Die Titanide

Charlotte von Kalb, geb. Marschalk von Ostheim (1761-1843)

»Alle, die mich umgaben, auf Erden, nur ich
außer der Welt. —«
Charlotte von Kalb in Charlotte

Frauen der Goethezeit

Wer sie liebte, griff zu den höchsten Worten: »Nein, es giebt nichts heiligeres und erhabeneres als ihre Liebe«, schrieb Jean Paul über das Urbild der Linda im Titan, seiner »Titanide«, und nannte sie eine »Frau von mehr Geistesfreiheit, Tiefe und Kraft und Toleranz als ich je eine gekannt«. Wer ihr gleichgültig gegenübertrat, sah das Exaltierte und Befremdende: Caroline Schlegel bestätigte ihr zwar, daß sie Geist besitze, aber er sei »doch in eine etwas schiefe verrenkte Form gegoßen«, und Lotte von Schiller, der »kleinen Dezenz«, erschien die ungewöhnliche Frau »wie ein rasender Mensch, bei dem der Paroxysmus vorüber ist, so erschöpft, so zerstört«. Charlotte von Kalb war beides, enthusiastisch und skurril, aber mit einem unfehlbaren Sinn für menschliche Größe und dichterisches Ingenium begabt. In den beiden großen Ereignissen ihres Lebens, der Liebe zu Schiller und der zu Jean Paul, verbanden sich jedesmal die Passion des Kunstfreundes mit der Leidenschaft der Frau, und den Rang Hölderlins, der ein Jahr lang als Hofmeister ihren Sohn Fritz unterrichtete, sah sie so deutlich wie keiner in Weimar.
Schon die Jugend Charlottes trägt das Stigma des Außergewöhnlichen. Schwere Träume suchen das erregbare und nervöse Kind heim, ein geheimnisvoll von der Wand fallendes Bild, das eine Gespielin erschlägt, taucht immer wieder in ihrer Phantasie auf, und die Todesfälle in der Familie ahnt sie voraus. Anlaß und Wirkung stehen in einem maßlos übersteigerten Verhältnis: der Vater, ein begüterter Adeliger, legt dem Kind liebkosend die Hand auf den Scheitel, sie bricht in Tränen aus und stammelt: »C'est une benediction, mon pere!«
Früh starben beide Eltern. Die wohlhabenden Geschwister halten sich, oft voneinander getrennt, bei Verwandten und Freunden im Thüringischen und Fränkischen auf. Charlottes Schwester Eleonore heiratet den pensionierten Kammerpräsidenten von Sachsen-Weimar Johann August von Kalb, einen Diplomaten und Geschäftsmann von zweifelhaftem Ruf, und um Charlotte wirbt dessen Bruder Heinrich, der als Offizier in fremden, meist französischen Diensten steht. Die Eheleute leben gleichgültig und tolerant nebeneinander, »in Einfalt hoffte und fürchtete ich nichts vom nächsten Tag«.
Schiller lernte Charlotte von Kalb, eine »Frau von sehr viel Geist«, wie er Körner mitteilte, in Mannheim 1783 kennen. Er macht die sensible und empfängliche Frau mit der Welt des Theaters und der Kunst vertraut, sie ihrerseits führt ihn, mit allen Umgangsformen der oberen Gesellschaftskreise bekannt, in Weimar ein.  »Charlotte ist eine große sonderbare weibliche Seele«, schreibt Schiller, »ein wirkliches Studium für mich, die einem größeren Geist als der meinige ist, zu schaffen geben kann. Mit jedem Fortschritt unsers Umgangs entdecke ich neue Erscheinungen in ihr, die mich, wie schöne Parthien in einer weiten Landschaft überraschen und entzücken.« Die späteren Jahre dieser Liebe verlaufen jedoch quälend: Mißverständnisse — Schillers Ermutigung zur Scheidung Charlottes von ihrem Mann mißdeutet sie sich als ein Versprechen seinerseits —, Verstimmungen und langes Schweigen.
Ihren Briefwechsel mit Schiller hat Charlotte von Kalb vernichtet. So sind es außer ihren schriftstellerischen autobiographischen Versuchen vor allem die Briefe an Jean Paul, in denen sie unmittelbar zu Wort kommt, Blätter, die in einem höchst eigenwilligen Stil geschrieben sind. Der idealische Gedanken- und Gefühlsgang Charlottes verrät sich in vielen Wortprägungen, die fast immer vom Konkreten und Dinglichen wegführen; »Sein« und »Wesenheit« sind häufige Ausdrücke. In ihrer wunderlichen Gedankenstenographie gelingen ihr oft erstaunliche Bilder — »sonst bin ich einsam, wie ein Aug im Gewölk« — oder Wendungen wie: »Sie sind — schreiben; ich bin — lese! Wir werden sein! —«, in denen Leidenschaft und Intelligenz zu prägnanten Verkürzungen kommen.
Die Begegnung mit Jean Paul Richter verläuft bestürzend ähnlich wie die mit Schiller. Charlotte muß alles noch einmal erleben. Wieder beginnt die Beziehung mit der Begeisterung für einen Autor, der am Anfang einer großen literarischen Laufbahn steht, und mit der stolzen Genugtuung, einem geliebten Menschen die Wege ebnen zu können. Richter bekennt denn auch bereits nach der ersten Woche in Weimar: »Meine Menschenkentnis ist wie ein Pilz Mans-hoch in die Höhe geschossen.« Aber Jean Paul verwob, anders als Schiller, in seiner unendlich nuancenreichen Phantasie Literatur und Leben, er suchte die Empfindung — seine »Gesamt- oder Zugleichliebe« — mehr als ihren Gegenstand. »Tätige Liebe, reelles Für-, Mit-, Ineinanderleben ist etwas anderes als Spiel der Imagination am Pult oder süßer Witz in der Gesellschaft«, urteilte Herder über den »Mann aller Frauen«. Um so gefährlicher war diese Neigung für eine Frau, deren Geist »immer auf der Höhe« schwebt, »wo er in bodenlose Abgründe oder in die lichte Sternenhöhe des neuen Lebens schaut«. Auch diesmal ist sie, die das »Du« und »Dein« der vertraulichen Anrede in ihren Briefen scheu durch einen Gedankenstrich ersetzt, bereit, ihre Ehe aufs Spiel zu setzen; auch diesmal hat sie sich ein vorschnelles Wort falsch ausgelegt.
Die Vermögensverhältnisse der Kalbs hatten sich während der neunziger Jahre rapide verschlechtert, vor allem durch Spekulationen des Schwagers und eine endlose Kette von Prozessen. Charlotte ertrug die wachsende Armut tapfer. In Berlin, wo sie billiger zu leben glaubte, fertigt sie trotz ihres Augenleidens, das zu völliger Blindheit wird, Handarbeiten für die Hofgesellschaft an, will mit Schriftstellerei ihren Unterhalt verdienen (aber niemand kann die Schrift der Halbblinden entziffern), schlägt Jean Paul eine Erziehungsanstalt vor, deren Leiterin sie sein will, und endlich sogar eine Sammelaktion bei den alten Freunden — alles mißlingt. Ihr Mann begeht 1806 Selbstmord, das Gut Kalbsrieth wird versteigert, einer der beiden Söhne er-sdiießt sich in einer Liebesaffäre. Frau von Kalb verbringt ihren Lebensabend in einem Zimmer im Schloß, das ihr die Prinzessin von Hessen-Homburg einräumt.
Charlotte überlebt alle; nur Hölderlin, der ehemalige Hofmeister, seit fast vierzig Jahren in der Obhut eines Tübinger Schreinermeisters, stirbt drei Wochen nach der Zweiundachtzigjährigen. Diese letzten Jahrzehnte verbringt sie eher gefaßt als resigniert, im »Charivari des Erdenlebens« sucht sie »das Still-Leben« — »kein Embarass, nur Gleich-muth«. Gelegentlich gewinnt die Welt, die ihr längst zu Schattenbildern geworden ist, ein wenig Farbe und Leben: Bettina besucht sie, »hat neulich Schoten mit mir ausgepahlt und Weltkunde mitgetheilt«, und Rahel Varnhagen spricht eines der schönsten Worte aus, die je über Charlotte von Kalb gesagt worden sind: »Ihr Geist hat wirklich wie Flügel .. . .« Gegenwart und Erinnerung sind ihr nicht an sich schmerzlich, sondern »nur im Vergleich mit der freien Anschauung, mit dem ungefesselten Sein«. Vor diesem »Himmel in mir« verliert in der Rückschau schließlich auch der »dämonische Muthwille« für Charlotte seinen Stachel, der so oft die »Stunden der Weihe« verletzt hatte: »Es ist, als wenn die Harmonie der Geister zu schön wäre für diese Welt, als wenn solch' Sein nur geahnt werden sollte, solche Vollkommenheit noch nicht auf Erden bestehe.«

Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner

Weimar d 8. August 1787
Aus der Physiognomie meiner Briefe kannst Du beßer als aus meinen umständlichsten Zergliederungen meiner Selbst auf die jetzige Lage meines Geistes und Herzens schließen. Solange Du sie nur historisch und im Geschmack der Me-moires findest, urtheile keck, daß ich mich selbst noch nicht genieße, daß ich hier noch nicht zu Hause bin. Bin ich erst wieder mein eigen, so hast auch Du mich wieder ganz .... Kannst du mir glauben lieber Körner, daß es mir schwer
ja beinahe unmöglich fällt, euch über Charlotten zu schreiben? Und ich kann Dir nicht einmal sagen, warum? Unser Verhältniß ist — wenn Du diesen Ausdruck verstehen kannst
ist wie die geoffenbahrte Religion, auf den Glauben gestützt. Die Resultate langer Prüfungen, langsamer Fortschritte des menschlichen Geistes sind bei dieser auf eine mystische Weise avanciert, weil die Vernunft zu langsam dahin gelangt seyn würde. Derselbe Fall ist mit Charlotten und mir. Wir haben mit der Ahndung des Resultats angefangen und müssen jetzt unsre Religion durch den Verstand untersuchen und bevestigen. Hier wie dort zeigen sich also nothwendig alle Epochen des Fanatismus, des Sceptizismus, des Aberglaubens und Unglaubens und dann wahrscheinlich am Ende ein reiner und billiger Vernunftglaube, der der allein seligmachende ist. Es ist mir wahrscheinlich, daß der Keim einer unerschütterlichen Freundschaft in uns beiden vorhanden ist, aber er wartet noch auf seine Entwicklung. In Charlottens Gemüth ist übrigens mehr Einheit, als in dem meinigen, wenn sie schon wandelbarer in ihren Launen und Stimmungen ist. Lange Einsamkeit und ein eigensinniger Hang ihres Wesens haben mein Bild in ihrer Seele tiefer und fester gegründet, als bei mir der Fall seyn konnte mit dem ihrigen.
Ich habe Dir nicht geschrieben, welche sonderbare Folge meine Erscheinung auf sie gehabt hat. Vieles, was sie vorbereitete kann ich jetzt auch nicht wol schreiben. Sie hat mich mit einer heftigen bangen Ungeduld erwartet. Mein letzter Brief, der ihr meine Ankunft gewiß versicherte, setzte sie in eine Unruhe die auf ihre Gesundheit wirkte. Ihre Seele hieng nur noch an diesem Gedanken — und als sie mich hatte war ihre Empfänglichkeit für Freude dahin. Ein langes Harren hatte sie erschöpft und Freude wirkte bei ihr Lähmung. Sie war fünf sechs Tage nach der ersten Woche meines Hierseyns fast jedem Gefühl abgestorben, nur die Empfindung dieser Ohnmacht blieb ihr und machte sie elend. Ihr Daseyn war nur noch durch convulsivische Spannungen des Augenblicks hingehalten. Du kannst urtheilen, wie mir in dieser Zeit hier zu muthe war. Ihre Krankheit, ihre Stimmung und dann die Spannung die ich hierherbrachte. Die Aufforderung, die ich hier hatte! Jetzt fängt sie an sich zu erhohlen, ihre Gesundheit stellt sich wieder her und ihr Geist wird freier. Jetzt erst können wir einander etwas seyn. Aber noch genießen wir uns nicht in einem zweckmäßigen Lebensplan, wie ich mir versprochen hatte. Alles ist nur Zurüstung für die Zukunft. Jetzt erwarte ich mit Ungeduld eine Antwort von ihrem Mann auf einen wichtigen Brief den ich ihm geschrieben.
Charlotte grüßt euch. Deine Frau und Dorchen sage recht viel schönes von mir. Sie werden mir aufs Wort glauben, dass ich noch nicht habe schreiben können und wenn ich schreibe so muß ich ganz bei ihnen seyn. Adieu meine lieben, adieu Körner.

  • Schiller hielt sich seit vierzehn Tagen in Weimar auf, wo er — eingeführt und beraten von der Freundin aus Mannheimer Jahren, Frau von Kalb — die Bekanntschaft Wielands, Herders, der Herzogin Anna Amalia und der »übrigen Weimarer Götter und Götzendiener« machte; Goethe weilte zu dieser Zeit in Italien. — wichtigen Brief: Schiller entschloß sich auf Kalbs Antwort hin, die Ankunft des Majors in Weimar abzuwarten.

Charlotte von Kalb

Aus: Charlotte
Den vergangenen Winter war Schiller mit mehreren Bekannten und Freunden in Weimar. Da ich nur selten die Wohnung verließ und dann nur zu Herder kam, wo er nicht war, so sah ich ihn nie. Ich erbat mir meine Briefe, um solche einmal wieder zu lesen und sie mit den seinigen zu sammeln und zu heften. Da er von Jena nach Erfurt reiste, übergab er sie mir eigenhändig; ich bewahrte sie in einem Kästchen, das mit schwarzem Maroquin überzogen war; Frau v. Schardt sah dies und sagte: »o thun Sie doch das Kästchen weg, so eben sah das Särglein aus, worin meine Kinder sind begraben« — es waren todtgebor'ne Kinder. — Das Wort hat eine Gewalt. --
Aus der Pfalz war mir eine Person gefolgt, der ich sehr vertraute, und die auch eine zarte Pflegerin meines Sohnes war. Es war kein Einverständniß der Mittheilung unter uns, denn ich verstand dazumal nicht, mich andern Naturellen zu verständigen; das gelingt nur selten, weil es eine lautere Klarheit erfordert. Ich wollte nun das Heften der gemeinsamen Sammlung dieser Briefe beginnen und ersuchte die Pfälzerin, mir darin behülflich zu sein. Sie hätte sie nicht gelesen, aber jedes sinnige Gemüth hätte sie verstanden, sich ihrer erfreuen können, denn aus jugendlich reichem Gemüth waren wohl helle Funken gestreut; jedes war bewahrt, auch das früheste einfache Bittet fand ich wieder; so sammelte ich wechselnd dies Blättergewerk. Der Ausspruch meiner Freundin »der Sarg« hatte die Wehmuth noch stärker genährt, und es war ein inneres Gebot, meine Anliegen zu ordnen. Schriftlich bat ich die Dienerin, meines Kindes und des vielleicht Nächstgebor'nen Wärterin zu bleiben; und sollte ich sterben, dieses Kästchen zu übergeben. So war ich eines Tages mit diesen Briefen beschäftigt und fragte sie, ob sie meinen Brief gelesen und was sie beschlossen habe? — Sie war wie immer stumm und fast betäubt. Da ich wiederholt drängte, sprach sie: »Nimmermehr bleib' ich!« — »Wie kannst du denn deinen lieben Fritz verlassen?« — »Das Fritzle nehm' ich mit;« und immer wiederholte sie dies. Sie war wohl oft trüben Sinnes, doch ein so treu Gemüth, daß mich dies nicht gestört hätte, aber die letzte Aeußerung: »das Fritzle nehm' ich mit,« beunruhigte, ja erschreckte mich. Anderen war sie immer unheimlich gewesen, und nun behaupteten einige Personen, daß sie auch schon längere Zeit wahnsinnig. Gänzliche Erstarrung gegen mich nahm so heftig zu, daß ich behutsam eilend sorgen mußte, ihre Abreise zu befördern.
Auf dem Lebenspfade eine treue, redliche Umgebung gefunden zu haben, ist wohl das Nothwendigste. Höhere Gunst ist so selten und meist unverdient; aber sich so von der treuen Gemeinschaft trennen zu müssen, ist eine herbe Sache. Wie soll ich es vergleichen? Wie in einem leeren Gewölbe sind wir dann, von dem jede Stütze und Lage uns entzogen wird. So war es mir und doch mußte ich noch danken, daß sie nun von mir wich.
So scheute ich nun auch, die Zeichen der Vergangenheit zu sammeln, zu bewahren; denn an Unmögliches hatte ich geglaubt. Noch halt' ich diese Blätter, — blieb' ich auch hienieden — der Strahl des Vertrauens kann nimmer mir nun leuchten! — Inniges kann nur von dem Einen verstanden werden, den Anderen verwandelt es sich in Hohn. O welch' ein schnöder Tod, den oft das Leben duldet! — Ich ehre uns, wenn ich sie nun vernichte.
So waren diese Blätter den Flammen — nicht plötzlich — nach und nach geweiht, und die ersteren riefen zu gleicher Opferung die letzten. Kein Zeichen, kein Gedanke — nur Staub und eitler Schatten ist mir nah. Den Weg des Unglücks betrat der irre Fuß, wo find' ich einst die ernste Ruh? — Bin ich ein gleiches Nichts, wie dieser Staub? Und ist es so verstanden, daß auch kein Weh die Todten kränkt? — Mit Wehmuth sah ich weinend nach dieser Opferung, und wie spät habe ich erkannt, daß es nicht mir, daß es Vielen geraubt war. Zur Wahrheit schuf der Wahn das Leid, das immer nun die Seel' erdulden sollte. Wie aus dem klaren Himmel fielen diese Blüthen nieder, — nun regt ihr Staub des Mitleids Töne auf.

  • Zwischen Charlotte von Kalb und Schiller war — nicht zuletzt durch seine Bindung an Lotte von Lengefeld, seine spätere Frau — eine Entfremdung eingetreten. »Ich widerrufe nicht, was ich von ihr geurtheilt habe: Sie ist ein geistvolles edles Geschöpf, ihr Einfluß auf mich ist aber nicht wohlthätig gewesen«, schrieb Schiller an Körner. — Den vergangenen Winter: 1790. Die autobiographische Schilderung, die Frau von Kalb mit ihrem Vornamen »Charlotte« überschrieb, reicht bis zum folgenden Jahr. — Frau von Schardt: Charlottes Freundin, Schwägerin der Frau von Stein.

Friedrich Schiller an Charlotte von Kalb

[Weimar, 20. (?) April 1799]
Charlottens Geist und Herz können sich nie verläugnen. Ein rein gefühltes Dichtwerk stellt jedes schöne Verhältniß wieder her, wenn auch die zufälligen Einflüsse einer beschränkten Wirklichkeit es zuweilen entstellen konnten. Die edle Menschlichkeit spricht aus dem gefühlten Kunstwerk zu einer edlen Menschlichen Seele, und die glückliche Jugend des Geistes kehrt zurück.
Ihr  Andenken,  theure  Freundinn,   wird  seinen  vollen Werth für mich behalten. Es ist mir nicht bloß ein schönes Denkmal dieses heutigen Tages, es ist mir ein theures Pfand Ihres Wohlwollens und ihrer treuen Freundschaft und bringt mir die ersten schönen Zeiten unserer Bekanntschaft zurück. Damals trugen Sie das Schicksal meines Geistes an Ihrem freundschaftlichen Herzen und ehrten in mir ein unentwickeltes, noch mit dem Stoffe unsicher kämpfendes Talent. Nicht durch das was ich war und was ich wirklich geleistet hatte, sondern durch das, was ich vielleicht noch werden und leisten konnte, war ich Ihnen werth. Ist es mir jetzt gelungen, Ihre damaligen Hoffnungen von mir wirklich zu machen, und Ihren Antheil an mir zu rechtfertigen, so werde ich nie vergessen, wie viel ich davon jenem schönen und reinen Verhältnisse schuldig bin.
Sch.

  • Schiller antwortet auf einen nicht erhaltenen Brief der Frau von Kalb, den sie nach der Weimarer Aufführung von »Wallensteins Tod« an den Dichter richtete.

Friedrich Hölderlin an Friedrich Schiller

[Waltershausen, Ostern 1794]
In einer Stunde, worinn die Nähe eines grosen Mannes mich ser ernst machte, versprach ich, der Menschheit Ehre zu machen in meinem jezigen durch die Folgen so ausgebreiteten Wirkungskreise. Ich versprach es Ihnen. Ich lege Ihnen Rechenschaft ab.
Meinen Zögling zum Menschen zu bilden, das war und ist mein Zwek. Überzeugt, daß alle Humanität, die nicht mit andern Worten Vernunft heißt, oder auf diese sich genau bezieht, des Namens nicht werth ist, dacht' ich in meinem Zögling nicht frühe genug sein Edelstes entwikeln zu können. Im schuldlosen Naturstande könnt' er jezt schon nimmer sein, und war auch nimmer drinn. Das Kind konnte nicht so gehütet werden, daß aller Einfluß der Gesellschaft auf seine erwachenden Kräfte abgeschnitten worden wäre. Wenn es also möglich war, es jezt schon zum Bewußtsein seiner sittlichen Freiheit zu bringen, es zu einem der Zurechnung fähigen Wesen zu machen, so mußte diß geschehen. Nun hat es zwar für jezt, wie mir scheint, für die erweiterten moralischen Verhältnisse schwerlich eigentliche Rezeptivität, aber doch gewiß für die engern, worunter das des Freundes zum Freund' in meinem Falle das einzige anwendbare war.
Ich suchte nicht seine Gunst. Daß er um die meinige sich nicht bewarb, sucht' ich auch zu verhüten, und die Natur bedurfte hier keines großen Widerstandes. Ich folgte aber dem Zuge meines Herzens, der in guten Stunden mich recht innig mit der frölichen regsamen und bildsamen Natur des Knaben verbrüderte. Er verstand mich, und wir wurden Freunde. An die Autorität dieser Freundschaft, die unschuldigste, die ich kenne, sucht' ich alles, was zu thun oder zu lassen war, anzuknüpfen. Weil aber doch jede Autorität, woran des Menschen Denken und Handien angeknüpft wird, über kurz oder lange grose Inkonvenienzen mit sich fürt, wagt' ich allmälig den Zusaz, daß alles, was er thue und lasse nicht blos um seinet und meinetwillen zu thun oder zu lassen sei, und ich bin sicher, wenn er mich hierinn verstanden hat, so hat er das höchste verstanden, was noth ist.
Hierauf gründen sich die Mittel zu meinem Zwek in näherer oder entfernterer Beziehung. Mit einem Detail will ich Ihnen nicht lästig sein. Die tiefe Achtung gegen Sie, mit der ich aufwuchs, mit der ich so oft mich stärkte oder demütigte, die mich auch jezt in meiner und meines Zöglings Bildung nicht lässig werden läßt, diese Achtung läßt mich nicht zu geschwäzig werden.
Unendlich wird diese Achtung verstärkt, durch Ihre Güte, der ich meine gegenwärtige in so mancher Rücksicht günstige Lage danke.
Die seltne Energie des Geistes, die ich an der Frau von Kalb bewundere, soll, wie ich hoffe, dem meinigen aufhelfen, um so mer, da alles beiträgt, mich zu heitrer Tätigkeit zu stimmen. Könt' ich doch die mütterlichen Hof nungen dieser edlen Dame realisiren!
Sie ist seit einer Woche hier. Sie trug mir einen Empfel an Sie auf, mit der Versicherung, nächstens zu schreiben.
Wie sie mir sagte, hätt' ich das Glük haben können, einige Monate um Sie zu sein. Ich füle tief, was ich verscherzte. So viel hab' ich durch meine Schuld noch nie verloren. Lassen Sie mir meinen Glauben, edler groser Man! Ihre Nähe hätte Wunder gewirkt in mir. Warum muß ich so arm sein, und so viel Interesse haben um den Reichtum eines Geistes? Ich werde nie glüklich sein. Indessen ich muß wollen, und ich will. Ich will zu einem Manne werden. Würdigen Sie mich zuweilen eines aufmerksamen Bliks! Der gute Wille des Menschen ist doch nie ganz one Erfolg.
Ich nehme mir die Freiheit, ein Blatt beizulegen, dessen Unwerth in meinen Augen nicht so ser entschieden ist, daß ich es mir zur offenbaren Insolenz anrechnen könnte, Sie damit zu belästigen, dessen Schäzung aber eben so wenig hinreicht, mich aus der etwas bangen Stimmung zu sezen, womit ich dieses niederschreibe.
Solten Sie das Blatt würdigen, in Ihrer Thalia zu erscheinen, so würde dieser Reliquie meiner Jugend mer Ehre widerfahren, als ich hofte.
Ich bin mit der wahrsten Hochachtung
Ihr ergebenster Verehrer M. Hölderlin.

  • Schiller, von Hölderlin ehrfurchtsvoll verehrt, hatte den jungen Dichter als Hauslehrer für Fritz, den Sohn der Majorin von Kalb, empfohlen. Er lebe »im Kreise eines seltnen, nach Umfang und Tiefe, und Feinheit und Gewandtheit ungewönlichen Geistes«, schrieb Hölderlin dem Freunde Hegel nach Bern. Frau von Kalb ihrerseits lobt Hölderlin in einem Brief an Lotte Schiller: »Ich kann Schillern nicht genug für die Empfehlung des guten Hölderlin danken . ... Er ist einsichtsvoll und unablässig thätig in seinem Beruf.« Hölderlin trennte sich zu Anfang des folgenden Jahres im vollen Einvernehmen von den Kalbs, da die Erziehung und Pflege seines schwierigen Zöglings seine Kräfte übermäßig in An-sprucli nahmen. Charlotte »zeigte noch beim Abschiede ihre ganze edle, u. ihre, wie ich doch glauben muß, herzliche Freundschaft für mich«. — ein Blatt beizulegen: das Gedicht »Das Schiksaal«

Charlotte von Kalb an Jean Paul Richter

[Berlin,] den 28. Jenner [1806]
...Ich las vor einigen Tagen die Briefe von Hölderlin wieder, die drei, so ich mir bewahrte. Einst gab ich sie Ihnen zu lesen, Sie haben sie nicht geachtet, wie ich meine. Dieser Mann ist jetzo wütend wahnsinnig; dennoch hat sein Geist eine Höhe erstiegen, die nur ein Seher, ein von Gott belebter haben kann — ich könnte viel von ihm sagen. Der Mann kann es noch weniger ertragen, als das Weib, wenn er seinesgleichen um sein Thun nicht findet, aber ein jeder wird arm und ist beklagenswert in der Öde und Leere. Ein Chaos wartet auf die Liebe des Geistes.

  • Hölderlin lebte bis zum Sommer des Jahres 1806 in Homburg vor der Höhe, wo der Freund Sinclair den Kranken pflegte.

Charlotte von Kalb an Jean Paul Richter
Weimar d. 13ten May [1796]

Frauen der Goethezeit

Zwey Drittel des Frühlings sind vorüber, (wie ich eben im Kalender sehe). Die Bäume stehn noch unbelaubt, in schönen Park die Nachtigal hat noch nicht gesungen — und Sie waren noch nicht hier. Alle Zeichen des Frühlings bleiben aus! Welches erwartet die andern?? — Er könnte kommen mit allen Reiz — der Bäume Pracht der Blüthen Duft, der Vögel Liebgesang — der Lüfte lindes fächeln. — Für Ihre Freunde war er nicht gewesen. — Wenn Sie uns nicht erscheinen! —
O lassen Sie mir Ihnen, von Ihren Freunden sagen — oder von Sie. Sie sind der Geist unserer Verbindung! Reich sind wir alle durch die Achtung — Bewunderung — u Hoffnung — die Ihre Schriften erregt. — an ähnlicher anerkennung Ihres Werths, erkennen wir — die unsere Freunde sind —
oder werden können! — Keines weiß, u darf es wissen daß Sie mir geschrieben u ich an Sie, als mein Mann, der auch jetzo trauret daß er vergeblich Sie erwartet hat, in 8 Tagen muß er verreisen. — Keines weiß als ich daß wir Sie hier in Weimar erwarten dürfen — doch ist es fast das Zeichen unseres Gruses: Ist Richter noch nicht hier?! — Sind Sie kranck oder haben Sie nicht meinen Brief vom 1. oder 2ten Aprill erhalten?? — Ifland ist fort, u Wieland reist in wenigen Tagen nach der Schweitz, in Sept will er wieder hier sein. Herder, Knebel, Einsiedel sind hier drey Wesen die einer unbefangnen hohen Freude über die Volkommenheit eines andern fähig sind. —
Sie sind ein tiefer Forscher, ein ferner Seher — in Zeit u Zukunft: Ein Phaenomen in dieser Zeit, die Sie — bedarf: Krieg und Kampf ist überall, oder ödes dotes kaltes Nichts: Schale Form, kein Inhalt — In Ihnen erscheint uns aber ein Geist Herz u Seele, der 1OOOde die schlafen aus ihren Todesschlummer weken könnte. Unsere Erwartungen sind nicht zu kühn. —
viele unter uns wünschten ein Schauspiel von Sie bearbeitet zu wißen. Leicht muß es Ihnen sein, von diesen reichen hohen Stamm einen ast hinüber zu biegen in jenes Gefild. — Das war es was ich schon bemerken lies! —
Verzeihen Sie? meiner Schreibseelichkeit, u damit ich nicht wieder frage — so — schencken Sie dieser Frage, ein Wort! — starr wird m[eine] Hand — wenn ich mir Sie als einen Satirischen Schriftsteller dencke. und mir ist's selbst ein Räthsell. Aber Leider vergeße ich immer über den schönern Genius der Sie begleidet den mächtigem durch den Sie herrschen!
Charlotte.

  • Charlotte hatte als Sprecherin der Weimarer Jean-Paul-Verehrer, zu denen Herder und Wieland zählten, den Dichter des »Hesperus« und des »Siebenkäs« zu einem Besuch nach Weimar eingeladen. Richters Dichtungen erschienen ihr »gleich lieblichen Phantomen aus dem Geisterreiche meiner Seele«. — Iffland: Verfasser oft gespielter bürgerlicher Rührstücke und einer der begabtesten Schauspieler seiner Zeit, der häufig in Weimar gastierte. — Einsiedel: Weimarer Oberhofmeister, geschickter Übersetzer aus dem Lateinischen und Englischen.

Jean Paul Richter an Charlotte von Kalb

Weimar d. 10 Jun. 1796
Endlich, gnädige Frau, hab' ich die Himmelsthore aufgedrükt und stehe mitten in Weimar. — Ich bin noch nicht aus der Reisekruste heraus, so nehme ich schon die Feder zur bittenden Frage, welche einsame Stunde — den zwischen dem ersten Sehen solte nie das dritte Paar Augen stehen — Sie mir vergönnen .... daß ich vor zitternder Freude so unordentlich rede als schreibe. Sie können zu meiner Himmelfarth zu Ihnen jede Minute, sogar die heutige, bestimmen.

  • Von der ersten Begegnung mit Charlotte, die am folgenden Tag stattfand, schrieb Jean Paul: »Gott sah gestern doch einen überglüklichen Sterblichen auf Erden und der war ich.« Frau von Kalb schildert er: »3/4 der Zeit brachte sie mit Lachen hin — dessen Hälfte aber nur Nervenschwäche ist — und 1/4 mit Ernst, wobei sie die grossen fast ganz zugesunknen Augenlieder himlisch in die Höhe hebt, wie wenn Wolken den Mond wechselweise verhüllen und entblössen.«

Jean Paul Richter an Charlotte von Kalb

[Weimar, 23 (?) Juni 1796]
Ich reiche dir die Hand über Zeit und Raum, es war eine Zeit, eh' ich dich kante und liebte; die Ewigkeit begint für die Liebenden. Sie ist der Stral, der das Unendliche erhelt und begeistert. — Ja wol die Schmerzen, die Leichentücher müssen wir im Grabe lassen. Ich leide wie du, denn tief ist der Schmerz der ewigen Sehnsucht.

Charlotte von Kalb an Jean Paul Richter

[Weimar, Dezember 1798]
»Daß ich meine Lippen auf die Wunden Deines Herzens legen werde. Sei still, liebe Seele!« Ich habe seit gestern um 10 Uhr nichts anderes gedacht.
»Werde ruhig und hoffend!« Bei der ewigen Wahrheit, bei meiner Seligkeit, ich will es werden. Prüfe Dich nur, was Deine Liebe für mich Dir ist. Ob sie Deinem Herzen unentbehrlich ist, ob sie unendlich ist. Es ist mir, als hörte ich nur meine Liebe. Von einem mächtigen Geist vernichtet zu werden, ist viel erhabener, als die höchste Ehre, Genuß und Fülle so die Welt geben kann. O nimm mich auf, damit ich sterben kann, denn ich kann entfernt von Dir nicht leben und nicht sterben.
Heiliger Gott, gieb deinem Unsterblichen alles — alle die Seligkeit, die deine Erschaffenen entbehrten, alle die Seligkeit, die sie verkennen! Gieb ihm mein Herz, gieb ihm meine Wonne! Laß mich nur in seiner Nähe, daß ich sein Antlitz schaue! Laß mir den Schmerz, laß mir die Thränen um ihn!

  • Der Brief, der Zeilen Jean Pauls zitiert, entstand während Richters zweitem Weimarer Aufenthalt 1798. Jean Paul schrieb im gleichen Monat an seinen Freund Christian Otto: »Ich sehe die hohe genialische Liehe .... — aber es passet nicht zu meinen Träumen.«

Charlotte von Kalb an Jean Paul Richter

Kalbsrieth, den 16. Juni [1799]
Als ich allein auf der Landstraße fuhr, war mein Gedanke mit wenigen Personen beschäftigt. Ich dachte an Paul zweimal, und den dritten Teil meiner Zeit erfüllten die andern Bekannten meiner Seele. Auch ich war mir eines solchen freien, ruhigen, voll Liebe und Gedanken erfüllten Gemütes bewußt, daß ich selbst von meinem willenlosen und hoffnungslosen Wesen innigst bewegt war. Ach nein, doch hoffnungsvoll, denn Du wirst mich immer lieben, und was fehlt mir dann zum höchsten Glück, als Deine Gegenwart? Keine Gegenwart hat Bedeutung ohne die Liebe. Sie ist das Licht, ohne das kein sterbliches Wesen eine Seele erkennen kann. Es giebt nichts Schmerzlicheres, als die gleichgültige Gegenwart eines Wesens, das sonst uns nahe war, das einst zu un-serm Herzen sagte: Du bist mein. »Die Zeit ist vorbei, in der wir nicht liebten, uns nicht kannten — jetzo ist die Ewigkeit, in der wir's thun«, das ist die schönste Zeile Deiner Hand, die ich besitze. Als ich neulich Deine Briefe wieder las, haben diese Worte einen hohen Mut mir gegeben, und Du hättest schwören können, ich liebe Charlotte nicht — ich hätte geschworen, er liebt mich dennoch. Wir werden die Welt verlassen, in der wir uns nicht erkennen und lieben konnten. Du wirst die Geliebten Deines Herzens zu Dir rufen und unter ihnen auch mich; meine Liebe wird erscheinen dürfen, leicht, gefällig, innig und thätig, huldigend und belohnend. Du wirst mich nicht mehr verkennen, und in dieser Stimmung liegt alles, was meine Seele verlangt. Ich war, idi bin innigst bewegt; was ich so selten kann, ich konnte weinen. Was ist's in mir, das diesen Geist mir schafft und dies Erheben über alles und Ergeben in alle Dinge? Und ich war lange ohne Gedanken, betäubt war ich in dieser Frage an mich selbst versunken, als schnell mit vielen Thränen dies Wort aus meinem Herzen quoll oder kam: »Werdet wie die Kinder, sonst kommt ihr nicht ins Himmelreich.« [Das ist] der kindliche Sinn, den ich in meinem Herzen so gerne pflege, das von allen unnützen Bedürfnissen befreite Leben, die Freuden, die nur das eigene Herz erschafft und teilt. Aber ist denn eine andere Freude als diese? Alles andre ist Irrtum, Zerstreuung oder gar der Laut eines zu gewohnten Schmerzes. O, es ist nichts Schrecklicheres, als das bange, verworrene, zwecklose Dasein, wo die Seelen verscheucht werden.
Den 17. Ich fand in unserer Goldenen Aue die Luft milder, den Rasen grüner und die Gegend süßer, denn sie versorgt reichlich die Kinder der Natur. Nur fünf Stunden fuhr ich, so kam ich schweigend an. Die Kinder waren um meinen Wagen versammelt, und Heinrich und die Bärbel und die andern. Das kleine Hündchen meines Sohnes Fritz sprang in Wagen und leckte mir die Wange. Die Bärbel reichte, küßte, drückte mir die Hand, August brachte mir sein neuestes Kleinod, ein junges Kätzchen. Edda, meine süße, schon wie die Mutter verkannte Edda, eine niedliche Zeichnung von ihrer Hand. Sie war sehr liebenswürdig, sehr sanft, und so blieb sie die ganze Zeit. Da ich mich jetzo dem Ausbruch des freudigen Wohlgefallens nicht mehr überlassen darf, so bin ich ernst mit ihr, aber weil doch die Liebe einen Ausdruck haben muß, so treten mir oft von inniger Freude über sie zitternd fast Thränen der Wehmut in die Augen. Lieber, Guter, vergieb, ehe Du es liest, mein Bekenntnis.
Du hast mir oft tiefe Schmerzen gegeben! Dichterbiographen wie Du, das heißt, wie Du allein bist, sehen, fassen, bilden, zeichnen und scharfen tief die Menschheit. Aber die Wirklichkeit eines festen, unzerstörlichen, liebenden Gemüts fassen sie nicht. Ich glaube fast, sie sind besorgt, daß in den Zügen, in der Seele der Menschen etwas ist, was ihren Idealen gleicht. Sie sind eifersüchtig auf die Kinder ihres Gemüts und ihrer Phantasie. Die Wirklichkeit darf ihre Begeisterung nicht erfüllen, sie sind zu stolz und zu mutlos. O, das Herz des Menschen, welch ein stolzes und verzagtes Ding! Ich verzage nicht an meinem Herzen, aber verstummen, erstarren wird es wohl müssen, denn das Herz, die Liebe bildet hier auf Erden nur den Geist zu höheren Begriffen, und mangelnd und unbeseligt wird mein Geist das Leben verlassen. Ja, mein Teurer, ich sage Dir jetzo nicht, wie oft ich gelitten habe, wie zerstörend, so daß ich mein Herz Deiner Gewalt entziehen müßte, (wenn Du es nicht haben willst) als länger den Tod der Liebe so oft zu schmecken. Denn sie erwacht immer wieder in Deiner Gegenwart, ach, leider auch durch Deine Bücher, und ich muß mit St. Preux sagen: On veut te fuir, le fantome est dans ton coeur. Du bist nicht schuld daran, ich weiß es wohl, verzeih also meiner Klage — Du bist nicht schuld daran — Du bist das weiß mein Herz, und darum will es zu Dir! — Wenn einst glücklicher ich neben Dir ruhe, will ich Dir vieles erzählen, und dann wird die Thräne der Wehmut sich mit den Thränen der Freude mischen, dann küssen wir die letzten Zeichen unserer vergangenen Leiden innig von den Wangen, und keine ähnlichen Klagen erpressen wieder diese Zeugnisse einer ewigen Liebe!

  • Kalbsrieth: Familiengut der Kalbs in der Goldenen Aue. — »Die Zeit ist vorbei....«: Jean Pauls Brief vom 23. (?) Juni 1796, vgl. S. 339. — St. Preux: Der Geliebte Julies in Rousseaus »Nouvelle Heloise«.

Charlotte von Kalb
Aufzeichnungen aus den Jahren 1815—1842

Wer sich immer bewußt sein könnte, wo das Handeln aufhören, das Dulden beginnen müsse!
Die Seelen sind nur weniger Dinge fähig, so lange sie als ein Eigenthum sich denken; der Wille Gottes aber ist: daß die Seele dem sie beschränkenden Sinn absterbe — damit Gott sie bewege, sie verwandle nach seinem Wohlgefallen.
Auch die äußere Welt mit ihren Erscheinungen strahlt in erhabenen Bildern unseres Wesens Höchstes und Innerstes auf uns zurück. In steter Selbstbetrachtung beginne ich schon hier mein ewiges Leben, nicht sorgend um Das, was kommen wird, nicht weinend um Das, was vergeht; wohl aber sorgend, mich nicht selbst zu verlieren, und dahin zu treiben im Strom der Zeit, ohne den Himmel in mir zu tragen.
Stets war die Befangenheit, die Armuth mein Loos, und wohl mir, daß es in Armuth war; das beste Loos zum Denken und Leiden.
Gern bin ich aufmerksam und beobachtend, aber ein scharfes, sich auf mich beziehendes Interesse kann ich nicht mehr fassen. So ist das Alter, wir sterben den Neigungen und Hoffnungen ab, das heißt, manchem Wahn, den wir aber früher nicht ablegen konnten.
Es giebt einen Kargsinn des Geistes, der oft im Eifer, es möchte brennen, das Licht auslöscht.
Das impetuöse Entzücken über den Reichthum des Alls, wo jedes Sandkorn eine Welt birgt, kann ich nicht nach-schnabeln. Denn ich hege die Andacht, daß alles Natürliche dennoch wundersam und unbegreiflich. In der Geschichte selbst spielt nur das Kleinste, der Zufall; die Idee bleibt das verborgene Geheimniß. Das Bessere, das Göttliche wird nur mit der Klage geboren.
Ueber den Punkt, ob die Noth oder das Glück zur Einsicht führt, ist schon entschieden; — der Eine erlangt sie durch den Schmerz, der Andere durch das Licht.
Es gehört unendlich viel Ernst und Bildung dazu, um auch nur eines Wesens froh zu werden.
Ein wenig Denken und Sterben ist alles was wir vermögen.
Man muß behutsam sein und sich nicht von broncirten Stirnen befangen lassen, nicht glauben, von ihnen belehrt oder bekehrt werden zu müssen. Was man nicht selbst denkt, ist nicht für uns, denn unbegreiflich bleibt, was wir nicht selbst ersonnen und erfunden.
Ein geheimnißvoller Bund ist im Leben der Seelen, ein anderer ist nicht vorhanden. —