Die Kurländerin

Elisa von der Recke, geb. Gräfin von Medem (1754-1833)

»Wie meinem Körper Schlaf und Nahrung
nötig ist, so ist es meiner Seele Bedürfnis zu
lieben und geliebt zu werden.«
Elisa von der Recke. Tagebucheintragung,
4. Februar 1794

1787 erschien bei Friedrich Nicolai in Berlin eine Schrift, welche die Entlarvung des abenteuernden Alchimisten und Geisterbeschwörers Cagliostro zum Thema hatte. Sie erregte Aufsehen in ganz Europa, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und fand fast überall uneingeschränkten Beifall. Der umständliche Titel lautete: Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen magischen Operationen.

Frauen der Goethezeit

Verfasserin war die kurländische Edelfrau Elisa von der Recke, die dadurch mit einem Schlage zu den literarischen Berühmtheiten Deutschlands zählte. Dabei war die junge Frau, die alsbald in eine Polemik über Spiritismus und Okkultismus hineingezogen wurde und daraus siegreich hervorging, weder durch Herkunft noch Erziehung zur Schriftstellerin berufen, und ihre Vorbildung überschritt zunächst nicht das Maß des damals im kurischen Adel Üblichen.
Als ältestes Kind des Kammerherrn Johann Friedrich von Medem wurde sie zu Schöneberg in Kurland geboren und verbrachte nach dem frühen Tode der Mutter ihre Kindheit im Hause der Großmutter, der reidien Starostin von Korff. Diese, in ihrer Originalität eine wahre Prachtgestalt, ungebildet, aber mit Witz und schlagfertigem Urteil, dazu mit einer Fülle von Liebe und Haß begabt, überwachte die Erziehung der Enkelin mit eiserner Strenge. Daß dabei auf die geistige Ausbildung der geringste Wert gelegt wurde und Elisa noch mit zwölf Jahren nicht sicher lesen und schreiben konnte, rechtfertigte die alte Dame mit den Worten; »Weiber werden durch Lesen zu Narren, die Bücher sind nur für Männer gemacht.«
Auf Zuraten der Stiefmutter heiratete die kaum Siebzehnjährige den sehr begüterten Sächsischen Kammerherrn Georg von der Recke auf Neuenburg, der sich als Offizier im Siebenjährigen Krieg wacker geschlagen hatte, für die empfindsamen Neigungen seiner nach Seelenfreundschaften strebenden Frau jedoch nicht das mindeste Verständnis bewies. Der Trennung der Gatten folgte 1781, bald nach dem Tode des einzigen Kindes, die formelle Scheidung.
In diese Zeit der Vereinsamung fiel Elisas Begegnung mit Cagliostro, der sich auf dem Wege zur Zarin Katharina einige Monate in Mitau aufhielt und bald einen großen Teil des kurländischen Adels zu seinen blinden Bewunderern zählen konnte. Er nannte sich einen Vertreter der weißen Magie, der imstande sei, die Zukunft zu enträtseln, verborgene Schätze zu heben und im Verkehr mit höheren Geistern zu stehen. Bei seinen Unternehmungen, zumal in bedenklichen Lagen, berief er sich geschickt auf die Vorschriften geheimnisvoller Oberer, mit denen er in wunderbaren Beziehungen zu stehen vorgab. In kurzem wußte er Frau von der Recke, deren Lieblingslektüre sich aus den Schriften Swedenborgs, Lavaters und Youngs zusammensetzte, so für sich einzunehmen, daß sie sogar mit dem Gedanken spielte, ihm als seine Jüngerin an den Petersburger Hof zu folgen. Allmählich auftauchende Zweifel an der Ehrlichkeit seines Charakters und der Aufrichtigkeit seiner Beteuerungen vereitelten jedoch diesen Plan und bewirkten schließlich bei Elisa einen radikalen Gesinnungswandel. Aus der Mystikerin, die beharrlich die Möglichkeit eines magischen Verkehrs mit der Geisterwelt verteidigt hatte, wurde — nidit zuletzt unter dem Einfluß wohlmeinender Freunde und der Bekanntschaft mit Lessings soeben erschienenem Nathan der Weise — eine glühende Verfechterin der Aufklärung, die allem, was nur entfernt mit Wundergläubigkeit und religiöser Schwärmerei zu tun hatte, entgegentrat und »Gott, Tugend und Unsterblichkeit« zu ihrem Glaubensbekenntnis erhob.
Mit dem Jahre 1784, als sie nach langer Krankheit Erholung in Karlsbad suchte, begann die zweite Epoche in Elisas Dasein, die Zeit eines fast dreißig Jahre lang währenden ruhelosen Wanderlebens. Es vermittelte ihr die Bekanntschaft mit nahezu allen Berühmtheiten ihrer Zeit, auf die Jagd zu madien sich für sie zu einer Art Sport auswuchs und den Grafen Friedrich Stolberg zu der seufzenden Bemerkung veranlaßte: »Ich bin ihr sehr gut, wünsche aber, sie nicht mehr in Berlin anzutreffen. Der Strudel ihrer Existenz, oder vielmehr die vielen Wirbel ihrer Existenzen ermatten mich zu sehr.« In Weimar und Dresden, in Frankfurt und Karlsbad, bei Klopstock in Hamburg und Kant in Königsberg war sie ebenso anzutreffen wie in Begleitung ihrer schönen Stiefschwester, der Herzogin Dorothea von Kurland, am preußischen Königshof zu Berlin, in Warschau als Gast des polnischen Königs Stanislaus August oder auf Einladung Katharinas II. in Petersburg. Mit Tiedge, der sich durch sein Lehrgedicht Urania. Über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit eines gewissen Ruhmes erfreute, durchreiste die Unermüdliche zwei Jahre lang Italien, bevor sie sich — bereits Mitte der Sechzig — gemeinsam mit dem Seelenfreund zu dauerndem Bleiben in Dresden entschloß.
Elisa von der Recke ist zeit ihres Lebens die Aufklärerin geblieben, als die man sie zu Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn feierte. Weder zu Schiller noch zu Goethe, dem sie häufig begegnete, fand sie ein inneres Verhältnis. Allem Romantischen gegenüber hegte sie tiefes Mißtrauen; die selbstherrliche Vernunft des Individuums blieb für sie das Maß aller Dinge. Daher ihre ungetrübte Freundschaft zu Nicolai, dem Verkünder einer flachen Popularphilosophic, ihre Vorliebe für die didaktische, sentimental-elegische Poesie Tiedges, dessen Urania ihr bis zum Tode das »Buch der Bücher« blieb, und schließlich ihre übertriebene Wertschätzung Gleims. Alles, was sie in ihren Schriften und Tagebüchern über Gott und Unsterblichkeit, Dogmatik und Aberglauben, Priesterbetrug und Jesuitengefahr schrieb, war allgemeines Gedankengut der Berliner Aufklärer. Originalität bekundete sich dagegen in ihrem lebhaften Interesse für alle Bestrebungen der sozialen Fürsorge und die verschiedenen Formen weiblicher Ausbildung, zu deren Studium sie mehrere Monate im Hause der Hamburger Erzieherin Caroline Rudolphi zubrachte. Durchaus eigenwillig war sie auch in ihrem unbedingten Streben nach Tugend, das sich in einer fast übertrieben anmutenden Nächstenliebe, in dem Wunsche, »das Gute bloß um des Guten willen zu tun«, äußerte. Für ihre Hilfsbereitschaft und Vorurteilslosigkeit — »ich kenne keinen Adel als den des Geistes und Herzens« — gibt es eine Reihe von Zeugnissen, desgleichen für ihr unersättliches Bedürfnis, Freundschaften zu schließen, das komischer Züge nicht entbehrt. Ihre enthusiastische Ausdrucksweise, die mit Anreden wie »teurer Engel«, »holdes Weib«, »Liebling meines Herzens«, »göttlicher Mann« nicht sparsam umging, rief gelegentlich selbst den Spott wohlwollender Freunde hervor. Dazu kam, daß sie sich im Alter mit einer Aura pathetischer Würde zu umkleiden liebte, die oftmals peinlich wirkte. Daß sie trotzdem nicht der Lächerlichkeit anheimfiel und man ihr, wenn nicht mit Verehrung, so doch mit Achtung nahte, erklärt ein Ausspruch des Erbprinzen von Augustenburg, der einem Freunde schrieb: »Madame de Reck .... gehört zu den vornehmsten Charakteren, die ich jemals kennengelernt habe. Es ist nicht so sehr die lebhafte Schärfe ihres Verstandes noch der Umfang ihrer Kenntnisse, sondern die Güte ihres Herzens, welche sie so unendlich achtungswert erscheinen läßt.«

Elisa von der Recke
Aus ihrer Selbstbiographie

Etwas von meinen Großeltern und meinem Urgroßvater,
als Skizze alter kurländischer Sitten, die noch aus dem
siebenzehnten Jahrhundert in das achtzehnte hinüberkamen.

Meine Großmutter mütterlicher Seite hat auf mein ganzes Schicksal zu großen Einfluß gehabt, als daß ich nicht bis zur Geschichte ihrer Heirath zurückgehen sollte. Diese wird es erklären, wie natürlich es war, daß die Frau von Kindern und Enkeln unbedingten Gehorsam forderte, da sie ihrem Vater den allerstrengsten geleistet hatte.
Mein Großvater, der reiche Starost Korff, faßte erst in seinem vierundvierzigsten Jahre den Entschluß zu heirathen. Schön und sanft sollte die künftige Gefährtin seines Lebens sein. Er hatte gehöret, daß einer seiner guten Bekannten, der Herr von Ganskau und Graventhal, schöne Töchter haben solle, und so kündigte er diesem, da sie zum Johannis-Termin in Mitau beisammen waren, seinen Besuch nach geendigten Geschäften in Graventhal mit dem Ausdrucke an, daß er, falls ihm eine seiner Töchter gefiele, diese heirathen wolle, ohne einen Heller Mitgift zu nehmen.
Herr von Ganskau ritt hocherfreut mit dieser glücklichen Aussicht heim, theilte sie seiner Frau und seinen Töchtern mit und lud zu dem bevorstehenden Besuche auch noch ein paar alte Tanten ein. Alles war in Graventhal voll Erwartung und der schönen Aussicht voll, mit dem reichen Starosten Korff in nahe Verbindung zu kommen. Am buntesten ging es in den Köpfen und Herzen der schönen Fräuleins her. Jede von diesen nährte Wünsche und Hoffnungen, machte schöne Pläne, wie sie als reiche Starostin Korff leben, sich ihres Glückes freuen wolle. Der Tag erscheint, wo der gewünschte Gast eintreffen soll; die schönen Fräuleins schmük-ken sich aufs beste! alles im Hause wird zierlich angeordnet, Eltern, alte Tanten und sogar das ganze Hausgesinde setzen sich in Feierkleider. — Mein Großvater, von dessen originellem Charakter ich viele interessante Züge gehört habe, hat für seine Person sehr einfach gelebt. Bis zum Schlüsse seiner Tage soll er, so prachtvoll es auch in seinem Hause zugegangen ist, für sich immer nur einen einzigen, sehr einfachen Rock, einen Diener, einen Kutscher und nur zwei Pferde gehabt haben! so ist er auch bis in sein hohes Alter nie anders, als in einer zweispännigen, mit Matten behangnen Kübitte gefahren. In solchem prunklosen Aufzuge wollte er sich auch seine Frau holen. An einem heißen Julitage unternahm er die Reise von Mitau nach Graventhal. In der Zeit wurde in Kurland, sowohl in der Stadt, als auf dem Lande, nach der Mittagsmahlzeit zwischen der dritten und vierten Mittagsstunde im häuslichen Familienkreise Kaffee getrunken, und dann hatte jedes Familienglied das Recht mitzusprechen. Gerade zu solch einer festlichen Stunde wollte mein Großvater in Graventhal eintreffen, um alle die Schönen besser in Augenschein nehmen zu können.
Da Graventhal acht oder neun Meilen von Mitau entfernt ist und mein Großvater solche Reisen gerne in einem Tage machte, so mußte er nicht nur sehr früh ausfahren, sondern sogar, was ihm viel beschwerlicher war, in der brennenden Sonnenhitze die Reise fortsetzen, um seine Absicht ZU erreichen. Ein Grundsatz dieses Sonderlings soll gewesen sein, sich nie Zwang anzuthun, sobald kein andrer darunter litte, wenn er sich gütlich thäte. Da ihn also die brennende Hitze in seiner Kübitte zu sehr plagte, entschloß er sich, in dieser dergestalt zu liegen, wie Vater Adam vor dem Sündenfalle, der Sage nach, im Paradiese umhergewandelt ist. Seinem Diener gab er den Befehl, daß er ihn kurz vor Graventhal wecken möge, denn er wolle sich im Kruge wieder ankleiden. Nach dieser Abrede ließ der Diener den Vorhang der Kübitte nieder, nahm seinen Platz neben dem Kutscher ein, vergaß aber, diesem den Befehl des Herrn zu sagen, und wurde von der drückend schwülen Tageshitze so übermannt, daß er sanft einschlief. — In Graventhal war man mit der Zubereitung des Kaffees beschäftiget. Alles, bis auf die Pfeife und den schmackhaften Knaster, war da mit größter Sorgfalt in Ordnung gebracht, als die Nachricht erscholl, man könne schon die Kübitte des Starosten in der Ferne sehen. Da begab sich voll Ungeduld die ganze Gesellschaft vor die Hausthüre und harrete dort des erwünschten Gastes. Alle Schönen, unter welchen mein Großvater sich sein Liebchen wählen sollte, standen in zierlichstem Putze da. Eltern und Tanten erwarteten mit ihnen voll Ungeduld den Augenblick, wo sie meinen Großvater sehn und seinen Blicken abmerken würden, welche der Schönen ihm die schönste sei. Endlich fährt der Kutscher vor, die Kübitte hält in diesem prunkvollen Kreise still, der schlafende Diener erwacht, reißt noch halb schlafend den Vorhang der Kübitte weg, mein Großvater erwacht auch, und da er im Kruge zu sein glaubt, so springt er wie im Stande der Unschuld hinaus und greift nach seinem Mantel, den er umwerfen will; indem er aber die Augen aufschlägt, sieht er die ganze Prunkversammlung erstaunt vor sich, erschrickt und ruft voll Un-muth aus: »Nein! nun hole ich mir hier keine Frau!« — so wirft er sich schnell, ohne ein Wort zu sagen, wieder in seine Kübitte hinein und sagt dem Kutscher: er möge nur nach Brücken zu seinem alten Freunde Wahlen fahren. Die ganze Gesellschaft bleibt erstaunt und missvergnügt stehn, die schönen Fräuleins, die sich geputzt und auf einen reichen und angesehenen Mann gefreut hatten, bekamen nun bloß einen eben nicht schönen Mann einige Augenblicke nackt zu sehen. Dieser fuhr indessen voll Unmuth zu seinem alten Freunde, den er seit einigen Jahren nicht gesehen hatte und der ein Nachbar von Graventhal war. Jetzt aber kleidete mein Großvater sich zuerst im nächsten Kruge an und traf ganz unerwartet bei dem alten Freiherrn von der Wahlen ein, der seinen lieben Korff recht herzlich bewillkommnete und von ihm viel über dessen Fehde mit einem reichen polnischen, sehr angesehnen Magnaten hören wollte; aber mein Großvater war von seiner neuesten Begebenheit zu voll, und so erzählte er seinem Freunde sein böses Fatum, das ihm nun die Heirathslust vertrieben habe. Indessen trat ein schönes, wohlgewachsenes Frauenzimmer mit majestätischem Ansehn zum alten Wahlen, sagte diesem mit ehrfurchtsvoller Freundlichkeit etwas ins Ohr. Mein Großvater fragte seinen Freund, was dies für ein schönes, junges Frauenzimmer sei. »Es ist meine einzige Tochter, welcher ich tanzen, rechnen und etwas lesen und schreiben gelehrt habe«, erwiderte der alte Wahlen. Mein Großvater sah die junge Schöne mit Wohlgefallen an und fragte nach den Taufnamen dieses langen, schlanken Mädchens. — »Sie heißt Constanzia und ist die Freude meines Alters,« antwortete sein Freund. — »Bruder Wahlen, willst du mir deine Constanzia zur Frau geben?« — »Von Herzen gerne«, sagte mein Aeltervater erfreut.
Meine Großmutter zitterte bei dieser Aeußerung, denn sie liebte einen jungen, schönen Mann — der aber dem alten Wahlen zum Schwiegersohn viel zu neumodisch und nicht reich genug war. Als sie ihre Augen gegen ihren Vater bittend aufhub, fand sie den zornig drohenden Blick, der Gehorsam ohne Wiederrede von ihr zu erzwingen wußte. Aengstlich schlug sie ihre Augen nieder und gefiel meinem Großvater um so besser. Dieser erhob seine Stimme mit der Betheuerung, daß das schöne Constanzchen ihm sehr wohlgefalle, aber er müsse doch noch sehn, ob sie folgsam und geduldig sei, denn er wolle eine fromme Frau haben. Mit diesen Worten holte er aus seinem Stiefel ein Pfeifenrohr, aus der Tasche einen Pfeifenkopf und einen schmutzigen Tabaksbeutel und sagte: »Da, Constanze, stopfe mir diese Pfeife, denn wenn du meine Frau wirst, so mußt du dies immer thun.« Constanzdien stopfte mit inniger Betrübniß die Pfeife, wünschte, diesem barschen Herrn zu mißfallen, durfte aber aus Furcht vor ihrem Vater nichts versehn; und sie gefiel durch ihre Verlegenheit dem reichen Starosten um so mehr. Die schöne Constanze überreichte die gestopfte Pfeife und das Licht. Mein Großvater zündete seine Pfeife an, sprach dabei mit meinem Aeltervater über die närrische Geschichte in Graventhal, die ihn nun aber, seit er das schöne Constanzchen gesehn habe, minder ärgere. Er rief sie zu sich, nahm ihre Hand und sagte zu ihr, seine künftige Frau müsse auch mit fröhlichem Sinne Schmerzen aushalten können; und so stopfte er seine brennende Pfeife ganz kaltblütig mit ihrem Finger zurechte. Meine Großmutter zuckte aus Furcht vor ihrem Vater kaum mit der Hand, verzog keine Miene; nun sagte mein Großvater: »Wahlen, deine Constanze ist ein braves Mädchen, sie soll meine Frau werden; ich will sie recht glücklich machen.« Das schöne Fräulein Constanze von der Wahlen wurde des reichen Starosten von Korff Frau, und der biedere Mann hielt redlich sein ihr gegebenes Wort.
Mein Großvater starb vor meiner Geburt; er hatte den Ruf eines sehr redlichen, wohlthätigen und originellen Mannes; er blieb immer bei seinem einfachen Auf- und Anzüge, in welchem er sich seine Frau geholt hatte. Da meine Großmutter aber Pracht liebte, so hielt er für diese nicht nur zwölf Livreebedienten, vier Gespann schöner Pferde, ein Chor von zwölf Musikanten, Haushofmeister, Sänger und Laufer und was nur zur größten Eleganz damaliger Zeit gehörte: er ging noch weiter, mit Freuden gestattete er es, daß sein Haus, sei es in der Stadt oder auf dem Lande, der Sammelplatz der elegantesten Gesellschaft wurde ....
Meine Großmutter war eine Frau von ausgezeichnetem Charakter: sie besaß edle, große Eigenschaften, aber auch eben so viele Schwächen; ihr Verstand war durchdringend, doch ungebildet und daher so manchen Vorurtheilen unterworfen: ihre Leidenschaften blieben bis ins hohe Alter heftig, denn sie hatte in so günstigen Verhältnissen gelebt, daß sie ihren Willen einmal zur That machen konnte. Ihr Reichthum gab ihr Ansehn, weil sie ihn zu genießen wußte: sie war mit Ueberlegung wohlthätig, und ihr Haus war der Sammelplatz der besten Gesellschaft. Jeder, dem sie Zutritt verstattete, fand Mittags und Abends eine angesehene, seinem Geschmacke angemessene Unterhaltung und Platz an ihrer wohlbereiteten Tafel ....
Wem sie das Recht entzog, ihr Haus zu besuchen, war wie mit einem Banne belegt. Selbst der Fürst des Landes bemühte sich, ihr Wohlwollen zu erlangen, da sie bei Landesverhandlungen den größten Einfluß hatte, denn durch ihre vielen Güter galt ihre Stimme bei Landtagen in mehreren Kirchspielen. Ihre Art zu loben gab ihr Gewalt über Handlungen und Gemüther ihrer Landsleute; und so kann man sagen, daß sie, weil sie ihre glückliche Lage zu benutzen wußte, von ihrem 20. bis zu ihrem 96. Jahre ununterbrochen befohlen und den Kreis, in welchem sie lebte, beherrscht nat . . . .
Aber ihr Charakter erhielt auch eben dadurch eine grenzenlose Herrschsucht. Sie war milde und gütig, wenn man nach ihrem Willen lebte oder ihre Schwächen zu benutzen wußte: doch wurde sie hartherziger, als der starrsinnigste Mann, wenn ihr jemand zu widerstreben wagte. Nie sah ich mehr Ordnungsgeist, als bei dieser Frau, die kaum lesen und schreiben konnte, nie mehr Sorgfalt bei Hausgenossen und Unterthanen, als bei ihr! So war sie auch eine wahre Mutter aller Armen und Bedrückten. In Kurland hat noch niemand gelebt, der in allen Ständen solches Ansehen besessen hätte, als sie. Ihr Blick, ihr ganzes Wesen gebot Furdit und Hochachtung. Von ihrem 20. Jahre bis zum letzten Tage ihres Lebens hielt sie offenes Haus und lebte auf einem glänzenderen Fuße, als der Herzog. Sie starb mit aller Lebhaftigkeit des Geistes und ungeschwächtem Gebrauche ihrer Sinne: ob zwar sie 16 Kinder geboren hatte, so genoß sie doch bis an ihr Ende einer vollen Gesundheit und war blühend schön. Auch trug sie ihre hohe Gestalt immer fort mit majestätischer Anmuth. Ihr Tod wurde als ein Verlust für das Publikum angesehen, und bis zum Schlüsse ihres Lebens hat sie beinahe jeden zu beherrschen gewußt, der sich ihrer Atmosphäre nahete ....

  • Frau von der Recke hat ihre Selbstbiographie, die bis zur Verlobung der Siebzehnjährigen mit dem Neuenburger Gutsbesitzer Georg von der Recke reicht und ein anschauliches Bild von dem patriarchalisch-breiten Leben des baltischen Adels vermittelt, etwa um 1795 niedergeschrieben. Sie ist nur in der Abschrift ihres Kammerdieners erhalten geblieben. — Starost: so hießen in Polen — und Kurland war bis zur dritten Teilung Polens 1795 polnisches Lehnsherzogtum — die Edelleute, die zu den Landeswürdenträgern gehörten. — Kübitte: Planwagen.

Elisa von der Recke an Caroline Stoltz

Neuenburg d. 18. Juni 1771
Dieser Brief, liebes Stolzchen, trifft Sie schon in Mitau; den , 23. treffen wir daselbst auch ein. Vormals freute ich mich, wenn wir nach Mitau fuhren; jetzt, mein Stolzchen, jetzt ist es für mich nicht wie sonst! Ich bliebe lieber zu Hause! — In Mitau werde ich mich lustig stellen müssen, hier bin ich allein, hier brauche ich mich nicht zu verstellen, nur die wenigen Stunden, da Recke an der Tafel sitzt, wenn ich da nur ein heitres Gesicht mache, nachher kann ich mich meinen Thränen in der Stille überlassen. Ach! Stolzchen, Recke hat eine so eigne Art, wenn er mich spricht, immer weiß er, was zu sagen, was mir das Herz zerschneidet. Auch über meine Lisette macht er sich lustig; heute sagte er wieder, es taugte nichts, wenn verheirathete Weiber Freundinnen hätten; diese müßten nur ihren Mann und das Hauswesen lieben, und Gott sagte selbst in der Schrift: Du sollst Vater und Mutter verlassen und an deinem Manne hangen, und dein Mann soll dein Herr sein. Ich küßte seine Hand und sagte, daß ich ja auch um seinetwillen Vater und Mutter verlassen hätte, und daß es mir Freude sein würde, jedem seiner Wünsche zuvorzukommen. Auch wollte ich mein Herz davor bewahren, mir eine neue Freundin zu wählen, aber meine Eltern, meine Geschwister und die Freundinnen, die ich schon liebte, die würde ich bis in den Tod lieben, und ich glaube, er könnte zufrieden sein, daß ich in der Freundschaft nicht leichtsinnig wäre. Der gegen Freunde Pflichten erfüllt, würde sie auch gegen den Gefährten des Lebens erfüllen. Doctor Wichmann rief in einem drolligen Tone aus: »Der Deiphenkerchen noch eins, unsere schöne gnädige Frau hat schönen Verstand! Der Deiphenkerchen noch eins, unser allergnädigster Herr hat da einen schönen Fang gemacht! Vielen, vielen jungen Herren mag wohl nach diesem schönen, klugen Engel das Maul wässern!« Er zog den Mund wunderlich  zusammen  und  rieb  sich  diesen  an  seinem Aermel; dies schien mir so komisch, daß mich dadurch Reckes Antwort minder schmerzte. Recke sagte in einem sehr ernsthaften Tone: »Bei einer Frau taugt Folgsamkeit mehr als Verstand.« Wichmann nahm wieder das Wort — und sein langes, hagres Gesicht verlängerte sich noch mehr. »Aber der Deiphenkerchen noch eins, dazu hat ja eine Frau Verstand, um dem Mann folgsam zu sein! Ja, meiner Six, mein Druscheichen muß mir auch parieren!«
Wir standen von der Tafel auf, und Recke fragte mich, ob ich nicht mit ihm zum Viehstall gehen und das Vieh dort überzählen wolle, dies wäre besser, als mich unter einen schattigen Baum zu setzen und da Wielands Sympathien zu lesen. Ich sagte ganz freundlich, daß ich sogleich folgen würde, nur wollte ich Hut und Flor aufsetzen, um mich gegen die Sonne zu schützen. Er sagte sehr ernsthaft, daß er solche Affektation nicht mag, ich sagte ganz freundlich zu ihm: »Wenn Sie ein braunes, von der Sonne verbranntes Gesicht mehr, als eine zarte Farbe lieben, so will ich Hut und Flor nicht mehr tragen.« Und so ging ich mit ihm zum Viehstall, die Sonne brannte heiß, aber ich folgte. Doch bald wurde Recke mißvergnügt. Sie wissen, liebes Stolzchen, ich bin nicht zur Wirthschaft angehalten, ich that einige Querfragen, und da ging es wieder über Mama her; ich mußte hören, daß er nichts als eine Mode- und Tanzpuppe an den Hals bekommen hätte, die vielleicht noch obendrein solch eine gelehrte Närrin, als die Stiefmama werden würde. Ich konnte mich kaum der Thränen enthalten und sagte nur: »Sie wußten es ja, daß ich nichts von der Wirthschaft verstehe; ich kann Ihnen, liebster Recke, jetzt bloß meinen guten Willen zeigen, Sie müssen Geduld haben, bis ich mehr Erfahrungen einsammle. Ach! warum warteten Sie nicht noch fünf Jahre mit der Hochzeit?« Er sah mich wieder mit seinen großen Augen so an, daß mir angst und bange wurde, und sagte: »Wo haben Sie all die Thränen her, die Sie in Neuenburg schon geweint haben?« Ich sagte zitternd: »Aus meinem Herzen, welches jedesmal ängstlich zusammengepreßt wird, wenn es Sie mit mir unzufrieden sieht.« — »Sie haben die Romanensprache recht gut studiert, und ich Buschklepper muß Ihrem fein gebildeten Herzen wohl sehr plump vorkommen.« Ach, Stolzchen, ich wußte nicht, wo ich mich lassen sollte; in der Angst schlang ich meine Arme fest um ihn, drückte mein Gesicht an sein Herz und weinte; er hob mein Gesichte mit seiner Hand auf; sah mich scharf an, ich hatte seinen Blick nicht zu scheuen, ich sah ihn auch an, er küßte mich; ich küsse ihn nicht gern, aber weil Mama sagt, daß Männer es gerne haben, daß man sie küssen soll, so küßte ich ihn auch; da drückte er mich an sein Herz und küßte mich länger. Ach! mir wurde so bange, aber ich ließ es ihn nicht merken und that recht freundlich gegen ihn.
Dann führte er mich auf die Wirthschaftszimmer, wo Leinwand, Flachs, Strümpfe und allerlei Sachen stehn. Das übergab er mir alles, ich bat ihn, mit mir Geduld zu haben, bis ich mehr von der Wirthschaft verstünde, und so ritt er doch nach diesem mir sauren Tage gegen 5 Uhr abends recht freundlich spazieren.
Jetzt, meine Freundin, ist mein Herz leichter, da ich es Ihnen aufgeschlossen habe; vielleicht wird noch alles gut gehn! Wenn ich nur nicht so allein wäre! Meine Reichartin sitzt den ganzen Tag hinter ihrem Schirm und weint; ich kann auch mit keinem Menschen ein Wort reden! Ach! wie war es in Altautz so ganz anders. Hier gehe ich bisweilen im großen Saal und spreche laut zu mir selbst, da schallt es, und da freue ich mich, daß ich doch noch einen andern Ton, als den meinigen, höre, aber dann — dann fühle ich wieder, wie allein ich bin, und dann weine ich wieder, und da freue ich mich dann, daß keiner, als Gott, meine Thränen sieht — und dann ärgere ich mich wieder, daß ich solch ein Kind bin, das selbst nicht weiß, was es will. — Ach, ich weiß wohl, was ich möchte — ich wünschte, daß Recke anders wäre, als er ist. Aber er ist nun einmal so! Lieber Gott, gieb mir Verstand! — Ach, da kömmt Recke über die Brücke geritten, geschwinde will ich dies Papier in die Tasche stecken und ihm mit einem recht freundlichen Gesichte entgegeneilen. Meinen Augen ist es garnicht anzusehen, daß ich geweint habe.

  • Zur Zeit ihrer unglücklichen Ehe, die 1776 zur Trennung und fünf Jahre später zur Scheidung führte, war Caroline Stoltz, die Erzieherin der jüngeren Medemtochter Dorothea, Elisas Vertraute. — Altautz: das Gut von Elisas Eltern.

Elisa von der Recke an Caroline Stoltz

Neuenburg, den 22. Mai 1775.
Ihre Wünsche zu meinem Geburtstage, Liebe, Theure! die haben mich innigst gerührt! — Stolzchen! unsre Wünsche geben uns nicht immer unsern Wunsch! — Gott allein weiß, was uns nützlich ist! Und wenn er nach Maßgabe dessen, daß unsre Leiden zunehmen, unsern Muth, sie zu ertragen, stärkt, dann hören sie in gewissem Verstände auf, Leiden zu sein, denn die Selbstzufriedenheit und die innere Ruhe, die man fühlt, wenn man in festem Vertrauen auf die Vorsehung ruhig dem Gesetze der Nothwendigkeit folgt, die ist allen rauschenden Freuden unendlich vorzuziehn. Auch bin ich dessen fest überzeugt, daß der unschuldig Leidende einen weit seligem Zustand genießt, als der Lasterhafte, der jeden seiner Wünsche befriedigen kann und der mehrentheils durch jeden befriedigten Wunsch nur um desto unglücklicher wird.
Freundin meines Herzens, warum bedauern Sie es, daß mein Geburtstag vor vier Jahren zu gleicher Zeit mein Hochzeitstag war? Für mich ist das Andenken dieses Tages und meiner vier durchlebten Jahre eine Quelle reichhaltiger Freuden. Diese Tage waren mir Lehrer, die mich zum Glück erzogen! sie nur gaben meiner Seele die Richtung, mein wahres Glück nur in nichts außer mir zu suchen. Glauben Sie mir, Liebe, Gott wird mir hier noch Freuden geben, falls sie mir gut sind und die Ordnung des Ganzen sie zuläßt. Vielleicht sind meine trüben Stunden zur Bildung und zum Nutzen andrer da; auf diesen Fall sollen sie mir doppelt geheiligt sein, und ich werde sie als Wohlthat meines Schöpfers dankbar ehren. Und dann, mein Stolzchen, bedenken Sie doch auch, wie glücklich Gott mich auf einer andern Seite durch die edlen Freunde, deren Freundschaft einen Himmel um mich her verbreitet! — Warum soll denn das Schicksal mich auf allen Seiten glücklich machen? — Warum soll gerade ich vom Loose der Menschheit ganz verschont bleiben? — Der Tod und Widerwärtigkeiten des Lebens sind das gewisse Loos jedes Gebornen! und derjenige, der, wenn er von Menschen gekränkt wird, sein Schicksal ohne Murren erträgt, der kann dem Tode und dem Leben gleich fröhlich entgegenlächeln ....
Diesmal feierten wir am 20. Mai das Gedächtnißmahl des Stifters unsrer Religion. Meine Lievensfamilie und viele von den hiesigen teutschen Leuten feierten dies Mahl der Liebe mit uns. Nie habe ich bei dieser heiligen Handlung mehr, als diesmal, gefühlt! Nie war meine Seele mehr mit Wünschen für das Seelenheil andrer als diesmal beschäftiget! — Hätten Recke — hätten Mama doch da in meinem Herzen lesen können! Sie wissen es, daß man mich in Altautz darüber tadelte, daß ich nach meiner jetzigen Stimmung gegen Recke mit ihm zum Abendmahle gehen wolle. Was doch sehr verständige Menschen für eine wunderliche Idee von dieser Handlung haben, die uns meiner Ueberzeugung einzig nur dazu verpflichtet, dem Beispiele unsres Vorgängers nach-zuwandeln. Aber leider glaubt der große Haufe, durch diese Ceremonie Vergebung der Sünden zu erhalten. Dies wäre doch wahrhaftig eine sehr bequeme Art, selig zu werden! —
Ich wundre mich, daß die Menschen bei so verkehrten Begriffen nicht noch weit schlimmer sind. Der Tag vor und der Tag nach der Ceremonie unterscheiden sich wie Tag und Nacht bei diesen Irrenden! Recht, als wenn ihre durch Vergebung der Sünden erleichterten Herzen nun neuen Muth erlangt hätten, auf der alten Sündenbahn getrost fortzu-wallen! — Pastor Witt, bei dem wir diesmal unsre Andacht hielten, der suchte d^n Gedanken recht auseinanderzusetzen, daß Jesu[s] bei der Stiftung seines Gedächtnißmahles nur die Absicht gehabt habe, seine Nachfolger dazu zu ermuntern, daß sie seinen Lehren und seinem Beispiele folgen mögen,  und  der  eigentliche  Gedanke  unsres  erhabenen Tugendlehrers sei der gewesen, daß bei dem jedesmaligen Genüsse des Brotes und Weins sein Bild uns vorschweben und uns zur Tugend und zum Vertrauen auf Gott ermuntern möge, auf daß wir frohe und trübe Tage mit gleichem Danke aus der Hand des Allweisen annehmen mögen. — Zu diesem Gleichmuthe und zu diesem christlichen Vertraun auf Gott zu gelangen, darnach, meine Freundin, wollen wir aus allen Kräften streben.
Lotte.

  • Lievensfamilie: Neuenburger Gutsnachbarn. — Lotte: Charlotte ist Elisas Taufname, Elisa ihr Schrifistellername, der später — selbst bei Freunden — den eigentlichen Rufnamen verdrängte.

Katharina II. Kaiserin von Rußland an Elisa von der Recke

Frau von der Recke; die zweyte von Ihnen erhaltene Schrift hat Mir eben so viel Vergnügen wie die erste gemacht. Beyde tragen das Gepräge eines vor die Wahrheit tief fühlenden Herzens und zugleich eines aufgeklärten und viel umfassenden Geistes an sich. Es ist freylich tief zu beklagen, daß am Ende des achtzehenden Jahrhunderts sich neuerdings Meynungen ausbreiten, die schon seit Jahrtausenden als falsch und vernunftwiedrig anerkannt und als solche von allen anständigen Leuten, auch in den Zeiten, die noch von so manchem den menschlichen Verstand entehrenden Aberglauben angefochten gewesen, verachtet und verworfen worden sind.
Allein wenn auch schon die Schaar der Betrüger wieder überhand genommen und die Anzahl der Betrogenen gleichmäßig zugenommen hat, so ist dennoch zu hoffen, daß allen diesen Anhängern der Isis-Tempeley, ihrem Aberglauben und allen damit verbundenen Träumen eben der Verfall bevorstehe, dem sie vorzeiten unterworfen gewesen; absonderlich wenn so gute Federn wie die Ihrige den Schleyer des Unsinns, worein sich diese geheime Gaukeleyen einhüllen, von denenselben abzunehmen und den Welt Bürgern so kräftige Gegengründe dawieder darzureichen fortfahren werden. Hiermit empfehle ich Sie, Frau von der Recke, der göttlichen Obhut und verbleibe
Ihre wohlaffectionnirte Catharina
Czarskoje-Selo den... Juny 1788.

  • Cagliostro hatte sich nach seinen großen Erfolgen in Kurland siegessicher an den Hof Katharinas II. begeben, hier jedoch eine derbe Abfuhr erhalten. Als Elisas Cagliostro-Schrift erschien, wurde sie auf Gebeiß der Kaiserin sogleich ins Russische übersetzt. Die Autorin erhielt eine huldvolle Einladung nach Petersburg, wo sie 179} von der Zarin mit dem kurlandischen Gut Pfalzgrafen beschenkt wurde, dessen Einkünfte Elisa in der Folge ein finanziell unabhängiges Dasein ermöglichten. — die zweyte von Ihnen erhaltene Schrift: gegen den Darmstädter Oberhofprediger Stark, der wegen seiner ursprünglich zweideutigen Haltung Magie und Mystik gegenüber von den Berliner Aufklärern, an ihrer Spitze Elisa, als Katholik, ja verkappter Jesuit gebrandmarkt wurde.

Elisa von der Recke an Johann Caspar Lavater
[Ende 1788]

Ihren letzten Brief unbeantwortet zu lassen, war mein Vorsatz. Aber je mehr ich über Ihr Betragen und den Einfluß, den dies gehabt hat, nachdenke, desto mehr macht mein Herz es mir zur Pflicht, mit aller Offenherzigkeit meine Gedanken über Sie zu sagen.
Sie lassen mir Gerechtigkeit widerfahren, wann Sie von mir glauben, daß ich die Wahrheit liebe; denn diese ist mir wirklich heilig, und die öffentlichen Schritte, die ich im literarischen Fach tat, tat ich der Wahrheit wegen, die auf Menschenwohl so großen Einfluß hat, nicht aber um eiteln Ruhmes oder einer andern Absicht willen.
Wann ich von Ihnen Beweise sehe, daß auch Sie die Wahrheit mit redlicher Seele lieben, dann wird meine ehemalige Hochachtung gegen Sie wieder anfangen, die sich bei mir immer mehr verminderte, seitdem ich deutlich sah, daß Sie bei so vielen unüberlegten und schiefen Schritten nie aufrichtig und geradezu gestehen wollen, daß Sie geirrt hatten, sondern sich immer mit Behelfen herauszuziehen suchen und sich hinter unbestimmte Worte verstecken, anstatt offenherzig und mit Reue zu gestehen, daß Sie unrecht handelten. Ich bin anderer Gesinnung; wann ich fehle, dann bereue ich aufrichtig meinen Irrtum und sogar vor den Augen der Welt, sobald ich glaube, die Bekenntnisse meiner Irrwege könnten der Welt nützlich sein und andre gute Seelen warnen. Darum bekannte ich öffentlich, wie sehr ich und andre würdige Menschen von Cagliostro irregeführt wurden, von ihm, dessen letztere Betrügereien in Biel Sie und Ihr Anhang, wie man mir an verschiedenen Orten versichert hat, zu vertuschen gesucht haben. Wann ein Betrüger unsere Imagination irregeführt hat, so ist es keine Schande zu gestehen, daß man betrogen worden sei und sich so mit dem Bewußtsein eines guten Gewissens der Welt zu zeigen, wie man ist. Sie scheinen hierin anderer Gesinnung zu sein .... Den Magnetismus nehmen Sie in Schutz und schreien diejenigen als schändliche Unchristen aus, welche für diese das Christentum entehrenden und die Sitten und Moralität verderbenden Dinge warnen.
Daß Schwärmerei und irrige Religionsbegriffe eine gute enthusiastische Seele zu solchen Schritten treiben können, das finde ich noch begreiflich; aber unbegreiflich ist es mir, wie selbst ein edler enthusiastischer Schwärmer von gutem Charakter einen ehrlichen Mann, wenn dieser auch ein Gegner seiner Meinung ist, andichten könne, er trage ein naturalistisches Glaubensbekenntnis umher und wolle die christliche Religion über den Haufen stürzen ....
Ich schätze übrigens das Urteil der Leute, die bloß nach dem Scheine urteilen, sehr gering. Auch habe ich auf meiner zurückgelegten Reise gefunden, daß die edelsten Menschen, Gelehrte und Personen aller Stände meine öffentlichen literarischen Schritte, zu welchen ich gewissermaßen durch Cagliostros Frechheit gezwungen wurde, billigen. Dieser Beifall der edelsten und weisesten unserer Nation ist meine Beruhigung, mehr aber noch dies, daß mein Gewissen diese Schritte billiget. Nie habe ich das Vertrauen irgend eines rechtschaffenen Menschen gemißbraucht und v/erde dies auch nie tun; wenn ich aber Betrüger und Heuchler, welche durch ihre Machinationen und Schriftwege das Vertrauen des Publikums oder geheimer Zirkel gutmütiger Leute mißbrauchen, vor dem Publikum in ihrer wahren Gestalt zeigen oder ihnen die Larve abziehen kann, so halte ich mich in meinem Gewissen verpflichtet, dies zu tun ....

  • Ursprünglich war Frau von der Recke eine eifrige Bewundererin Lavaters gewesen und hatte jahrelang in einem schwärmerischen Briefwechsel mit dem Züricher Glaubensapostel gestanden. Durch ihre Freundschaß mit dem Verleger und Buchhändler Nicolai, dem Haupt der Berliner Aufklärung, wurde aus der ehemals wunder gläubigen Anhängerin Cagliostros eine entschiedene Verfechterin der Aufklärung, die aus einem Extrem ins andere, aus der Geisterseherei in die Gespensterseherei und Jesuitenriecherei Nicolais verfiel. Lavater hatte Cagliostros Schwindeleien immer reserviert gegenübergestanden, doch galt er den Berlinern als verdächtiger Schwarmgeist. — Magnetismus: Nach dieser Lehre des Franz Anton Messmer ist das ganze Weltall erfüllt von einem feinen Fluidum, das zwischen den irdischen und den Himmelskörpern vermittelt und besonders auf das Nervensystem einwirkt. Lavater glaubte im Magnetismus die Brücke vom Natürlichen zum Übernatürlichen gefunden zu haben und dadurch die Wunder Christi erklären zu können. Christus galt ihm als der größte Ma-gnetiseur. — einen ehrlichen Mann: Nicolai. — durch Cagliostros
    Frechheit: Cagliostro war 1785 in die berüchtigte Pariser Halsbandaffäre verwickelt worden und hatte sich zu seiner Verteidigung auf Elisa und ihre Schwester, die Herzogin Dorothea von Kurland, sowie auf andere kurische Gönnerinnen als Zeugen für sein untadelhafles Auftreten in Mitau berufen.

Elisa von der Recke an Johanna Schopenhauer

Carlsbad, d: 3 July 1816
Mit schmerzhafter Rührung, liebe Theure, habe ich Ihre Darstellung, der traurigen Verlassenheit, der guten Göthe, in ihrem schreckhaften Todeskampfe, gelesen. Wahrlich! Diese gutmüthige Frau, hätte es wohl verdient daß danckbare Herzen ihren letzten bittern Kampf erleichtert, und die unter furchtbaren Krämpfen, Sterbende nicht verlassen hätten. Im Leben That sie vielen wohl! und aus meiner Erfahrung weiß ich es, daß das Bewusstseyn uns bey heftigen Krämpfen, und Todesähnlichen Erstarrungen bleibt .... Der furchtbare Tod der noch im Grabe verfolgten Göthe hat mich schmerzhaft erschüttert! — Sie haben Recht, theure Frau! Die im Leben auf einer Seite so glückliche — im Sterben aber höchst unglückliche Göthe hatte doch viele gute Seiten! Warum richten die Menschen denn immer ihre Blicke nur auf die Fehler der andern, statt diese nur stille für sich als Warnungen zu betrachten die uns vor Fehler schützen?
Wodurch die Verstorbene sich mir empfohlen hat; ist, daß ich sie nie von andern böses sprechen hörte; auch war ihre Unterhaltung, so weit ich sie kannte, immer so, daß ich mir es wohl erklären konnte, daß ihr anspruchsloser heller ganz nathürlicher Verstand Interesse für unsern Göthe haben konnte, der mir seine Frau mit den Worten vorstellte,
»Ich empfehle Ihnen meine Frau mit dem Zeugnisse, daß, seit sie ihren ersten Schritt in mein Hauss that, ich ihr nur Freuden zu danken habe.« — Die Frau, welche von ihrem Gatten ein solches Zeugniss erhält, über deren Fehler werden alle Diejenigen, welche den Gatten schätzen einen Schleier zu werfen suchen. Wir, liebe Theure! wir wollen immer der guten Seiten der Verstorbenen gedenken, und ihre Schwächen in Vergessenheit zu bringen uns bemühen! — Wann Sie Gelegenheit dazu finden so versichern Sie unseren Göthe auch meiner Theilnahme.

  • Verlassenheit: Goethe, der selbst leidend war, sowie sein Sohn waren in der Todesstunde Christianes am 6. Juni 1816 nicht zugegen.