Einleitung

»Die Geschichte«, schrieb Ortega y Gasset an die argentinische Dante-Kennerin Victoria Ocampo, »ist zu einem wesentlichen Teile nichts anderes als eine Geschichte der von der Frau ersonnenen Mannesideale,« Der werbende Mann empfängt von der Frau seine Begriffe von Tugend, Kraft und Bewährung; nach ihnen handelt er und schafft Geschichte. Eine kühne Herausforderung an ein Zeitalter, das sich gewöhnt hat, die Historie als das Ergebnis anonymer Vorgänge, sozialer Umwälzungen und unvorhergesehener Zwischenfälle zu sehen! Mag der ritterliche Gedanke Ortegas schwer mit den jüngsten Geschichtskatastrophen vereinbar scheinen — daß und wie Frauen zu wirken vermochten, auch wo sie weder Kronen trugen noch Stimmrecht ausübten, kann er erklären. Der tätige Griff in den Gang der Ereignisse, die unmittelbare Arbeit an ihrer Zeit war ihnen oft und lange versagt, aber wann auch ihre stille Macht, zu spornen oder zu zügeln, Ziele zu setzen und zu verwerfen? Ein Buch, das den Gestalten bedeutender Frauen gewidmet ist, muß nicht nur Selbstzeugnisse, Briefe und Dichtungen von Frauen aufnehmen, sondern auch von den bloßen Wirkungen ihrer Person berichten. »Der Wert des Mannes gründet sich auf das, was er tut, der des Weibes auf das, was es ist«, heißt es, noch einmal, bei Ortega y Gasset. Wie anders könnten wir späten Nachfahren uns über den Rang, den diese Frauen in ihrer Zeit einnahmen, belehren als aus dem Widerhall, den ihr Zauber, ihr Witz und ihre Güte auf ihre Zeitgenossen ausgeübt haben. Wie viele Genies der Stille, wie viele verborgene Taten der Liebe und der Geduld mögen uns für immer entgehen! So wüßten wir wenig von mancher bedeutenden Frau, die in diesem Bande aufgenommen ist, wäre uns nicht ihr Bild in der Dichtung überliefert.
Und hätten sie, die »schöne Seele« Susanna von Klettenberg, Diotima, Suleika oder auch die Sophie des Novalis ins dichterische Werk verzaubert werden können, wenn sie nicht zuvor dessen Dichter verzaubert hätten? Auch das sind noch Taten — poetische Taten — der Frauen, die Männer ihretwillen verrichteten.
Es war ein Jahrhundert großer Frauen, das mit der gescheiten Frau Gottsched anbrach und zu den Salons der Bettina von Arnim, der Henriette Herz und der Rahel Varnhagen führte. Frauenschicksale bewegten die Dichter. Defoe macht der Gesellschaft seiner Zeit ihre Verantwortung für den abenteuerlichen Lebenslauf seiner Beutelschneiderin Moll Flanders klar. Mit der Manon Lescaut des Abbé Prevost entsteht der Roman der bürgerlichen Hetäre. Richardson läßt in seiner Pamela, einem der großen Bucherfolge des Jahrhunderts, einen Dienstbotentraum in Erfüllung gehen und die tugendhafte Jungfrau von ihrem Herrn geheiratet werden. Gellem Schwedische Gräfin mit ihrem Heimkehrerproblem von 1747, Julies Konflikt zwischen Leidenschaft und Moral in Rousseaus Nouvelle Heloise und das Schicksal Lottes in Goethes Werther erregten Mitgefühl und Sentimentalität der Romanleser, wie Emilia Galotti und Minna von Barnheim die Zuschauer in den Komödienhäusern bewegten.
Frauen beherrschten nicht nur die Dichtung, sondern auch die Völker, von Katharina II., der Prinzessin von Anhalt-Zerbst auf dem russischen Zarenthron, bis zur nicht minder unbedingten Herrschaft der Pompadour über Frankreich. Ob Monarchin oder Mätresse, diese Frauen regierten mit den Mitteln der Frau. Ein so schöner Titel wie der einer »Landesmutter« hätte nicht den englischen Tudor-Königinnen und kaum den französischen Mediceer-Regentinnen des 16. und 17. Jahrhunderts beigelegt werden können, aber er galt für Maria Theresia und Luise von Preußen.
Die Position im öffentlichen Leben und Denken, die sich die Frau im Laufe des 18. Jahrhunderts erwarb, fällt zusammen mit der Entwicklung des bürgerlichen Selbstbewußtseins auch außerhalb der größeren Städte und bedeutete für Deutschland eine vollständig neue Situation — im Gegensatz zu Frankreich. Denn bereits aus der großen Epoche der französischen Klassik, der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, sind Namen wie die der Madame de Lafayette und der Madame de Sevigne ebensowenig wegzudenken wie die Corneilles, Racines, Molieres oder des Herzogs von La Rochefoucauld. Beide Damen gehörten dem Hochadel an, und aristokratisch war ihre Kunst. So revolutionär der psychologische Roman, den Frau von Lafayette einführte, als Gattung war und so kühn sich ihre Heldin, die Princesse de Cleves, im offenen Geständnis ihrer Leidenschaften vor dem Gatten und dem Geliebten verhält — eine Wendung, die endlose Debatten, Flugschriften und Traktate hervorrief — so nobel und diskret ist jede Äußerung dieses Buches gehalten. Die Litotes, die Untertreibung und Aussparung, ist geradezu die Stilfigur des Romans. Nicht anders war das Verhältnis der Autorin zu ihrer eigenen Schöpfung: sie gab weder ihre Urheberschaft zu, noch stritt sie sie ab. Die Freunde ahnten oder waren eingeweiht, vor der Bewunderung der Menge schützte die Anonymität.
Der ebenso berühmte Briefwechsel der Frau von Sevigne — berühmt auch in Deutschland — besitzt zwar nicht die gleiche Kunst des halblauten Wortes, was aber ihn als ein Werk der obersten Gesellschaftsschicht kennzeichnet, ist die Selbstverständlichkeit, mit der die leidenschaftliche intime Äußerung sich mit kluger und amüsierter Weltzugewandtheit verbindet. Diese Haltung der Freiheit und Souveränität, die sich als Natürlichkeit und Formgefühl zugleich äußerte, war an die soziale Bindung von Autorin und Lesern geknüpft. Nur so konnte das privateste Zeugnis der Öffentlichkeit zugedacht werden, einer Öffentlichkeit, die, aristokratisch bestimmt, das ganze Personal und Szenarium dieser Schilderungen und Reflexionen kannte und in der Lage war, jede Andeutung und Anspielung zu verstehen und, vor allem, die seelische Temperatur dieser Werke nachzuempfinden.
In Deutschland traten Frauen als Schriftstellerinnen und Dichterinnen viel später, das heißt: zu einem Zeitpunkt auf, in dem das Bürgertum zunehmenden Einfluß gewann. Am Anfang der literarischen Leistungen der Frau im 18. Jahrhundert steht nicht zufällig kein dichterisches, sondern ein kritisches Oeuvre, das der Luise Adelgunde Victoria Gottsched. Es war bürgerlich nicht nur in der Direktheit seiner Absichten, der Aggressivität seiner Polemik und dem Verzicht auf jene noble Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen literarischen Wirkung, wie sie die Marquise de Sevigne und die Comtesse de Lafayette an den Tag gelegt hatten, sondern es war bürgerlich auch seiner erklärten Tendenz nach. Vernünftiges Handeln, zu dem die Gottschedin erziehen wollte, bedeutete für sie immer auch ein Handeln gemäß der Zugehörigkeit zum eigenen Stand. Die Verstöße gegen die bürgerliche Lebensordnung, die ihr Mann, der Professor Gottsched, in seinen Zeitschriften kritisierte, parodiert sie selber in ihrem Lustspiel Die ungleiche Heurat mit einer Fabel, in der sich ein reicher Bürgerssohn, vom Adelstick besessen, von einer adeligen Familie schröpfen läßt. Die Gottscheds wenden sich nicht gegen den Adel an sich. Gottsched gedenkt mit Stolz aller Ehrungen, die er und seine Frau von hochgestellten Adelspersonen empfingen und versäumt nicht, in der Lebensbeschreibung der Gottschedin auch des »kostbaren Porcellan-Aufsatzes« zu gedenken — »drey Papageyen und ein Paar Grünspechte« —, den die Kurprinzessin von Sachsen seiner Frau zum Geschenk gemacht hat. Wogegen sie sich aber stellen, ist der falsche soziale Ehrgeiz, der die gegebenen Grenzen der Herkunft nicht respektiert. Erst später erhält die Auseinandersetzung mit dem ersten Stand ihre aggressive Note; die Emilia Galotti Les-sings und Schillers Kabale und Liebe waren noch ungeschrieben.
Das eigentliche Ziel ihrer Arbeit war für die Gottschedin Aufklärung: ein Versuch, den Menschen zum vernunftgerechten Gebrauch seiner Fähigkeiten zu erziehen und ihn aus der Beschränkung durch Vorurteile und Dummheit zu befreien. Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, definiert Kant die Aufklärung. Der Mensch, ein rationales Wesen, ist der Vervollkommnung fähig — jeder Mensch, die Gleichheit aller gilt nicht nur für die Stände, sondern auch für die Geschlechter. Das Wort Rousseaus »L'ame n'a point de sexe« — die Seele hat kein Geschlecht — wird zu einem Leitwort des Jahrhunderts und kehrt in immer neuen Variationen wieder; Schleiermacher formuliert es so: »Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm.« Es war das Argument, mit dem die Frauen ihr Recht auf Bildung und Unterrichtung begründeten. Mit seiner Betonung verbindet die Literatur jener frühen Jahrzehnte, soweit sie Frauen zu Verfassern hat, nicht selten kräftige satirische Angriffe gegen die Männerwelt. Aber über Forderungen wie allenfalls das Recht der Frau, ihren Gatten selber zu wählen, gehen die weiblichen Autoren in Deutschland kaum hinaus. Der Begriff-Emanzipation ist wie sein Gegenstand nicht Sache des 18. Jahrhunderts, und die spätere gewagte Sexualethik des Sturm und Drangs mit seiner Verteidigung des natürlichen Kindes und der unehelichen Mutterschaft und seiner Bekämpfung der Tyrannei in der Ehe, bei der die Frau zum Eigentum des Mannes wird, war von Männern, nicht von Frauen formuliert.
Die Wirkung der Gottschedin ist kaum denkbar ohne das neue Forum, das sie selber mitgeschaffen hat, die Zeitschrift. Ein merkwürdiges Phänomen, diese plötzlich und überall aus dem Boden schießenden Journale, denen die Taschenbücher und Almanache folgen! Die wenigsten von ihnen überstehen ein halbes Jahrzehnt, aber fast jedes zieht Nachfolger nach sich. Alle diese Publikationen, der Biedermann und die Mühsame Bemerkerin derer menschlicher Handlungen, die Frauenzimmer-Belustigungen oder die Akademie der Grazien, das Schwäbische Magazin zur Beförderung der Aufklärung und Idas Blumenkörbchen können mit neu erschlossenen Leserschichten rechnen, zahlenmäßig — die einzelnen Auflagen überschreiten nicht selten tausend Stück — wie der sozialen Position ihrer Leser nach. Die Verleger machen Geschäfte: ein Streit, der zwischen der Cottaschen Verlagshandlung und der Herausgeberin einer ihrer Zeitschriften entbrannte und zufällig bekannt wurde, belehrt uns, daß bei nicht ganz viertausend Gulden Gesamtkosten eine solche Zeitschriftennummer immerhin eine Rendite von tausend Gulden abwarf. Ein Wille zur Öffentlichkeit kündigt sich an, den andere Jahrhunderte nicht gekannt haben. Wenn Kant, am Ende des Jahrhunderts, das »Publikum« zum Träger dessen erklärt, was er unter Aufklärung versteht — hier, unter den Subskribenten der neuen Magazine bildet sich Publikum, ein Publikum, das Meinungen entgegennimmt und Meinungen äußert, seine Belehrung und Unterhaltung fordert und erhält.
Wie sehr diese Entwicklung einem anonymen Drang zur Publizität entsprochen haben mochte, so war sie doch von einigen wenigen bewußt eingeleitet worden. Die Gottscheds zählten zu ihnen. Gottsched hatte in seinen Vernünftigen Tadlerinnen, die wie fast alle moralischen Wochenschriften der ersten Jahrhunderthälfte englischen Vorbildern nacheiferten, zu einer Fiktion gegriffen, um ein neues Auditorium, die lesenden Frauen, sicher zu erreichen: zwei Jahre lang ließ er seine Leserinnen im Glauben, das Journal werde von drei klugen Damen, den »Tadlerinnen«, herausgegeben. Der Trick hatte seine Wirkung. In seinem Geständnis am Ende des zweiten Jahrganges kann Gottsched versichern, es sei weit gefehlt, »wenn man glaubet, daß an diesen Blättern das Schöne Geschlecht gar keinen Teil« gehabt habe und alle weiblichen Autoren nur vorgetäuscht gewesen seien; so erwähnt er unter seinen Einsenderinnen ein »vornehmes Frauenzimmer«, die »ihre Hand und Namen wohl zehnmal verändert, ja sich wohl einen männlichen Namen gegeben, um nur von mir nicht allezeit vor dieselbe Korrespondentin gehalten zu werden«. Am Ende dieses Jahrhunderts bilden Frauen einen so großen Teil des Lesepublikums, daß ein Hölderlin seinen Entschluß, einen Roman zu schreiben — den Hyperion — mit dem Grunde rechtfertigt: »Ich fand bald, daß meine Hymnen mir doch selten in dem Geschlechte, wo die Herzen schöner sind, ein Herz gewinnen werden, und diß bestärkte mich in meinem Entwürfe eines griechischen Romans.«
Das Gottschedische Beispiel machte Schule. In rascher Folge wurden eine ganze Reihe von Frauenzeitschriften gegründet, angeblich von Frauen, in Wirklichkeit noch von Männern redigiert: Die vor sich und ihre Kinder sorgfältige Mutter, Die Patriotin, ein weibliches Pendant zum Patrioten, dem Hofmeister stellt sich eine Hofmeisterin zur Seite, dem Berlinischen Zuschauer eine Berlinische Zuschauerin. Als erster weiblicher Herausgeber tritt die Gottschedin 1745 mit dem Aufseher oder Vormund hervor, doch handelt es sich bei diesem Journal nur erst um die Übersetzung einer englischen Zeitschrift. Um 1800 ist jedoch die Zahl der von Frauen herausgegebenen Periodica schon auf rund zwanzig gestiegen, Frauen als Mitarbeiter finden sich wie selbstverständlich in den angesehensten Heften, in Jacobis Iris, Wielands Teutschem Merkur oder der Thalia und den Hören Schillers. »Die Hören haben jetzo, wie es scheint, ihr weibliches Zeitalter«, äußerte sich Goethe gegenüber Schiller mit leisem Spott, als die Beiträge der Mereau, der Wolzogen, der von der Recke und der Imhoff einen gar zu großen Anteil einnahmen.
Was pflegten die schriftstellernden Damen in ihre Journale zu setzen? Eines der Hauptthemen dieses erziehungsgläubigen Jahrhunderts bilden pädagogische Abhandlungen, Aufsätze über Kindererziehung, Belehrungen über geographische, philologische, kunstgeschichtliche, populärphilosophische Gegenstände, Reiseberichte, aber auch hauswirtschaftliche Ratschläge wie über das Los- und Löcherigwerden der in Kälberblasen gefüllten Mettwürste. Zu Fragen, die für Frauen besonders interessant sein mußten, werden Traktate verfaßt wie Über einige zum Glück in der Ehe notwendigen Eigenschaften oder Warum werden so viele Mädchen alte Jungfern? Militärische und kommunale Ereignisse «werden gern in poetischer, wenn auch nicht eben makelloser Form besungen; eine der originellsten Naturen dieser Zeit, die Karschin, hat sich mit dieser Art politischer Gelegenheitsdichtung ihr Brot verdient. Zuweilen findet sich auch große Dichtung — mittelhochdeutsche Gedichte etwa, oder Lyrik Hölderlins —, aber vorherrschend sind auf den belletristischen Seiten Erzählungen mit rührenden und kolportagemäßigen Zügen, die fast immer auf eine moralische Nutzanwendung hinauslaufen. Schließlich stellt sich im Laufe des Jahrhunderts schon ein gutes Teil jenes journalistischen Repertoires ein, das noch heute durch die Rotationspressen läuft: der Leserbriefkasten, die Sparte Gesellschaftsklatsch, der medizinische Ratgeber (im Wochenblatt fürs Schöne Geschlecht wird mit freimütiger Offenheit Vom Nutzen und Schaden des Biers gehandelt), Anleitungen fürs gute Benehmen und, natürlich, die letzten Modenachrichten aus Paris. Die Frau Rath Goethe erkundigt sich bei ihrem Sohn in Weimar mit ebenso großer Ungeduld nach dem neuesten Stück von Herrn Bertuchs Journal des Luxus und der Moden wie nach dem Teutschen Merkur des Gevatter Wieland.
Eine Wandlung zeichnet sich mit Deutlichkeit in den Jahrgängen dieser Zeitschriften ab: das Ideal der gelehrten Frau, der klugen und scharfsinnigen Denkerin, das die Gottschedin mit Geist und enormer Belesenheit vertreten hatte, verliert im Lauf des Jahrhunderts immer mehr an Geltung. Die Position, die sich die Frauen in der Gottsched-Generation errungen hatten, war offenbar gefestigt genug, als daß sie auf dem Felde des logischen Denkens, der gelehrten Bildung, der kenntnisreichen und einsichtigen Argumentation, wo sie gewonnen worden war, noch verteidigt werden mußte. Als ob die Gefahr unweiblichen Philistertums, einer allzu weit getriebenen Rationalität drohe, setzt eine große und starke Gegenbewegung ein. Das »Gefühl« beginnt den »Witz« abzulösen.
Bewog die berühmte Doktorpromotion der Laura Bassi, die 1731 zu Bologna stattfand, eine gebildete Dame der Leipziger Gesellschaft zu der triumphierenden Lobrede:

»Denkt nicht, als müßte Pallas nur
vor Männer Doktor-Hüte weben.
Meint ihr, es hätt' euch die Natur
das Recht allein dazu gegeben?«,

so muß die erste deutsche Frau, die den philosophischen Doktorhut trug, Dorothea Schlözer, fünfzig Jahre später ihre Kenntnisse im Plauderton vortragen, um sich nicht dem Tadel ihrer Mitwelt auszusetzen. Als die Gottschedin 1735 in Leipzig eintraf, hieß es pathetisch in einer gedruckten Glückwunschrede »O ein seltenes Muster eines gelehrten Frauenzimmers!«, und die Kaiserin Maria Theresia redete sie 1749 als die gelehrteste Frau Deutschlands an. Keine fünfzehn Jahre später aber beeilt sich Gottsched in der Biographie seiner Frau zu versichern: »Mit ihrer Gelehrsamkeit prahlte sie auch niemals, zumal in Gegenwart des Frauenzimmers; um demselben niemals zum Ekel zu werden.« Die Autorin der Bekenntnisse einer schönen Seele aus dem Wilhelm Meister ist gar unter der Lehre aufgewachsen, »daß ein Frauenzimmer sein «Wissen heimlicher halten müsse, als der Calvinist seinen Glauben im katholischen Lande.«
War die Frau Gottsched das Beispiel der gelehrten, sich ihrer selbst, ihrer intellektuellen Fähigkeiten und ihrer Verantwortung in einer bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft bewußten Frau, so hörte die neue Generation auf die Stimme der Frau von La Roche. Die »sanfte und duldende Zensorin der Sitten unserer deutschen Mütter, Gattinnen und Töchter«, die ihr Leben lang Erziehungsschriften in die Welt sandte, war nicht anders als die Aufklärer von einem wahrhaft pädagogischen Eifer besessen. Aber das Bild, das ihr vor Augen schwebte, hatte sich völlig gewandelt: es war das der von edelmütigen Empfindungen und moralischen Gefühlen beseelten, nicht der nach Vernunftgründen handelnden Frau. Die La Roche gehört in jene Bewegung des europäischen Sentimentalismus, der einen emphatischen Freundschaftskult pflegte, sich der Romantik der Ruinen und des englischen Landschaftsgartens hingab und sich selber in den Dichtungen Ossians, der berühmten Fälschungen des Schotten Mac Pherson, ausgedrückt fand. So machtvoll dieser Gefühls- und Denkstil auftrat — noch der Tugendbund um den jungen Wilhelm von Humboldt und den Sohn der Frau La Roche, Carl, ist ihm zuzuzählen, und die Madame de Stael belustigte sich noch nach 1800 über die exaltierte »sentimentalite« deutscher Frauen — gegenüber der Aufklärung bedeutete er Verzicht. Die Aufklärung forderte zum Handeln auf, während die Empfindsamkeit in der Reflexion verweilte und überdies mit weit weniger Lebensgebieten befaßt war als die praktisch denkende und lebenszugewandte Aufklärung.
Die neuen, pathetischen Gefühlsäußerungen hatten für den, der sich von ihnen zu distanzieren vermochte, durchaus ihre bedenklichen oder sogar komischen Aspekte. So beschwert sich ein Leser der Pomona, der Zeitschrift der Frau de la Roche, die sie nach der Göttin des Herbstes benannt hatte, über die schädlichen Wirkungen, die diese Publikation in seinem Wohnort, einem kleinen Landstädtchen, ausübte: »Unsere hiesige Frauenzimmer .... äffen nämlich Ihre so wahre und gute Empfindungen nach, die die schöne leblose Natur in Ihnen erregt, sie vergessen aber über ihrer erträumten Schäferwelt die wirkliche, erkünsteln einen gewissen Anstrich von Empfindsamkeit, der mit ihrem natürlichen ziemlich festen Nerven- und Seelenzustande und dem angenommenen Schmachten und Hinschmelzen den lächerlichsten Kontrast von der Welt bildet.« Goethe berichtet erheitert von Lavater, mit dem er 1774 nach Ems und Düsseldorf reiste, daß er »auf seiner Reise jede Viertelstunde an die Seinigen schrieb und mit jeder Post von jenen Briefe und Zettelchen erhielt, worauf eigentlich nichts stand, als daß sie sich wie vor einigen Wochen noch immer herzlich liebten.«
Der Name Lavaters, des religiösen Genies der siebziger Jahre, weist auf eine Hauptquelle der Empfindsamkeit, auf die religiösen Strömungen des 18. Jahrhunderts, wie sie besonders eindrucksvoll sich im Pietismus Spenerscher oder Zinzendorfscher Färbung ausgeprägt hatten. Aus dem Pietismus konnte zwar die empfindsame Liebes-, Freundschafts- und Naturauffassung nicht widerspruchslos hervorgehen, denn das zentrale Ereignis im Leben des gläubigen Pietisten, die wahre Bekehrung, vollzog sich in der einsamen Begegnung mit Gott, und immer wieder warnten asketisch eingestellte Pietisten, die Liebe zum Schöpfer mit der Liebe zum Geschöpf zu verwechseln. Aber wo die Kirche als umfassende und verbindliche Heilsinstitution aufgegeben wurde, lag es nahe, daß die Vereinzelten sich zu kleinen heimlichen Gemeinden von Männern und Frauen vereinigten, die ähnliche religiöse Erlebnisse erfahren hatten und sich untereinander mitteilen konnten. Die »Stillen im Lande«, die sich durch die Ablehnung und Feindschaft ihrer Mitwelt nur um so enger aufeinander verwiesen sahen, schlössen sich in Freundschaftsbündnissen zusammen, die oft die hochgesteigerte Euphorie religiöser Erlebnisse annahmen. Gestalten wie Susanna von Klettenberg, die sich am Ende ihres Lebens zu einer immer freieren und großzügigeren Religiosität bekannte, zeigen, wie stark sich das Gefühl für Freundschaft von der im strengeren Sinne religiös gerechtfertigten Bindung an die Brüder und Schwestern der Gemeinde auch auf Bereiche außerhalb der pietistischen Kreise übertragen konnte.
Die Aufklärung und die Empfindsamkeit, die im Pietismus vorbereitet war, haben, jede für sich, das Zeitalter und nicht zuletzt die Frauen dieser Zeit geformt. Die eine Bewegung gab ihnen das Recht auf ihr eigenes Urteil, die andere das Recht auf ihr eigenes Gefühl. Gewiß läßt sich eine mit so großartiger Selbstsicherheit und so viel entwaffnendem Humor auftretende Person wie die Frau Rath Goethe, Johann Wolfgangs Mutter, nicht aus der Geistesgeschichte ihrer Zeit erklären. Aber wäre nur wenige Jahrzehnte zuvor eine solche Freiheit der Äußerung, ein so ganz und gar nur der Schreiberin eigener Stil, zu denken, zu fühlen und zu formulieren möglich gewesen?
Eine einzige allerdings ist hier auszunehmen: Liselotte von der Pfalz, die ihr Vater durch einen unglückseligen und folgenreichen Heiratsvertrag mit dem Herzog von Orleans, dem Bruder Ludwigs XIV., vermählte. Die Korrespondenzen dieser prächtigen Frauensperson gehören zu den farbigsten und anschaulichsten Schilderungen, die wir aus der schreibfreudigen Umgebung des Sonnenkönigs besitzen. Sie sind ein unverbildet-rustikales Gegenstück zu den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon, der denn auch die einleuchtendste Beschreibung von Madame verfaßt hat: »Sie war stark gebaut, tapfer, deutsch vom Scheitel bis zur Sohle, offenherzig, aufrichtig, gütig, nobel und groß in ihrer ganzen Aufführung, kleinlich in allem, auf das sie Anspruch zu haben glaubte . . . ., hatte die Figur und die Flegelhaftigkeit eines Schweizers und war bei allem der zarten und unverbrüchlichen Freundschaft fähig.«
Aber die Herzogin von Orleans war nicht nur von Hause aus ein Original, sondern sie besaß auch die Position, die ihr das Recht dazu gab. Der französische Hof, so sehr er durch ein peinlich genaues Zeremoniell reglementiert war, kannte zugleich sehr ungenierte Umgangssitten; die Herzogin kann ihre Pfälzer Korrespondenten, wenn sie sich einmal zu vertraulich geäußert zu haben glauben, wiederholt damit beruhigen. In der Literatur des deutschen Bürgertums wären, von einer Frau geschrieben, Liselottes Behagen an würzigen Anekdoten und deftigen Sprichwörtern, ihr handfester Menschenverstand und ihr schlagfertiges Urteil damals, drei Menschenalter vor der Räthin Goethe, völlig undenkbar gewesen.
Noch die herzerfrischenden Episteln der Meta Klopstock verdanken einen Teil ihres Charmes ihrer Epoche. Die reizend mutwillige Anrede »süßer Affe«, mit der sie gewichtige Männer wie den Quedlinburger Hofprediger Giseke oder Gerstenberg, den dänischen Residenten in Lübeck, titulierte, hat den Ohren anakreontischer Dichter, die sich von Bodmers Traktat Von den Grazien des Kleinen den Kult des Diminuitivs vorwerfen lassen mußten, weniger ungewohnt geklungen als denen heutiger Leser. Und wieviel ist bei der Frau Rath. an Geschmeidigkeit der Sprüche für individuelle Nuancen gewonnen im Vergleich zu Frau Gottsched, die ihrerseits doch auch eine große Briefschreiberin war!
Die Gottschedin, nach der Audienz bei Maria Theresia, schreibt: »Fürs andere, da ich der Meynung bin, daß man eine Glückseligkeit nur halb genießt, die man mit seinen Freunden nicht theilet; so melde ich Ihnen, daß, wofern ich je in meinem Lehen Ursache gehabt habe stolz zu seyn, es an dem heutigen Tage ist.« Bei Frau Aja, der Räthin Goethe, läutet nach einer Audienz bei Königin Luise von Preußen
ein ähnlicher Inhalt so: »Die große Freude die mir am Sonntag den 19ten Juni zu theil geworden ist, würde ich mich Sünde fürchten dir zu verschweigen also vernim was sich zugetragen hat.« Beidemal Einleitung der Erzählung und Begründung, warum erzählt wird. Aber welche Unterschiede! Bei der Gottschedin eine allgemein gültige Sentenz, in ein kompliziertes System syntaktischer Abhängigkeiten eingespannt, das erst der letzte Satzteil — »es an dem heutigen Tage ist« — auflöst wie die Pointe eine Anekdote. Die Frau Rath fällt dagegen mit der Tür ins Haus. Was sie ganz erfüllt, die große Freude, gehört auch an den Satzanfang. Zwar läßt sie sich dann auch auf Nebensätze ein, die sie aber gegen die normale Satzstellung so zerteilt, daß die Unterordnung überspielt wird, und schließlich wischt sie dieses für sie allzu ordentliche Satzgebilde mit der impulsiven Geste der geborenen Erzählerin weg: »also vernim«! Die Impulsivität triumphiert über die Konstruktion, das Individuelle über die Regel.
In diesen Jahren setzt der Brief als eigentliche Kunstform der schreibenden Frauen ein. »Kunstform« und »Naturform« zugleich, denn eben das prädestinierte den Brief zum literarischen Ausdrucksmittel der Frau, daß er die momentanen Stimmungen, Einfälle und Regungen, die unmittelbare Wiedergabe und den Zauber des Augenblickes nicht nur erlaubte, sondern nahezu forderte. Rahel Varnhagen pflegte ihren Briefen genaue meteorologische Angaben voranzusetzen und verlangte diesen Brauch auch von ihren Freunden, damit die besondere Färbung des Gedankens, die er durch Klima, Ort und Stunde erhalte, erklärt werde. So sehr war der Brief fähig geworden, den Moment des Schreibens abzubilden. »Ein Brief soll ein Portrait von dem Augenblicke sein, so hoch auch Kunstanforderungen an ideelle Veredlung lauten mögen«, forderte Rahel.
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Schreibleidenschaft, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über Deutschland ausbreitete, in den sentimentalen Zirkeln der sechziger und siebziger Jahre, so am Darmstädter Hof und im Freundesbund um Gleim. Die empfindsamen Verfasser und Verfasserinnen bedienten sich Tintenfässer, die, mit einem Dorn versehen, bei Wanderungen in der Erde befestigt werden konnten und ihre Besitzer jederzeit in die Lage versetzten, ihrer Briefpassion zu frönen. Aber so spontan die Entstehung dieser Epistel gewesen zu sein scheint, eine gewisse Stereotypie haftet all den Liebes- und Freundschaftsbeteuerungen mit ihrer oft ausgeklügelten Gefühlskasuistik an, und zwar schon den Empfindungen, nicht erst ihrem schriftlichen Ausdruck.
Eine knappe Generation später, und einer der Hauptantriebe des Briefeschreibens war nicht mehr nur der Wunsch, sich mit den entfernten Freunden in der gleichen Seelenstimmung vereint zu wissen, sondern die Freude an den literarischen Möglichkeiten des Briefes. Briefe werden gesammelt, immer wieder vorgelesen, den Bekannten auszugsweise mitgeteilt oder ganz abgeschrieben. Sie sind Kunstwerke, nicht Informationen, und die Urteile der Adressaten über die empfangenen Briefe bewegen sich oft genug in ästhetischen Kategorien. Bettina von Arnim, die außer ihrer kapriziösen  und  überströmenden  Phantasie  ein  gehöriges Maß an Spiellaune mitbrachte, ist eine der Meisterinnen dieses Metiers. Da gibt es Briefe, in denen sie fiktive Briefe an Dritte schreibt; andere — an Goethe — deren einzelne Teile sie rückwärts datiert, so daß die am spätesten entstandenen Passagen das früheste Datum tragen — denn auch ihre Liebe wende sich stets zurück bis auf den Tag, an dem sie Goethe kennengelernt habe.
Die Autorinnen des 18. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 19. haben sich selbstverständlich aller literarischen Gattungen bedient. Die Gottschedin, Frau von Stein, Karoline von Günderrode schrieben Dramen, Tragödien und Lustspiele; Sophie La Roche, Charlotte von Kalb, Therese Huber, Sophie Mereau, Dorothea Schlegel, Auguste Fischer, Caroline Pichler (und wer nicht sonst alles) Romane; die Agnes von Lilien der Caroline von Wolzogen, der Schwägerin Schillers, wurde von den Brüdern Schlegel sogar eine Zeitlang für einen Roman Goethes gehalten. Ganz auffällig herrschen jedoch die literarischen Formen vor, die eine größere Nähe zum eigenen Leben gestatten. Keineswegs die Lyrik, der, weil sie gern im Ich-Ton spricht, die angebliche Beziehung auch zum biographischen Ich so häufig unterschoben wird. Denn unbeschadet der herzhaften, oft kühne Metaphern erfindenden Verse der Karschin, der klug organisierten Gedankenlyrik der Mereau und der dunkleren Farben in den Gedichten Karoline von Günderrodes erreichen im Grunde nur die Lieder Marianne von Willemers den Rang des Vollkommenen. Und die Konstellation, die diesen Gedichten zugrunde liegt, war unwiederholbar.
Die eigentlichen schriftstellerischen Verdienste, die sich Frauen in diesen Jahrzehnten erwarben, liegen viel öfter in Lebensbildern, Reiseschilderungen, Tagebüchern, in autobiographisch bestimmten Erzählungen wie dem Bericht der Elise von der Recke vom Auftreten Cagliostros oder den trocken-präzisen Darstellungen Johanna Schopenhauers. Wo sie zu anspruchsvollen literarischen Großformen wie dem Roman griffen, war es wiederum der Brief, auf den sie sich stützen konnten. Die Geschichte der Fräulein von Sternheim mochte von der Frau La Roche in Briefen angelegt sein, weil das große Vorbild, Richardson, das Muster dazu gegeben hatte. Aber die Bücher ihrer Enkelin Bettina leben ausschließlich aus der Ungezwungenheit, der Improvisation, den Überraschungen des Lebens selbst, die den Reiz des Briefes ausmachen. Friedrich Schlegel schrieb seiner Schwägerin Caroline: »Sollten Sie jemahls einen Roman schreiben, so müßte vielleicht ein anderer den Plan machen, und wenn nicht das Ganze aus Briefen bestehen sollte, auch alles darin schreiben, was nicht in Briefen wäre.« Die Vorliebe der Romantik, das Ganze aus dem Fragment zu erschließen, verband sich mit der Neigung der Frau zu einer ihr so naheliegenden Form.
Die hohe Briefkultur der Jahrzehnte zwischen Empfindsamkeit und Romantik weist auf die verblüffend engen gesellschaftlichen Zusammenhänge jener Zeit. Wer eine Stimme im geistigen Leben der Zeit hatte, besaß — mit Übertreibung zu sagen — fast so viel Freunde oder Feinde, die ihn von Angesicht kannten, wie Leser. Ebenso gewiß wie der Autor des Candide, Voltaire, bei dem Verfasser der Critischen Dichtkunst, Gottsched, einkehrte, wenn er Leipzig passierte, suchte der Dichter des Messias den des Götz von Berlichingen auf, wenn er durch Frankfurt reiste. Die Querverbindungen haben für ein so wenig geselliges Jahrhundert wie das unsere einen nahezu ridikülen Beigeschmack nach Kolportage: mußte ausgerechnet die Tochter des Mannes, bei dem der Leipziger Student Goethe das Radieren erlernte, Minna Stock, den gleichen Christian Gottfried Körner heiraten, der ein enger Freund von Goethes späterem Weimarer Gefährten Schiller wurde? und sieht es nicht allzusehr nach einem Arrangement des Schicksals aus, daß die Schwester dieser Frau, Dora Stock, mit jenem Ludwig Ferdinand Huber verlobt gewesen war, dessen Freundin aus Mainzer Tagen, Caroline Böhmer, die August Wilhelm Schlegel heiratete, zu einem der boshaftesten Gegner Schillers wurde und schon deshalb im Dresdner Hause Körner-Stock nicht eben wohlgelitten war? Privat gemeinte Äußerungen hatten in einer so eng verflochtenen Gesellschaft fast immer einen halb öffentlichen Charakter; und die zahlreichen literarischen Fehden, die aus weitergetragenen Aussprüchen entstanden, wie aus Lessings Urteil über das Prometheus-Gedicht Goethes und aus Goethes Satire auf Wieland, erklären sich so. Die Rezensionen, die meist anonym erschienen, und der Kampf mit der scharfen Waffe der Distichen, der sich aus Goethes und Schillers Xenien entwickelte, waren glänzende Gelegenheiten, bei denen sich die Kontrahenten unter Visier, aber vor aller Augen aneinander maßen und die Zuschauer sich als Rätselrater betätigten.
Die Publizität, die auf diese Art auch die intimste Lebensäußerung erhielt, übte nicht selten einen bitteren Zwang aus. Caroline Böhmer, die sich damals noch durch keinerlei literarische Meriten ausgezeichnet hatte, war durch ihren Aufenthalt im revolutionären Mainz und ihre Freundschaft mit Forster so allgemein im übrigen Deutschland kompromittiert, daß sie sich ihre Zulassung zur Gesellschaft mühevoll, Schritt für Schritt wieder erkämpfen mußte. Noch weitaus härter mutet die Feme an, die über Christiane von Goethe bis an ihr Lebensende verhängt war. Mochte ihr Frau von der Recke einen »hellen, ganz natürlichen Verstand« bestätigen, mochte Frau Aja in Frankfurt sich für die lebenslustige kleine Frau mit der ganzen Streitlust ihres mütterlichen Herzens einsetzen und mochte vor allem Goethe selber sich unmißverständlich zu ihr bekennen, nicht zuletzt durch die Eheschließung nach Christianes tapferem Auftritt vor den plündernden Franzosen 1806 — für Weimar blieb sie die »Mamsell«. Moralische Gründe dürften bei dieser Verurteilung der Gefährtin Goethes nicht entscheidend gewesen sein; der Hof des Herzogs Carl August wäre auch kaum zu ihnen berechtigt gewesen. Nicht die Liaison selbst erregte Anstoß, sondern die Treue, mit der Goethe an dem »kleinen Naturwesen« festhielt bis hin zu jenen Zeilen bei Christianes Tod: »Der ganze Gewinn meines Lebens / Ist, ihren Verlust zu beweinen.« Christiane war arm, hatte eine nur bescheidene Schulbildung genossen und in Bertuchs Fabrik künstlicher Blumen gearbeitet; ein Bekenntnis zu ihr bedeutete einen Verstoß gegen die sozialen Konventionen. Die Gesellschaft revanchierte sich für den Affront, den sie in der Bindung ihres größten Dichters an eine simple Blumenmacherin sah.
Von dieser durch zahlreiche persönliche Bekanntschaften verknüpften Öffentlichkeit profitierten dagegen die Schriftstellerinnen. Denn das Wohlwollen, das sie trug, gründete fast immer nicht nur in der literarischen Leistung, sondern auch in jener legitimen Neugierde an der Person, die zu jeder gut funktionierenden literarischen Gesellschaft gehört. Übrigens bestand der Gewinn, den sie aus dieser Situation zogen oder ziehen konnten, nicht nur in der Aufnahmebereitschaft ihres Publikums. Er bestand ebenso in sachkundigen Ratschlägen und helfender Kritik, wie die Mentorschaft Wielands gegenüber Sophie La Roche oder die vielen liebenswürdigen Ermutigungen bezeugen, die Schiller der Frau von Stein, Caroline von Wolzogen oder Sophie Mereau zukommen ließ.
Dagegen hatte der literarische Salon, in dem die Frau regierte und die klügsten Köpfe ihrer Umgebung ein kritisches und anregendes Forum fanden, eine geringere Bedeutung — vor allem im Vergleich zu Frankreich, wo er seit den Zeiten Ludwigs XIV., erst recht aber mit dem Nachlassen der politischen Zentralgewalt des Hofes, dann aber auch wieder unter Napoleon geradezu der Umschlagplatz der literarischen, politischen und wissenschaftlichen Ideen seiner Zeit war. Mochte es an der geographischen Dezentralisierung Deutschlands liegen — ein »grünes Kabinett« wie das der Madame de Lafayette, in dem Racine, Moliere, La Fontaine und der Herzog von La Rochefoucauld Gäste waren und in dem Werke entstanden, die nicht das Eigentum eines Autors, sondern des ganzen Kreises waren, gab es in keiner der deutschen Residenzstädte, auch nicht im Berlin von 1800. Die Deutschen mußten sich mit Besuchen und Korrespondenzen begnügen, mit dem, wie Herder es ausdrückte, »unsichtbaren Commercium der Geister und Herzen«.
Ein Teil der Aufgaben des Salons fiel dem Mäzenatentum der Höfe zu. Die Sentimentalen am Hofe der »großen Landgräfin« Caroline von Hessen-Darmstadt, die katholischen Westfalen und Rheinländer um den Sitz der Fürstin Gallitzin in Münster, und vor allem die Weimaraner, die fast alle von der Herzogin Anna Amalia berufen worden waren, erfreuten sich einer Protektion, die weit über eine nur materielle Unterstützung hinausging. Aber so ungezwungen und intim sich die Gesellschaften im Weimarer Wittumspalais oder im Tiefurter Landschlößchen abspielten, die eigentliche Atmosphäre des Salons war damit nicht getroffen. Johanna Schopenhauers Teegesellschaften waren eher »Salon« als Anna Amalias montägliche Lesestunden am runden Tisch. Erst die Unabhängigkeit der einzelnen Mitglieder, ihre Bereitschaft zur Gleichrangigkeit wenigstens für die Dauer der Teestunde ermöglichten jenen Stil, wie er von einem der bedeutendsten deutschen Salons, dem Rahels in den Dachstuben der Berliner Jägerstraße, geschildert wird: »Alles ging leicht und harmlos dahin, jeder zu herbe Ernst wurde von Witz und Scherz aufgefangen, die ihrerseits wieder, bevor sie ausarten konnten, von Wahrheit und Verstand ergriffen wurden, und so blieb alles belebt zugleich und gemäßigt.«
Als der niedere Adel und das obere Bürgertum bereit waren, ihre Rollen zu spielen, fehlte gerade den wichtigsten Zirkeln die im weitesten Sinne politische, ein verbindliches Zentrum darstellende Kraft, die im französischen Salon zwar nie Zweck an sich war, sich aber doch als eine entscheidende Nebenwirkung ergab. Das Mittwochs-Kränzchen, das Goethe 1801 stiftete, um der bereits etwas in Verfall geratenen Weimarer Geselligkeit aufzuhelfen, hatte in seine Statuten aufgenommen, daß alle politischen oder andere die Harmonie gefährdenden Streitfragen zu vermeiden seien. Am ehesten gingen solche Einflüsse noch von den Salons zwischen der Niederlage Preußens 1806 und den Befreiungskriegen aus, den Salons der Stägemanns, der Gräfin Voß, des Fürsten Radziwill, die betont konservativ und patriotisch waren; sie hatten eine direkte politisch-revolutionäre Bestimmung, wenn sie darin auch Institutionen wie der christlich-deutschen Tischgesellschaft Achim von Arnims nachstanden. Aber die großen Salons im Berlin der neunziger Jahre, von Jüdinnen wie Rahel Levin, der späteren Frau von Varnhagen, oder Henriette Herz geführt, bedeuteten ein exterritoriales Gebiet, auf dem sich Mitglieder der verschiedenartigsten Gesellschaftsschichten einfinden konnten, eben weil diese Häuser sozial nicht fixiert waren. »Gelehrte, Juden, Offiziere, Geheimräte, Edelleute, kurz alles, was sich an anderen Orten die Hälse bricht, fällt einander um diese und lebt wenigstens freundlich an Eß- und Teetischen beisammen«, verwunderte sieb. Jean Paul über dieses goldene Zeitalter. Salons der Zeit nach den Befreiungskriegen wie der Bettina von Arnims — trotz ihrer Beziehungen zum preußischen König — standen im Rufe staatsfeindlicher Liberalität und entbehrten aus diesem anderen Grunde der zentrierenden Wirkung. Fast läßt sich sagen, daß der deutsche Salon in seiner großen Zeit, den Tagen der Romantik, nicht eine geistige Mitte, sondern ein geistiges Exil darstellte.
Ein geistiges Exil mehr als ein politisches. Wo nicht Herkunft oder Schicksal die Frau in politische Positionen gestellt hatten — Maria Theresia, Katharina II., kleinere Fürstinnen wie Anna Amalia von Sachsen-Weimar —, gab es unter den bedeutenden Frauen des großen deutschen Jahrhunderts keine eigentliche Politikerin. Bettina von Arnim, von ihrem impulsiven Herzen geleitet und vielleicht auch von der Genugtuung über die eigene Rastlosigkeit, setzte zwar ihr ganzes Temperament in der Frage der Todesstrafe und der schlesischen Weber ein und besaß darüber hinaus eine bestimmte politische Konzeption, die eines Volkskönigstums, die sie auch Friedrich Wilhelm IV. gegenüber vertrat. Dennoch war Bettinas politische Wirksamkeit Dilettantentum im guten Sinne, nicht anders als ihre künstlerische und musikalische Tätigkeit.
Dilettantismus, der freilich aus einer anderen Quelle als bei Bettina lebte, war auch die politische Tätigkeit der Frau von Krüdener. Wie die Fürstin Gallitzin, mit der sie befreundet war, und ihre Landsmännin, die Frau von der Recke, bezeugt das ungewöhnliche Leben dieser Frau die religiöse Unruhe, die am Beginn des Jahrhunderts Pietismus und Herrnhuter Brüdergemeinde ins Leben gerufen hatte und an seinem Ende — vor allem unterhalb der literarischen Ebene — mit offenbar unverminderter Heftigkeit fortbestand. Aber bei Julie von Krüdener geht die Religiosität mit dem politischen Sendungsbewußtsein eine Verbindung ein, die den verantwortlichen Ernst für beide, den religiösen wie den politischen Auftrag, in Frage stellt.
Vor ihrer »Berufung« hatte die kurländische Edelfrau das Leben einer Dame der oberen Gesellschaft geführt, sich bald in Berlin, bald in Kopenhagen, bald in Paris aufgehalten, Romane verfaßt, die sie klug zu lancieren wußte, und Rousseaus einfaches Dasein gepriesen, während sie bei ihrer Modistin Rechnungen von 20 000 Franken machte. Nach der Bekehrung, die sie ihrem Schuhmacher, einem Mitglied der Brüdergemeinde, zu danken hatte, entfaltete sie eine Missionstätigkeit großen Stils. Die Königin Luise von Preußen gehörte ebenso zu ihren Klienten wie die Königin Hortense der Niederlande und der Kaiser Alexander von Rußland, der »liebe Gottesheld, der Gottes Ruf gehört« und den vom Kreuz geschlagenen Napoleon niedergeworfen hatte. Die Heilige Allianz der Sieger über Frankreich schrieb sie sich als ihr Werk zu, und auf dem Höhepunkt ihrer Tätigkeit zieht sie, psalmodierend, prophezeiend, predigend von Ort zu Ort, wird von Schwärmern und Armen verehrt, von den Großen der Welt aufgesucht und von den örtlichen Polizeibehörden verfolgt. Mit der Restauration der politischen Verhältnisse ist ihre Stunde vorbei, der Geruch sozialen Aufruhrs, der ihr anhängt, macht sie verdächtig.
Eine genaue Vorstellung nicht nur von wünschenswerten Veränderungen, sondern auch von den politischen Kräften, mit denen sie durchzusetzen waren, besaß unter ihren Zeitgenossinnen wahrscheinlich nur die »Sibylle Europas«, die Fürstin Liewen, eine gebürtige Livländerin, Gemahlin eines Deutschen, der im russischen Dienst arbeitete. Diese Frau wußte sich in den politischen Verhältnissen der Zeit zwischen 1810 und 1857, ihrem Todesjahr, mit allen Mitteln des leidenschaftlichen Diplomaten und zugleich denen einer reizvollen Frau zu bewegen; aber bezeichnend genug waren es London und Paris, wo sie ihre Triumphe feierte. Die Tatkraft und den wagemutigen Einsatz jener faszinierenden Frauengestalten der Französischen Revolution, der Madame Roland, der Frau des girondistischen Innenministers, der Therese Tallien, »Unserer Lieben Frau vom Thermidor«, deren Einfluß den Fall Robespierres bewirkte, haben in Deutschland keinerlei Parallele. Die Freiheiten, die sich seit den Tagen der Gottschedin die deutschen Frauen errungen hatten, betrafen ihre geistige, allenfalls ihre soziale, kaum ihre rechtliche und am wenigsten ihre politische Situation.
Wie diese Lage im Deutschland der Jahrhundertwende beschaffen war, geht aus keiner Schilderung besser hervor als aus dem Buche De l'Allemagne der Frau von Stael. Germaine de Stael, Tochter eines der einflußreichsten Männer im Zeitalter der untergehenden französischen Monarchie, des Finanzministers Jacques Necker, durchreiste Deutschland mehrfach zwischen 1803 und dem Sturz Napoleons. Man empfing die Vielgelästerte und Vielbewunderte mit Ehrungen, die sonst nur souveränen Herrschern zukamen. Selbst Goethe, der sich vor dem lästigen und zeitraubenden Besuch von Weimar nach Jena geflüchtet hatte, zollte dem berühmten Gast seinen Tribut: »Jenes Werk über Deutschland .... ist als ein mächtiges Rüstzeug anzusehen, das in die chinesische Mauer antiquierter Vorurteile, die uns von Frankreich trennte, sogleich eine breite Lücke durchbrach.« Caroline Schelling-Schlegel, die Grund zur Skepsis gegenüber der Reisegefährtin ihres einstigen Ehemannes August Wilhelm Schlegel hatte, beschrieb die große Frau so: »Ihr Äußeres wird durch ihr Inneres verklärt, und bedarf es wohl, es giebt Momente oder Kleidung vielmehr, wo sie wie eine Marketenderin aussieht und man sich doch zugleich denken kann, daß sie die Phädre im höchsten tragischen Sinne darzustellen fähig ist.«
Diese Marketenderin des Geistes, eine Feindin Napoleons und ewig Geächtete, sah mit den scharfen Augen der Exilierten. Zwar geht ihr Buch, das die »vertu«, die Tugend der Deutschen, gegen die »immoralite« der Franzosen ausspielt wie siebzehnhundert Jahre zuvor Tacitus den Römern die Germanen als Vorbilder darstellte, von einer Geschichtskonstruktion aus, die den Deutschen von vorneherein alle ihre Sympathien hätte sichern müssen. Frankreich, das ist das Reich einer Klassik, die sich auf die Alten beruft. Die Kunst und Literatur Deutschlands aber gründen — zusammen mit der Englands — in der Erinnerung an die Zeit des Rittertums und der Wunder des Mittelalters. Diese Kunst, die Frau von Stael die »romantische« nennt, ist für sie die einzige, deren Wurzeln in den eigenen Boden reichen statt sich aus einem fremden zu nähren. Zugleich aber spricht aus jeder Zeile, die Germaine de Stael niederschreibt, die leidenschaftliche Sehnsucht nach jenem Ort, dem sie sich nur auf vierzig Meilen nähern darf und den sie umkreist wie ein Planet den Fixstern: Paris. Die Hoffnung, die sie in die Zukunft der germanischen Nationen setzte, und die Sehnsucht, mit der sie an der französischen Metropole hing, sind die eigentlichen Motive dieses bewundernswerten Buches.
An Paris mißt sie Deutschland. Da muß ihr — erste Feststellung, auf die sie viele weitere zurückführt — das Fehlen einer auf einen Punkt, auf eine Stadt konzentrierten Gesellschaft auffallen. Die Gesellschaft in Paris stellt sich in ihren Augen als ein Forum dar, in dem jeder nach seinem Verdienst Lorbeer oder Schande erntet. »Die Rangordnung war nicht endgültig festgelegt, und so bewegten sich die Ansprüche unablässig in jenem unbestimmten Raum, in dem jeder erobern oder verlieren konnte .... In Deutschland behauptet jeder seinen Rang, steht auf seinem Platz, als habe er dort Posten gefaßt, und keiner hat geschmeidige Redewendungen, Parenthesen, Anspielungen nötig, um die Vorzüge seiner Geburt oder seines Titels, mit denen er sich seinem Nachbarn überlegen glaubt, auszudrücken.«
Daraus ergibt sich, was in Frankreich Konversation bedeutet, nämlich »eine bestimmte Art, auf andere einzuwirken, sich wechselseitig und temperamentvoll Vergnügen zu machen, sofort auszusprechen, was man denkt, sich selber im Augenblick zu genießen, ohne Anstrengung Applaus zu ernten, seinen Witz in allen seinen Nuancen durch Betonung, Geste und Blick spielen zu lassen, schließlich eine Art elektrischer Atmosphäre zu verbreiten, die Funken sprühen läßt, die einen bis zum Obermaß ihres Temperaments mitreißt und die anderen aus ihrer bedrückenden Apathie erweckt. Nichts ist dieser Begabung fremder als die Art von Geist, den die Deutschen kennen; sie wollen unter allen Umständen ein ernsthaftes Ergebnis .... Die Deutschen geben jeder Sache die nötige Zeit; aber was bei der Konversation nötig ist, das ist das Amüsement; wenn man dieses Maß überschreitet, verfällt man in die Diskussion, die ernsthafte Unterhaltung, die mehr eine nützliche Beschäftigung als eine angenehme Kunst ist.«
Wenn das, was sich in Deutschland Gesellschaft, Salon, Konversation nennt, nur sehr bedingt die Billigung Frau von Staels erfährt —die deutschen Frauen finden ihre größte Bewunderung, ein Kompliment, das zum nicht geringen Teil auf Kosten der Männer geht: »Die deutschen Frauen haben einen Charme, der ihnen ganz eigen ist, einen Ton in der Stimme, der einen berührt, blonde Haare, einen blendenden Teint; sie sind bescheiden, aber weniger schüchtern als die Engländerinnen; man merkt, daß sie seltener Männern begegnet sind, die ihnen überlegen waren, und daß sie übrigens weniger das strenge Urteil der Öffentlichkeit zu fürchten haben. Sie suchen durch Zartgefühl zu gefallen, durch Phantasie zu interessieren; die Sprache der Dichtung und der Künste ist ihnen geläufig; sie kokettieren mit der Begeisterungsfähigkeit, wie man in Frankreich mit Esprit und Scherz kokettiert. Das vollkommene Gefühl für Recht und Treue, das die Deutschen auszeichnet, läßt die Liebe dem Glück der Frauen weniger gefährlich sein, und vielleicht nähern sie sich diesem Gefühl deshalb mit größerem Vertrauen, weil es romantische Farben trägt und weil Verachtung und Untreue hier weniger zu fürchten sind als anderswo .... Ihre sorgfältige Erziehung und die natürliche Reinheit ihres Herzens üben eine sanfte und sichere Herrschaft aus; sie flößen einem jeden Tag mehr Achtung für alles ein, was groß und großmütig ist, mehr Vertrauen auf die Hoffnung in jeder Gestalt, und wissen die trockene Ironie abzuweisen, die den Atem des Todes über alle Freuden des Herzens bläst.«
In der Tat läßt sich menschlicher Rang gerade in dieser Zeit, die die Ausbildung des Individuums zur höchsten Pflicht erhob, nicht nur dort ablesen, wo politische Taten oder literarische Werke eine sichtbare Spur hinterlassen haben, sondern vor allem an jener Haltung, die Madame de Stael mit dem Gefühl der Achtung für alles, »was groß und großmütig ist«, beschrieb. Frau von Stein hat schlechte Dramen und kaum bessere Gedichte geschrieben, und von Su-sette Gontard sind nur Briefe — wenn auch sehr schöne — überliefert. Aber mit diesen Namen sind die beiden Gestalten genannt, die wie keine anderen in das Leben ihrer Dichter, in das Leben unserer Dichtung eingegriffen haben. Wenn Klassik im gelungenen Ausgleich von Gegensätzen, in der erkämpften Harmonie der Kontraste besteht, so muß sie neben den vielen polaren Möglichkeiten wie Form und Inhalt, Idee und Wirklichkeit, Kunst und Natur, Dauer und Augenblick, Gott und Mensch, Ewigkeit und Vergänglichkeit auch die von männlichem und weiblichem Element miteinander versöhnen. Was Frauen für jenen kurzen historischen Moment bedeuteten, den wir uns deutsche Klassik zu nennen angewöhnt haben, verkörpert sich in der Dichtung in Goethes Iphigenie und Tasso, im Leben aber in Charlotte von Stein und Susette Gontard: »Lida«, der »Stern der Höhe«, die Goethe die moralische Qualität der geläuterten Form lehrte, und »Diotima«, die für Hölderlin die verborgene Existenz der Götter bestätigte.
Es mutet wie ein Kontrast zwischen Klassik und Romantik an, wenn neben diese Frauen mit ihren geprägten Zügen, der Reife ihrer Erfahrungen und der Sicherheit ihres Handelns der Schatten einer dritten tritt, die für den, der ihr begegnete, ein ähnlich absolutes Erlebnis bedeutet hat: Sophie von Kühn, die vierzehnjährig sich mit Friedrich von Hardenberg-Novalis verlobte und wenige Tage nach ihrem fünfzehnten Geburtstag starb. Die Briefe, die von ihr noch existieren, sind kleine Billets, mit kindlich ungelenken Buchstaben bedeckt und in einer rührend falschen, sächsischen Orthographie geschrieben. Dieses junge Mädchen, »Söphchen«, wird für Novalis zum Mittelpunkt einer gewaltigen dichterisch-religiösen Spekulation. »Christus und Sophie« ist das Losungswort, das Novalis die Gewißheit der Erlösung verbürgt. Die Wirkungen, die von Charlotte von Stein und Diotima ausgingen, gründeten in der Person dieser Frauen; ihr Verhältnis zu Goethe und Hölderlin war Dialog. Eine Ehe wie die der Freunde Schillers und Goethes, Caroline und Wilhelm von Humboldts, beruhte wenigstens ihrer Idee nach geradezu auf der Steigerung der Individualität, die jeder durch den anderen erfährt. »Der bildende Nutzen solcher Verbindungen«, drückt es Humboldt ein wenig doktrinär aus, »beruht immer auf dem Grade, in welchem sieb die Selbstständigkeit des Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält.« Sophie von Kühn dagegen erlebte eine Verklärung, bei der die individuellen Züge des gewiß liebenswürdigen jungen Mädchens im Glänze der ihr vom Dichter verliehenen Glorie aufgehen und unlesbar werden. Der Monolog ersetzt den Dialog.
Aber eine Definition, die — mit dem Gedanken an Sophie von Kühn und, allenfalls, Karoline von Günderrode — das Schicksal der Frauen in der Romantik auf zarte Hinfälligkeit, Weltferne und Verklärung in der Todesapotheose festlegen wollte, wäre voreilig und falsch, auch wenn es überhaupt für so verschiedenartige Temperamente, Welterfahrungen, Denk- und Gefühlslagen ein gemeinsames Grundmuster gäbe. Wie wollte sie mit so suspekt lebenstüchtigen Frauen wie Dorothea Schlegel, geschiedener Veit, geborener Mendelsohn, oder dem Vagantenleben ihrer zeitweiligen Schwägerin Caroline Schelling-Schlegel-Böhmer-Michaelis fertig werden? Von landläufig romantischem Schmelz bleibt wenig, wo soviel kräftige Selbstbehauptung, scharfzüngige Verteidigung des eigenen Besitzes und gründlicher Lebensgenuß am Werke sind.
Alle diese Lebensläufe, so kompliziert sie sein mögen, sind überschaubarer, die Charaktere und Stimmungen greifbarer als bei einer Charlotte von Stein oder einer Susette Gontard. Susette tritt uns in allen Zeugnissen mit der gleichen nicht leidenschaftslosen, aber in der Leidenschaft stilisierten Gebärde entgegen, stets Diotima, kaum je Frau Gontard; Charlotte wird faßlich erst da, wo sie nicht mehr »Madonna die gen Himmel fährt« ist, sondern eine gealterte und verbitterte Frau. Die Romantikerinnen leben zumeist nicht ein Ideal, sondern ein bewegtes, an Siegen und Niederlagen reiches, erzählbares Leben; kein ewiger Augenblick, aber viele selige und unselige Momente. An die Stelle des Respektes vor den bestehenden Lebensformen und Institutionen und der vornehmen Diskretion tritt nicht selten eine mitteilsame Leidenschaft, die alle, die mitzufühlen bereit sind, an ihrem Drama teilnehmen läßt. Gelegentlich wird sogar, wie bei Bettina von Arnim, bereits das Lebensschauspiel auf seine Kunstwirkung hin komponiert und mit zusätzlichen Höhepunkten und Katastrophen versehen.
Aus der Hingabe dieser Frauen ans Leben spricht ein unendliches Vertrauen — Vertrauen in die eigene Natur und die Natur der Welt. Das Leben wird, mit Friedrich Schlegel zu sprechen, zu einem »Kunstwerk der Natur«. Bei dem Romantikerfreund Johann Wilhelm Ritter, Physiker und Philosoph des Galvanismus, werden Naturnähe und Naturkraft zur wesentlichen Bestimmung der Frau: Die Frau »ist die Fortsetzung der Erde. Der Mann ist das Fremde, die Frau das Einheimische auf Erden. Sie zu ehren, ist sein Geschäft. Es ist daher nichts schrecklicher als einseitige Unterwürfigkeit des Weibes; es heißt von ihrer Seite, der Erde ihr Recht vergeben. Man liebt die Erde, und durch das Weib liebt uns wieder die Erde.« Oft lieben diese Frauen nicht nur wie Frauen Männer, sondern wie Mütter Kinder lieben: mit der Zärtlichkeit der Überlegenen. »Er liebet Dich väterlich«, schreibt Caroline über Goethe an Schelling, »ich liebe Dich mütterlich — was hast Du für wunderbare Eltern!« Caroline war sechs Jahre älter als August Wilhelm Schlegel, zwölf Jahre älter als Schelling; Sophie Mereau trennten von Clemens Brentano acht Jahre, Dorothea von Friedrich Schlegel neun Jahre, Rahel von August Varnhagen vierzehn Jahre. Ihren Kindern waren diese Frauen fast alle leidenschaftliche Mütter; Rahel Varnhagen, die keine Kinder hatte, wollte ihre Liebe zu Kindern auf den Grabstein gemeißelt wissen. Noch das unglückliche Ende der Günderrode, ihr Freitod, der dieser Liebe zu allem Ursprünglichen, der Liebe zum Kind im anderen Menschen und der Liebe zur gemeinsamen Mutter, der Natur, zu widersprechen scheint, wird im Grunde davon getragen: »Durch Vernichtung des Leibes früher zu nahen dem Ewigen . . . .«
Anthologien entstehen aus dem schlechten Gewissen des Heute gegenüber dem Gestern. Sie versuchen, soweit sie es vermögen, das Unrecht zu sühnen, das jede Gegenwart an ihrer Vergangenheit begeht, indem sie — vergißt. Dieses Buch, knapp und ungerecht wie jede Auswahl gegenüber der Fülle des Lebens ist, möchte zeigen, wie Menschen — Frauen —, von ihrer Zeit geprägt, in ihre Zeit eingegriffen haben, als Schriftstellerinnen, als Gefährtinnen bedeutender Männer, als Spiegel und Gewissen ihrer Epoche. Es möchte seine Reverenz vor dem literarischen Werk erweisen, wo es sich um Dichtung handelt, bei den Liedern Marianne von Willemers, die längst im Werk des Größeren, Goethes, aufgegangen sind, bei den Gesängen der Günderrode über Liebe und Tod, bei den phantasievoll-eigenwilligen Briefkompositionen Bettina von Arnims, bei manchen anderen, wo Dichtung im bescheidenen Gewand eines einfachen Briefes auftritt. Vor allem aber, und das gilt für jeden der hier vereinigten Namen, möchte dieses Buch an die Leistung erinnern, die das Leben jeder einzelnen dieser Frauen bedeutet, an Fröhlichkeit im Alltag und Tapferkeit im Leiden, an gescheiterte oder erfüllte Hoffnungen, an kurze Vollendungen, an die Heiterkeit der Entsagung, an die Bitterkeit des Verzichts.

Wolfgang Pehnt

Texttyp

Einleitung