Die Hofrätin

Johanna Schopenhauer, geb. Trosiener (1766—1838)

». . . . ich verspreche mein Möglichstes zu versuchen,
um die gefährlichste aller Klippen, die
der Langweiligkeit, zu vermeiden.«
Johanna  Schopenhauer  in der  Einleitung  zu
Jugendleben und Wanderbilder

johanna schopenhauer Es war nicht der günstigste Zeitpunkt, den Johanna Schopenhauer sich im Herbst 1806, wenige Tage vor der unglücklichen Schlacht bei Jena, für ihren Einzug in Weimar wählte. Sofort nach dem Tode ihres Gatten, des Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer, hatte sie das Hamburger Handelshaus aufgelöst und sich, begleitet von ihrer Tochter Adele, nach der thüringischen Residenz begeben. In Weimar, so hoffte sie, sollte ihr Leben sich ganz ihren Neigungen gemäß gestalten. Doch anstatt eines freundlichen Willkommens schlugen ihr kriegerische Unruhe und kopflose Verwirrung entgegen. Wer über Pferd und Wagen verfügte, flüchtete aus der bedrohten Stadt, der ihre schlimmsten Tage seit Menschengedenken, die Plünderung durch die Franzosen, bevorstanden.
Die Resolutheit und Unerschrockenheit, mit der sich Johanna Schopenhauer in dieser Zeit der allgemeinen Not bewährte, verfehlten nicht ihren Eindruck. »Meine Existenz wird hier angenehm werden, man hat mich in zehn Tagen besser als sonst in zehn Jahren kennengelernt«, schrieb sie ihrem Sohn nach Hamburg. Die »Feuertaufe« hatte sie nach Goethes Worten zur Weimaranerin gemacht. »Mit wenig Mühe und noch weniger Kosten wird es mir leicht werden, wenigstens einmahl in der Woche die ersten Köpfe in Weimar, und vielleicht in Deutschland, um meinen Theetisch zu versammeln.« Die Zeiten hatten sich gewandelt, auch in dem kleinen, von Konventionen beherrschten Weimar. Die Pflege kultivierter Geselligkeit hatte bisher fast ausschließlich in den Händen des Adels gelegen. Nun war sie zu einer Sache des bürgerlichen Salons geworden. Der Kreis, den einst die Herzogin Anna Amalia um sich versammelte, fand sich in ähnlicher Form in dem gastfreien Hause der Hofrätin Schopenhauer ein.
Aufgewachsen in der großbürgerlichen Atmosphäre der Hansestadt Danzig, vermählt mit einem der angesehensten Handelsherren der Stadt, geschult durch Reisen, die sie an der Seite des wesentlich älteren Gatten durch ganz Europa führten, brachte sie alle Voraussetzungen geistiger und materieller Art mit, die ihr den gesellschaftlichen Erfolg verbürgten. Doch ausschlaggebender noch als Weitläufigkeit, Takt und Bildung war die auffällige Gunst Goethes, der sie sich erfreuen durfte. Mochte auch ein wenig berechnende Klugheit bei der Schopenhauer mit im Spiel gewesen sein, so war es mehr noch die natürliche Vorurteilslosigkeit der Großstädterin, die sie als erste Dame der Gesellschaft Christiane Vulpius, der nunmehrigen Frau Geheimen Rätin Goethe, unbefangen und herzlich entgegentreten ließ: »Wenn Göthe ihr seinen Namen giebt, können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben.« Goethes Freundschaft war sie von Stund an sicher, und sie durfte auf ihn als einen regelmäßigen Gast ihrer Abendgesellschaften zählen. Ja, ihr Haus war das einzige in Weimar, in das er während langer Zeit seinen Fuß setzte. Es wurde gemeinsam gezeichnet und musiziert, Gespräche über Werke der Kunst wechselten ab mit leichter Unterhaltung über Vorfälle des Tages, über das Theater, über neue Erscheinungen in der Literatur. In kurzem bezeichneten Reisehandbücher und Geographien den Salon der Madame Schopenhauer als eine Merkwürdigkeit Weimars, und kein Fremder von Ansehen versäumte es, sich in ihrem Hause einführen zu lassen.
Bei aller Anerkennung der geselligen und musischen Talente der Wirtin fehlte es hier und da nicht an kritischen Urteilen. Dem Ehepaar von Humboldt war die »breite, gelehrte Dame« »durch Figur, Stimme und affektiertes Wesen fatal«. Andere, wie der Strafrechtler Feuerbach, rügten ihre Selbstgefälligkeit. Wenig erfreulich gestaltete sich mit den Jahren ihr Verhältnis zu dem Sohn Arthur. Mehr auf die eigene Bequemlichkeit als auf das Wohl ihrer Kinder bedacht, machte sie sich kaum die Mühe, auf das schroffe und unduldsame Wesen des Sohnes mildernd und versöhnend einzuwirken. Seine wissenschaftlichen Arbeiten blieben ihr herzlich gleichgültig. Als er ihr Verhältnis zu dem Schriftsteller und Archivar Müller von Gerstenbergk mißbilligte, kam es zum endgültigen Bruch.
Johanna Schopenhauer hatte die Vierzig bereits überschritten, als sie zu Schriftstellern anfing. Was ihr zunächst pure Liebhaberei war, wurde nach dem teilweisen Verlust ihres Vermögens, der Auflösung ihres Salons und der späteren Übersiedlung ins Rheinland zum Broterwerb. Ihre Romane, von Goethe mit gemessenem Lob bedacht, von dem Berliner Kritiker Wolf gang Menzel, der verzichtenden Moral ihrer Heldinnen wegen, spöttisch als »Entsagungsromane« bezeichnet, können heute kaum noch Interesse beanspruchen. Anders verhält es sich mit ihren Reiseberichten und der späten Autobiographie Jugendleben und 'Wanderbilder. Wahrheit und Wirklichkeit, das sind hier ihre literarischen Leitbilder. Ebenso bewußt wie sie sich von dem »philosophischen«, »tiefeindringenden« Blick einer Rahel Varnhagen distanziert, so auch von der »übermächtigen Phantasie« des »excentrisch-poetisierenden Kindes« Bettina von Arnim, deren verklärender Briefwechsel mit Goethe soeben erschienen war. Sie will nichts anderes als ihre »wirklichen« Erlebnisse in leicht lesbarer, flüssiger Form niederschreiben, unterhalten ohne zu langweilen. Was der Autorin an imaginativen Fähigkeiten und schöpferischer Kraft fehlt, ersetzt sie durch ihre leidenschaftliche Hingabe an das Tatsächliche. Empfindsame Schönfärberei ist ihr ein Ärgernis: »Die Herren Poeten, besonders die aus meiner sentimentalen Jugendzeit, versündigen sich schwer an der Wahrheit, indem sie die große Treue, Redlichkeit, Frömmigkeit, Sittlichkeit des einfachen Landmanns auf unsre Kosten erheben«, heißt es in Jugendleben und Wanderbilder, »Jene sind wie wir, wir sind wie sie, Beide vom nämlichen Metall, nur die gröbere oder zierlichere Ausführung der Form bildet den einzigen Unterschied . . . .« Ob es sich um Reiseeindrücke in fremden Ländern oder um das Bild ihrer Vaterstadt im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert handelt, immer besticht ihre genaue Beobachtungsgabe. Die Art, wie sie Danzigs buntes Völkergemisch, den Handel mit den umliegenden Staaten, die noch ganz mittelalterlich strenge Schichtung der Stände und das Leben in den vornehmen Bürgerfamilien beschreibt, macht ihre Darstellung zu einer kulturhistorischen Quelle ersten Ranges.
Ihre Hoffnung, die glücklichste Zeit ihres Lebens, die Weimarer Jahre, aus der Erinnerung zu beschwören, vereitelte der Tod — ihre Lebensgeschichte blieb Fragment.

  • »Johanna  Schopenhauer  hatte  eine  unvergleichliche  Art, sich selbst in den Hintergrund zu stellen und trotzdem, wie mit unsichtbaren Fäden, die Geister in Bewegung zu halten.«

Johanna Schopenhauer

Aus: Jugendleben und Wanderbilder
Vor sechzig bis siebenzig Jahren konnte Danzig noch füglich für einen der nordischen Marksteine der kultivirten Welt gelten; mit Riesenschritten hat seitdem die Kultur die früher ihr gesetzten Grenzen in den Staub getreten und im Innern wie im Aeußern die bedeutendsten Umwandlungen herbeigeführt. Doch behielt meine Vaterstadt, abgesehen sogar von ihrer vor andern sie auszeichnenden Bauart, noch genug von ihrer früheren Orginalität übrig, um noch heut zu Tage dem Fremdling in ihren Mauern ein lebhaftes Interesse einzuflößen, wenn er einigen Sinn für dergleichen mitbringt. Dazu gehört insbesondre die Ankunft der mit Getreide beladenen polnischen Fahrzeuge, die noch immer ein merkwürdiges Schauspiel bietet, wenn gleich nicht mehr ganz in dem Grade, als in einer weit früheren Zeit.
Wenn der Frühling unter dem milderen Himmel des Rheins die ihm gebührende Oberherrschaft schon längst angetreten, und nur noch einzelne, schnell vorübergehende Scharmützel mit seinem überwundenen Feinde zu bestehen hat, der im Fliehen sich zuweilen neckend gegen ihn umwendet, dann erst reißt er in meinem Vaterlande mit einem kühnen Sprunge aus dem kalten weißen Leichentuche sich los, und zerbricht die krystallenen Gewölbe, unter welchen Quellen und Ströme gefesselt liegen.
Unglaublich schnell dringt dann aus Bäumen und Hecken, auf Wiesen und Feldern das frische knospende Leben warm und duftig hervor; es giebt Tage, in denen man wirklich glauben möchte, das Gras wachsen zu hören, die Veilchen sich entwickeln zu sehen. Der Frühling ist da und eilt vorüber, ehe man Zeit gehabt hat, sich seiner recht zu erfreuen. Dann schwellen auch tief in Polen die Gewässer, und die, selbst für die sehr flach gehenden polnischen Fahrzeuge oft zu seichte Weichsel wird gegen Ende des Maimonats kräftig genug, um auf ihrem Rücken die goldnen Gaben der Ceres in meine Vaterstadt zu tragen, die mit vollem Recht in früherer Zeit die Kornkammer von Europa genannt wurde.
Die kleinen, längs der langen Brücke auf der Mottlau vor Anker liegenden Seeschiffe, auf welchen, wie auf den Retourchaisen in Frankfurt, der Ort ihrer nächsten Bestimmung auf schwarzen Tafeln zu lesen ist, »will's Gott nach Königsberg«, »will's Gott nach Petersburg«, »will's Gott nach Memel«, sie alle schließen vor der seltsamen Flotte sich gedrängter an einander, welche nun die Mottlau bedeckt und einen höchst wunderbaren Anblick gewährt.
Schiffe sind die schlecht zusammengezimmerten Fahrzeuge eigentlich nicht, aus welchen jene Flotte besteht, sie scheinen so unbequem und zerbrechlich, daß man kaum begreift, wie sie den weiten Weg glücklich zurücklegen konnten, ohne unterzugehen; auch werden sie am Ende ihrer Laufbahn zerschlagen, das Holz wird verkauft, und die Mannschaft mag zusehen, wie sie durch Moor, Haide und unwegsame Urwälder zu Fuße wieder nach Hause gelangt.
Am füglichsten wären diese Fahrzeuge einem kleinen Floße vergleichbar, nur sind sie weniger breit, laufen an beiden Enden in Form eines Kahns etwas spitz zu, und sind rings um mit einem ziemlich niedrigen Bord versehen. Eine Hütte am Ende derselben bildet die Kajüte für den Oberaufseher; ohne Mast und Segel werden sie durch ein ziemlich unförmliches Steuer regiert, und durch mehr als hundert rüstige Arme dicht hinter einander auf ihren Bänken sitzender und taktmäßig rudernder Schimkys stromabwärts geführt. Den ganzen übrigen Raum nimmt die Ladung von Weitzen oder Rocken ein, so hoch als möglich aufgethürmt liegt sie ganz offen da, ohne den geringsten Schutz gegen Wind, Wetter und Nässe.
In besonders fruchtbaren und wasserreichen Jahren, als vor der ersten Theilung von Polen der Kornhandel noch gleichsam ein Monopol meiner Vaterstadt war, sah man oft den ziemlich breiten Strom mit mühsam aneinander sich fortschiebenden Fahrzeugen über und über bedeckt. Wäre es möglich gewesen, einen auf diesen Anblick ganz unvorbereiteten Fremden plötzlich auf die lange Brücke zu stellen, er hätte glauben müssen, auf eine der damals kaum entdeckten Südsee-Inseln, mitten unter die Kanoes der Wilden gerathen zu sein, so durchaus uneuropäisch sahen die Schimkys und die ganze Flotille noch jetzt aus. Daß dergleichen in einem übrigens civilisirten Lande, so nahe an Deutschland, noch existiert, scheint unglaublich; ein Galeerensklave aus Toulon ist, im Vergleich mit einem Schimky, ein Dandy.
Trotz ihrem wilden Aussehen haben sie doch nichts Unförmliches oder Widerwärtiges, diese starkknochigen, mulattenartig gebräunten hagern Gestalten; ein wohlbeleibter behaglicher Schimky wäre eine Idee außerhalb dem Gebiete der Möglichkeit. Bis auf den nationellen von Regen und Sonne gelb gebleichten Zwickelbart ist der Kopf durchaus kahl geschoren, und mit einem großen selbstfabricirten Strohhut oder einer flachen Pelzmütze bedeckt, Hals, Nacken und Brust sind entblößt. Die übrige Bekleidung besteht in Pantalons und einem mit einem Strick um den Leib gegürteten Kittel, beides vom allergröbsten ungebleichten Leinen. Hölzerne, mit starken eisernen Nägeln dicht beschlagene Sohlen, die sie unter den übrigens nackten Fuß binden, müssen oft die Stiefel ersetzen.
Das wirklich gräßliche Getöse, das die Chaussüre auf den granitenen Pflastersteinen hervorbrachte, wenn eine etwas zahlreiche Gesellschaft von Schimkys die Straße herauf kam, jagte uns Kinder allemal aus dem Beischlag ins Haus, und selbst als ich schon ziemlich erwachsen war, wagte ich mich nur mit bänglichem Herzklopfen in ihre Nähe. Ich fürchtete mich vor den wilden Gestalten, die doch Niemandem etwas zu Leide thaten; nie habe ich vernommen, daß ein Schimky des Diebstahls oder eines ähnlichen Verbrechens beschuldigt worden wäre.
Sie waren Leibeigene, und sind, außerhalb des Preußischen Staates, es wohl größtentheils noch. Ihr Leben wurde kaum so hoch gehalten, wie das eines Hundes oder Pferdes. Der Edelmann, der aus Versehen oder im Zorn einen von ihnen erschlug, zahlte, ohne weitere gerichtliche Prozedur, zehn Thaler Strafe, und damit war die Sache abgethan und vergessen.
Und doch giebt es kein zufriedeneres, ich könnte sagen, kein fröhlicheres Völkchen, als diese Leibeigenen mitten in ihrer tiefen Armuth, sie, die nie vermissen, was sie nie besaßen, ja wohl kaum dem Namen nach kannten. Die Freiheit, mit der sie nichts anzufangen wüßten, wäre gewiß der jetzigen Generation ein höchst unbequemes Geschenk, und vielleicht muß noch mehr als Eine dahinschwinden, ehe sie lernen werden es gehörig zu würdigen.
Wie sie im Winter daheim es halten, weiß ich nicht, den Sommer über ist ihr Leben fast ganz das eines Wilden. Tag und Nacht unter freiem Himmel, liegen sie am Ufer des Stromes, neben den Ungeheuern, beinahe haushoch aufgeschütteten Weizenhaufen, die zu bewachen und fleißig umzustechen, um sie, bis sie eingespeichert werden, vor dem Verderben zu bewahren, jetzt ihre Beschäftigung ist.
Ein sehr konsistenter Brei von Erbsen oder Buchweizen, den sie in ihrem, an einer quer über zwei Kreuzhölzern gelegten Stange hängenden kollossalen Kessel sich selbst kochen, ist einen Tag wie den andern ihre Nahrung; hat eine solche Tischgesellschaft ein Paar Talglichter erbeutet, um den magern Brei damit zu würzen, so ist das Mahl köstlich. Da sitzen sie dann zur Mittagszeit, dicht aneinander gedrängt, in wirklich malerischen Gruppen, um ihre dampfenden Kessel, handhaben ihre großen hölzernen Löffel, die auch einen ihrer sehr beliebten Handelsartikel ausmachen, und schöpfen, schlucken und schnattern, ohne Maß und Ziel.
Ein wenig naschhaft, ein wenig lecker sind sie, trotz dem besten Gastronomen, das ist wahr, aber ihre Leckerbissen sind eigner Art. Auf einem Gange durch die Speicher bemerkte ich eines Morgens, in einiger Entfernung einen Schimky vor einem offenen Speicher, in welchem allerhand Lebensmittel zum Verkaufe standen, herumschleichen, und sehnsüchtige Blicke hineinwerfen. Jameson, mein Begleiter und ich, standen einen Augenblick still, um zu sehen, was der wunderliche Gesell eigentlich beabsichtige, da sprang er plötzlich pfeilschnell auf ein in der Thür stehendes Häringsgefäß los, nahm aber nicht etwa einen Häring heraus, sondern tauchte nur ein gewaltiges Stück Schwarzbrot, das er bei sich führte, tief in die Häringslaake hinein, und lief davon, ohne sich umzusehen, als hätte er die köstlichste Beute erjagt.
Ein tüchtiger Schluck Kornbranntwein geht freilich noch über Talglicht und Häringslaake, aber wenn dieses Mittelding zwischen Kind und Affe auch etwas benebelt ist, so bleibt es doch gutmüthig; es prügelt sich, verträgt sich wieder und von Mord und Todtschlag ist nie die Rede. Freilich fehlt ihnen die gewöhnliche Veranlassung zu Hader und Zwist, Weiber und Mädchen, deren Begleitung der Edelmann nicht zugiebt.
Zuweilen kommt, in einer durch den Branntweinsgeist etwas exaltirten Stimmung, ein Paar von ihnen auf den Einfall, sich außerordentlich gelant und höflich zu bekomplimentiren; im Bestreben, einander das Knie zu umfassen, berühren sie mit der Stirn fast den Boden, küssen einander die Hände, umarmen sich nach der allgemeinen polnischen Sitte, die selbst unter Damen damals noch gebräuchlich war, indem jeder von ihnen den Kopf so weit als möglich über die Schulter seines Freundes hinüberbeugt, um seinem Nacken einen Kuß aufzudrücken. Ernsthaft dem zuzusehen, ist eben so unmöglich, als nicht dabei an ein Paar Urangutangs zu denken.
In der durchsichtigen Dämmerung einer schönen nordischen Sommernacht gewähren, aus der Ferne gesehen, die vielen kleinen Feuer einen wirklich romantischen Anblick, um welche am Ufer der Weichsel gelagert die Schimkys ihre Nächte zubringen. Einzelne wunderlich schnarrende und klimpernde Töne schallen von dort herüber, von denen es schwer zu entscheiden ist, welche Art von Instrument sie hervorbringt. Die Schimkys sind von Hause aus geborne Paganini's, sobald man allein die Schwierigkeit in Anschlag bringen will, welche der große Mann zu überwinden hatte, um auf seiner einzigen Violinsaite solchen Zauber zu üben.
Paganini's Instrument ist indessen doch eine Violine wie sie sein soll, und die Saite derselben ist ebenfalls eine wirklich brauchbare Saite; aber etwas auch nur einer Melodie Aehnliches auf einer jener kleinen gelb mit rothen Blumen bemalten Nürnberger Spielzeug-Violinen hervorzubringen, wie sie auf der langen Brücke um wenige Groschen verkauft werden, das müßte selbst dem großen Meister schwer fallen, und er greift gewiß lieber nach seiner einzigen Saite.
Solch ein Sarmatischer Orpheus läßt aber durch die Mangelhaftigkeit seines Instruments sich nicht im mindesten irren; er fiddelt herzhaft darauf los, früher gehörte oder selbst erfundene Melodien, im echten Polonaisen-Takt, denn daß bei ihm von Notenlesen nicht die Rede sein kann, versteht sich von selbst.
Auch gelingt es ihm gewöhnlich, seine den wilden Thieren nicht ganz unähnlichen Zuhörer in begeisterte Bewegung zu setzen; sie fassen jauchzend einander bei den Händen und führen, paarweise gereiht, die eleganten Schwenkungen ihres Nationaltanzes, der Polonaise, durch, oder ergötzen sich an den wilden lustigen Sprüngen der nicht minder nationeilen Mazurka.
Wenn die Sonne recht hell scheint, besonders wenn man, wie jetzt beinah alle Leute, etwas kurzsichtig ist, glaubt man zuweilen eine seltsame breite, ungemein prachtvolle Gestalt auf sich zukommen zu sehen; etwa einen chinesischen Mandarin, in einem ihn über und über bedeckenden Mantel vom reichsten Goldbrokat; in der Nähe verwandelt sich der Mandarin in einen hinten und vorn, vom Kopf bis zu den Füßen mit breitgeflochtenen Rispen der größten, schönsten, goldig sdiimmernden Zwiebeln dicht behangenen Sdiimky, die er zum Verkaufe ausbietet.
Neben diesen Zwiebel-Mandarinen begegnet man auch wandelnden Bergen von Töpferwaaren, und nur das von denselben ausgehende jodelartige Geschrei: Koop-Toopky, Top, Top, koop! verräth den in dieser zerbrechlichen Umgebung hausenden Schimky, dessen über seinem ambulirenden Waarenlager nur eben herausragender Kopf gar leicht für einen Theil desselben gehalten werden kann.
In Polen wird jährlich eine Unzahl Kochtöpfe, Pfannen, Kasserollen, aus einem, jenem Lande eigenthümlichen Thon fabrizirt, ohne welche eine Danziger Köchin gar nicht bestehen zu können glauben würde. Große Quantitäten dieser Waare werden von den Schimky's zum Verkaufe gebracht, die Speculation rentirt sich gut, die Masse der im Laufe des Jahres zerschlagenen Töpfe hält der der neu eingeführten so ziemlich das Gleichgewicht; das Originellste dabei bleibt immer die Art, wie sie auf der Straße feil geboten werden.
An einem mehrere Ellen langen starken Stricke werden so viele Töpfe und Pfannen von allen Dimensionen, als derselbe nur immer fassen kann, gleich Perlen angereiht; mit diesem Strick umwickelt sich der Schimky von oben bis unten so künstlich, daß die Töpfe, ohne zu zerbrechen, traubenartig über einander liegen. Die größten, die sich nicht wohl anders anbringen lassen, trägt er in der Hand. Daß die Beine nicht so gefesselt werden, daß er nicht bequem ausschreiten könnte, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.
Außer mit diesen Töpferwaaren wird auch noch ein Nebenhandel mit feiner vortrefflicher Krakauer Grütze von den Schimkys betrieben, ebenso mit jenen schon erwähnten, hölzernen Löffeln, welche sie in langen Winterabenden schnitzen, und die in unsern Küchen ebenfalls für unentbehrlich gelten.
Ueberselig, jauchzend vor Freude, tritt solch ein armer Tropf den langen beschwerlichen Rückweg zu Fuße an, wenn er im Laufe vieler Monate, im Kampfe mit unsäglicher Mühe und Noth, so viel erübrigen konnte, daß es ihm möglich wurde, sich mit einigen Ellen des gröbsten blauen Tuches zu beladen; kann er vollends ein Paar mit Eisen beschlagener Stiefel hinzufügen, so kennt sein Glück keine Grenzen.
Die eben so malerische als prächtige Nationaltracht der reichen Polen wird jetzt selten, oder vielleicht gar nicht mehr gesehen; in der Zeit, von welcher ich spreche, begegnete man ihr in allen Straßen. Den kahl geschorenen Kopf ausgenommen, den aber schon in den achtziger Jahren nur alte Herren noch so trugen, giebt es wohl keine, die eine schöne Gestalt vortheilhafter und zugleich anständiger bezeichnete. Solch ein Starost! die hohe viereckige Mütze von Sammt oder Seide, ein wenig seitwärts gerückt, eine Hand am reichen Gefäß des klirrenden Säbels, mit der andern den zierlichen Schnurrbart streichelnd, den reichen seidnen Leibrock mit einer golddurchwirkten breiten Schärpe vielfach umwunden, und darüber das den Wuchs vorteilhaft bezeichnende Oberkleid mit den über dem Rücken tief herabhängenden Aermeln! trat ein solcher so stolz einher, als ob Gottes Erdboden zu geringe wäre, um seine Stiefeln von gelben Saffian zu küssen!
Und nun als Gegenstück der nur über stumpfsinnige Thierheit eben erhobene halbnackte Wilde, der dem nämlichen Lande entsprossene Leibeigene jenes Sohns des Glücks! Der Kontrast wäre herzzerschneidend, wenn die Armen ihr Elend empfänden; doch dafür bewahrt sie für jetzt noch jede Entbehrung, jedes Unglück mildernde Gewöhnung.

  • Durch ihre Selbstbekenntnisse wollte die Schopenhauer »jenen oberflächlichen Biographien entgehen, die, bei seinem Erlöschen, jedem einigermaßen bekannten Schriftstellerleben drohen . . . .« Nach ihrem Tode veröffentlichte ihre Tochter Adele die unvollendet gebliebene Autobiographie und ergänzte sie durch Briefe und nachgelassene kleine Aufsätze. — Sarmatischer Orpheus: Als Sarmaten wird ein Nomadenvolk der südrussischen Steppe und der Schwarzmeer-Küste bezeichnet.

Johanna Schopenhauer an Susanne Jacobine Labes

Weimar, d. 26. October 1806
Ihr gütiges liebes Schreiben, meine theure Cousine vom 16. September erheiterte die ersten Tage meines Hierseyns, ich erhielt es gleich nach meiner Ankunft und die Gewißheit, daß Ihre Freundschaft und Ihr Andenken mir auch nach meinem neuen Wohn-Orte folgen, gab mir Muth und Freudigkeit; die Liebe meiner älteren Freunde ist meinem Herzen sehr nothwendig, wo nähme ich sonst Kraft her für alle die Stürme des Schicksals, die mich vor so vielen andern zu ihrem Ziele ausersehn zu haben scheinen? Festes Vertrauen auf die Hand, die mich durch Gefahren aller Art wunderbar führte, ein reines Selbstbewußtsein, eine feste Gesundheit und der glückliche Umstand, daß mein Blut leichter als bei vielen andern durch die Adern rollt, und ich also noch immer einen leichten Schimmer des Lichts dort sehe, wo andere nur die tiefste Nacht erblicken, dieses hält mich freilich, aber das Bewußtseyn von guten, edlen Menschen, die Ihnen und Ihrem Gemahl gleichen, geliebt zu seyn, das hebt mich und spornt mich, immer besser zu werden und dieses Glückes mich würdig zu machen. Sie werden ohne Zweifel begierig seyn, von mir und meinem Schicksal etwas genaueres zu erfahren, liebe Cousine, es war schrecklich und schön zugleich, schrecklich durch die Gefahren, welchen ich ausgesetzt war, durch den Anblick unaussprechlichen Elends, über welches mein Herz gebrochen wäre, wenn ich ihn ruhig hätte ansehen müssen, aber so benahm mir die Sorge für mich und die Meinen den Sinn dafür, schön war mein Schicksal, weil ich fester als je überzeugt bin, daß ein gütiges Wesen über mir waltet und seine Engel schickte mich zu schützen.
Ich könnte ein Buch schreiben, wenn ich Ihnen alles erzählen wollte, was ich seit einem Monat erlebte, ich will aber suchen, mich kurz zu fassen, ich hoffe, wir sehen uns einst wieder, dann sollen diese Geschichten Stoff zur Unterhaltung für manche vertraute Stunde geben. Ich verließ Hamburg d. 21. September, freilich sprach man vom Kriege, aber niemand ahndete dessen Gewißheit, noch weniger dessen Nähe, am allerwenigsten, daß das schöne blühende Thüringen der Schauplatz dieser Gräuel werden sollte, ich hatte meine Möbels usw. schon im August abgeschickt, mein Haus war auf Martini vermiethet, alle Anstalten getroffen, jenes Gerede war nicht hinlänglich mich von meinem einmal gefaßten Entschluß, zu dessen Vollbringung alle Vorkehrungen getroffen waren, abzubringen. Die letzten Tage in Hamburg verstrichen mir sehr trübe, nicht allein die Trennung von meinem Sohne, den ich gut versorgt hatte, von manchem Freunde, von so vielem, was mir den Ort, in dem ich 13 Jahre zu Hause war, wehrt machte, engte mir das Herz ein ... .
Meine Reise hierher war angenehm, das Wetter himmlisch schön, meine angebohrne Heiterkeit kehrte wieder, und so traf ich begleitet von Adelen, Sophien und ihrem Mann, meinem Bedienten, glücklich hier an. Ich trat erst im Gasthofe ab, meine Wohnung war noch nicht in Ordnung. Einige Tage nach mir traf der König, die Königin, der Herzog von Braunschweig, alle die Männer, zu denen Deutschland mit staunender Erwartung emporblickte, hier ein, eine große Armee versammelte sich in und um unsere kleine Stadt, alle Herzen hofften; wer konnte fürchten, wenn man einen Blick auf dieses glänzende Heer that, das von Muth beseelt schien. Denen Häuserbesitzenden ward die Einquartierung lästig, mich ergötzte der militairische Gang, ich freute mich so viele merkwürdige Menschen auf diesem kleinen Fleck, der der merkwürdigen Männer anderer Art schon so viele umschließt, versammelt zu sehen, ich freute mich des lebendigen Treibens rings umher, ach! ich war, wie ein Kind, das mit der Flamme spielt, die es verzehren wird.
Daß die Preußische Armee hier durch nach Erfurt zog, daß sie wenige Tage darauf wieder zurück kam weil der Feind von der Seite hineingedrungen war, wissen Sie aus den Zeitungen, auch die unglückliche Affaire bei Saalfeld und Rudolstädt, wo der schöne tapfere Prinz Louis ein Opfer seines zu großen Muthes ward, dieß Unglück machte große Sensation, der Feind war uns sehr nahe, täglich hörte man in der Nähe kanonieren; der Anblick der Geflohenen und Verwundeten bei Saalfeld preßte mir Thränen aus, es war nur ein Vorspiel von dem, was kommen sollte. Ich erfuhr d. 12ten, daß mein alter Freund von Danzig her, hier wäre; (:Sie wissen, wen ich meine, ich mag jetzt, da den Posten noch nicht recht zu trauen ist, nicht seinen Namen schreiben;:) er kam den Abend zu mir, schien sehr unzufrieden mit dem Gange der Dinge und dem unbegreiflichen Zögern, denn alles blieb ruhig hier, es war ein Lager von Erfurt bis jenseits Weimar eine Meile weit aufgeschlagen es erstreckte sich bis in den Park; in der Stadt war der König, die Königin und das Hauptquartier; er sagte mir, daß Naumburg genommen, das dortige Magazin aufgebrannt wäre und man blieb ruhig hier, während der Feind unaufgehalten fortschritt, ich fragte ihn, ob ich fliehen sollte, er rieth mir zu bleiben, auch riethen mir alle, die in der kurzen Zeit meine Freunde geworden waren, meistens Männer von Erfahrung, Herr v. Goethe, Bertuch und viele andere das nämliche, in der That war es ein großes Wagstück, in dieser unruhigen Zeit zwischen großen Armeen zu reisen, es war fast unmöglich, Pferde zu bekommen, die Straßen waren nicht sicher, der einzige offene Weg war über Erfurt, Langensalza nach Magdeburg und wer konnte mir sagen, ob ich dort sicherer wäre. Niemand gieng fort von hier, außer die Großfürstin, ihr Rang und ihre leider sehr schwache Gesundheit machten diese Vorsicht nothwendig; ein Adjutant holte den General von mir, nachdem er kaum eine halbe Stunde dagewesen war; man hörte wieder eine entfernte Kanonade, er mußte fort. Ich ließ den Abend noch meinen Paß beim Herzog von Braunschweig unterzeichnen, um auf jeden Fall fertig zu seyn und bat einige Freunde, nach Pferden auf den Nothfall für mich zu suchen.
Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich seit 3 Tagen den Gasthof verlaßen und mein Logis bezogen hatte, weil es mir dort zu unruhig ward, indem das Haus gepfropft voll Officiere war; ich wohnte bei der Hofräthin Ludekus; einer der würdigsten, muthigsten Frauen, die mich jetzt wie ihre Tochter liebt ....
Nie werde ich den 14ten October vergessen. Die Herzogin Mutter ließ mir sagen, sie reise in einer Stunde nach Erfurt, wenn ich Pferde hätte, mögte ich ihr folgen, ich hatte keine und das war mein Glück, alle, die an diesem Tage flohen, haben mehr als wir Todesangst und Gefahren gelitten, die Herzogin ist mit 6 Pferden wohl durchgekommen, aber ihr Gefolge ist dem Feinde in die Hände gerathen und geplündert, das wäre mein Sdiicksd auch gewesen. Meine Hauswirthin, die Hofräthin Ludekus kam zu mir, wir gaben einander die Hand darauf, alles vereint zu tragen, im schlimmsten Fall Muth zu behalten und einander durch fruchtlose Klagen nicht zu entnerven, wir haben Wort gehalten, sogar meine arme kleine Adele hat keinen Laut des Schreckens hören laßen. Conta und sein jüngerer Bruder halfen meinen Leuten, unsere besten Sachen, Silberzeug, Wäsche, Spitzen, Uhren etc. an sichern Orten zu verstekken, zum Theil zu vergraben, mein Schmuck und was ich an Geld vorräthig hatte, wurde in meine und Sophiens Kleider genäht, wir ließen an hundert Bouteillen Wein aus dem Keller heraufholen, weil wir wußten, daß die französischen Soldaten zuerst danach fragen und es mißlich ist, ihnen den Weg zum Keller zu zeigen. Wir ließen Fleisch und Brodt kaufen, soviel wir bekommen konnten und kochen und braten, soviel wir konnten, sey's nun für Freunde oder Feinde.
In zwei Stunden waren wir mit der Sicherung unserer beßten Sachen in Ordnung; wir setzten uns in einen Kreis und machten Scharpie. Welche Stunden! Wie lang waren sie! immer donnerten die Kanonen, ich sah im Geiste, wie Hunderte jede Minute ihr Leben unter Qualen endeten, oder zu noch größeren Qualen auf dem Schlachtfelde lebend zerstümmelt liegen blieben. Es sind heute schon 14 Tage, und mein Herz zittert noch immer wenn ich mich in jene Zeit zurückversetze. Jetzt .jagte eine gute Nachricht die andere, die Preußen hieß es siegten, um ein Uhr verkündete man uns vollkommenen Sieg, eine Stunde später wußten wir, daß alles verloren war. Wir sahen die Bagage, Sachsen, Preußen, zu Fuß, zu Pferde, verwundet, mit Blut bedeckt, in wilder Unordnung durch die Stadt fliehen. Die Kanonen donnerten umher, zuletzt flogen Kugeln und Haubitzen über unser Haus; das Puffen der Kugeln, das Knattern, das Beben des Fußbodens, Fenster und Thüren klirrten, Sie können es sich nicht denken, meine liebe Cousine, aber ich weiß Ihr Herz leidet für Ihre arme Freundin. Gott gab mir in dem Augenblick unbegreifliche Ruhe, ich sah die Todesgefahr, aber sie schreckte mich nicht, ich nahm meine Adele in den Arm und hoffte Gott würde uns beide zugleich abrufen. Das arme kleine Mädchen zitterte, ihre Zähne hörte ich aneinander schlagen, wie im Fieberfrost; ich bat sie, ruhig zu seyn; sie sah, daß ich es war und wurde es auch; die Kugeln und Haubitzen flogen wenige Schritte von uns in die Erde und thaten keinen Schaden. Auch dies ging vorüber und hörten wir ein fürchterliches Feuer aus dem kleinen Gewehr in den Straßen, Gottlob nicht in der unsern, sondern näher am Markte, viele wurden noch in der Stadt getödtet und verwundet.
Endlich war der Kampf aus; wir bekamen gegen 6 Uhr 5 Husaren in's Quartier, sie waren etwas ungestüm, aber Sophie und Conta, die es übernommen hatten, für uns zu handeln und uns nur baten, oben ruhig zu bleiben, beschwichtigten sie. Wir hofften, uns jetzt nach allem dem Schrecken erholen zu können, da stieg eine gewaltige Flamme auf, man rief, das Schloß sey in Brand gesteckt, dieß war der schrecklichste Moment. Gottlob es war nicht so, aber in einer Straße dem Schloß gegenüber war Feuer angelegt, nur ein Windstoß und das Schloß und die Stadt waren verloren, aber Gott ließ das nicht zu, kein Lüftchen regte sich, das Feuer brannte zwei Nächte und anderthalb Tage, in der ersten Hälfte der Zeit löschte niemand, theils wagten sich die unglücklichen Weimaraner nicht aus ihren Häusern, theils wurden auch die, so den Muth dazu hatten, von den Franzosen mit Gewalt zurückgehalten, das Feuer brannte ungestört, und doch giengen nur fünf Häuser zu Grunde; Unser Haus lag fern von der Brandstätte; wir faßten wieder Muth; da erfuhren wir von Unglücklichen, die zu uns flüchteten, daß die Stadt zur Plünderung preis gegeben sey; 50 000 wilden aufgebrachten Menschen war die arme Stadt ausgeliefert, sie schlugen die Thüren ein; drangen in die Häuser unter dem Vorwande, Brodt und Wein zu fordern, mißhandelten die Bewohner, schreckten sie mit blutigen Säbeln und Bajonetten, nahmen Geld, Silber und was sich fortbringen ließ, zertrümmerten die Möbel und übten unzählige Gräuelthaten aus. Unser Haus liegt in der Esplanade, nahe am Mittelpunkt der Stadt, aber doch etwas seitwärts, diesem Umstände verdanken wir es, daß nicht zu große Truppen auf uns losdrangen, mitten in der Stadt sind 50 mit einem Male in die Häuser gedrungen, zu uns kamen 10 bis 12 mit einem Male, von unsern Husaren war einer Sophiens Lands-Mann, dieser versprach, sich unserer anzunehmen, und bat uns, kein Licht sehen zu lassen. Sophie und Conta giengen herunter, so wie man anklopfte, machten sie die Fenster auf, ihre Fertigkeit in der französischen Sprache, ihre Kenntnisse der Nation, und ihre ruhige Fassung machte die Wilden zahm, sie ließen sich Brodt und Wein zum Fenster heraus reichen, tranken Sophiens und Contas Gesundheit, die sie für Mann und Frau hielten und die ihnen Bescheid thun mußten, und so zogen sie friedlich wieder ab, diese Scenen kehrten aber oft wieder und wie uns dabei zu Muthe war, können sie sich denken. Ein großer Trupp drang doch in's Haus, aber auch diese wußten unsre beiden Beschützer zu bereden, daß sie sich friedlich auf den Vorplatz lagerten und mit Essen und Trinken vorlieb nahmen, und friedlich giengen, ohne in die untern Zimmer zu dringen, die die Meinigen sind und die ich eben recht hübsch dekoriert hatte.
So verging uns die Nacht leidlich, in der Stadt herrschte viel Jammer, viele Einwohner waren aus ihren Häusern geflüchtet, diesen ist alles genommen, nur die, welche Officiere von Rang im Hause hatten und die wenigen, die wie Conta und Sophie Kenntniß der Sprache und Nation mit Muth vereinigten, kamen leidlich durch, wenige sind aber so schonend behandelt, als wir. Den Morgen sollte die Infanterie abmarschieren, die Gräuel fingen von Neuem an,
ich sah das Thorweg an unserm Hofe erbrechen, ich sah die Soldaten mit gefälltem Bajonett hereinstürzen, ich hörte eine zweite Thür, die einen Gang nach meinen Zimmern verschließt, einschlagen; Conta stand davor, die Bajonette auf seiner Brust; er sagte ihnen, ohne sich zu regen, das wäre doch keine Manier, in ein ordentliches Haus zu kommen, sie hätten ja nur klopfen dürfen,  er wüßte, sie wollten Essen und Trinken, das wäre ganz billig, sie solhen's auch haben, aber solchen Lärm brauchten sie darum nicht zu machen. Sophie war mit dem Frühstück gleich zur Hand, und so gieng auch dies vorüber. Nun hörte ich von unserm guten Husaren, daß wir eine Sauvegarde haben könnten, wenn einer von uns mit dem Prinzen Murat spräche, das konnte nun niemand als ich, denn Conta war zum Schutze des Hauses nöthig, er und meine Sophie hatten diese Zeit wirklich  Wunder   gethan,  beide   eiferten   miteinander   in Muth  und  Geistesgegenwart,  ich  nahm  den Husaren  am Arm, Adelen an der Hand und so zog ich in's Schloß, zwischen Menschen, deren bloßer Anblick mir Schrecken machte, zwischen  Todten   und   Verwundeten,   die  noch   auf  dem Markt lagen, zwischen den Spuren der schrecklichsten Verwüstung, im Angesicht der noch immer wüthenden Feuersbrunst, am Arm eines Menschen, dem ich mich bloß auf sein ehrliches Gesicht anvertraute, welch ein Gang!
Der Prinz ließ mich und niemand nicht vor, er war im Kabinet beschäftigt, ich eilte zu Hause, schrieb ihm wer ich wäre, und warum ich ihn bitte, dabei schickte ich ihm meinen vom französischen Minister Bourienne in Hamburg unterzeichneten Paß; mein Husar brachte den Brief hin. Der Prinz sprach ihn selbst, ließ mir sagen, ich sollte ruhig seyn, die Unordnungen würden aufhören, als Fremde brauchte ich keine Sauvegarde, unterschrieb meinen Paß und einen Befehl an alle Civil- und Militairbehörde mich zu schützen, in der Zeit kam ein Dragoner Officier in unser Haus, der uns noch verschiedene Anfälle mit bloßem Säbel abwehrte, dieser brave Mann mußte um Mittag wieder fort, verschaffte uns aber einen Commissaire de guerre vom General Berthier, der zwei Tage und Nächte bei uns blieb, und uns bei seiner Abreise wieder zwei Officiere brachte, die solange blieben, bis die Armee vorbei defiliert war, und die Ordnung zurückkehrte. In der Stadt währte indessen das Unwesen bis zum zweiten Tage nach der Schlacht, obgleich im geringeren Grade.

»Sie hat zwei große Dinge, große Augen wie ich noch keine sah, und eine große Seele.«
Jean Paul Richter an Christian Otto, 12. Juni 1796

Die Ordnung war schwer wiederherzustellen; die Officiere und die Cavallerie (nur die Infanterie plünderte) thaten, was sie konnten, sie hieben wacker ein, einer der Räuber wurde auf der Straße von einem Offkier niedergehauen, zwei wurden im Lager füse-liert. Aber die Armee reist ohne alles Gepäck, wüthend nach der Schlacht, hungrig und durstig stürzen sie auf uns, wie ergrimmte Tieger; nur die Gegenwart der großherzigen regierenden Herzogin hat uns von noch größerem Elend errettet, wäre auch sie, wie der Rest ihrer Familie entflohen, Stadt und Schloß wären an 4 Ecken angezündet; die Anstalten dazu waren schon getroffen. Des Kaisers erste Frage bei seiner Ankunft den Morgen nach jener Schreckensnacht war nach ihr; er hat sich länger mit ihr als je mit einer Fürstin unterhalten; Stadt und Land, selbst die Feinde sprechen mit Bewunderung von ihr und ihrem Muth.
Weimar ist wunderbar erhalten, überall war Feuer von den Räubern angelegt, überall lag zerstreutes Pulver, überall standen zum Theil zerbrochene Pulverwagen, die die fliehenden Preußen zurückließen.

»Es erschien eine leichte, graziöse Gestalt, klein aber kräftig von Wuchs, von zarten und vollen Gliedern, Fuß und Hand auffallend klein; das Antlitz, von reichem, schwarzen Haar umflossen, verkündigte geistiges Übergewicht, die schnellen und doch festen dunkeln Blicke ließen zweifeln, ob sie mehr gäben oder aufnähmen, ein leidender Ausdruck lieh den klaren Gesichtszügen eine sanfte Anmuth.«
Karl August Varnhagen, 1808

Nach jenem Schrecken kamen sehr traurige Tage, alle unsre Bekannten versammelten sich nach und nach um uns, fast jeder war unglücklich, dumpfer Schrecken herrschte überall, der Jammer der Bewohner des flachen Landes ist unbeschreiblich, der schöne Park ist sehr verwüstet, die prächtigsten Bäume gefällt, Jena, Halle, Naumburg, Saalfeld, alle Städte und Dörfer, durch welche die Eroberer zogen, haben gelitten, wie wir; nur Rudolstadt ist durch die Gegenwart seines Fürsten gerettet. Welch ein Krieg! meine theure Cousine und welche Art ihn zu führen, aber das ist der Weg des Siegers über rauchende Brandstätten, begleitet von Mord und Raub. Behüte Gott nur mein schönes friedliches Danzig.
Die siegende Armee zog weiter, wir behielten einen Kommandanten und eine kleine Garnison zu unserm Schutze, auch unsere Bürger patrouilliren die Nächte durch; Ruhe und Ordnung kehrten wieder, der erste Schrecken ist vorüber, die Spuren der Verwüstung verschwinden allgemach, und wir fangen an, bessere Zeiten zu hoffen. Das Land umher leidet noch immer, französische und preußische Marodeurs haben sich brüderlich vereint und richten in den Dörfern und auf den Landstraßen viel Unheil an, aber General Clarke, der Comandant von Erfurt, hat Chasseurs ausgeschickt, die uns bald von diesen Unholden befreien werden. Die ersten 8—10 Tage gieng niemand ruhig ausgekleidet zu Bette, das geringste Geräusch bei Nacht und bei Tage setzte uns in Schrecken. Gottlob! auch dies ist vorüber; wir fangen an, an unsere Sicherheit zu glauben. An dem unglücklichen 14ten wurden 2 wüthende Schlachten gefochten, eine 3 Meilen von hier bei Auerstädt, wo der König war, die andere bei Jena, zuletzt dicht vor und in Weimar, wobei Napoleon war; beide Armeen waren von den Franzosen abgeschnitten, die Preußen fochten nach der Aussage der Feinde, wie Löwen, aber ihre Niederlage war allgemein, ihre Flucht zuletzt entsetzlich, täglich kommen hier eroberte Kanonen, Pontons und Gefangene durch. Die Wege sind noch mit weggeworfenen Gewehren, Tornistern etc. besät.
Vor wenigen Tagen waren sie es noch mit Todten, bis in unsere Stadt, wir fürchteten böse Krankheiten, besonders da alle Verwundeten beinahe hieher geschleppt wurden; ihre Anzahl war ungeheuer, ich will Ihr Herz nicht mit der Beschreibung des Jammers, den ich sah, quälen, aber keine Phantasie kann hier die Wahrheit erreichen.
O liebe Cousine, in welcher Welt leben wir! Die Luft, die wir athmen, besteht aus Seufzern. Ich that was ich konnte, mir selbst Erleichterung zu verschaffen, ich schickte Thee, Wein, Suppe, altes Leinen, was ich konnte, in's Lazareth, ich konnte nur wenige von der ungeheuren Zahl erquicken, meine Sophie that mehr, als ich. Sie hatte den Muth, selbst hinzugehen, denn wir wußten, der unmenschliche Inspecktor ließ die Armen absichtlich darben. Ich kollektirte bei meinen Freunden, dies gab mir Kraft. Hätte ich mich nicht so in Thätigkeit gesetzt, ich wäre über dem Elende zu Grunde gegangen. Jetzt sind die Verwundeten fast alle fortgeschafft, denken Sie sich, was ich empfand, wenn ich die Wagen des Nachts unser Haus vorbeirasseln hörte und das Jammern der Leidenden. Doch dies hat uns vielleicht vor der schrecklichsten aller Plagen, der Pest bewahrt, die Todten sind größten Theils in mit Kalk ausgefüllten Gruben beerdigt und werden es noch. Auch von dieser Seite sind wir jetzt ruhig. Ich hoffe, meine Lage wird in Zukunft angenehm werden, man hat mich in wenigen Tagen besser kennen gelernt und lieber gewonnen, als sonst in Jahren geschehen wäre; an Vergnügen ist noch nicht zu denken, aber alle Abende versammeln sich meine Bekannte um meinen Thee-tisch, die besten Köpfe aus Weimar verschönen bisweilen diesen kleinen Zirkel; der Abend vergeht, wir klagen und trösten einander wechselweise, und hoffen auf bessere Zeiten. Ich bitte nicht um Verzeihung wegen diesen ungeheuer langen Brief; ich hoffe, er wird Interesse genug für Sie haben, um Sie für die Mühe des Lesens zu entschädigen; theilen Sie ihn meinen Freunden mit, die nach meinem Schicksal fragen, denn ich kann diese lange Geschichte nicht oft erzählen ....
Gott behüte Sie vor meinen Erfahrungen, müßen Sie sie aber je machen, so führe er Sie so glücklich hindurch als Ihre Ihnen ganz ergebene Cousine
Johanna Schopenhauer.

  • Einen ähnlichen, nur weit ausführlicheren Brief über die Weimarer Schreckenstage hatte Johanna Schopenhauer eine Woche zuvor an ihren Sohn nach Hamburg gerichtet. Kein Haus in Weimar, auch dasjenige Goethes nicht, war vor Aufregungen und Plünderung verschont geblieben. — Prinz Louis: Louis Ferdinand von Preußen, Neffe Friedrichs des Großen. — mein alter Freund von Danzig her: der General der Kavallerie Graf von Kaikreuth, ehemals Gouverneur der Stadt und Festung Danzig. — Bertuch: Friedrich Justin Bertuch, Schrifisteller und gewandter Geschäftsmann, der eine Reihe industrieller Unternehmungen gründete und sich um das wirtschaftliche Leben Weimars verdient machte. — Conta: Rat Friedrich Karl von Conta, der mit der Schopenhauer in einem Hause wohnte. — Prinz Murat: der spätere König von Neapel, Schwager Napoleons.