geheimen Rat in das Konsilium aufzunehmen, ohne ihm in irgendeiner Vorschule Proben seines Könnens und seines Charakters abzuverlangen, erbitterte seinen ersten Minister von Fritsch über die Maßen. Um keinen Teil an der »Günstlingswirtschaft« zu nehmen, bat er um seinen Absclned. Der Brief, mit dem der achtzehnjährige Carl August ihn umzustimmen suchte, macht ihm und seiner Freundschaft zu Goethe alle Ehre. Einen Bundesgenossen fand er in seiner Mutter Anna Amalia, deren Klugheit und diplomatischem Geschick es schließlich zu danken war, daß die Dienste des tüchtigen Fritsch dem Herzogtum noch fünfundzwanzig Jahre zugute kamen.

Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar an Catharina Elisabeth Goethe

Tiefurth d. 13 ten Julli 81.
Was soll ich Ihnen schreiben Liebste Frau Aja! nachdem Sie mit Kayser, Ertzherzogen, Fürsten, und allen Teufel sich herrum getrieben haben, was kan Ihnen wohl weiter interressiren? wenn ich Ihnen schon sagen wolte daß ich hier in denen Haynen von Tiefurth recht vergnügt lebe so würde das gar klein und geringe in den Ohren der Frau Aja klingen; auch könte ich erzählen daß der viel Geliebte Herr Sohn Wolff, Gesund und wohl ist, daß Er in Ilmenau auf eine Comission gewesen und daneben noch allerley kleine Excurtions gemacht und vergnügt und Gesund wiedergekommen ist aber dies ist alles zu geringe für Ihnen man muß aus den hohen FF mit Ihnen sprechen, aber leider bey uns pasirt gar nichts, sogar kein ausländisches Thier gehet durch Weimar geschweige den ein Kayser. — Doch mein Herz sagt mir daß Frau Aja, bey allem Gaudium Frau Aja geblieben, daß sie doch seitwärts Blicke voll Liebe und Freundschaft auf die Entfernten geworffen hat, und ewig die Liebe gute Mutter ist und bleiben wird Amen!
Das Fräulein Tusnelde überschieckt Ihnen hier ein Porte-feuil welches sie mit eigener hohen Hand verfertiget hat, und damit ich nicht ganz lehr ausgehe so schiecke ich Ihnen Liebe Mutter ein paar Strumfbänder die ich auch selbst Fabricirt habe; ich hoffe Liebe Mutter daß Sie wenigstens daraus ersehen wie fleisig wir an Sie dencken.
Bleiben Sie immer die Liebe Mutter sowie ich ewig seyn werde
Ihre wahre Freundin Amelie

  • Im Sommer 1778 hatte Anna Amalia eine Rheinreise unternommen und bei dieser Gelegenheit auch Goethes Mutter kennen- und liebengelernt. — Kayser, Ertzherzogen, Fürsten: Frau Aja hatte berichtet, daß Frankfurt wie sonst nur zur Messe mit »hohen Herschafften« angefüllt sei und daß den freien Reichsbürgern der Inkognito-Besuch des Kaisers Joseph II. das größte »gaudium« bereitet habe. — Ilmenau: der dortige Bergbau unterstand Goethes Oberaufsicht, der hier ein frudnbares Betätigungsfeld für seine geologischen und mineralogischen Interessen fand. —Tusnelde: Luise von Göchhausen, die kleine, verwachsene Hofdame der Herzogin, von den Grafen Stolberg scherzhaft so benannt.

Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar an Karl Ludwig von Knebel

Neapel, den 13. September 1789
Ich kann Ihnen nicht genug sagen, wie sehr Sie mich durch Ihr liebes Andenken erfreut haben; sein Sie versichert, lieber Knebel, daß, ob ich schon im Genuß der schönsten Natur lebe, mir doch eine liebe bekannte Stimme von dort her sehr willkommen ist. Wie sehr wünschte ich, daß ich auf Art der Napolitaner mit Allegorien und feinen Sprüchwörtern die Schönheit der Natur hier beschreiben könnte, um Ihnen Lust zu machen, sie selbst einmal in Augenschein zu nehmen. Die Napolitaner sagen wohl mit Recht: e un pezzo di cielo caduto in terra.
Könnten Sie nur einen hiesigen Mondenschein sehen, wenn er, schöner als die Thüringische Sonne auch in den wärmsten Abenden bei uns untergeht, hier majestätisch hinter dem Vesuv hervortritt, auf der Spitze desselben ruht und die ganze Gegend begrüßt, deren glühender Purpur nur dem neuen Lichte weicht. Der dunkelblaue Himmel, dessen bril-lantirte Sterne den Mond zu umkränzen und lieblich um ihn zu tanzen scheinen; die funkelnde Milchstraße mit ihren Millionen Sternen, die, wie der Gürtel der Venus, den ganzen Erdkreis mit Liebe zu umgeben scheint; dieses Alles doppelt in dem silbernen Meere wiederscheinend, das ruhig und still alles das Schöne aufnimmt, womit es rund umgeben ist. Aber ich komme mir ordentlich wie ein elender Schmierer vor, der ein Gemälde von Rafael copirt, indem ich eine Scene der Natur beschreibe, die nur durch Anschauen und Gefühl kann genossen werden; auch will ich schweigen und es Ihrer fruchtbaren Imagination überlassen, sich selbst ein Bild davon zu machen.
Was die französische Revolution betrifft, so traue ich mir nicht, darüber zu urtheilen, aber ich glaube, man könnte über den jetzigen Zustand der Franzosen einem gewissen Griechen nachsprechen, der zu Solon sagte: chez vous les sages discutent et les foux decident. Bis jetzt ist es noch eine völlige Anarchie; ob etwas Gutes herauskommen wird und kann, muß die Zeit lehren. Man erwartet hier viele französische Prinzen mit Weib und Kindern.
Sagen Sie Herdern von mir tausend schöne Sachen, und melden. Sie, daß Mr. Caco oder Sacco ein determinirter Antiroyalist geworden sei und dadurch seine stumpfe Nase noch einmal so hoch trüge und noch viel decidirter geworden sei.
Die Zeit ist zu kurz, Ihnen, lieber Knebel, mehr zu schreiben. Grüßen Sie den alten Wieland mit seiner schönen gestickten Robe und die Frau von Kalb von mir ....
Adieu, bald hoffe ich, Ihnen mündlich sagen zu können, wie sehr ich bin
Ihre aufrichtige Freundin
Amelie

  • In Begleitung ihrer Hofdame von Göchhausen, des Kammerherrn von Einsiedel und eines Leibarztes hielt sich die Herzoginmutter unter dem Namen einer Gräfin von Allstedt fast zwei Jahre lang in Rom und Neapel auf. Zeitweilig gehörte auch Herder, der sich von dem katholischen Domherrn Friedrich von Dalberg nach Italien hatte mitnehmen lassen, ihrer kleinen Gesellschaß an. — Knebel war 1774 von Anna Amalia als Erzieher ihres zweiten Sohnes Konstantin nach Weimar berufen worden. Nach Beendigung seiner Aufgabe wandte er sich nach Jena und lebte hier ohne berufliche Verpflichtungen hauptsächlich dem Studium der alten Literatur. Goethe nannte ihn gern seinen »alten Weimarischen Ur-freund«. — Frau von Kalb: Charlotte von Kalb, geb. Marscloalk von Ostheim, Gattin eines Offiziers in französischen Diensten, Freundin Schillers, Hölderlins und Jean Pauls.

Christoph Martin Wieland an Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar

Weimar, den 13. Decbr. 1789
Gnädigste Herzogin,
Wir nähern uns, Dank sei den Göttern! dem Ende eines Jahres, das durch die Entfernung von Ew. Durchlaucht das schwermüthigste meines ganzen Leben gewesen seyn würde, wenn mein guter Dämon nicht dafür gesorgt hätte, auf der einen Seite meine häuslichen Freuden zu vermehren, und mich auf der andern mit Arbeiten so zu überladen, daß ich kaum recht zu mir selber kommen konnte. Mit froher Sehnsucht sehe ich nun das Jahr 1790 herankommen, welches, wofern mich die Hoffnung nicht mit goldnen Träumen aus der elfenbeinernen Pforte täuscht, unsre beste, verehrteste und geliebteste Fürstin wieder zu Ihren lieben Getreuen nach Weimar führen wird, — die, wie weit sie auch leider! in allen andern Stücken hinter den beneidenswerthen Lieblingskindern der Natur in Campanien und Calabrien zurückbleiben, doch gewiß den Vorzug, dieser Fürstin, die mit so großem Recht der Gegenstand der Anbetung dieser glücklichen Ausländer ist, näher anzugehören, nicht mit allen Herrlichkeiten und Annehmlichkeiten des schönen Italiens vertauschen würden. Noch trennt uns ein langer nordischer Winter vom Ziel unserer eifrigsten Wünsche: aber der schlimmste Theil desselben ist beinahe vorbei, und der Rest wird durch die Vorstellung verkürzt, daß jede Woche den seeligen Tag des Wiedersehens näher bringt, der uns in Einer Stunde, ja in Einem Augenblick für mehr als sechshundert trübe und bleyerne Tage entschädigen wird. Kommen Sie, gnädigste Herzogin, kommen Sie mit der wiederkehrenden Sonne zu uns zurück, um wie diese ewige Quelle aller Schönheit und Freude, uns wieder Licht und Wärme, Leben und Seele zu geben! Die gute thüringische Natur wird ihr Bestes, (wie wenig es auch ist) thun, um Ew. Durchlaucht in ihrem festlichen Schmuck zu empfangen; und unsere Nachtigallen (die einzigen Improvisatori oder Improvisatrici, deren wir uns rühmen können) werden sich beeifern, Ew. Durchl. die zärtlichen Abschiedsklagen der Nachtigallen von Tivoli und Frascati durch ihren jubiliren-den Willkomm vergessen zu machen.
Bey allem dem ängstigt mich doch zuweilen der Gedanke, was wird Amalia, nachdem sie das erhabenste und das schönste der Natur, das höchste und vollkommenste der Kunst, die liebenswürdigsten Menschen, den schönsten Himmel, das reizendste Land, Alles was Auge und Ohr, Geist und Herz im höchsten Maaße befriedigt, kennen gelernt und genossen hat, was wird die Fürstin, deren schöne Seele für dies Alles einen so zarten und hohen Sinn hat, sich unter diesem Allem wie in Ihrem eigensten Element befand, was wird Sie unter uns finden, das auch nur für den kleinsten Theil dessen, was Sie verläßt, als Ersatz betrachtet werden könnte? Aber glücklicher Weise haben Ew. Durchl. in diesem auf eine so edle Art genossenen Theile Ihres Lebens einen Schatz von großen, interessanten und unvergeßlichen Gegenständen, Sonnen, Bildern und Idealen in Ihre Seele gesammelt, der für sich allein schon zureicht, nicht nur Ihr eignes künftiges Leben mit Erinnerungen, die eine Art von fortgesetztem Genuß sind, zu erheitern, sondern auch den armen lechzenden Seelen meinesgleichen zu Zeiten einige Tropfen aus Ihrem Überfluß zufließen zu lassen. Halten Ew. Durchl. mir diesen kleinen Seitenblick auf mich selbst zu Gnaden, der an einem Menschen, dessen Existenz durch das Schicksal in einen so engen Raum zusammengedrückt wurde, zumal da die Hilfsquellen in ihm selbst unvermerkt versiegen, nur gar zu natürlich ist. Goethe und Herder haben das ihrige gethan, um meinen Geist für Mittheilungen dieser Art empfänglicher zu machen; und wiewohl mir die Musen seit Ew. Durchlaucht Entfernung vollends ihre Gunst entzogen haben, so haben sie mir doch noch so viel Einbildungskraft übrig gelassen, daß ich hoffen darf, Ew. Durchlaucht in jeder Scene, in welche Sie Sich Selbst wieder zu versetzen Lust haben werden, ohne Mühe folgen
zu können, und also wenigstens nicht jenem Zuhörer des Flötenspielers Timotheus zu gleichen, der, als die Marktglocke alle andere wegrief, allein bei dem Virtuosen zurückblieb und andächtig zuhörte, weil er — so taub war, daß er die Glocke nicht gehört hatte.
Möge sich inzwischen alles vereinigen, gnädigste Herzogin, um Ew. Durchl. den noch übrigen Aufenthalt und die allmählige Rückreise aus dem Feenlande, worin Sie Sich befinden, so angenehm, beglückt und vergnüglich als nur immer möglich ist zu machen. Möge das Jahre 1790, indem es Ihre schönen Wanderungen in Italien beschließt, in Ihrem Lande, und unter Ihren Angehörigen, der Anfang der heitersten, ruhigsten, und zufriedensten Periode Ihres schönen und ruhmvollen Lebens seyn! Mit diesen und allen guten Wünschen, wovon mein pflicht- und dankvolles Herz gegen die Beste der Fürstinnen erfüllt ist, lege ich mich um die Fortdauer Ihres gnädigsten Schutzes bittend, Ew. Durchl. zu Füßen
als Höchstdero
ewig verpflichteter, unterthänigster und treuester Diener
Wieland.

  • Der auf höfische Distanz gestimmte, respektvolle Ton des Briefes läßt nicht vermuten, daß Wieland mit der Fürstin auf durchaus herzlich-familiärem Fuße stand und sich nach Schillers Zeugnis sogar die Freiheit herausnehmen durfte, neben ihr in der Sofaecke sein Mittagsschläfchen zu halten. Nicht nur Wieland, ganz Weimar erwartete sehnsüchtig die Rückkehr Anna Amalias, von der man sich eine Wiederbelebung der Geselligkeit erhoffte. Ihr Sohn Carl August weilte um diese Zeit als preußischer General viel außer Landes und die regierende Herzogin Luise lebte so still und zurückgezogen, daß die Weimaraner sie kaum von Ansehen kannten.