Frau Gottsched

Luise Adelgunde Victoria Gottsched, geb. Kulmus (1713-1762)

»Ein Frauenzimmer liest, um besser und weiser zu werden,
nicht um gelehrter zu scheinen.«
Luise Adelgunde Victoria Gottsched
an Mademoiselle Schulz, 16. Mai 1756

Frauen der Goethezeit

Die beiden jungen Leute, die den Professor Gottsched in seiner Wohnung im Leipziger »Goldenen Bären« aufsuchten, fanden den gelehrten Mann im gründamastenen Schlafrock, doch kahlen Hauptes, ohne Allongeperücke, die erst ein erschrockener Diener seinem Herrn nachtrug. Die ergötzliche Szene aus Goethes Dichtung und Wahrheit hat auf ihre Leser größeren Eindruck gemacht als das Lob, das Goethe der Critischen Dichtkunst Gottscheds im gleichen Kapitel spendete. Dabei ging von Gottsched — freilich kaum noch im Jahre 1767, als Goethe und sein späterer Schwager Johann Georg Schlosser ihn besuchten — eine nachhaltige und fruchtbare Wirkung aus. Es war Gottsched, der energisch den barocken Schwulst in der Literatur bekämpfte, dem deutschen Theater eine Sammlung spielbarer Dramen verschaffte und sich unermüdlich für die Bildung und Aufklärung seiner Zeitgenossen einsetzte.
Seine pädagogische Arbeit war nicht zuletzt deshalb so wirkungsvoll, weil er auf ein vollkommenes Beispiel für den Erfolg seiner Erziehungsmethoden hinweisen konnte: seine eigene Frau. Um die Ausbildung schon des jungen Mädchens kümmerte er sich eingehend. Zwar brachte Luise Adelgunde Victoria Kulmus, die Tochter eines Danziger Arztes, erstaunlich vielseitige Kenntnisse und Neigungen mit. Sie sprach englisch und französisch, spielte mehrere Instrumente, für die sie sich selber die Noten schrieb, schriftstellerte und verfaßte Gedichte. Die Korrespondenz der Brautleute bewegte sich zum guten Teil um die Lektüre, die Gottsched ihr schickte, um Übersetzungen, die sie anfertigte, um den Gebrauch der deutschen Sprache, die er ihr statt der französischen empfahl. Als Gottsched in Leipzig das »ordentliche Lehramt der Weltweisheit«, der Philosophie, erhielt und seine junge Frau zu ihm in die Stadt an der Pleiße übersiedelte, pflegte sie in ihrem Zimmer, das an den Hörsaal grenzte — die Vorlesungen fanden in den Häusern der Dozenten statt — den Exkursen und Übungen ihres Mannes zu lauschen. Latein holte sie bald und rasch nach.
Mit diesen Voraussetzungen geht die Gottschedin an ein Werk, das enzyklopädische Ausmaße annimmt. Gottsched selber gerät in dem biographischen Lebensabriß, dem» Ehrenmal«, das er seiner Frau nach ihrem Tode errichtete, mit der Chronologie in Unordnung, »denn auch das fähigste Ge-dächtniß ist kaum vermögend, alle Proben ihres außerordentlichen Fleißes zu behalten.« Neben Arbeiten wie Register- und Exzerptanfertigen für den vielbeschäftigten Professor übersetzt sie, so Popes Lockenraub, den Guardian Addisons, den größeren Teil der Histoire de l'Academie Royale. Eine Geschichte der lyrischen Dichtkunst seit Otfrids Zeiten verbrennt sie im Zorn, als sich kein Verleger findet. Die Deutsche Schaubühne, die Dramensammlung ihres Mannes, verdankt ihr nicht weniger als ein Dutzend Stücke — Übersetzungen und aus ihrer eigenen Feder eine Tragödie und vier Komödien, die Mißstände ihrer Zeit kräftig glossieren. Alle ihre Arbeiten, auch die Aufsätze und Rezensionen in den verschiedenen Zeitschriften Gottscheds, wirken aktiv auf Erziehung und Besserung von Übelständen hin. Mit erzählender Dichtung hat sie sich bei ihrer Abneigung gegen die müßiggängerische Romanlektüre nur zweimal befaßt: eine Übersetzung, ein Marivaux, erschien auf ihre ausdrückliche Bitte hin anonym, eine andere, die Princesse de Cleves der hochberühmten Frau von Lafayette vernichtete sie.
Aber diese intelligente und kampflustige Frau, die sich ganz der pädagogischen Idee des Jahrhunderts verschrieben hatte, war alles andere als eine trockene Buchgelehrte. Ihr enormes Wissen war ihr niemals nur Zweck zum polemischen Mittel; sie selber verglich ihre Arbeit mit dem »Ombrespiel«, das sie »nur zum Zusehen, nicht zum Mitspielen« erlernte. Mochte die Gottschedin ihre Erfolge ihren Kenntnissen verdanken oder auch der Tatsache, daß es eine Frau war, die sie besaß — beteiligt war zumindest daran auch die wirkungsvolle und amüsante Form, in der sie sie vortrug. Wie temperamentvoll kommt sie mit einem Gedicht, das den Refrain hat »Wer dunkel schreibt, der schreibt erst schön!«, ihrem Mann zu Hilfe, der mit den Schweizer Literaturtheoretikern in einen Streit über den Begriff des Geschmackes und der Empfindung in der Dichtung geraten war. Köstlich der Witz und die Beschlagenheit — sie argumentiert mit gotischen Etymologien —, durch die sie den Autor einer Arbeit über deutsche Orthographie widerlegt: Sie verteidigt die Schreibung der Wörter, wie sie die Sprachgeschichte ergeben hat, und die Bilder, die sie gebraucht, bezeugen ein Gefühl für das Eigenleben der Sprache, das bereits auf die Brüder Grimm weist. »Ein Wort, das sich mit einem i schließt (statt mit einem y), das kommt mir wie ein verächtlich kleines Städtchen vor, so Tag und Nacht offen steht«, und zur vorgeschlagenen Ersetzung des x durch ks bemerkt sie: Kruzifiks, Konneksion — »was sagen Sie selbst zu diesem Zigeunergesindel?«
Die letzten Lebensjahre der Frau Gottsched waren, unerwartet genug, von tiefer Skepsis überschattet, die gewiß weder allein ihrer geschwächten Gesundheit zuzuschreiben ist, wie Gottsched selber es tat, noch den »gegenwärtigen Besdiwerlichkeiten eines gelehrten Lebenswandels«. Sie liest, ungeachtet ihrer »Neigung zur Melancholie«, die Nachtgedanken Youngs, die Lektüre der folgenden Generation, »so sehr ich darwider mit mir selbst stritte«. Sie sieht im Gefolge der Herrnhuter die religiöse Schwärmerei wieder aufleben, die sie einst in ihrem Lustspiel Die Pietisterey im Fischbeinrock bekämpft hatte. Aber vor allem war es der »unseelige Krieg«, der Siebenjährige Krieg, in dessen letztem Jahr sie starb, der sie mit wirklicher Ratlosigkeit erfüllte und sie verstummen ließ. »Ich kenne die gute und böse Seite der Welt: die erstere ist nicht mächtig genug, mich länger an sich zu ziehen«, lautet eines dieser späten, pessimistischen Worte der Gottschedin. Die erste große Stunde der Aufklärung in Deutschland war vorüber; war die Aufklärung nicht weiter von ihrem Ziel entfernt als je?

Luise Adelgunde Victoria Gottsched
Das XXIX. Stück der »Vernünftigen Tadlerinnen«

Rachel.
Der Mutter Abriß ist die Tochter insgemein;
Wie ietzo Thais ist, so wird ihr Kind auch seyn.

Ich muß mich oftmals wundern, daß der Haß, gegen die Gelehrsamkeit des weiblichen Geschlechts, bey vielen Leuten so gar groß ist. Man kann bei den meisten Leuten ein Frauenzimmer nicht lächerlicher, nicht abscheulicher abbilden, als wenn man ihm den Titel eines gelehrten Frauenzimmers beyleget. Und es giebt unstreitig Männer, welche sich lieber entschließen würden, ihr Lebenlang Junggesellen zu bleiben, als eine gelehrte Frau zu nehmen.
Wir sind entschlossen, dieser Materie in gegenwärtigem Stücke etwas weitläufiger nachzusinnen. Niemand darf das übereilte Urteil fällen, als ob wir gesonnen wären, uns selbst eine Lobrede zu halten: dieß Blatt selbst wird einen ieden eines andern belehren, und unsere Leser überzeugen, daß wir uns des Titels, gelehrter Frauenzimmer, nicht einmal anmaßen. Wir wünschen uns nur genügsame Fähigkeit, diejenigen, welche diesem Blatte die Ehre thun, es zu lesen, von folgenden Wahrheiten gnugsam überführen zu können: daß ein Frauenzimmer, welches nicht mehr weiß, als diejenigen, die man gewöhnlich mit dem Titel gelehrt zu beehren pflegt, noch lange nicht gelehrt heißen könne; daß es aber nothwendig sey, daß ein Frauenzimmer sich die Erlernung gewisser Künste und Wissenschaften, zu Beobachtung ihrer Pflichten, angelegen seyn lasse; und daß sie dadurch zwar vernünftig, aber noch lange nicht gelehrt werden wird ....
Laßt uns doch untersuchen, worinnen die Gelehrsamkeit unserer Mitschwestern heute zu Tage besteht. Sie sprechen ihre Muttersprache; oftmals auch nicht besser, als sie diesselbe von den Mägden erlernet haben. Sie haben ein paar Jahre einen Tanzmeister gehabt, und erinnern sich zuweilen seiner Lehren, wenn ihnen etwa in Gesellschaft die Zeit lang wird. Sie haben von der Malerey etwa so viel behalten, daß sie auf einem mit Oele getränkten Blatte einen Kupferstich nachzeichnen können. Vom Französischen haben sie auch noch nicht alles vergessen. Die Anfangs- und Abschiedscomplimenten in einer Gesellschaft können sie zur Noth hersagen; auch wohl einen deutschen Brief mit einem vötre veritable Amie, oder treshumble servante schließen. Wenn sie in einem leichten französischen Romane hier und dar ein Wort verstehen; so gelingt es ihnen zuweilen auch, da£ sie, wo nicht den eigentlichen, doch einen ähnlichen Siun des Verfassers errathen. Das Einmaleins können sie auch noch wohl; zuweilen gar addiren. Sie schreiben nach einem Linienblatte, in vier oder drey Stunden, eine ordentliche und orthographische Seite: das letztere sage ich meinem Geschlechte nur zu Liebe nach; ich mag aber durchaus nicht dafür gut seyn. Nun kömmt das beste: sie machen Verse! Aber was für welche? Sind sie rein? Sind sie regelmäßig? Sind sie voller edlen, erhabenen, tugendhaften und vernünftigen Ausdrückungen? Was sind es für Gattungen? Sind es Heldengedichte? Sind es dogmatische Gedichte? Sind es edle, neue und sinnreiche Erfindungen? Ich mag diese Fragen nicht beantworten. Man frage die im Drucke vorhandenen Werke meiner Mitschwestern selbst darum. Ich wünsche aber, daß niemand die großen Mängel im äußerlichen, und die gemeinen, schwülstigen, nichtssagenden, frechen, pöbelhaften, groben und unzüchtigen Stellen, des innerlichen Wesens ihrer Gedichte, gewahr werden möge, worüber ich schon oftmals in meinem Herzen geseufzet. Wie viel fehlt nicht noch daran, ehe wir eine einzige Deshoulieres in der Poesie, eine einzige de Sevigne in Briefen, eine einzige Gomez in der Beredsamkeit, und eine einzige Barbier in Trauerspielen aufzuweisen haben.
Nun sage mir einjieder, was von der bisherigen Gelehrsamkeit unsers Frauenzimmers zu halten sey? Auf einiger schmeichelnden Freunde Lobsprüche, auf das niederträchtige Lob übereilter Poeten, ja auf alle unverdiente Ehre, die man uns erzeiget, kömmt es nicht an. Es bleibet wahr, was Rachel in seinem Poeten sagt:

Jetzund, wenn einer nur kann einen Reim herschwatzen,
Die Leber ist vom Huhn, und nicht von einer Katzen:
Da heißt er ein Poet.

Indessen, gesetzt auch, daß ein Frauenzimmer alle obige Wissenschaften in einem hohen Grade besäße; gesetzt, daß sie in denselben alle Personen ihres Geschlechts überträfe: wird sie denn deswegen vernünftiger, wird sie tugendhafter, oder klüger seyn? Nein, die angeführten Künste tragen zu der Verbesserung unseres Herzens, das ist, des Verstandes und Willens, wenig oder gar nichts bey. Sie kann bey aller Musik eine unverständige Ehegattin, bey den künstlichsten Tänzen eine närrische Mutter, und bey allen poetischen Künsten dennoch eine sehr unwissende Hausfrau seyn: wofern sie sich nicht auf andere Wissenschaften leget, die sie zu Beobachtung ihrer Pflichten fähiger und geschickter machen.
Ich rede hier von solchem Frauenzimmer nicht, welche sich in einem so niedrigen Stande befinden, daß sie einmal bey ihren Männern, allem Ansehen nach, nur die Stelle einer treuen Magd vertreten werden. Es würde thöricht seyn, von dergleichen Leuten mehr zu begehren, als sie leisten können: sondern ich rede hier von denen, deren Glück ihnen Zeit, Vermögen und Gelegenheit genug erlaubt, sich desjenigen zu befleißen, welches sie künftig einmal zu einem nützlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft machen kann. Daß diese meine Anforderung billig sey, wird man leicht erachten können, wenn man auf die Pflichten sieht, welche uns sowohl in geistlichen als weltlichen Gesetzen auferlegt sind. Diese sind aber der Gehorsam gegen die Männer, die Besorgung des Hauswesens, und die Erziehung der Kinder.
Alle drey sind von sehr großer Wichtigkeit; und wer dieses wohl einsehen kann, der wird mir leicht zugestehen, daß dazu ein aufgeklärterer Verstand gehöre, als man ihn auf die Welt bringt. Man darf mir hier auch nicht einwenden, daß dasjenige Frauenzimmer, welches sich zum ehelosen Stande entschließt, an meiner Ermahnung keinen Antheil nehmen dörfte. Denn einestheils muß man schon sehr wichtige Ursachen haben, um eine Lebensart zu erwählen, die dem Gesetze der Natur zuwider ist. Zum andern glaube ich, daß solche Vorsätze durch tausend Zufälle können umgestoßen werden, die eine Person zwinget, ihre Meynung zu ändern. Und drittens kömmt es mir sehr unwahrscheinlich vor, daß dasjenige Frauenzimmer, welches man im ehelosen Stande leben sieht, sich dazu von freyen Stücken sollte entschlossen haben. Gesetzt aber auch, daß dieses wäre; so ist ein lediges Frauenzimmer um so viel mehr verbunden, auf die Verbesserung ihres Gemüthes bedacht zu seyn, ie weniger sie durch die häuslichen Geschaffte davon abgehalten wird. Denn es ist die Anzeige eines närrischen Gemüthes, so lange gelebt zu haben, und dennoch weder der Welt, noch sich selbst, nützlich gewesen zu seyn.
Zu dem täglichen Umgange mit einer Person, die man allezeit hochschätzen, und niemals vorsetzlich beleidigen muß, gehört eine größere Klugheit, als der Mensch mit auf die Welt bringet. Dieses aber ist nicht genug; wir müssen einer solchen Person auch noch beständig gefallen, wir müssen uns bestreben, ihre Gunst gegen uns täglich zu einem höhern Grade zu treiben, und also die Liebe der Männer, in welcher das einzige Glück einer vernünftigen Frau bestehet, niemals erlöschen zu lassen. Hierzu gehöret nun eine genaue Erkenntniß der Gemüther, eine philosophische Einsicht in die Natur unserer Handlungen, und ein weises Vorhersehen derer, aus denselben entspringenden, Folgen. Ja wir müssen auch ein richtiges Erkenntniß von der Natur des Guten und Bösen, von Tugenden und Lastern haben. Denn da nicht alle Männer vernünftig sind, und diese leichtlich von ihren Frauen etwas Unbilliges und Böses begehren könnten: so muß hier eine Frau das Wahre von dem Falschen wohl zu unterscheiden wissen. Ich gestehe, daß dieses einer der schwersten Umstände für unser Geschlecht ist: denn da auch ein boshafter unverständiger Mann gleichwohl gegen seine Frau alle Vorrechte eines Mannes hat; so ist sie in desto gefährlicheren Umständen, wenn sie weder ihren Pflichten gegen ihn, noch der Tugend, zu nahe treten soll. Ja sie ist verbunden, wenn es möglich ist, ihn von dem Bösen zum Guten zu lenken. Wie viel Vernunft, Vorsichtigkeit und Klugheit hierzu erfordert wird, das werden diejenigen leichtlich einsehen, die diese Sache gründlich überlegen. Kurz, unser Geschlecht ist das glückliche Werkzeug, wodurch die weise Vorsicht das Leben, die Bequemlichkeit und das Vergnügen des männlichen Geschlechts befördern wollen. Und wie können wir unsere Bemühungen wohl besser anwenden, als wenn wir uns zu derjenigen Pflicht tüchtig machen, die uns unser weiser Schöpfer auferleget hat?
Die Herrschaft über das Gesinde ist gleichfalls eine Sache, die denen nicht mehr als ein Spielwerk vorkommen wird, welche es vernünftig erwägen, daß befehlen viel schwerer sey, als gehorchen. Ich kann mirs nicht anders vermuthen, als daß mich einige meiner Leser mit einem so ungewöhnlichen Sprüchworte auslachen werden. Allein ich versichere sie, daß ich sie von Herzen bedaure; und es lieber sähe, daß sie in Zeiten der Sache besser nachdenken möchten, als daß ich ihnen, die bösen Folgen ihrer Unbesonnenheit zu erfahren, gönnen wollte .... Weil nun die Männer mit so vielen wichtigen Geschafften außer dem Hause beladen sind, daß sie auch an diese Sorge nicht denken können; so fällt dieselbe wiederum auf die Frau, und dieß ist eine neue Bestätigung meines Begehrens. Sie wird von dieser Bemühung viele Früchte haben. Das Vergnügen einer angenehmen Ordnung in ihrem Hause; das Lob ihrer Bekannten; die innerliche Zufriedenheit, daß ihre Bedienten bey ihr nicht nur gespeiset und gekleidet, sondern auch zu vernünftigen Menschen gemacht werden; und endlich die Liebe dieser Leute selbst, die sie als ihre Mutter betrachten, und ihr mit desto größerer Liebe und Treue dienen werden: das alles wird sie erhalten! Was soll ich aber von den Herrschaften sagen, welche es in der Unvernunft ihrem Gesinde weit zuvor thun? Ich mag mein Urtheil davon nicht sagen: Vernünftigen würde es nichts neues seyn; und denen, die es träfe, würde es viel zu hart scheinen.
Wir kommen auf die Kinderzucht, und sehen dabey auf die Pflichten, welche einer Mutter auch in diesem Stücke obliegen. Wer sollte nun denken, daß man es nöthig hätte, hierinnen die geringsten Lehren zu geben? Wer sollte nicht glauben, daß die natürliche Liebe eine iede Mutter schon selbst antreiben würde, hierinnen ihren möglichsten Fleiß anzuwenden? Allein die Erfahrung überzeugt uns, daß fast keine Sache im gemeinen Leben schlechter bestellet wird, als die Kinderzucht. Eine Mutter denket Wunder was sie gethan hat, wenn sie das Kind zur Welt gebiehret. Hierauf vertraut sie es der Aufsicht einer leichtfertigen Metze an, die ihm sogleich mit der Milch die Liebe zu den Lastern einflößet. Kaum kann es lallen, so schickt man es in eine Schule, allwo die bösen Beyspiele anderer Kinder, und die unvernünftige Unterweisung eines eigennützigen Lehrers, dasselbe vielmehr zur Dummheit als zur Wissenschaft führen. Zu Hause wird es auch mehr durch henkermäßige Strafen, als durch gründliches Ueberzeugen vom Bösen zum Guten, wo nicht gar von diesem zu jenem, geführt. Wer aber nur ernstlich bedenken will, wie viel an der Zucht unserer ersten Kindheit gelegen ist; und wie stark sich dasjenige, was man in der Jugend annimmt, unserm Gemüthe einverleibet: der wird leicht erkennen, daß hierzu viel mehrere Geschicklichkeit gehöret, als insgemein bey der Kinderzucht angewandt wird ....
Was denkt man aber nun von einer [guten] Mutter? Wird sie nicht die zwanzig ersten Jahre ihres Lebens fleißig seyn müssen, wofern sie alle diese Forderungen erfüllen will? Wird sie nicht von der Philosophie, sonderlich von der Vernunft- und Sittenlehre, ja auch von der Physik, von der Metaphysik, von der Historie, Geographie, und allen dergleichen Wissenschaften, viel wissen müssen? Dünkt euch dieses zu viel, ihr Mütter? Ist euch diese Sorgfalt für eure Kinder zu mühsam? Fürchtet ihr euch vor eurer und eurer Kinder Klugheit und Tugend? Ist es euch eine Last, diejenigen um euch zu haben, die die Natur unter euer Herz geleget hat? Ist euch nichts daran gelegen, daß ihr der Welt vernünftige Bürger erziehet? Ist es euch gleich viel, ob eure Kinder zu einer ewigen Glückseligkeit gelangen, oder nicht? Wollet ihr eurem Gesinde mehr zutrauen, als euch selbst? Sollen eure Kinder ihre Tugend, ihre Vernunft, ihre Wissenschaften, ihre zeitliche und ewige Wohlfahrt nicht euch, sondern Fremden, zu verdanken haben? Dünkt es euch nicht süße, wenn ihr dieselbe auf einer Tugendbahn wandeln seht, darauf ihr ihnen selbst mit Nachdruck vorgehet? Dünkt es euch nicht angenehm, alle ihre edlen Empfindungen, alle ihre löblichen Thaten, alle ihre Vollkommenheiten, als so viel aufgehende Früchte eures ausgestreuten Saamens anzusehen? Dünkt es euch nicht angenehm, den guten Namen, den ihr euch im Leben erworben, durch eure tugendhaften Kinder, noch zu höheren Ehren erhaben zu sehen? Und muß euch die Vorstellung nicht entzücken, in der Ewigkeit ein Gefolge von Seelen mit euch zu haben, die ihr voriges Leben, ihre Tugend, und deswegen auch ihren ietzigen glücklichen Zustand, euch und eurer Sorgfalt zu verdanken haben? Ja freylich! muß euch dieses ungemein rühren. Wofern ihr nur noch Menschen seyd, wofern ihr die Lust, die aus der Tugend entspringt, iemals empfunden habt: so muß es euch rühren, so muß es euch nothwendig bewegen.
Was sollen wir aber von den Männern sagen, welchen vielleicht schon Angst und bange ist, daß dies Blatt eine gute Wirkung haben wird? welche schon zittern und beben, aus Furcht, daß sie künftig keine dummen Weiber mehr werden haben können? und welche lieber eine alberne Frau nehmen möchten, als eine, die ihre Kinder wohl gar klüger machen möchte, als sie selber sind? Wir wollen ihnen ihr närrisches Beginnen nicht verweisen; sondern ihnen nur, zum Besten ihrer Nachfolger, alle die glückseligen Folgen, einer Ehe mit einer dummen Frauen, einer unvernünftig eingerichteten Haushaltung, und einer Übeln Kinderzucht, von Herzen angewünschet haben.
Calliste.

  • Der Aufsatz enthält ein Programm der Frauenerziehung, wie die Gottschedin und mit ihr die Aufklärung sie sah: Unterrichtung der Frau um ihrer Aufgaben in der Gesellschaft willen — Ehe, Hauswesen, Kindererziehung — zugleich dadurch »Verbesserung ihres Gemüthes«. Gottsched nahm den Essay in die zweite und dritte Auflage seiner »Vernünftigen Tadlerinnen« auf, die 1738 und 1748 in Buchform erschienen. — Rachel: Satiriker und Pädagoge des 17. Jahrhunderts, Rektor der Schleswiger Domschule. — Deshoulieres: französische Dichterin des 17. Jahrhunderts, Schäferpoesie, Idylle, Tragödie. — Sevigne: die berühmte Brief schreiberin aus der Zeit Ludwigs XIV. — Gomez: Verfasserin von Novellen und Gedichten; ihren »Triumph der Beredsamkeit« hatte die junge Gelehrte schon vor ihrer Heirat mit Gottsched übersetzt.

Luise Adelgunde Victoria Gottsched
Brief der Maria Ignava aus dem VIII. Stück der
»Vernünftigen Tadlerinnen«

Vernünftige Tadlerinnen!
Die Hochachtung, darein ihr euch durch eure Schriften gesetzt habt, hat auch mich zu eurer Verehrerinn gemacht; und die Begierde, euch dieses kund zu thun, hat mich veranlasset, zum erstenmale in meinem Leben ein paar Stunden zu arbeiten. Denn ungeachtet ich diesen Brief durch meine Auf-wärterinn schreiben lassen; weil ich nichts in der Welt weiß, welches mir die Mühewaltung, persönlich einen Brief zu verfertigen, ablocken sollte: so kann ich doch nicht in Abrede seyn, daß es mir schon als eine sehr schwere Arbeit vorgekommen ist, ihr dessen Innhalt vorzusagen, und über eine Stunde lang an eine Sache mit Aufmerksamkeit zu denken. Ja ich versichere euch, wenn die Hochachtung gegen euch nur der einzige Bewegungsgrund dieses Schreibens wäre: so hättet ihr dasselbe nimmermehr zu Gesichte bekommen. Ich weiß, daß es Leute giebt, die, so bald ihr den Beyfall der Vernünftigen erworben hattet, keinen Augenblick länger angestanden haben, euch ihren Beyfall gleichfalls schriftlich zu bezeigen; weil sie meynten.dieß wäre ein sichres Mittel, daß man sie künftig auch für vernünftig halten würde: ungeachtet alle ihre Handlungen viel gewissenhafter sind, als daß sie so was ungereimtes bestätigen sollten. Von dieser Gattung bin ich, ohne Ruhm zu melden, nicht. Man hätte mich halten mögen, wofür man immer wollte; meine Gemüthsruhe, meine unvergleichliche Bequemlichkeit, ist mir viel zu süße, als daß ich sie einem ungegründeten Ruhme aufopfern sollte. Allein mich treibet eine weit größere Noth, daß ich meine Zuflucht zu euch nehmen muß. Die Gewohnheit der ietzigen Zeiten tastet mich auf der empfindlichsten Seite an; und ich hoffe also, daß auch mir die Freyheit eines Wurmes erlaubt seyn wird, der sich krümmet, wenn man ihnen drücken will. Daß ich aber meine Zuflucht zu euch, schätzbare Tadlerinnen, nehme, das geschieht deswegen; weil ihr euch der Drangsalen eurer Mitschwestern so herzlich annehmet, und schon mehr als einmal denselben glücklich abgeholfen habt.
Ich beschwere mich über die ietzige Mode des Fleißes meiner Mitschwestern, welcher seit einiger Zeit so entsetzlich überhand genommen hat, daß man daraus zum allerwenigsten den Untergang der Welt besorgen muß. Denn was ist natürlicher, als daß sie sich allerseits in kurzem zu Tode arbeiten werden? Ich lebe in Leipzig, wo dieses Uebel bisher so stark eingerissen ist, daß ich es unmöglich länger ansehen kann. Hat diese Pest euer Halle noch nicht angesteckt: so seyd ihr sehr glücklich, lieben Tadlerinnen! und wenn ihr mich dessen versichert; so könnte ich mich leichtlich der schweren Arbeit unterziehen, von meinem Stuhle aufzustehen, mich ankleiden, in eine Kutsche tragen, und nach Halle führen zu lassen, um daselbst meine Wohnung aufzuschlagen.
Könnt ihr es euch wohl einbilden, scharfsinnige Tadlerinnen, daß der verwünschte Fleiß des Frauenzimmers sich schon bis in die Gesellschaften eingeschlichen habe? Wenn ihr vor ein Wochenbette, oder zu einem Besuche kommet; so findet ihr ein halbes Schock Weibspersonen beysammen, die, wenn ihre prächtigen Kleidungen nicht das Gegentheil bewiesen, für so viele Halbjungfern gehalten werden könnten, welche ums Brodt arbeiten, und nicht einmal eine müßige Stunde zu einem Besuche erübern können. Sie mögen sich deswegen entschuldigen, wie sie wollen; sie mögen es mir zehnmal vorsagen, ja zuschwören, daß sie zu Hause Zeit genug haben, müßig zu gehen. Sie mögen es mich noch so theuer versichern, daß sie den ganzen Morgen im Bette zubringen, bis eilf Uhr sich ankleiden, bis zwölf Uhr am Fenster stehen, hernach bis zwey Uhr speisen, hernach bis vier Uhr Mittagsschlaf halten; und daß sie also, bey so vielem Müßiggange, gar leicht ein halbhundert Knötchen auf einer Visite machen könnten. Sie mögen es mir schriftlich geben, daß sie nach ihren Kindern gar nicht sehen, daß manche Frau in drey Jahren nicht in die Küche, und zum wenigsten in eben so vielen Monaten nicht auf die Kinderstube kömmt; daß sie nicht weiß, wie viele Frey er die Jungemagd ihrer erwachsenen Tochter täglich zuführet: ich glaube es ihnen nicht! und kann es mir nicht einbilden, daß ein so entsetzlicher Fleiß in Gesellschaften, nicht mit einem noch viel größern zu Hause verbunden seyn sollte. Sie wollen sich zwar auch hierinnen entschuldigen. Es hat mir eine gute Freundinn zugeschworen, daß sie schon über fünf Jahre an ihrem halbfertigen Strumpfe gestricket hat, und ich gestehe es, daß seine ausnehmende Schwärze mich bald zweifelhaft machen sollte, ob ihm nicht ein so hohes Alter zuzutrauen sey? Allein ich gestehe es, daß es mir sehr schwer fällt, auch selbst meinen eigenen Augen in diesem Stücke zu trauen.
Kömmt es vollends zum Kartenspielen; mein Gott, was ist das wieder für eine Arbeit! Kein Mensch sollte denken, daß diese Verrichtung eine Zeitkürzung sey; nein! unsere Leipzigerinnen treiben es so weit, als wenn sie ihr Brod damit erwerben sollten: und vielleicht würde diese Ahndung nicht eben bey allen trügen! Ist das nicht eine Heftigkeit und ein Eifer, womit das Kartenspiel fortgesetzet wird! So mag ich nicht spielen! wenn ich nicht zwischen iedem Stiche eine halbe Stunde plaudern kann; so nehme ich lieber gar keine Karte in die Hand! Ich weiß, daß eine gewisse Gesellschaft zur Sommerzeit einmal eine gute Freundinn auf dem Lande besuchte. Kaum war man aus der Kutsche gestiegen, so wurden die Karten gefordert; und es ward mit dem Spiele so lange fortgefahren, bis die einbrechende Nacht die Gesellschaft erinnerte, wieder nach der Stadt zu kehren. Ist das nicht eine Thorheit! Wer fährt denn wohl aufs Land, um daselbst eben das zu thun, was man in Städten, im aller-garstigsten Wetter, in der Stube zu thun pflegt? Nein, ich wollte lieber todt seyn, als so leben! Wenn ich aufs Land fahre; so setze ich mich an einen Ort, wo die schönste Aussicht ist, und rühre mich nicht vom Flecke, bis die Thorglocke mich wieder nach Hause rufet.
Ihr werdet vielleicht lachen, liebsten Tadlerinnen! und denken, daß dieses, von einer Ausschweifung auf die andere fallen, heißt: denn aufs Land zu fahren, um Karten zu spielen, das sey eben so thöricht, als sich auf einen Fleck zu setzen, und nicht von der Stelle zu kommen. Ihr seyd vielleicht von der Art gewisser Leute, welche aufs Land fahren, frische Luft zu schöpfen; eine Veränderung der Schönheiten der Natur zu sehen, und ihrem Leibe durch einen angenehmen Spaziergang eine Bewegung zu verschaffen. Allein das ist für mich zu beschwerlich! Und damit ich euch nur aus dem Traume helfe; so erlaubet mir, euch einen kurzen Abriß von meiner Gemüthsart zu machen.

  • »Es gibt nur eine Clio in Leipzig, welche bei allem Reiz, den man von ihrem Geschlechte verlanget,
    auch noch durch die Wissenschaften der Welt bekannt geworden.«
    Amalie Richardin, 1756

Die Bequemlichkeit, oder, ich will es nur frey heraus sagen, die Faulheit ist diejenige Eigenschaft in mir, der ich alle die Ehre und alle die Vortheile aufopfere, welche aus det Arbeit entspringen. Der Mensch ist ein viel zu edeles Geschöpf, als daß er arbeiten sollte: zum wenigsten habe ich bisher meinen ganzen Vorzug vor den Thieren darinnen gesucht, daß ich weniger gethan habe, als sie. Ihr werdet es mir leicht glauben, wenn ich euch versichere, daß ich weder das R noch das S auszusprechen gewohnt bin; und dieses nicht etwa, weil meine Zunge von Natur ungeschickt dazu ist: sondern, weil es mir zu beschwerlich fällt. Wiewohl ich glaube, daß alle vier und zwanzig Buchstaben des Alpha-beths, sich ziemlich über mich beklagen könnten, indem ich mir einmal eine gewisse Oeffnung des Mundes angewöhnet habe, die mir die bequemste ist; und mit dieser mögen sich meine Wörter und Zuhörer behelfen! Rede ich ihnen nicht deutlich genug, so will ich lieber ihnen misfallen, als meiner Faulheit einen Abbruch thun. In der That finde ich, daß aus der Arbeit viele Verdrießlichkeiten entspringen, die man beym Müßiggange gar nicht zu besorgen hat. Wievielmal arbeitet man nicht vergeblich! Wie oft wird einem nicht die Arbeit übel belohnt! Wie mancher thut nicht durch seine Arbeit seiner Gesundheit Schaden! Wie mancher hat sich nicht schon zu Tode gearbeitet! Alles dieses darf ein Müßiggänger nicht besorgen. Er ist ruhig; und wenn er keinem nützet, so schadet er doch auch keinem: welches gewiß bey vielen Leuten das einzige ist, was man von ihnen begehret. Niemand aber wird es sich unterstehen, einem Müßiggänger vorzurücken, er habe was Übels gethan: denn er ist gewohnt, gar nichts zu thun.
Und dieses ist die güldene Lehre, welche ich euch, wehrteste Tadlerinnen, euren Mitschwestern einzuschärfen, ersuche.

»Das Gesicht ist doch, man mag gegen die Schönheit einwenden, was man will, äußerst geistreich,
und zwar nicht nur das ganz außerordentlich helle, funkelnde, theilnehmende Seherauge — auch die,
wie man sagt, häßliche Nase!«
Johann Caspar Lavater

Laßt sie doch lieber gar nichts thun, als daß sie in Gesellschaften arbeiten! Es kann ihnen ja nicht schwer fallen, müßig zu seyn: sie dürfen sich ja nur einbilden, daß sie zu Hause sind. Versichert sie nur, daß, wenn ich sonst der Arbeit nicht ganz abgesaget hätte; so würde ich zu Hause bleiben, wenn ich fleißig seyn wollte, und nur alsdann ausgehen, wenn ich keine Lust hätte zu arbeiten.
Werdet ihr mir diese Liebe erzeigen; so werde ich lebenslang (doch meiner Bequemlichkeit ohne Schaden) verharren. Leipzig, den 10. Febr. 1725.
Eure ganz ergebene Maria Ignava.

  • Die Gottschedin wandte das wirkungsvolle polemische Mittel an, den Standpunkt des Gegners zum Schein anzunehmen, ihm eine absurde Argumentation zu unterschieben und damit der Lächerlichkeit preiszugeben. Der angebliche Brief der »Ignava« — der Methode nach ein Gegenstück zu den »Dunkelmännerbriefen« des 16. Jahrhunderts — ist in einen Traktat der Gottschedin eingeschaltet, der ein Lob des Fleißes enthält. Die fiktive Briefschreiberin macht aber nicht nur die eigene Faulheit lächerlich, sondern zugleich den scheinbaren Fleiß ihrer Zeitgenossinnen; ein Laster geißelt das andere. — Halle: Die erste Auflage der »Vernünftigen Tadlerinnen« erschien zum Teil in Halle.

Johann Georg Kulmus an Johann Christoph Gottsched

WohlEdler, Großachtbahrer, und Hochgelahrter, Insonders HochgeEhrter Herr Magister, Hochgeneigter Gönner.
Ich nehme mir die Freyheit, Euer WohlEdlen gegenwärtige Zuschrifft zu übersenden, umb mich dadurch für die Übersendung so wohl Dero Gelehrten Disputatio an mich, als auch derer sehr netten Poetischen schrifften an meine Tochter, best-schuldigst zu bedancken. Die vor der Hand gewesenen FeyerTage, sambt dem Neuen Jahresfeste (wozu ich hertzlich gratulire und alles hohe Wohlseyn anerwüntsche) sind die Ursache, warumb solches nicht eher geschehen ist. Inzwischen versichere ich, daß ich dem H. Bernhardi gar sehr verbunden bin, daß Er zu dieser höchst angenehmen bekandt-schaffi den Grund geleget: nur hätte ich gewüntschet, daß er die Idee von meiner Tochter mit etwas dunckler Farbe für-gestellet hätte. Daher ich auch Euer WohlEdlen gehorsambst bitte, eine so große Poetin aus ihr eben nicht zu machen, sondern die Größe der Jugend u. Schwachheit des Verstandes mit denen Fehlern zu combinieren: wie sie denn selbst wohl weiß, daß Dero zuschrifft für eine allzugeneigte Flatterie, welche, so bald eine bequemere Gelegenheit sich findet, Sie selbst zu beantworten nicht ermangeln wird, zu halten sey. Inzwischen, da mir wissend ist, daß Euer WohlEdlen gesonnen sind, nebst andren auch meiner Tochter ihre zugesandte Reimgedancken publici juris zu machen, so will ich freundlichst erinnert haben, daß solches tecto nomine geschehen möge, damit nicht eben so gleich ein jeder wisse, wer davon autor ist. Die Historia tractatio Influxus Physici ist so wohl gera-then, daß ich nach der weiteren Außführung und Continuation ein sehnliches Verlangen trage, umb so viel mehr, weil ich mit Euer Wohl Edl. allezeit gleiche Meinung hege .... Gott seegne E. Wohl Edl. labores weiter, Er erhalte sie dem publico und der Studirenden Jugend zum besten bey hohem Wohlseyn, und gebe mir Gelegenheit zu zeigen, daß ich mit vieler Ergebenheit und hochachtung bin Euer WohlEdl.
Meines HochgeEhrten H. Magisters gehorsamster Diener
Joh. George Kulmus. Dr.
Dantzig d. 10. Januar, a. 1728.   

  • Gottsched war »aus Leipzig, um seine Aeltern noch einmal zu sprechen«, 1727 nach Ostdeutschland gekommen und hatte in Danzig die Familie Kulmus kennengelernt. Seine Heimat Königsberg hatte der junge Magister 1724 mit Leipzig vertauschen müssen, da sein Gardemaß die Aufmerksamkeit der königlich-preußischen Werbeoffiziere auf sich gezogen hatte. — Poetin: die junge Kulmus hatte eine »große Heldenode« auf die russische Kaiserin Anna lwanowna drucken und nach Petersburg senden lassen. — tecto nomine: pseudonym.

Luise Adelgunde Victoria Kulmus an Johann Christoph Gottsched
Danzig den 4. Septbr. 1734

Mein aufrichtiger bester Freund,
Ich weis keinen Ausdruck zu finden, Ihnen die Bestürzung zu beschreiben, die mir Ihr letztes Schreiben verursacht hat. Sie erzählen mir darinnen eine Lästerung, die mir an sich selbst nicht empfindlich seyn kann; weil sie gleich andern, die ich bisher erfahren, ganz ohne Grund ist. Aber Sie, mein bester Freund, sind dadurch beunruhiget worden, und dieses rührt mich. Ich weiß nicht, warum sich so viel Leute Mühe geben, unsere Freundschaft zu zernichten? Aber das ist gewiß, daß man bey mir eben so sehr daran arbeitet, als bey Ihnen. Ich bin noch im Zweifel, wem ich diesmal für den Stöhrer unserer Ruhe ansehen soll. Es ist mir leid, daß Sie den Brief verbrannt haben, vielleicht hätte man an der Hand den Verläumder errathen. Doch wer schon so boshaft ist, der wird auch die nöthige Behutsamkeit brauchen, die dazu erfordert wird.
Sie, einziger Freund, wissen am besten, daß ich selbst die erste gewesen, die Ihnen alle Umstände meiner Familie entdecket. Meine heimliche Eigenliebe freuet sich recht, durch diese Aufrichtigkeit meinem Feinde zuvorgekommen zu seyn. Vielleicht würden tausend Personen meines Geschlechts mit eben so großer Sorgfalt verborgen haben, was ich Ihnen alles, auch das Widrige zu offenbaren, mich bemühet. Dieses macht also den ersten Punct der Verläumdung zu Schanden. Was den zweyten wegen meiner Gesundheit betrift; so habe ich niemals kränklicher und entstellter ausgesehen, als bey meines Vaters Tode, und 6 Monate hernach. Es war eben um die Zeit, da die Reihe an mir war, eine Probe der Beständigkeit gegen Sie abzulegen. Ich bin standhaft geblieben, ohngeachtet ich von allen Seiten heftig bestürmet wurde. Ich hatte den Tod eines sehr liebreichen Vaters, und eine ganz unvermuthete Zerrüttung unserer Umstände zu bedauren. Nun zitterte ich selbst vor dem Verluste meines besten Freundes. Dieses schlug mich fast darnieder. Damals legte ich den Grund zu meiner letzten Krankheit. Dieses und alles allgemeine Elend sowohl, als der besondre nagende Kummer über den Tod meiner Mutter, hätte mir beynahe das Leben gekostet. Jetzt aber hat ein so heftiges Fieber meinen Körper gereiniget, mein Gemüthe ist viel heiterer, und mein Körper viel gesünder als jemals. Vor vier Jahren hätte man Ihnen schreiben sollen, daß ich übel aussähe; da kam ich aber meinen Neidern zuvor. Und warum hätte ich das nicht thun sollen? Sie waren nicht nach Danzig gekommen, schöne Gesichter und schöne Körper zu suchen; diese hätten Sie in Sachsen näher. Oder hätten Sie diese auch hier verlangt, so würde Ihre Wahl nicht auf mich gefallen seyn. Gesetzt auch, daß ich jetzt die Blattern gehabt hätte; gesetzt, daß mich diese sehr übel zugerichtet; so hätte ich Ihrer Standhaftigkeit doch so viel zugetrauet, daß Sie die treue Beschreibung meines narbigen Gesichts ohne widrigen Eindruck würden gelesen haben. Ich glaube, ich hätte die Gruben gezählet, um Ihnen alles genau zu melden. Aber nein, bester Freund! diese Krankheit hat schon im vierten Jahre ihre Wuth an mir ausgeübet. Meine theure Mutter hat mich damals dem Himmel abgedrungen, weil ich eben sehr krank war. Diese Nachricht ist also jetzo ganz falsch. Mein Gesicht ist noch in eben der Verfassung, als ich Ihnen solches im Februario, durch die Hand eines guten Meisters verfertiget, zugeschickt habe. Was wollen wir aber, treuster und theuer geschätzter Freund, mit unsern gemeinschaftlichen Feinden machen? Ich zittere, wenn ich denke, daß sie noch sechs Monate Zeit haben, ihre Lästerungen aufs listigste fortzusetzen. Doch, ich hoffe, sie sollen an uns zu Schanden werden. Sollten sie fähig seyn, das Band zu lösen, welches die Tugend geknüpfet hat? Nein, Theuerster, an meiner Seite sollen sie diese Ehre nimmermehr erleben. Mein Herz wird sich bey den scheinbarsten Verläumdungen jederzeit auf die Tugend stützen, der ich bis in Tod treu bleiben werde. Meine Liebe wird zu Ihnen das beste Zutrauen haben; und kein Zufall wird den Entschluß ändern, bis ins Grab Ihnen ganz eigen zu seyn,
Kulmus

  • Verleumdungen und Intrigen suchten die Verbindung der Brautleute zu hintertreiben. Wegen des Todes der Mutter 1734 und der Belagerung Danzigs im Zusammenbang des polnischen Thronfolgekrieges nach dem Tode August des Starken fand die Hochzeit erst im April des nächsten Jahres — 1735 — statt.

Luise Adelgunde Victoria Gottsched an Johann Christoph Gottsched

Leipzig den zweyten Tag nach meiner Wittwenschaft 1737.
Mein lieber Mann,
Die Glocke schlägt eben fünfe, und das Verlangen nach einem Brief von Ihnen, weckt mich schon früh aus dem Schlafe, worinne Sie vielleicht noch tief vergraben liegen, ohngeachtet ich mich erst um 1 Uhr zur Ruhe begeben habe. Ich kann mir diese Schlaflosigkeit nicht besser zu Nutze machen, als mit der mir einzig werthen, und einzig geliebten Person auf der Welt, zu unterhalten. Ich muß gestehen, daß ich, so lange ich lebe, nicht so viel Unruhe und Furcht ausgestanden, als seit dem traurigen Augenblicke Ihrer Abreise. Ach! mein geliebter Mann, mein zärtlicher Freund! was ist Ihnen alles auf dieser Reise begegnet? Was haben Sie für Wetter, was für Weg gehabt? Ich zittre für jedem Schlag, den Sie in Ihrem Wagen, bey dem sehr üblen Wege mögen empfunden haben; und ich habe niemals geglaubet, daß die Zärtlichkeit unsers Geschlechts so schwach seyn könnte, sich über alle, über die geringste Kleinigkeiten zu beunruhigen. Geben Sie mir doch so bald als möglich Nachricht von Ihrer Ankunft in Dresden. In der besten Welt muß man über das, was uns am liebsten ist, sehr lange in Ungewißheit leben. Mein Herz kann sich in diesem Stücke mit der Wolffischen Philosophie nicht vereinigen. Sagen Sie aber dem Herrn M=r. ja nichts von meiner Schwäche: Dieser möchte zur Vertheidigung der gerechten Sache Sie noch öfterer nach Dresden berufen. Kaum spreche ich mit Ihnen, mein Bester, so wird mein ganzes Gemüth heiter, und kaum lege ich die Feder nieder, so versinkt es in seine vorige Traurigkeit. Vermehren Sie diese kurze Heiterkeit durch baldige Nachricht von der Dauer Ihres Wohlbefindens, und Ihrer Liebe gegen mich. Zehn- und mehrmal will ich abbrechen, um Ihnen alle Empfindungen meiner Seele, bey jeder Zeile darüber zu schreiben. Dieses ist noch das einzige Mittel, mir Ihre Abwesenheit einigermaßen erträglich zu machen. Leben Sie wohl, mein geliebter Mann, aber denken Sie auch abwesend an Ihre zärtliche und treu ergebne
Louise.

  • Gottscheds Reise nach Dresden hing möglicherweise mit seiner seit einem Jahrzehnt bestehenden Verbindung zur Theatertruppe der Neuberin zusammen, die das Prädikat als sächsische Hofkomödianten zu erreichen suchte. — Wolffischen Philosophie: Christian Wolß, führender Philosoph des deutschen Rationalismus, der unter dem Einfluß des Leibnizschen Systems und seiner Lehre von der »besten aller möglichen «Welten« stand.

Luise Adelgunde Victoria Gottsched an das
Fräulein Thomasius auf Troschenreuth und Wiedersberg

Wien den 28. Sept. 1749.
Fürs erste umarme ich Sie, mein Engel! von ganzer Seelen. Fürs andere, da ich der Meynung bin, daß man eine Glückseligkeit nur halb genießt, die man mit seinen Freunden nicht theilet; so melde ich Ihnen, daß, wofern ich je in meinem Leben Ursache gehabt habe stolz zu seyn, es an dem heutigen Tage ist. Sie merken leicht, mein Leben! daß ich die Kaiserinn gesehen haben muß: und Sie irren sich nicht. Ja, ich habe Sie gesehen! die größeste Frau von allen Frauen! die sich durch sich selbst, weit über alle ihre Thronen erhebt. Ich habe Sie nicht nur gesehen; sondern auch gesprochen; nicht nur gesprochen; sondern drey viertel Stunden lang gesprochen: Ich habe Sie als Gattinn und als Mutter gesprochen: das heißt, in Gegenwart Ihres Gemahls, des Durchl. Erzherzogs, und dreyer Erzherzoginnen. Verzeihen Sie, mein Herz! wenn meine Erzählung unordentlich und meine Schrift unleserlich wird. Beydes geschieht aus Freude, die nicht anders als übermäßig seyn kann, da ich an einem Tage zwo Glückseligkeiten, fast zugleich genieße; nämlich die Kaiserinn gesprochen zu haben: und es Euer Hochwohl-geb. sogleich erzählen zu können. Des Morgens um 10 Uhr waren wir in Schönbrunn, wohin uns der Graf Esterhasi (der uns diese Audienz veranlasset) bestellet hatte. Er glaubte indessen noch, daß wir nur in der großen Anti-chambre der Kaiserinn, mit 100 andern Personen zugleich die Hand küssen würden, wenn Sie nach der Kirche gienge. Wir hielten uns also daselbst mit ihm zugleich auf, und hatten in einer halben Stunde die Gnade, die drey Durchl. Erzherzoginnen vorbey gehen zu sehen; die aber, auf des Hrn. Grafen Bericht an die Fürstinn Trautson, (ihre Ober-hofmeisterinn) wer wir wären, wieder umkehreten, und uns die Hand zum Küssen reicheten: wobey ich die Ehre genoß, von der ältesten Durchl. Prinzessinn (Sie ist 10 Jahre alt) ein überaus gnädiges Compliment, wegen des vielen Guten was Sie von mir gehöret hätte, zu vernehmen, und dabey Ihren Verstand und Ihre Leutseligkeit zu bewundern. Verzeihen Sie mir, mein Engel daß dieser Absatz ein wenig ruhmredig klingt. Es wird noch viel ärger kommen: allein ich kann Ihnen keinen Begriff von der fast unglaublichen Gnade dieser höchsten Personen zu machen: ohne viel Gutes von mir herzuschreiben: davon Sie am besten wissen, daß es nicht halb wahr ist. Gegen eilf Uhr kam ein Kaiserl. Kammerfourier und sagte uns, wir sollten ihm folgen. Er führte uns durch viel prächtige Gemächer, in ein klein Gemach, welches durch eine spanische Wand noch um die Hälfte kleiner gemacht war, die Kaiserinn zu erwarten. In wenigen Secunden, kam die Fürstinn von Trautson, machte uns abermals ein sehr gnädig Compliment, und versprach uns die baldige Ankunft Ihrer Majestät. Diese erfolgte in wenigen Minuten, in Begleitung obiger drey Erzherzoginnen. Wir setzten uns auf das linke Knie und küßten die allerhöchste und schönste Hand, die jemals den Zepter geführet hat. Die Kaiserinn hieß uns mit einem Gesichte, welches auch in der furchtsamsten Seele, alle die Scheu vor einer so hohen Gegenwart und wunderschönen Gestalt, hätte in Liebe und Zutrauen verwandeln können, aufstehen: wir thaten es, und Sie hub gegen meinen Mann an: Ich sollte mich scheuen mit dem Meister der deutschen Sprache, deutsch zu reden. Wir Oesterreicher haben eine sehr schlechte Sprache. Auf meines Mannes Versicherung: daß er schon vor 14 Tagen, das reine und vollkommene Deutsch bewundert hätte, als Ihre Majestät, bey Eröffnung des Landtages, ihre Stände, gleich der Göttinn der Beredsamkeit angeredet. Hier erwiederte Sie: So? haben Sie mich belauscht? und setzte mit hellem Lachen hinzu: Es ist gut, daß ich das nicht gewußt habe; sonst wäre ich stecken geblieben! Sie wandte sich darauf zu mir, und fragte: wie ich es gemacht hätte, daß ich so gelehrt geworden wäre? Ich erwiederte: ich wünschte es zu seyn, um des Glückes, welches mir heute begegnete, und wodurch ganz allein mein Leben merkwürdig werden würde, nidit so gar unwerth zu seyn. Es hieß: sie sind zu bescheiden: ich weis gar wohl, daß die gelehrteste Frau von Deutschland vor mir steht. Meine Antwort war: Meines Wissens, ist die gelehrteste Frau, nicht nur von Deutschland, sondern von ganz Europa, Beherrscherinn von mehr als einem Königreiche. Die Kaiserinn erwiederte: Wofern ich sie kenne; so irren sie sich. Sie wandte sich wieder zu meinem Manne, und nach einigen Fragen, die Leipziger Akademie betreffend, trat jemand in das Zimmer, den ich für den gnädigsten und wohlgebildetsten Minister des Kaiserl. Hofes würde gehalten haben; wenn nicht die Kaiserinn gesagt hätte: das ist der Herr! Hier legten wir uns beyde in die vorige spanische Reverenz und Se. Majestät der Kaiser (denn der war es), gab meinem Manne die Hand zu küssen; vor mir aber zog er sie zurück, und hieß uns beyde aufstehen. Er fieng an mit meinem Manne zu reden, und die Kaiserinn fragte mich: ob ich bereits viel in Wien gesehen hätte? Ich nannte Ihr die vornehmsten Sachen, und auf Ihre Frage: was mir unter allen am Besten gefallen hätte? konnte ich, meinem Herzen und Gewissen nach, unmöglich anders antworten, als: ich wünschte, daß außer Eurer Kaiserl. Majestät mich irgend jemand in der Welt das fragen möchte. Das allergnädigste Lächeln, so jemals von einer gekrönten Schönheit gesehen werden kann, gab mir zu verstehen, daß dieser großen Frau auch ein so schlechter Bey-fall nicht zuwider war. Sie erzählte mir darauf, wie die Bibliothek vor einigen Jahren ein Heumagazin abgeben müssen, worauf das Gespräch allgemein ward: und, nachdem die Kaiserinn mir gesaget, wie Sie es wohl gehöret hätte, daß ich in Wien, sowohl auf der Kaiserl. Bibliothek, als andertwärts, viel Kenntniß der griechischen Sprache verrathen, fragte mich Se. Majestät der Kaiser: wie viel Sprachen ich denn verstünde? Konnte ich Ihm wohl mit Wahrheit anders antworten, als: Allerdurchlauchtigster Herr! eigentlich keine recht! Beyde höchste Personen begehrten also mit Lächeln die Antwort von meinem Manne, der denn ein Register von meiner Sprachwissenschaft machte, das ich ihn verantworten lasse. Nach einigen fernem Reden und Gegenreden, fragte uns die Kaiserinn: ob wir den Erzherzog gesehen hätten? Als wir mit Nein antworteten, befahl Sie ihn zu holen. Er kam mit seinem Oberhofmeister, dem Grafen Bathiani, und nach dem Handkusse, redeten beyde Kaiserl. Majestäten mit meinem Manne allerley, diesen jungen Herrn betreffend. Besinnen Sie sich, mein Engel! was ich oben von dem engen Räume gesagt; und daß wir nun-mehro 10 Personen im 2immer waren, folglich einander so nahe stunden, daß nothwendig der Kaiser beynahe meinen Mann, und ich die Kaiserinn berühren mußte, so sehr ich mich auch an die Wand drängte. Das war aber noch nicht genug: sondern es kam auch noch die Prinzeßinn Charlotte (des Kaisers Schwester) hinein. Mein Mann gieng zum Handkusse; und ich nahm Anstand weil ich mich bey der Kaiserinn vorbey dringen mußte. Diese Frau aber, die in der Gnade alle Hoffnung übertrifft, hieß mich mit der freundlichsten Mine, Sie vorbey, und hinzutreten. Ich that es, und bald darauf sagte die Kaiserinn: Nun, Sie müssen meine andern Kinder auch sehen: worauf wir abermals zum Handkusse, wie das erste mal, kamen, und die sämtl. Herrschaft uns verließ. Die Fürstinn Trautson führete uns hierauf zu den drey übrigen kleinen Engeln, die wir in zweyen Zimmern beym Frühstücken und unter der Aufsicht der Gräfinn Sarrau, fanden. Wir küßten die kleinen Durchl. Händchen allerseits, und wurden hernach in alle Kaiserl. Zimmer geführet, welches eine außerordentliche Gnade ist, die dem lOOOten Fremden nicht geschieht. Wir kehreten zurück und speisten zu Mittage bey dem Fürsten Dietrichstein, allwo wir die Gräfinn Harrach, Fürstinn von Lichtenstein, den Grafen Khevenhüller, und mehrere Excellenzen fanden, die uns alle gratulirten und bezeigten, daß wir mit ganz außerordentlicher Gnade wären empfangen worden. Ich weis, daß Sie an diesem unserm Glücke Antheil nehmen, und das ist die einzige Ursache, warum ich es Ihnen berichte. Uebrigens aber bitte ich Sie dieses Blatt zu verbrennen; und keiner Seele zu sagen, was darinnen steht; damit man mich nicht für hochmüthig halte. Nie ist die Gnade weitergegangen, und niemals bin ich mir in meinen Augen kleiner vorgekommen, als mich die Ueberzeugung von meiner Unwürdigkeit gemachet hat ....

  • Für die Gottschedin war die Audienz bei der Kaiserin Maria Theresia 1749 ein Höhepunkt ihres Lebens wie fünfzehn Jahre später für die Karschin die Audienz bei Friedrich dem Großen. Die entsprechenden Briefe beider (vgl. S. 68 ff.) entwerfen charakteristische Porträts von den großen Antipoden der deutschen Geschichte im 18. Jahrhundert: die leutselige und impulsive Kaiserin, die sich mit mütterlicher Warmherzigkeit ihrer Gäste annimmt, und der auf Distanz bedachte König, der seine Besucherin einer lakonischen, wenn auch nicht humorlosen Inquisition unterwirft. Bei der Korrespondentin der Frau Gottsched, die in Nürnberg lebte, einer literarisch interessierten Freundin, hatten die Gottscheds auf ihrer Reise nach Wien Station gemacht. — Se. Majestät der Kaiser: Franz I. von Lothringen, durch dessen Erwählung zum Kaiser 1745 Maria Theresia, die Königin von Böhmen und Ungarn und Erzherzogin von Österreich, auch die Kaiserinnen-Würde erhalten hatte. — Kaiserl. Bibliothek: die Hofbibliothek, von Fischer von Erlach erbaut, nach Wolfenbüttel eines der ersten, eigens für ihren Zweck errichteten Bibliotheksgebäude.

Luise Adelgunde Victoria Gottsched an
Dorothee Henriette von Runckel

Leipzig den 13. Oct. 1758.
Theureste Freundin,
Gerne wollte ich mich diesesmal wegen meines Stillschweigens selbst anklagen, wenn nicht so viel traurige Zerstreuungen, als diejenigen, die mich des Vergnügens an Sie zu schreiben beraubet haben, die Ursache davon wären.
Sie werden ohne Zweifel schon im voraus Ihre arme Freundin und unser Leipzig, in jenen fürchterlichen Tagen, bedauret haben, die für eine empfindliche Seele eine der härtesten Prüfungen gewesen sind. Stellen Sie sich den schrecklichen Tumult der Soldaten am ersten Meßsonntage, die herumschwärmenden Husaren, die stumme Angst der Einwohner, die Annäherung und Bedrohung des schrecklichsten Schicksals vor. Wir sahen mit gerührtem Herzen den unterbrochenen öffentlichen Gottesdienst, das unterbliebene Geläute der Glocken, die gesperrten Thore, die furchtbaren Anstalten zur Abbrennung der Vorstädte, das Flüchten vieler unglücklichen Einwohner auf die Kirchhöfe, weinende Kinder, trostlose Eltern, zitternde Greise, wie sie ihre Häuser und ihre Habseligkeiten zum letztenmale zu sehen glaubten, und nur die Rettung eines kümmerlichen Lebens dem Verluste jener Güther vorzogen. Sehen Sie, beste Freundin, hier nur einen schwachen Abriß von unsern Leiden, und denken Sie sich dabey die schmerzliche Unruhe Ihrer Freundin, welche für sich und andre fühlte und bebte. Größtentheils ist nun wohl, Gott sey gelobt, das Unglück überstanden: allein die Erwartung der Zukunft, einer vielleicht noch schrecklichem Zukunft, welche vielleicht das wahr machen könnte, was wir jetzt nur vermuthet und gefürchtet haben, diese foltert mich und raubt mir die wenigen Augenblicke der Ruhe, die mir überhäufte Geschäfte und häusliche Sorgen und eine zerrüttete Gesundheit übrig lassen.
O dächten doch die Großen dieser Erde das mannigfaltige Elend, welches den Krieg begleitet, das Elend, weldies sich bis auf die Nachkommen erstrecket, und oft für Jahrhunderte eine Quelle des Jammers ist; wo Tugend und Künste und Wissenschaften verwaist stehen: sie würden zu ihrem eigenen Vortheile dem blühenden Wohlstande ihrer Staaten den Durst der Ehrsucht willig aufopfern. — Wie würde nicht ein Fürst lachen, der eben erst von dem Schladitfelde triumphirend zurück kommt, wenn er meine frommen Träume, wie er sie nennen würde, lesen sollte; aber Sie, Sie lachen nicht, liebste Freundin. Sie beweinen mit mir das allgemeine Unglück, welches wir der Ehrbegierde einiger Sterblichen zu danken haben. Ach! ....
Verzeihen Sie mir meine Strafpredigt. Ich habe dem Triebe, sie niederzuschreiben, nicht widerstehen können, so wie auch demjenigen nicht, mit welchem ich Sie mit aller Zärtlichkeit und mit den sanftesten Empfindungen der Freundschaft umarme.

Gottsched

  • Die Gottschedin war eine leidenschaflliche Parteigängerin des sächsischen Herrscherhauses und der kaiserlichen Familie und nahm die Komplimente, die Friedrich IL von Preußen ihrer Arbeit machte, kalt auf. Unter den Ereignissen des Siebenjährigen Krieges und der Besetzung Sachsens durch Preußen litt sie »mehr als irgend ein Mensch in Leipzig, oder sonst ein gebohrner sächsischer Unterthan, gelitten haben mag«, schrieb Gottsched. — Frau von Runckel: die Adressatin hatte mit den Gottscheds die »Geschichte der Frau von Maintenon« von Beaumelle übersetzt.