Lili

Anna Elisabeth von Türckheim, geb. Schönemann (1758-1817)

»Ich bin mehr und mehr davon überzeugt,
daß man lernen muß, sich Entbehrungen aufzuerlegen,
sich hart zu machen und sich über die Begebenheiten
zu stellen, ohne daß ich deshalb mein Herz
den wohltuenden Einwirkungen der
Freundschaft verschließen wollte.«
Anna Elisabeth von Türckheim an ihren Sohn Fritz,
22. September 1799


Frau Rath Goethe nannte sie die »erste Heißgeliebte« ihres Sohnes, und der Achtzigjährige bekannte gegenüber Eckermann, daß er seinem eigentlichen Glücke nie so nahe gewesen sei wie in der Zeit seiner Liebe zu Lili. In der distanzierten Rückschau des Alters, im vierten Band von Dichtung und Wahrheit, kleidet er die »schmerzlich-glückliche« Zeit seiner Verlobung in ein milde verklärendes Licht. »Es war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden, daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zumute sei. Ich darf wohl sagen, daß es für einen gesitteten Mann die angenehmste aller Erinnerungen sei.«
Wie anders — aufgewühlt, unruhig — lautet dagegen die Sprache der Frankfurter Briefe, der Gedichte, wie ratlos das Fazit einer Epoche, die der junge Advokat im Winter 1775, kurz vor seiner Abreise nach Weimar, als die »zerstreutesten, verworrensten, ganzesten, vollsten, leersten, kräfftigsten und läppichsten drey Vierteljahre« seines Lebens bezeichnete.
Der schuldlos-schuldige Anlaß war die sechzehnjährige Bankierstochter Lili Schönemann, die einem der angesehensten Häuser der reformierten Kolonie in Frankfurt entstammte. Alle Prädikate, die Goethe je einer Geliebten zudachte, sind Lili in reichem Maß zuteil geworden. Sie erschien ihm nicht allein schön und anmutig, sondern zugleich »würdig und bedeutend«. Reine Kindlichkeit, offenherziges Vertrauen verbanden sich in ihr mit einem festen, zuverlässigen Charakter. Ein »verborgenes, edles Verständnis« erhellte jeden mit ihr gelebten Augenblick. »Ich schaute es, ich durchblickte es und freute mich dessen als eines Kapitals, von dem ich zeitlebens die Zinsen mitzugenießen hätte.«
Die Lili-Kapitel in Dichtung und Wahrheit:, in denen Goethes Prosastil noch einmal den hohen poetischen Zauber, die Fülle der Jugend gewann, lassen das meiste in zarter Andeutung, halben Hinweisen verschweben. Hier wird der Verschiedenartigkeit der Herkunft und des geistigen Milieus die Hauptschuld an der Lösung des Verlöbnisses beigemessen. »Andere Religionsgebräuche, andere Sitten«, heißt es im autobiographischen Schema. Tatsächlich aber war für den jungen Dichter — das bezeugen die gleichzeitigen Briefe an die Herzensfreundin Auguste Stolberg — das Gefühl der verlorenen Freiheit, der Bindung zur Unzeit beherrschend. Die zerstreute, auf gesellschaftliche Repräsentation gerichtete Lebensweise des Schönemannschen Hauses, die Notwendigkeit, sich ihr zu bequemen, im »galonierten Rock«, inmitten »unerträglicher Gesichter« um der Geliebten willen auszuharren, boten äußeren Anlaß genug, um dieses Gefühl bis zur ausweglosen Qual zu steigern. Der Flucht in die Schweiz folgte wenig später die endgültige Trennung.
Und Lili? Die Brautbriefe sind vernichtet. Es gibt kein Wort, keine Zeile, die unmittelbar Zeugnis ablegte von dem, was sie in dieser Zeit empfand und durchlitt. Erst viel später, in den Briefen der gereiften Frau, der Gattin des tüchtigen Straßburger Bankiers von Türckheim und Mutter von fünf Kindern, gewinnt ihre Gestalt eigene Strahlkraft, und da sind die Heiterkeit, der unbezwingliche Liebreiz des kindlichen Geschöpfes einer klaren, besonnenen Führung des Lebens gewichen.
Schmerz und Enttäuschungen waren ihr nicht erspart worden. Eine zweite Verlobung, auf Drängen der Mutter, zerschlug sich, als der Bräutigam, vom Verlust seines Vermögens betroffen, aus Deutschland entfloh. Später ließen sie Härten und Vorurteile der Schwiegereltern in Straßburg lange Zeit nicht heimisch werden. Dazu kam, durch leichtfertiges Handeln der Brüder verursacht, der Zusammenbruch des Schöne-mannschen Bankhauses und damit die Sorge um den Ruf und die Zukunft der nächsten Angehörigen. Lavater, von ihr in rückhaltloser Offenheit zum Mitwisser ihrer Leiden gemacht, vermerkte in seinem Reisetagebuch von 1783: »Eine liebenswürdige Trübheit über ihr grades, bescheidenes, denkendes Gesicht verbreitet gab ihr in meinen Augen einen hohen geistigen Wert.«
Daß dieser »hohe geistige Wert« vor den harten Erfordernissen des Tages standhielt, zeigte sich, als mit den Stürmen der Französischen Revolution auch über die Türckheims bittere Prüfungen hereinbrachen. Nicht einen Augenblick zögerte Lili, das Los ihres Mannes zu teilen, zuerst in der Verbannung, später auf einer abenteuerlichen Flucht über den Rhein, als Bäuerin verkleidet, das Jüngste in einem Tuch auf dem Rücken, ein Kind an der Hand. Genauso klaglos und beherzt, wie sie sich in das Emigrantendasein zu finden wußte, trug sie nach der Rückkehr ins Elsaß Jahre der Entbehrung, bis es Türckheim gelang, seinem Bankhaus die einstige geachtete Stellung wiederzuerlangen. »Wann eine Sterbliche von guten Geistern bewacht und hindurchgeführt wird, so ist's diese«, hatte Bäbe Schultheß, Goethes Schweizer Freundin, 1795 nach Weimar geschrieben. »Es war mir so wohl neben ihr, als wenn ich in deiner Iphigenie lese, so wohl und so wehmütig, als wenn ich mir eine Stelle im Werthern aufschlage.«
Sanftmut und Liebe, Entschlossenheit und Verstand, Eigenschaften,   die  Lili   einer   Freundin   nachrühmte,   kennzeichnen ihr eigenes Wesen. Der selbstverständliche Adel ihrer Haltung entsprang einem unablässigen Streben, sich sittlich zu vervollkommnen. »Daher kann ich sagen, daß ich jeden Morgen meinen Organismus wieder zusammensetzen und herrichten muß, um nicht als das zu erscheinen was ich bin, sondern als das, was ich sein soll, um die einen zu trösten, die anderen zu stützen und zu ermutigen und bis zum Alleinsein in der Nacht den Schmerz zu verschließen, von dem mein Herz zerrissen wird«, schreibt sie kurz vor dem Tode des Schwiegersohnes ihrem Bruder. In ihrem unbeirrbaren Gottvertrauen — »meine Seele ist ruhig, weil sie auf Gott hofft« — ist sie frei von allen schwärmerischen Zügen. Von einem Erzieher ihrer Kinder, die sie »äuserst Summarisch berechnet« als den Inbegriff ihrer Gedanken und Beschäftigungen bezeichnet, verlangt sie neben Reinheit der Sitte, Tätigkeit, Ordnung auch Religion. »Doch aber nicht Scholastische, pedantische, nicht zu Schwärmerische sondern die Religion des Herzens die uns gegen Egoismus, u unthätigkeit schützt, indem sie unsere Liebe anfacht.« Auch da, wo es, etwa den Söhnen gegenüber, zu tadeln gilt, gerät sie nie in einen moralisierenden Ton. Immer bleibt sie heiter-überlegen, mehr verständnisvoll-einsichtige Freundin als mütterliche Respektsperson, so wie Lavater schon die junge Frau charakterisiert hatte: »Wenn ich sehn kann, hab' ich viele Freyheit des Geistes, viele Reinheit des Herzens in dir gesehn.«

»Sie ist klein von Statur, sieht - wohl aus, hat eine spirituelle Physiognomie, eine braunschweigische Nase, schöne Hände und Füße, einen leichten und doch majestätischen Gang, spricht sehr schön, aber geschwind ...«
Zeitgenössischer Bericht eines ungenannten Reisenden
»Sie hat überaus große schwarze Augen von der höchsten Schönheit. Ihre Stimme ist sanft und bedrückt. Ernst, Sanftmut, Gefälligkeit, leidende Tugend und feine, tief gegründete Empfindsamkeit sieht jeder Mensch beim ersten Anblick auf ihrem Gesichte.« J
ohann Georg Zimmermann an Johann Caspar Lavater, Sommer 1774

Johann Wolfgang GoethAn Belinden
Warum ziehst du mich unwiderstehlich
Ach in jene Pracht?
War ich guter Junge nicht so selig
In der öden Nacht?

Heimlich in mein Zimmerchen verschlossen,
Lag im Mondenschein
Ganz von seinem Schauerlicht umflossen,
Und ich dämmert' ein;

Träumte da von vollen goldnen Stunden
Ungemischter Lust,
Hatte schon dein liebes Bild empfunden
Tief in meiner Brust.

Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern
An dem Spieltisch hältst?
Oft so unerträglichen Gesichtern
Gegenüber stellst?

Reizender ist mir des Frühlings Blüthe
Nun nicht auf der Flur;
Wo du, Engel, bist, ist Lieb' und Güte,
Wo du bist, Natur.

  • Das Gedicht ist kurz nachdem Goethe Lili kennengelernt hatte, im Februar 1775, entstanden. Wenige Wochen später hatte es Goethes Offenbacher Freund, der Komponist Johann Andre, bereits vertont. — Der Name Belinde wird in der zeitgenössischen Schäferpoesie häufig verwandt.

Johann Wolfgang Goethe an Auguste Gräfin zu Stolberg

[Offenbach, 3. August 1775]
Gustgen! Gustgen! Ein Wort dass mir das Herz frey werde, nur einen Händedruck. Ich kann Ihnen nichts sagen. Hier! — Wie soll ich Ihnen nennen das hier! Vor dem Stroheingelegten bunten Schreibzeug — da sollten feine Briefgen ausgeschrieben werden und diese Trähnen und dieser Drang! Welche Verstimmung. O dass ich Alles sagen könnte. Hier in dem Zimmer des Mädgens das mich unglücklich macht, ohne ihre Schuld, mit der Seele eines Engels, dessen heitre Tage ich trübe, ich! Gustgen! Ich nehme vor einer Viertelstunde Ihren Brief aus der Tasche, ich les ihn! — Vom 2. Jun.! und Sie bitten, bitten, um Antwort, um ein Wort aus meinem Herzen. Und heut der 3. Aug. Gustgen und ich habe noch nicht geschrieben. — Ich habe geschrieben, der Brief liegt in der Stadt angefangen. O mein Herz — Soll ich's denn anzapfen, auch dir Gustgen, von dem Hefetrüben Wein sehencken! — Und wie kann ich von Frizzen reden, vor dir, da ich in seinem Unglück, gar offt das meine beweint habe. Lass Gustgen. Ihm ist wohler wie mir. — Vergebens dass ich drey Monate, in freyer LufFt herumfuhr, tausend neue Gegenstände in alle Sinnen sog. Engel, und ich sizze wieder in Offenbach, so vereinfacht wie ein Kind, so beschränekt als ein Papagey auf der Stange, Gustgen und Sie so weit. Ich habe mich so offt nach Norden gewandt. Nachts auf der Terrasse am Mayn, ich seh hinüber, und denck an dich! So weit! So weit! — Und dann du und Friz, und ich! und alles wirrt sich in einen Schlangenknoten! Und ich finde nicht Lufft zu schreiben. — Aber iezt will ich nicht aufhören biss iemand an die Thüre kommt und mich wegrufft. Und doch Engel manchmal wenn die Noth in meinem Herzen die grösst ist, ruf ich aus, ruf ich dir zu: Getrost! Getrost! Ausgeduldet und es wird werden. Du wirst Freude an deinen Brüdern haben, und wir an uns selbst. Diese Leidenschafft ists die uns aufblasen wird zum Brand, in dieser Noth werden wir um uns greifen, und brav seyn, und handeln, und gut seyn, und getrieben werden, dahin wo Ruhe Sinn nicht reicht. — Leide nicht vor uns! — Duld uns! — Gieb uns eine Trähne, einen Händedruck, einen Augenblick an deinen Knieen. Wische mit deiner lieben Hand diese Stirn ab. Und ein Kraftwort, und wir sind auf unsern Füssen.
Hundertmal wechselt's mit mir den Tag! O wie war mir so wohl mit deinen Brüdern. Ich schien gelassen, mir war's weh für Frizzen der elender war als ich, und mein Leiden war leidlicher. Jetzt wieder allein. —
In ihnen hatte ich Sie bestes Gustgen, denn ihr seyd eins in Liebe und Wesen. Gustgen war bey uns und wir bey ihr! Jetzt — nur ihre Briefe! — Ihre Briefe! — und Nur dazu — Und doch brennen sie mich in der Tasche — doch fassen sie mich wie die Gegenwart wenn ich sie in Glücklichem Augenblick aufschlage — aber manchmal — offt sind mir selbst die Züge der liebsten Freundschafft todte Buchstaben, wenn mein Herz blind ist und taub — Engel es ist ein Schröcklicher Zustand die Sinnlosigkeit. In der Nacht tappen ist Himmel gegen Blindheit — Verzeihen Sie mir denn diese Verworrenheit und das all — Wie wohl ist mir's dass ich so mit Ihnen reden kann, wie wohl bey dem Gedancken, Sie wird dies Blat in der Hand halten! Sie! Dies Blat! das ich berühre das iezt hier auf dieser State noch weis ist. Goldnes Kind. Ich kann doch nie ganz unglücklich seyn. Jezt noch einige Worte — Lang halt ich's hier nicht aus ich muß wieder fort-Wohin! -
- - - -
Ich mache Ihnen Striche denn ich sas eine Viertelstunde in Gedancken und mein Geist flog auf dem ganzen bewohnten Erdboden herum. Unseeliges Schicksal das mir keinen Mittelzustand erlauben will. Entweder auf einem Punckt, fassend, festklammernd, oder schweifen gegen alle vier Winde! — Seelig seyd ihr verklärte Spaziergänger, die mit zufriedener Anständiger Vollendung ieden Abend den Staub von ihren Schuhen schlagen, und ihres Tagwercks Göttergleich sich freuen — —
Hier fliest der Mayn, grad drüben liegt Bergen auf einem Hügel hinter Kornfeld. Von der Schlacht bey Bergen haben Sie wohl gehört. Da lincks unten liegt das graue Franckfurt mit dem ungeschickten Turn, das iezt für mich so leer ist als mit Besemen gekehrt, da rechtsauf artige Dörfgen, der Garten da unten, die Terrasse auf den Mayn hinunter. — Und auf dem Tisch hier ein Schnupftuch, ein Pannier ein Halstuch drüber, dort hängen des lieben Mädgens Stiefel.
N. B. heut reiten wir aus. Hier liegt ein Kleid, eine Uhr hangt da, viel Schachteln und Pappedeckel, zu Hauben und Hüten — Ich hör ihre Stimme - Ich darf bleiben, sie will sich drinne anziehen. — Gut Gustgen ich hab Ihnen beschrieben wie's um mich herum aussieht, um die Geister durch den sinnlichen Blick zu vertreiben - - - Lili war verwundert mich da zu finden, man hatte mich vermisst. Sie fragte an wen ich schriebe. Ich sagts ihr. Grüßen Sie die Gräfin Bernstorff. Schreiben Sie mir. Die Silhouette werden Ihnen die Brüder geschickt haben. Lavater hat die vier Heumans Kinder sehr glücklich stechen lassen.
Der unruhige.
Lassen Sie um Gottes Willen meine Briefe niemand sehn.

  • Seitdem Gustchen Stolberg sich in einem Brief begeisterter Huldigung an den Dichter des »Werther« gewandt hatte, verknüpfte beide ein reger Briefwechsel, der bis in Goethes frühe Weimarer Zeit hineinreichte. Die »teure Ungenannte«, das nie von Angesicht gesehene junge Mädchen, Schwester der Literaten Fritz und Christian Stolberg, war ihm in der Zeit seiner Liebe zu Lili Seelenfreundin und Beichtigerin. — Hier: in Offenbach, im Hause von Lilis Onkel d'Orville. — Frizzen: Fritz von Stolberg, der eine unglückliche Liebe zu einer jungen Engländerin hegte. —• drey Monate: Gemeinsam mit den kraftgenialischen Freunden Stolberg und ihrem Begleiter, Baron von Haugwitz, hatte Goethe im Mai 1775 eine Reise in die Schweiz angetreten, um sich Klarheit über sein Verhältnis zu Lili zu verschaffen und ihr Bild, wenn möglich, angesichts der »allmächtigen schröcklichen Landschaft« zu vergessen. Doch sehr bald schon führte ihn die Sehnsucht wieder »vaterland~ wärts, liebwärts«. — Schlacht hei Bergen: am 13. April 1759 zwischen dem Herzog von Braunschweig und den Franzosen unter Marschall Broglie. Sie war die Ursache des im Dritten Buch von »Dichtung und  Wahrheit«  geschilderten  Zusammenstoßes zwischen  Goethes Vater und dem Königsleutnant Thoranc. — Pannier: Reifrock. —-Gräfin Bernstorff: Gustchens Schwester Henriette Friederike, erste Gattin des dänischen Ministers Andreas Petrus Graf Bernstorf}. Nach ihrem Tode vermählte sich Bernstorff mit Gustchen. — vier Heumannskinder: die vier Genossen der Schweizer Reise, die wie die Helden der »Schönen Historie von den vier Haimonskindern« auf Abenteuer ausgezogen waren. — stechen lassen: die Silhouetten Goethes, der Brüder Stolberg und des Barons von Haugwitz finden siel] im dritten Versuch (1777) von Lavaters  »Physiognomischen Fragmenten«.

Johann Wolfgang Goethe An Lili

Im holden Thal, auf schneebedeckten Höhen
War stets dein Bild mir nah;
Ich sah's um mich in lichten Wolken 'wehen,
Im Herzen war mir's da.
Empfinde hier, wie mit allmächt'gem Triebe
Ein Herz das andre zieht,
Und daß vergebens Liebe
Vor Liebe flieht.

  • Im Frühjahr 1776 trug Goethe diese Verse, die letzten, die er der Geliebten widmete, in das für Lili bestimmte Exemplar der »Stella« ein. Das 1775 entstandene Drama, ein »Schauspiel für Liebende«, spiegelt die Unruhe und Leiden des jungen Dichters in dieser Zeit und verleiht der Titelheldin viele Züge Lilis.

Anna Elisabeth von Türckheim an Johann Caspar Lavater

[Straßburg] d. 23 mertz [17] 85
Unmöglich ist es mir, lieber Freund, diesen brief ohne eine Zeile an sie abgehen zu lassen, wie es mir aber bis jetz möglich war diese erlaubtnüß unbenutzt zu lassen, ließ sich von einem sie so Zärtlich, und aufrichtig liebenden geschöpf als ich, nicht begreifen, auch wagte ich es nicht nur ein wort davon zu sagen, entschuldigte mich nicht mein Hertz, und ihre Freundschaft.
Bey ihnen, meinem Hertzen so nahen Freund, darf ich ohne umschweif einen rath begehren, den mir ihre Liebe so oft anbot. Sie allein sollen und können in einer sache sprechen, die mir sehr wichtig durch sich selbst, und ihre wirckungen ist: über die nothwendigkeit, oder das glück des einsamen, oder geselschaftlichen lebens. Sie wissen bester Freund wie viel ich im Hause durch alte, gegen mich gefaste vorurtheile, zu leiden habe, wie anhaldent ich bewacht, und getadelt werde, und wie der schönste theil meines lebens durch beständiges stosen und Drucken, dahin fliest. Noch habe ich das glück nicht genosen augenblickliche Zufriedenheit, über meine oder meiner kinder aufführung zu be-mercken. ich hofte viel von der Zeit, und meiner bemühung, aber umsonst.
Die Unglücke meiner Familie erweckten, und verstärckten die eingeschläferte aufmercksamkeit, und ich leide dopelt, durch das Unglück selbst, und die den eindruck hervorbringende wirckungen. Ich entsagte aus eigenem gefühl allen erholungen und Zerstreuungen, weil mir jeder genuß, im augenblick der schweren leiden meiner 5 Bruder, quäl, und Vorwurf gewesen wäre, aber nicht allein ich entsagte allem, es wurde mir alles entsagt, ich wurde aufmercksamer, schärfer beurtheilt. und die stelle der ersten magt im Haus blieb in Meines schwiegers Vatters äugen die, welche ich mich am eifrigsten bemühen solte zu versehen. Diesen Winter gaben, die neuen aufmunterungen in geselschaft zu gehen neuen Stoff zu beobachtungen. wir wurden so dringend geladen das es mir schwer wurde zu widerstehen. Mein Mann, und die Obliegenheiten seines Standes gewährten mir neue hinter-nüße. aber mein Hertz, und die erinerung meiner pflichten gaben mir muth genug jeder lockung entschlossen zu wiederstehen. Ich kante das glück in freundschaftlichen Verbindungen zu leben, und fühle das leere meiner existenz um desto mehr, da mein Hertz das bedürfnüß der liebe kante, aber itzt da mir das glück, heilung, und starckung verleihen könte jetz da mein Hertz durch den druck der leiden ge-schlosen, der tröstenden Freundschaft bedörfte jetzt wird mir jeder Umgang erschwert, jede Zerstreuung getadelt, und doch fühle ich das mir die zu grose einförmigkeit schädlich, das sie meine, von natur zum leiden gestirnte Seele, in einer gewissen unthätigkeit erhält, von deren ich einst meinen Kindern vor Gott rechenschaft geben muß. aber wie kann, wie darf ich dies ändern? im Haus meiner Schwiegerältern. Von ihnen abhängend, durch sie bemerckt, und beurtheilt, wie darf ich es wagen Stoff zu neuen entzweyungen zu gäben! nicht nur jede handlung, sondern auch jede depense, jeder besuch den ich gäbe, und bekomme, alles, alles wird getadelt. O! ich möchte gerne nicht klagen, gerne ruhig, und zufrieden, ohne gepäck und gepräng den weeg gehen denn mich die Forschung gehen heist. aber oft gehet es mir auch wie dem unzufriedenen Wanderer, der über Unbequemlichkeit des Weegs klagt. Ach! lassen sie mich ihnen edler, menschenliebender Freund das gestandnüß meiner schwäche ablegen, ich unterlige oft der geringsten last; nicht mürisch, und unzufrieden mögte ich klagen, aber traurig, und weh-müthig mich vor Gott hinwerfen, und um kraft, und Selbständigkeit bitten, aber auch dazu bedarf ich oft aufmunte-rung. und wer könte mir die besser gäben, wer mit so Vieler Wahrheit und reinheit, Vom Seegen des Gebets sprechen, als der, der so wahr, und so rein vor Gott tretten kann als sie. O! theilen sie mir ein Wort nur des Göttlichen trostes mit und lassen sie mich zum voraus schon Gott dancken, in ihnen den tröster, und führer gefunden zu haben, der denn weeg der Wahrheit, und Seeligkeit führen kann.
Noch ein Wort muß ich hinzu setzen; denn kränckend würde mir der gedancken sein meinen Mann als mitursach meiner öftern leiden anzugäben, er selbst leidet durch den Druck meiner Seele, und darinnen nur sind wir verschiedener meinung, das er wünscht, mich, durch nicht noditz nehmen an allen zumuthungen, frey zu machen, welches mir gegen Altern, zu schwer wird, sein wünsch so guth meinend er ist, scheint mir zu einseitig, und von ihnen bester, lieber erwarte ich die, mich determinirende aussage. in erwartung derer ich bin, ihre gewis gantz ergebene, gantz aufrichtige
Lili von Turckheim

  • Lavater hatte Lili 1783 in Straßburg kennengelernt und die »edle Turckheim« als die »herzlichste Bekanntschaft« seines Aufenthaltes gerühmt, Lilis Brief lag wahrscheinlich einem Schreiben des Grafen Tiemann, eines Freundes von Lavater, bei. — Die Unglücke meiner Familie: Das Schönemannsche Bankhaus hatte infolge leichtsinniger, vielleicht auch nicht immer ganz ehrenhafter Manipulationen der Brüder Lilis seine Zahlungen einstellen müssen.

Anna Elisabeth von Turckheim an Johann Friedrich Schönemann

[Straßburg,] den 6. [September 1792]
Ich ergreife aufs neue die Feder, um das Bedürfnis zu befriedigen, mich mit Dir zu unterhalten, aber ich habe unglücklicherweise niemals andere Gefühle auszudrücken, als das des Schmerzes. Wir sind alle niedergeschlagen von dem neuen Unglück der Hauptstadt und beweinen die Barbarei unserer Mitbürger! Herr Lachausse hat der Gemeinde gestern einen Brief aus Paris mitgeteilt, der die Einzelheiten der begangenen Grausamkeiten enthält. Man ist in die Gefängnisse eingedrungen und hat alle seit dem Ereignis vom 10. festgehaltenen Gefangenen hingemetzelt. Die Grausamkeiten, die man verübt hat, sind kaum glaublich, und man ist starr, wenn man die Berichte hört. Die Mörder haben sich allen möglichen Ausschweifungen hingegeben und haben in ihrer Barbarei nur das menschliche Antlitz bewahrt. Gleich dem Tiger, den das Blut immer wilder macht, nicht zufrieden mit den Opfern, die sie ihrer Wut dargebracht haben, haben sie den Unglücklichen den Bauch aufgeschlitzt, ihnen die Gedärme herausgerissen, um sich Gürtel daraus zu machen, und nachdem sie daran ihre Pistolen befestigt hatten, haben sie sich dem Volk gezeigt, um sich ihrer Heldentaten zu rühmen und ihnen zu sagen: so muß man die Übermütigen und die Feinde des Volkes bestrafen. Dann haben sie sich in eine Kirche begeben, wo sie 300 Geistliche eingeschlossen hatten, haben sie mit ihren noch von Menschenblut rauchenden Dolchen hingemordet, die noch halb Lebenden und nach Rache zu Gott Schreienden aus dem Fenster geworfen, wo sie dann, Tote und Lebende durcheinander, auf einen großen Karren geladen worden sind, der schon bereit stand, um sie aufzunehmen und fortzuschaffen. Noch nicht zufrieden, sind sie zum Temple geeilt, und Gott weiß, welches Ende sie dem König zugedacht hatten! Aber alle Mitglieder der Versammlung haben sich dorthin begeben und haben Frankreich neues Unglück erspart. Ich erlaube mir kein Urteil und bitte den Gott des Friedens, den ich anbete, nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit. Der Eindruck, den diese Nachricht bei unsern Einwohnern hervorruft, ist sehr verschieden nach der persönlichen Ansicht, die noch weit auseinander geht, und es gibt sogar Leute, die alles entschuldigen. Man hat hier gestern die Gefangenen befreit, die wegen militärischer Zuchtlosigkeit festgesetzt waren, und wir könnten uns auch hier sehr wohl auf einige Pariser Artigkeiten gefaßt machen, wenn unsere Bürger weniger friedlich und gut wären. Wir sind hier ruhig, und der Herd der Intrigen ist in Hagenau, wo die Wahlen abgehalten werden. Carra will die neuen Abgeordneten den Eid schwören lassen, weder vom König noch vom Königreich zu sprechen bei Strafe der Zurücksendung in ihr Departement, um dort lebendig begraben zu werden, und dabei sind sie es doch, die über diesen Gegenstand verhandeln und über die Absetzung des Königs entscheiden sollen! Welche Umwälzung, welche Anarchie!
Mein Mann ist nun wieder Posten geworden. Du wärest nicht wenig erbaut gewesen, wenn Du ihn auf Wache ziehen sähest. Ich wollte ihn besuchen oder von weitem vorübergehen, wenn er Posten stände, aber ich habe nicht die Erlaubnis dazu erhalten können. Ich bin entzückt zu sehen, daß er Mut und Gleichmut genug besitzt und sich brav in alles schickt, was man von ihm verlangen könnte. Du kennst seine Gesinnungen! er ist immer ein Freund des Bürgertums gewesen, und seine Vaterlandsliebe besteht in dem Wunsch, die Leute glücklich zu machen, und er wird jeden Augenblick seines Lebens alles, was an ihm liegt, tun, um ihr Glück zu festigen. Der Pflichtenkreis, in dem er sich befindet, macht ihn vollkommen glücklich und wiegt allen Kummer infolge des allgemeinen Unglücks auf ....

  • Johann Friedrich Schönemann, der Lieblingsbruder Lilis, war 1784 als Teilhaber in das Straßburger Bankhaus seines Schwagers eingetreten. Die Revolutionsereignisse veranlaßten ihn zur Rückkehr nach Frankfurt. Lili führte einen großen Teil ihrer Korrespondenz in französischer Sprache, obwohl sie gegen alles »Erzwelsche« eine entschiedene Abneigung hegte. — dem neuen Unglück der Hauptstadt: die Septembermorde vom 2. bis 6. September 1792. — Herr Lachausse: Arzt und Gemeindevorsteher in Straßburg. — Ereignis vom 10.: am 10. August 1792 erhoben sich in Paris die Sektionen und setzten einen revolutionären Bürgerrat ein. — Temple: Staatsgefängnis, in dem die königliche Familie gefangengehalten wurde. — Carra: Zeitungsschreiber und PoLiliker, Mitglied der Nationalversammlung. — Posten: als Mitglied der Nationalgarde.

Anna Elisabeth von Türckheim an Johann Friedrich Schönemann

[Kaiserslautern, 10. Juli 1794]
Ich Eile Lieber Bruder, dir meine und der meinigen glükliche Ankunft, in meinem Vatterlande zu Melden; was ich dabey Empfinde, fürchte, Wünsche läßt [sich] nicht beschreiben! bey dem einzigen nur will ich stehen bleiben daß ich nach einer 15 stündigen Pilgrimschaft meinen Heinrich auf dem rükken, Guillaume an der Hand, und die andere bey mir, glüklich durch alle Französische Vorposten, durch, und wirklich in Kayserslautern bin. Eins nur fehlt meiner ganzen Zufriedenheit, die Verreinigung mit Türckheim. daß er glüklich überall durch ist, wo ich hin kam, das weis ich, aber auch dies nur. ich wende mich an dich mein bester, mit der bitte Ihm sogleich zu melden, das ich Ihm nach, und wofern ich keine spuhr von Ihm finde, nach Frankfurt gehe. Ich muß Schliesen mit der wiederhohlung meiner Freude, und dem Sehnen nach Euch, deiner Lieben Frau, und Verehrungswürdigen Schwieger Mutter Empfehle ich mich, und bleibe in baldiger erwartung dich zu umarmen, deine dich aufrichtig liebende Schwester
Lise von Türckheim

  • Türckheim, 1792 zum Maire seiner Vaterstadt gewählt, wurde durch das comite de salut public seines Amtes entsetzt und auf sein kleines Landgut Postdorf in Lothringen verbannt. Einer erneuten Verhaftung, dieses Mal gleichbedeutend mit der Guillotine, entzog er sich in der Tracht eines Holzfällers durch die Flucht. Lili folgte ihm, von ihren fünf Kindern und einem Hauslehrer begleitet, drei Tage später als Bäuerin verkleidet.

Anna Elisabeth von Türckheim an Friedrich von Türckheim

[Straßburg, Spätsommer 1799]
Unsere Briefe haben sich gekreuzt, mein Lieber .... Ich bin äußerst ungeduldig, von den Maßnahmen zu hören, die Du getroffen hast. Was mich sehr beunruhigt, ist das Essen, denn, nach dem Brief der Frau B[ourgoin], bietet sie Dir nur eine Wohnung an, und doch ist es (nach der Aussage aller, die Paris kennen) für einen jungen Menschen sehr gefährlich, allein zu den Wirten und besonders in die Theatervorstellungen zu gehen .... Gib mir genaue Einzelheiten an, damit meine Phantasie sich beruhigt und mein Herz nicht länger von dem Gedanken an die Gefahren gequält wird, denen ein meinem Herzen so teures Kind ausgesetzt ist. —

Frauen der Goethezeit
Ich empfinde vollkommen, mein lieber Freund, wie sehr die Vorteile einer so gewählten Gesellschaft Dich entzücken, und wie sehr Dir der Gedanke schmeichelt, in ihr Deine geistige Entwicklung zu fördern. Aber gestatte dem Herzen einer Mutter, die einzig und allein mit dem wahren Glück ihrer Kinder beschäftigt ist, ihren Erwägungen Raum zu geben und Dir einige vorzulegen .... Du bist allein, mein Teurer, allein in einer fremden und neuen Welt, allein vielleicht mit Deiner Meinung und Deinen Grundsätzen; und das hinwiederum in einem Augenblick, wo Du diejenigen, die eine erste Erziehung dir gab, läutern und festigen, wo Du Vergleiche ziehen mußt, um selber zu wählen und Dich zu entscheiden!
Du schilderst mir die verschiedenen Menschen, die die Gesellschaften bilden, die Du besuchst, als aufgeklärt und unendlich geistreich. Aber mit solchen Menschen geht es wie mit einer Sammlung schöner Bücher in der Hand eines jungen Mannes ohne Erfahrung. Er wird sie ohne Wahl lesen, ohne daraus Nutzanwendungen zu ziehen und infolgedessen ohne Vorteil davon zu haben, er wird sogar glauben, unterrichtet zu sein, da er sie gelesen hat, und sein Kopf wird nur angefüllt sein mit vereinzelten Gedanken, die oft im Gegensatz zueinander stehen, ohne daß er dahin gelangen kann, ein nutzbringendes Ganzes daraus zu bilden, das ihn in den Stand setzt, über den Vorteil seiner Lektüre zu urteilen. Verzeihe, mein Lieber, wenn ich Dich mit einem so unerfahrenen jungen Manne vergleiche, aber bist Du es nicht ein wenig in der Kunst, die Menschen zu beurteilen? Ihr Geist, ihre Urteile packen Dich, ihre Art zu urteilen entzückt Dich, und ich fürchte, daß sich der gute Fritz manchmal in der Feinheit der kunstvoll dargebotenen Sophismen garnicht zurecht findet, und daß die Geneigtheit seines Herzens, immer günstig zu urteilen, da er gutgesinnt ist, ihn in diesem Labyrinth unmerklich in die Irre führt, ohne ihm die Mittel zu belassen, den Ausgang zu finden. Ich kenne die Grundsätze und die Moral dieser Menschen, die Du so rühmst, freilich nicht, aber ich erlaube mir zu behaupten, daß es wenige gibt, die jene Reinheit der Sitten und Grundsätze bewahrt haben, die das Erbteil schöner Seelen ist, und die der Firnis der großen Gesellschaft insgeheim trübt oder befleckt, wenige vor allem, denen es gelungen ist, die religiösen Gefühle zu bewahren, wenn sie erst einmal genötigt wurden, sie der PoLilik zu opfern. — Ich sage deswegen nicht, mein Lieber, daß diese Gesellschaft Dir nicht nützlich ist. Ich möchte Dich nur veranlassen, vor den Grundsätzen auf der Hut zu sein, die diejenigen verderben könnten, die wir mit soviel Interesse Deinem Herzen eingeprägt und gepflegt haben, Deinem Herzen, das noch so rein ist, so leicht begeistert für das Gute, aber so wenig bekannt mit den Fallen, die man der Tugend stellt ....
Ich sehe Dich im Geiste in diesem Kreise, der vielleicht über Dein zukünftiges Glück oder Unglück entscheiden wird, und ich hebe die Hände zum Himmel und bitte Gott, Deine Probezeit zu segnen. Ich sehe, wie Du abwechselnd mit Deinem Beruf, Deiner geistigen Entwicklung und Deinen Vergnügungen beschäftigt bist, und ich glaube gern, daß Du Dich immer mit dem Gedanken an unsere Zustimmung, ja, selbst an unsere Gegenwart trägst. Dieser Gedanke wird Dir manchmal eine Stütze sein und wird Dir neue Mittel zur Nacheiferung liefern. Wir erwarten viel von Dir, und Deine Freunde und Freundinnen bestätigen gern die gute Meinung, die du uns beibringst — . . . . Halte Dich fern von Aufläufen und sei nur ja nicht neugierig. Ich bin es zwar unendlich, wenn es sich darum handelt, Nachrichten von Dir zu erhalten und zu hören, daß Du diejenige lieb hast, die Dich mit aller Kraft ihrer Seele liebt.

  • Friedrich von Türckheim, Lilis ältester Sohn, widmete sich auf Wunsch seines Vaters dem Bankfach und hielt sich zu seiner Ausbildung längere Zeit in Paris auf.

Anna Elisabeth von Türckheim an Friedrich von Türckheim

[Straßburg] den 20. Oktober [1799]
Ich biete mitunter alles auf, um zu sehen, wie weit es mir möglich wäre, Dir nicht zu schreiben. Aber das Ergebnis ist für mich immer wieder, daß es für meinen Geist leichter ist, sich zu beherrschen, als für mein Herz; daß es mir ein Bedürfnis ist, Dich, mein Teurer, zu lieben und daß ich wagen muß, es Dir auszusprechen .... Lili bittet mich inständigst um Nachricht von Dir, sie ist seit acht Tagen zusammen mit einigen ihrer Freundinnen im Kloster, nicht als Nonne, noch als Kostgängerin, noch um der Gesellschaft zu entsagen, noch um dort Buße zu tun; auch nicht aus überfeinerter Liebe heraus, um sein Zuhause angenehmer wiederzufinden, wie ein gewisses Jungherrlein meinte, wenn er einen kleinen Ausflug zu machen das Bedürfnis fühlte; nein, keiner dieser Gründe ist der wirkliche, und ich will Dir, um Deine Neugier nicht zu sehr zu erregen, in wenig Worten sagen, daß es geschieht, um die Wünsche der Freundschaft zu befriedigen und zu erwidern. Kurz, um der liebenswürdigen Einladung von Sophie und Lilise mit Genuß nachzukommen, und um Herz und Geist zu stärken, ist Lili letzten Sonntag in Gesellschaft eines Töpfers, eines Bauern und einer Kammerfrau in einem Leiterwagen abgefahren, ausgerüstet mit einem Regenschirm, umgeben von Tonnen, Kisten, Pfannen, Stroh und Heu, begleitet von den Segenswünschen ihrer Mutter, durchglüht von den sengenden Strahlen der Sonne, durchnäßt von den ständigen Regengüssen, verfolgt von dem Geschrei der Gassenjungen .... So, sage ich, ist Lili nach Ittenweiler gefahren. Schon 8 Tage ist sie dort, und noch ist keine Rede von ihrer Rückkehr. Ich will Dir sogar gestehen, daß ich entzückt bin zu sehen, wie sie mit ihren jungen Freundinnen vereint ist und abwechselnd die Freuden des Landlebens und diejenigen genießt, die ihre interessante Gesellschaft ihr verschafft, und daß ich gern glauben will, daß ihr dieser Aufenthalt seelisch und körperlich guttun wird. Da ich weiß, daß Du Dich für sie interessierst und sie mit Deiner Gönnerschaft beehrst, muß ich Dir bei dieser Gelegenheit sagen, daß ich sehr zufrieden mit ihr bin, und daß ich mehr denn je das Glück zu genießen hoffe, unsre Hoffnungen erfüllt zu sehen. Sie ist sanftmütig und gutherzig, fleißig und sehr wenig anspruchsvoll für ein junges Mädchen ihres Alters, und ich beklage und bewundere sie oft, wenn ich sehe, welche Mühe sie sich gibt, sich nicht an jemand zu fesseln. Wir gehen wenig aus, verbringen unsre Abende mit Lesen und suchen alle, uns aus unsern Beschäftigungen ein Vergnügen zu machen ....
Was den Besuch anbetrifft, den Du den Frauen gemacht hast, deren Charakter Du genauer kennen lernen wolltest, so gestehe ich Dir offen, daß ich nicht wünsche, daß Du ihn zu oft wiederholtest, obgleich ich im Grunde keineswegs mißbillige, daß Du dort gewesen bist, da es notwendig ist, das Laster und das Übermaß an menschlicher Herabwürdigung kennen zu lernen. Aber ich wünsche nur, daß es, wenn Du noch einmal dorthin gehst, nicht allein geschieht, auch nicht mit jungen Leuten, denen es Vergnügen machen würde, Deine Zurückhaltung zu bespötteln, sondern mit irgend einem einigermaßen tugendhaften Manne, der Deine Erfahrung teilen und die Herrschaft, die die Vernunft über den Sinnengenuß ausübt, erproben will. Ich möchte mir erlauben hinzuzufügen, mein Lieber, daß es oft weit klüger ist, sich für schwach zu halten und sich nicht unnütz Gefahren auszusetzen. — Der alte Sünder Laquiante ist nicht ganz meiner Meinung und würde vielleicht mit teuflischer Teilnahme Deinem ersten Fehltritt Beifall zulächeln. — Sei tugendhaft, aber rühme Dich dessen nicht, das würde der erste Schritt zu Deinem tatsächlichen Verderben sein. Es ist ehrenwert und schön, in den Augen Gottes und der tugendhaften Menschen, besonders aber der feinfühligen Frauen, rein zu bleiben; aber man verzeiht es einem jungen Manne nicht, sich dessen zu rühmen, und ich habe mehr als einen kennengelernt, der sein Verderben der unklugen Art zuzuschreiben hat, mit der er den Cato spielte. Es gibt Unterhaltungen, die man vermeiden kann, und andere, an denen man einen sehr passiven Anteil nehmen kann. Beleidige und betrübe Deinen Schutzengel nicht! .... Die Kiste mit dem Kirschwasser geht endlich ab; sie enthält 12 Flaschen Kirschwasser und 12 allerfeinsten Strohwein. —
Ich schließe, umarme Dich in Gedanken und glaube und hoffe auf Deinen guten Schutzgeist. —
Elise.

  • Lili: die achtzehnjährige Tochter. — Kloster: zu lttenweiler. — Laquiante: Notar in Straßburg, mit den Türckheims befreundet.

Anna Elisabeth von Türckheim an Johann Wolfgang Goethe

Strasburg d 21 7bre 1807
Der Gedancken eines meiner Kinder in Weimar zu wissen verbindet sich mit dem lebhaften Wunsche daß es ihm in Göthe's nähe wohl werden mögte! Gönnen Sie, meinem guthen Carl, und seiner lieben Frau, das Glük den Freund meiner Jugend kennen zu lernen, und schenken Sie, Ihre Gewogenheit einem Jungen Manne dessen Leben, bis izt eine Reihe beglükkender Tage für seine Eltern war. — Der Reißende Strom der Begebenheiten, und das zu frühe Ein-tretten in das Mechanische seiner Laufbahn, haben seinem Geiste zwar eine bestimmte, ruhige, Richtung gegeben, aber ihn des Glücks einer feineren Bildung, im Wissenschaftlichen, beraubt.
Beurtheilen Sie meinen Carl mit Schonung, und Liebe, und lassen Sie des Gedanckens mich froh werden, daß Ihr belehrender Umgang, eben so glücklich auf meine Kinder würcken wird, als die, in meinem Herzen so unauslöschbar tief eingegrabene Errinerung an Ihre Freundschaft
Ihre Freundin Elise v. Türckheim
(Sollte der 3. meiner Söhne, Wilhelm, das Glück haben, Sie auf seiner Rückreiße zu seinem Regimente kennen zu lernen so darf ich auch für Ihn um eine gütige Aufnahm bitten, sein Biedersinn, und das Empfehlungs Schreiben daß ihm die Natur ertheilte, wird ihm auch ihr Herz gewinnen, dies wünscht, dies hoft die glückliche Mutter.) —

  • Carl von Türckheim, vermählt mit einer Gräfin Waldner, übernahm zusammen mit seinem älteren Bruder Friedrich das väterliche Bankgeschäft. — Wilhelm: Husarenoffizier im Corps des Generals Rapp.

Johann Wolfgang Goethe an Anna Elisabeth von Türckheim

Weimar d. 14. Dec. 1807
Ihr lieber Brief, verehrte Freundinn, kam zu spät, Ihr Hr. Sohn schickte mir ihn von Dresden. Er war bey mir gewesen, ohne daß ich's wußte er sey es. Ich verwechselte die beyden Familien, ähnliches Nahmen, und hielt ihn von der andern. Aber auch so, als mir ganz fremd, hat er mir sehr Wohlgefallen, das zweytemal kam ein Regenguß gelegen, der ihn lange bey mir festhielt. Ich machte mir Vorwürfe ihn nicht bey Tische behalten zu haben, da es eben an der Zeit war, denn ich empfand eine wahrhafte Neigung zu ihm. Mit Ungeduld erwarte ich den andern Angekündigten schon lange vergebens, ich wünschte bey diesem nach zuholen was ich bey dem ersten versäumte.
Zum Schluß erlauben Sie mir zu sagen: daß es mir unendliche Freude machte, nach so langer Zeit, einige Zeilen wieder von Ihrer lieben Hand zu sehn, die ich tausendmal küsse in Erinnerung jener Tage, die ich unter die glücklichsten meines Lebens zähle. Leben Sie wohl und ruhig nach so vielen äußern Leiden und Prüfungen, die zu uns später gelangt sind und bei denen ich oft Ursache habe an Ihre Standhaftigkeit und ausdauernde Grosheit zu denken.
Nochmals ein Lebewohl mit der Bitte meiner zu gedenken.
Ihr ewig verbundener Goethe.

  • die beyden Familien, ähnliches Nahmen: Goethe verwechselte Carl von Türckheim anscheinend mit einem Mitglied der thüringischen Familie von Dürckheim. — Von Lilis »Leiden und Prüfungen« während der Flucht aus dem Elsaß und zur Zeit des Exils in Trankfurt und Erlangen wird Goethe nicht nur durch gemeinsame Freunde wie die Schweizerin Bäbe Schulthess, sondern auch durch seine Mutter Kenntnis erhalten haben. Manches von dem Gehörten fand in »Hermann und Dorothea« seinen dichterischen Niederschlag.

Bernhard Friedrich von Türckheim an Johann Wilhelm Metzler

Kraut Ergersheim 7. May 1817
Lieber Metzler,
Das Bild der edleren Jugendfreunde schwebt dem Menschen vor in jeder feierlichen Stunde des Lebens und so sehnt sich audi mein Herz nach dir in dem tiefen Kummer. Meine Lili ist erblasset, sanft entschlafen diese Nacht in den Armen der treuen Tochter Brunck, die Seegen einerndten wird. Die Mutter hat mit unaussprechlicher Zartheit Ihr für die schönen opfer kindlicher Liebe gedancket. Mein Trost hienieden sind die Kinder die alle ohne Ausnahme der Mutter pflege und bildung einen unverwelklichen Krantz flechten. Thrä-nen kann meine beklommene Seele nicht unterdrücken! allein die wiederholten Zeugnisse und Merkmale des innigsten harmonischen Gefühls zwischen Lili und mir erhöhen die Richtung meiner Gedanken auf den punct, der Scheiden nicht als trennung verspürt, und jenseits Wiedervereinigung unter höheren rücksichten ahndet.
Gott erhalte dir treuer Freund deine nähern Umgebungen; gedenke meiner und der verewigten holden Lili in Liebe.
Türckheim.

  • Der Frankfurter Senator Johann Wilhelm Metzler, den auch Goethes Mutter in ihren Briefen häufig erwähnt, gehörte zu Türckheims vertrautestem Freundeskreis. — Tochter Brunck: Lilis einzige Tochter war mit dem Straßhurger Militärintendanten Adrian Brunck verheiratet und früh verwitwet. — Krautergersheim nahe Straßburg war der Landsitz der Türckheims, von Lili während der letzten Lebensjahre zu ihrem liebsten Aufenthalt erwählt.