»Sie verstand Fichte; liebte Grünes, Kinder;
verstand Künste, der Menschen Behelf.
Wollte Gott helfen in seinen Kreaturen.«
Rahel Varnhagen über sich selbst an Ludwig Robert, 3. August 1831
Sie habe herausgegrübelt, schrieb Rahel Levin 1814, daß Gott und Natur sie zwar liebten, Schicksal und Glück aber ihr nicht gut seien. Intelligenter als Rahel hat niemand sein eigenes Los beklagt: es war eine Klage, die mit der ganzen Schärfe eines genau arbeitenden Verstandes geführt wurde und ihre Natur bis zur Grenze des physisch Erträglichen beanspruchte. Kaum ein Brief, in dem sie nicht ihre bedenkliche Gesundheit anführt — Nervenanfälle, Krisenzustande, Unpäßlichkeiten, bei denen sie Gesicht und Hände mit befeuchteten Rosen erfrischen muß, und wenn sie schon keine Krankheit bei Namen zu nennen weiß, so geht ihr doch auch in solchen Zeiten wenigstens das »Gesundheitsgefühl« ab. Rahels Krankheiten übersetzen ihre seelischen Leiden getreu ins Körperliche.
Welchen Grund zur Lebensklage hatte diese Frau, die Heinrich Heine die »geistreichste Frau des Universums« nannte und sogar Grillparzer zu dem Kompliment hinriß: »Auf der ganzen Welt hätte mich nur eine Frau glücklich machen können, und das ist Rahel«? Der Salon, den die Tochter aus wohlhabender Kaufmannsfamilie führte, gehörte zu den berühmtesten zumindest der preußischen Hauptstadt. Hier verkehrten Diplomaten wie Friedrich Gentz, der Staatsrat Stägemann, der schwedische Gesandte Brinkmann, die Hohenzollernprinzen, der Fürst Radzi-will, Schauspieler wie Fleck, die Unzelmann und die Mar-chetti, Schriftsteller und Dichter wie Friedrich Schlegel, Brentano, die Tiecks, die Humboldts, Chamisso, Fouque, Schleiermacher, Jean Paul Richter. Freilich war der Ton des Salons eher auf diplomatische Verbindlichkeit als auf freundschaftliche Vertraulichkeit gestimmt, und Rahels Gäste waren nicht unbedingt ihre Freunde. »Sie stand in der Mitte eines großen Kreises ganz allein«, schreibt Varnhagen sicherlich nicht zu Unrecht. Rahel Levins Empfindlichkeit und ihr Stolz — »hier tödten sie mich, und erst recht, wenn sie sich's einfallen lassen, mir helfen zu wollen« — reagierten sensibel auf jeden Prestigeverlust, auf jede tatsächliche oder vermeintliche Kränkung, aber sie mußten es auch, denn Rahel war — Jüdin.
Half der Freundin des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen ihre Rolle, die sie in der Gesellschaft wenigstens in den neunziger Jahren spielte, über das Gefühl der sozialen Minderwertigkeit hinweg, in dem, was sie am persönlichsten treffen mußte, hatte sie die Ächtung um so stärker zu fühlen. Ein Verlöbnis mit dem Grafen Karl von Finckenstein löste sich auf, zum großen Teil wegen des Widerstandes der Familie gegen die jüdische Kaufmannstochter. Ein zweites Liebesverhältnis zu dem Legationssekretär der spanischen Gesandtschaft in Berlin, Don Raphael d'Urquijo, ging an der Verachtung des Spaniers für die leidenschaftliche Frau zugrunde. Rahel betete an, auch wo sie wußte, daß sie keinen Grund hatte, anzubeten. Ihre überlegene Intelligenz war ihren Leidenschaften nicht gewachsen; sie vermochte sie zu analysieren, aber nicht zu beherrschen.
Was tat Rahel Levin nicht alles, um den »Makel« ihrer Herkunft vergessen zu machen! Sie wechselte den Namen — von Rahel Levin zu Friederike Robert —, sie ließ sich taufen, sie gab sich der patriotischen Begeisterung der Freiheitskriege hin, weil sie in ihr sich — endlich! — als eine unter vielen Gleichgesinnten fühlen durfte. Schließlich installierte sie sich bürgerlich, dank der Ehe mit Varnhagen, die ihr sogar erlaubte, ein Adelsprädikat zu führen. Varnhagen von Ense, vierzehn Jahre jünger als Rahel, Schriftsteller von begrenztem Talent und Diplomat mit nicht allzu ruhmreichen Kommissionen, wurde zu ihrem Verkünder, veröffentlichte Auszüge aus ihren Briefen, notierte mit rührender Gewissenhaftigkeit ihre mündlichen Äußerungen und publizierte nach ihrem Tode in drei Bänden ihren Briefwechsel. Rahel selber erfährt in Varnhagens Liebe, »daß auch ich geliebt und gehegt werden kann, wie ich andere hege und liebe«, daß sie nicht mehr das »verzauberte Monstre« ist.
Der leidenschaftliche Wille, die Wahrheit — ihre Wahrheit — so präzise wie möglich auszudrücken, steckt hinter jedem Wort Rahels: den Aphorismen, den »destillierten Essenzen meist aus Lebensschmerzen«, Tagebüchern und Briefen. Rahel «Varnhagen, die sich zur bloßen Zuschauerin des Lebens verdammt fühlte, kannte nicht nur die Leiden, sondern besaß auch die Tugenden des geübten Zuschauers, die Beobachtungsgabe. Sie bewahrte sich die Unschuld des Ur-teilens, denn sie war bereit, ihr Urteil jeweils neu zu fällen, sofern es nicht die eigene Situation betraf, die für sie ein für allemal fixiert war. So sind die Charakteristiken der Freunde und Gäste Glanzstücke ihrer Briefe. Aber das Hauptthema ist sie selber, ihr Verhältnis zu anderen, ihre Reflexionen über dieses Verhältnis, die mutmaßlichen Reflexionen der anderen, schließlich ihre Reflexionen über die eigenen Reflexionen und die der anderen.
Allerdings hat diese unermüdliche Bereitschaft zur Analyse ihren Grund nicht nur in der Faszination, die das eigene Leiden für Rahel besaß, sondern auch, mitten im Berlin der Romantiker, in einer fast noch aufklärerischen Hochschätzung der menschlichen Vernunft — neben Goethe und Fichte waren Lessing und der aufgeklärte Monarch Friedrich der Große ihre Götter. Die Vernunft besaß für sie eine moralische Qualität. »Denn eine Seite kennen Sie in mir, die niemand kennt außer Sie .... die muß erkandt werden, sonst ist sie todt«, schrieb sie an Brinkmann. Erst die Erkenntnis, auch die, die ein anderer für uns leistet, bringt dieser echt Rahelschen Umprägung des zeitgenössischen Bildungsgedankens zufolge den Menschen zu sich selber. »Verstünde man nur alles: nur das Unverstandene thut weh«, und: »Todtes ist nur Unverstandenes«. Mit dieser Wendung besiegte Rahel Varnhagen ihr glückloses Schicksal. In der Tätigkeit der erkennenden Vernunft war sie frei, während sie ihren Willen durch das Komplott der Umstände, Menschen und Zufälle gefesselt fühlte. Hier war Gott ihr gut, obwohl das Glück ihr feind war.
Rahel Varnhagen von Ense
Aphorismen
Es kann nichts helfen ein großes Schicksal zu haben; wenn man nicht weiß, das man eines hat. Es hat ein jeder ein großes Schicksal, der da weiß, was er für eines hat
Wenn man lieben könnte, was man wollte, so könnte man sich ja immer glücklich machen! Die verkehrtesten Forderungen werden gemacht: bloß weil sie nicht gestehen wollen, daß sich die Freiheit in den höchsten Zwang gerettet hat. Der gefesselte Wille allein ist frei: da ist man frei: das ist die Festung vom lieben Gott gebaut. —
Es giebt einen freien Weg, bis nach dem gefesselten Willen — Wollen — zu gelangen; den der Vernunft, wo man wahr sein muß: und anstatt den anzutreten, nennen sie den Willen frei.
Wir hätten uns brauchbar für uns selbst gemacht, wenn wir über das, was rohe Sache in uns ist, einen uneingeschränkten Willen hätten; und das, was Willen ist, zur unbiegsamen Sache machten. Der Mensch muß sich zur Wand, zu etwas Undurchdringlichem, ganz nach seiner Willkür machen können, damit er mit den Sachen und mit den Menschen, die sich als Sachen aufwerfen, kämpfen kann.
Noch nie hab' ich bereut, was ich gerne that: nur immer das, was ich schon mit Reue that.
Was ich nicht bekommen habe, kann ich vergessen; was mir aber geschehen ist, kann ich nicht vergessen; behüt' Gott jeden, dies zu verstehen!
Wer zu schonen versteht, der kann auch kränken: wer aber kränkt, versteht nicht auch zu schonen.
Des wirklichen Unglücks schämt man sich. Und man kann es eigentlich daran erkennen.
Von Menschen kommt kein Glück. Da erwartet man es nur.
So lange wir nicht auch das Unrecht, welches uns geschieht und uns die kühlen brennenden Thränen auspreßt, auch für Recht halten, sind wir noch in der dicksten Finster-niß, ohne Dämmerung.
Wir machen keine neuen Erfahrungen. Aber es sind immer neue Menschen, die alte Erfahrungen machen.
Ich finde den ganzen Unterschied in der Menschen Geister nur bei'm Fragen: antworten können sie alle nur auf dieselbe Weise.
Der Dichter unterscheidet sich auf diese Weise vom Lügner: daß der erste eine Lüge nicht ohne Wahrheit erzählt, und der zweite eine Wahrheit nicht ohne Lüge erzählen kann.
Man lernt spät lügen, und spät die Wahrheit sagen.
Es ist nicht allein sehr schwer, die Wahrheit hier in der Welt zu finden; sondern man muß sie auch noch verläugnen!
Rahel Levin an Karl August Varnhagen von Ense
[Berlin] Montag Vormittag, den 7ten November 1808
Nun muß ich Dir wieder von den Urquijoschen Briefen sprechen! Vergiß nur um Gottes allmächtigen Willen nicht, daß sie auch das Verächtlichste, was nur in meinem Leben ist enthalten; meine größte turpitude. Dieser Fleck war faul. Obgleich es die reinste Flamme war, die mein Herz verbrannte, von ihm selbst entzündet. Ich log. Die schönste Lüge, die einer wahren, großen Leidenschaft. Ich log; um mir das Leben zu fristen. Ich log; ich sprach die Forderungen meines Herzens, die Gebühren meiner Person nicht aus; um das mörderische Nein nicht in Worten zu höhren; ich lies mich ersticken; ich wollte mich nicht durchbohren laßen: elende Feigheit; ich wollte, Unglückseelige! das Leben des Herzens schützen; ich stellte mich vor, ich stellte mich hinter, ich bog, und bog,-und bog. Als ich endlich, niedrig behandelt, mein eigen Herz auf das Schild legte, und wie mit dem Schwerte das »oui« außen auf dem Briefe forderte, war es wirklich aus. Meine Seele wußte es vorher. Es ging aber um den Werth, um die Möglichkeit meines Seyns überhaupt: und ich übergab mich — wie ich ihm schrieb — der Verzweiflung, die ich nicht kannte: niemand kennt sie; sie und den Todt; und wer die nicht fürchtet, der weiß nur nicht, was das ist: nicht wißen. Wählen muß man sie aber beyde manchmal. Und auch den Todt hätte ich erfaßt; hätte es meine Meinung erfordert, ich weiß es. So war ich lange niedrig: Du wirst es in allen Briefen sehen; vergiß aber mein eigentliches Ich nicht: und überschätze auch nichts. Lange hätte ich gern diese Lüge grade, worauf sich die Besten unseres Zeitalters etwas einbilden, und welche zum Theil die ganze neue europäische Liebe konstituirt, recht auseinandergelegt, bezeichnet, in all ihren Verzukungen und Retiraden dargestellt, zerlegt, damit sie nie wieder lebe; aber so gewiß und wahrhaft sie mein Geist erfaßt hat, so hat er doch nicht Kräfte, sie Fichtisch zu zerlegen, oder Göthisch vorüberschreiten zu lassen: wie ein zitirter Geist, der sich stellen muß. Geläng es Dir, Freund! — von dem ich, trotz meiner holperigen Worte, weis, daß er den gräulichen Sinn meiner armen Rede verstanden hat. Ich glaube, hätte der Gubernator dieser Erde nur ein Exempel solcher Liebe, all ihren Wendungen und Möglichkeiten, in ihrer höchsten Kraft, Echtheit und Reinheit, gewollt, gepaart mit dem höchsten Be-wußtseyn über sich selbst, und also in größthöchster Möglichkeit ihrer Martern, wo der ganzen Seele Umfang, wie mit Faceten versehen, diente, jeden Schmerz reflektirend zurückzuschicken, so wäre es mit mir genug gewesen: wie ich es oft in Gebeten forderte. Aber wir, und alles was wir wißen, bezieht sich auf etwas was wir nicht wißen; und daher kann man auch so viel schwatzen wo nichts dahinter ist: und schweigt so selten; weil es doch seh wehrer ist an das zu denken, was man nicht siht. (Hier hat mich Quast und Robert gestört.) Dies ist alles Urquijo begegnet; wie sonderbar! Er weiß von nichts. »O! wie sonderbar ist es, daß uns nicht allein das Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt ist!« Mein einer Text aus dem Meister. Darauf brachte mich diesmal nur das Wort: sonderbar. Wie allein hab ich seyn müssen! Sih, ich konnte nicht einmal einen Freund finden, — Du hast mir in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft abgefragt, was ich unter einem Freunde verstünde; und als ich fertig war, sagtest Du: dies haben die Alten Freundschaft genannt; es sey die antike Freundschaft, — und die hohlen Luftbilder belebte ich alle selbst. Ein Roland, ein Donkischot ist nicht wahrer, wahrhafter, als ich. Ihr Begehren sicherte mir ihr Leisten; ich glaube, sie hätten nur zu freßen brauchen — nun gar weinen, oder wünschen! — um daß ich sie hielt für das, was ich war. Und doch betrog mich keiner. Ach! war' ich nur Einmal — von diesen vier Worten ist ein jedes zehnmal unterstrichen — betrogen gewesen, so kennt' ich doch die Hoffnung! Bey mir aber, ist beschlossen, soll die nur mit der wirklichsten Gewißheit zusammen eintreten. — Du wirst schon allein aus meinen Briefen nach dieser Erinnerung, und der Kenntniß, die Du von mir hast, ergänzen. Ich vermag nichts zu sagen. Das Wesentlichste, bis jetzt unsägliches bleibt zurück; das, was ich aussprechen soll, das, was nur ich auszusprechen vermag, kann, wenn es auch Schmerzen nur erzeugt haben, nur im Glük ausgesprochen werden (wenn es auch scheinen mag, mein Schmerz sei beredt); im Glük, oder im Todt. Bis dahin bindet Schahm mich noch. Wahres Unglük schähmt sich; habe ich immer gesagt; oder vielmehr nie; einmal mir es selbst aufgeschrieben. —
- Zu Anfang ihrer Freundschaft mit Varnhagen gab Rahel Levin ihm ihre Briefe an Urquijo zu lesen, zu dem sie von 1802—1804 — »es war ein langes Morden« — in einem leidenschaftlichen, von seiner Seite ohne Achtung geführten Verhältnis gestanden hatte.
Rahel Levin an Heinrich August de la Motte-Fouque
Berlin, den 26. Juli 1809.
Nur ein flüchtiger Gruß wird es auch heute! Wenn Martern Ihnen Ersatz sein könnten, so hätten Sie völligen; so habe ich mich gemartert durch das Aufschieben des Schreibens. Ihr Brief ist mir nicht zur Hand, sonst sollte doch dieser Ihnen lieber werden. Wie sehr rührte Ihrer mein Herz; wie ernst fand ich ihn; und Sie dadurch. Wüßt' ich's doch, daß man zu solchem Scherz, wie Sie ihn üben, nicht kommen kann ohne inneres Scheitern! Sie kommen mir in Ihrem Briefe sehr an sich und an Ihr Talent verwiesen vor: und drückte er auch nur eine einzelne Stimmung aus, und sind Ihnen hundert und wieder hundert noch so freudige, reiche durch die Seele gegangen: ich kenne doch den beleidigten Punkt im Gemüthe, wo diese entspringt, und nur zugedammt werden kann, nie aufgehoben. In welchem Zustande aber, lieber freundlicher Mann, traf mich Ihr Schreiben. Ich die das zäheste Leben in sich trägt, war bis zum Ennuyiren vernichtet — alle andere Seelenzustände war ich durchgegangen. Aus diesem Opiumszustand bin ich nun freilich scheinbar, wenn auch in der Wirklichkeit nicht, durch tausend andere Hetzen gekommen: durch den Frühling und durch die bittere Oberzeugung in der Verzweiflung selbst. Was mir ist? daß ich noch nie gefehlt habe; noch nie leichtsinnig oder eigennützig handelte, und mich doch aus dem immer sich fort, und neu entwicklenden Unglück meiner falschen Geburt nicht hervorzuwälzen vermag. Dies sind wenige, leicht und bald auszusprechende Worte; aber es sind die Bogen, worauf mein ganzes Leben hindurch die schmerzlichsten, giftigsten Pfeile abgedrückt sind. Fest stehen sie die Bogen, aus ihrer Richtung führt mich keine Kunst, — keine Überlegung, keine Anstrengung, kein Fleiß, keine Unterwerfung. Das Glück, das große, wendet mir ganz den Rücken. In dieser Attitüde findet mich ein jeder: und nie war Einer über-edel genug, um mich wie eine Glückliche zu behandeln: die fordern darf, und der man leistet. Jedes menschliche Verhältniß ist mir mißglückt. Meine Einsicht über mich ganz geschärft: aber meine Herzensfasern zu schwach. Ich folge ihr nicht, der Einsicht. Menschen locken, rühren, und reizen mich. — Niemand; kein Dichter, kein Philosoph keiner Zeit, sieht sie mehr durch als ich: und um mit ihnen wirklich, in der That umzugehen, muß man sich doch immer einsetzen: sonst trat man ihnen ja in der Wirklichkeit nicht nah, vertrauen muß man sich doch, sonst behandelt man, aber lebt nicht. Auch bin ich kein alberner Misanthrop! Ich traue und liebe, und bedarf noch rechts und links; aber das Glück, das Schicksal, Gott, die Götter; wie es einer nennen will: ich nenne es jetzt immer die evene-ments: die empören mich ganz! Warum nicht eins zu meiner Gunst; warum in dem großen, unermeßlichen Tollheitsgewühl nicht Einer toll zu meinem Vortheil? Auf allen Seiten, auf allen Punkten sehe ich ja das für Andere; für einen jeden, für eine jede erfüllt. Ein solches Glück, das mich persönlich erheben sollte, kann in meinem Lebenskreise sich nicht mehr intensiv, als große Chance; noch extensiv für meine noch zu lebende Zeit, ereignen. Ich sehe also der Welt zu. Das Leben, die Natur, ist für mich da. Berechnen Sie also die lutte in meinem Leben; die großen, die kleinen bittern Momente. Mit dem schärfsten Bewußtsein über mich selbst. Mit der Meinung, daß ich eine Königin (keine regierende) oder eine Mutter sein müßte: erlebe ich, daß ich grade nichts bin. Keine Tochter, keine Schwester, keine Geliebte, keine Frau, keine Bürgerin Einmal. Auf solcher Fläche umgetrieben, fand mich Ihr Brief krank, und wartend auf Entscheidung; nur wo ich athmen sollte. Früstrirt von Brüdern, Varnhagen und meiner Mutter. Pläne und Engagements kenne ich aber seit diesem Frühling nicht mehr: und das ist kein hohles Wort diesmal! darunter verstehe ich nicht: ich glaube Andern nicht mehr: sondern, ich halte mich Andern nicht mehr gebunden; ob ich nun von ihnen hoffe, mögen Sie beurtheilen. Ein Punkt muß kommen, den man dem Schicksale selbst als Ziel ansetzt; einer muß sein, worauf sich alles Recht gründet. Gegenseitigkeit der Ansprüche. Es ist geschehen! Ich hielt das Band: allein halt' ich's nicht mehr. — Dieser Brief ist wie Ihrer, aus dem Herzen, und an einen Freund: daß Sie so dieses Herz fanden, ist nicht meine Schuld. Ich wollte Ihnen nur einen Gruß schreiben. —
- Der Dichter Fouqué zählte Rahels Freundschaft »unter die heitersten Gaben seines Lebens«. — Unglück meiner falschen Geburt: Rahels jüdische Abstammung. — Früstrirt von Brüdern, Varnhagen und meiner Mutter: die verschlechterten Vermögensverhältnisse der Familie hatten zu Spannungen zwischen Rahel, ihren Brüdern und ihrer Mutter geführt. Varnhagen, damals vierundzwanzigjährig, ließ sich Juni 1809 vom österreichischen Heer, das gegen Napoleon kämpfte, anwerben.
Rahel Levin an Regina Frohberg
Berlin, den 14. December 1807.
Lesen Sie diesen Brief, als käme er erst in
acht Tagen an.
Ich hatte ihn gestern geschrieben. Es ist ein guter
Obgleich Sprechen und Schreiben zu gar nichts hilft, so sollte man gar nicht aufhören zu sprechen und zu schreiben! Diesen finstern Satz, wovon jede Hälfte nur für sich allein wahr ist, nur zum Scherz! Ich bin diesen Morgen nicht deutlich gewesen; und Sie haben mich auch nicht recht verstanden. Mir ist das, wovon die Rede war, zu wichtig, auch ist es auf einen Punkt gekommen, wo es deutlich werden muß — um so mehr, da vom nunmehrigen Halbverstehn nur ein Falschverstehn entstehen müßte, — um es nicht nach allen meinen Kräften und meiner besten Einsicht mit Ihnen zu verfolgen.
Was wir eigentlich unter dem Worte Mensch verstehen, ist doch die Kreatur, welche mit ihres Gleichen in vernünftiger Verbindung steht, in einem Verhältnisse mit Bewußtsein, an welchem wir selbst zu bilden vermögen, und auch ge-nöthigt sind immerweg zu bilden. Wir mögen sein wie wir wollen, wir mögen machen, was wir wollen, wir haben das Bedürfnis liebenswürdig zu sein. Diesem schönen, reinen, menschlichsten, lieblichsten Triebe folgen wir Alle. Im höchsten Sinne genommen — aber auch bis auf das Zersplittertste hinab — das ganze Lebensgewebe der Menschen, als Menschen, ist nichts als dies ins Unendliche modifizirt. In Ihnen, als in einem zarten, lebhaften Gemüthe, ist dieses Bedürfniß dann auch sehr lebhaft. Was in der Welt ist aber liebenswürdiger — und glücklicher — als eine aufgeschlossene Seele für alles, was Menschen betreffen kann! und was hinwieder giebt eine reinere Laune, als eben dieser Zustand, der sich selbst durch seine Dauer, durch sein bloßes Dasein, erhöht und propagirt! Die ganze Welt gewinnt Sie; und Sie die ganze Welt! Kommen Sie davon zurück — welches die Irrmeinung noch so vieler Guten ist — das man nur Eines mit ganzer Seele fassen kann. Prägen Sie sich recht ein, es entsprösse Ihnen einen Augenblick die Überzeugung, was liebenswürdig ist, und Sie sind es! nicht, wie Sie mir heute schrieben, »eine Arbeit ist es,« die ich fordere — wozu Sie jetzt unfähig sind, wozu man immer unfähig ist — sondern einen Augenblick von Überzeugung, einen Augenblick gesunder Ansicht fordere ich.
Mehr gedemüthigt, als ich, wird man nicht, mehr Kummer genießt man nicht; größeres Unglück in allem, worauf man den größten und kleinsten Werth setzt, erlebt man nicht, mehr sieht man nicht untergehen; eine gepeinigtere Jugend bis zu achtzehn Jahren erlebt man nicht, kränker war man nicht, dem Wahnwitz näher auch nicht; und geliebt habe ich. Wann aber sprach die Welt mich nicht an, wann fand mich nicht alles Menschliche, wenn nicht menschliches Interesse: Leid und Kunst und Scherz! In dem Augenblick, wo Schmerz und zerreißendes Vermissen die Seele auseinanderzerrt, kann man, muß man nicht Geistesschätze ergraben wollen. Alsdann muß man vom Vorrath zehren, von Vorrath an den Schätzen, von Vorrath an dem höchsten menschlichen Interesse, am menschlichen Interesse. Antworten Sie mir nicht, daß Gaben der Natur nur dazu fähig machen; und zum Beispiel, daß ich mich nicht mit Ihnen vergleichen soll. Wer so raisonniren kann, wie Sie über manche Gegenstände, der hat Kräfte: nur sein Interesse ist falsch gerichtet.
Ein gebildeter Mensch ist nicht der, den die Natur verschwenderisch behandelt hat; ein gebildeter Mensch ist der, der die Gaben, die er hat, gütig, weise und richtig, und auf die höchste Weise gebraucht: der dies mit Ernst will; der mit festen Augen hinsehen kann, wo es ihm fehlt, und einzusehen vermag, was ihm fehlt. Dies ist in meinem Sinne Pflicht, und keine Gabe; und konstituirt, für mich, nur ganz allein einen gebildeten Menschen. Darum wende ich Sie endlich mit Ihren Augen auf das zu sehen, was Sie eigentlich verabsäumen. Dies ist, sich mehr zum Allgemeinen — à généraliser — zu erheben; daß nicht Allgemeines Sie immer auf Einzelnes führe, sondern umgekehrt. Dies ist höchst liebenswürdig; dies würde Sie ganz liebenswürdig machen. Dies können Sie erlangen; denn dies kommt plötzlich, durch einen Gedanken; wie bei Ihnen das Gegentheil auch nur durch einen Gedanken. Auch wiederhole ich, was ich schon gesagt habe: sogar gesund werden Personen, wie wir, nur wenn sie den höchsten Ekel vor Kranksein fassen; wenn sie durchdrungen davon sind, daß Gesundsein höchst liebenswürdig ist. Sie können sich meinen Drang nicht denken: mit einem Trank möchte ich Ihnen diese Überzeugung eingeben! Aber es gelingt, ich bin sicher! Sein Sie nur recht kokett!
Montag, den 14. Bis hieher hatte ich schon gestern Abend geschrieben; aber dann bekam ich, wie aus blauer Luft, plötzlich einen Fieberanfall: er dauerte bis 2 in der Nacht; mit allem Zubehör, außer Kopfweh; ich erspare Ihnen die Beschreibung! bitte Sie aber, heute nicht zu kommen, ich bin ihn mir als den dritten Tag gewärtig, und diesmal außerordentlich schreckhaft dabei: mit Lachen und Weinen. Morgen ist's vorbei; und dann besuchen Sie mich: das geringste Erblassen, jedes Zucken von Ihnen, würde mich unleidlich machen. Gestalten hinderten und erschreckten mich gestern bis zu Herzklopfen und Schweiß. Ich habe ein Bad genommen; fühle aber schon jetzt, daß ich's heute Abend noch habe. Sehen Sie auch meine verschiedene Hände.
Ich habe Ihren Brief gelesen, und schicke meinen doch ab! Eben schrieb ich Ihnen meine Gesundheit ab, als ich Ihren erhielt. Fassen Sie sich: denken Sie nicht immer an Tollheit; es kann eine Liebhaberei werden. Zerstreuung! Mir wird der Kopf immer schwerer! Kommen Sie morgen! Ich bin ja sanft, dünkt mich; sanfter kann ich auch nicht sein: ich verstehe nur das zu sagen, was idi denke, anderes sehr schlecht: und was ich Ihnen sage, Liebe, sagte ich, beim Allmächtigen! mir selbst, und habe es mir gesagt. Leben Sie wohl! über mich sein Sie ganz ruhig, ich habe nur einige schlechte Stunden. Leben Sie wohl! Es ist gut, daß Sie sich gestern mit den Menschen zwangen, und sie unterhielten und im Gang erhielten. Es zerstreut, weil es beschäftigt, Sie werden schon immer geschickter werden. Ich denke viel an Sie! Adieu. Ich kann gar nicht mehr! Lesen Sie meinen großen Brief, als kam' er erst in acht Tagen an!
- Rahels Rat, eine Art Anleitung zum geselligen Leben und zugleich eine Erläuterung ihres Bildungsbegriffes, ist an Rebecca Friedländer gerichtet, die unter dem Namen Regina Frohberg sentimentale Romane verfaßte. — gepeinigtere Jugend: Rahels Jugend stand unter der strengen Herrschaft ihres Vaters, des Juwelenhändlers Levin-Markus.
Rahel Levin an Gustav von Brinkmann
[Berlin, Juni 1800]
Lieber Brinckmann! .... — Schreiben Sie nicht, will ich nur sagen; nicht mehr: kommen Sie vor Schweden. — Wie befinden Sie sich? schwebt mir auf den Lippen. — Was hilft mir alles, Sie bleiben Seidenwurm, ich auch ein Wurm. So sind wir Alle Würmer. Glücklich sind die, die da spinnen. Spinnen thu' ich redlich: und was das rühmlichste, das köstlichste, das glücklichste ist, noch an dem ersten selben Faden. Das sind die Erwählten, die so wurmartig sind. — Sonntag war Jean Paul bei mir: ich war launig — ich hatte grad acht sehr launige Tage, voller kurioser Ausdrücke und Bonmots — nicht er. Das war gut. Er hat überaus etwas Beruhigendes an sich. Vor dem könnt' ich mich gar nicht schämen. Nie hat ein Mensch so ganz anders ausgesehen, als ich ihn mir denken mußte. Keine Ahndung vom Komischen. Er sieht scharfsinnig, und die Stirn von Gedanken wie von Kuglen zerschossen aus. Er spricht so ernst, sanft, und gelassen, und geordnet, hört so gern — süß möcht' ich sagen — und väterlich 2u — daß ich nie geglaubt hätte, es sei Richter. Und blond ist er! »Sie sind es nicht« möcht' ich immer zu ihm sagen. Das reizt mich nur noch mehr: denn nun ist er Richter, und hat die neuen rührenden Eigenschaften noch obenein. »Die wenigsten Menschen sind etwas werth, außer die wenigen, die eben Richters sind.« Er sagt: »Die wenigsten Menschen haben Geld (Geld!) außer eben diese wenigen.« Die sind auch immer noch besser, als man sie schon kennt. Er hat mir heute ein kleines, aber Jean-Paul'sches Billet geschrieben — es ist auch Brinckmann'sch, Sie sollen gleich hören; wir sagten's Alle — es war eine Antwort, ich mußt' ihm schreiben: denn Fleck wollte Antwort haben, welchen Tag er Wallenstein sehen will; er hat Fleck noch nicht gesehen, — pensez! Ich habe das Glück, die Glorie, für mich, meinen Fleck Richtern zu zeigen; in meine Loge geht er. Iffland hat er gesehen; bei einem Haar hätte Deutschland den für den Ersten gelesen. Das dürft' ich nicht zugeben. Er wollte schon wegreisen. Aber — er bleibt — um Fleck, auf mein Treiben. Ich halte es in der That für wichtig, solch einen Mann au fait zu setzen. Ich schreib' Ihnen das Billet zum Amüsement ab; in der Gewißheit, daß ich Ihr Ehrenwort habe, daß Sie es niemanden sagen und zeigen; alle Menschen sind zu plump; und prahlen damit, und prahlen weiter; ich kann nicht leiden, wenn man eine Seele wie Richters — denn die lieben wir — wie ein ausländisch Thier behandelt, welches man herum prome-nirt: — »Berlin — und die Schauspieler — und die zwei Stücke — und Ihre gütige Verwendung gefallen mir so sehr, daß ich Freitags und Montags, und — wenn Gott die Schöpfung von Haydn noch Einmal schafft — so gar Dienstags hier bin. Ich dank' Ihnen recht innig, daß Sie meine Bitte zu der Ihrigen gemacht haben.« Das war ein Freundschaftsstück. Adieu! Nicht wahr, man muß nur in Berlin bleiben; hier kommt noch alles her, Bonaparte mit allen Franzosen, bin ich überzeugt: Pyramiden und Berge mit, wenn man nur bis darauf zu warten versteht. Ich geh doch bald weg. Anderwärts müssen sie auch etwas haben. Adieu! Wenn Sie kämen!!! und nachher mit dem König sprächen. Wir hören beide nicht auf zu spinnen.
- Jean Paul Richter hielt sich im Sommer 1800 einige Wochen in Berlin, der »Mutterloge deutscher Freiheit«, auf und zog im Herbst des gleichen Jahres ganz in die preußische Hauptstadt. — vor Schweden: vor einer geplanten Reise Brinkmanns, der schwedischer Gesandter am preußischen Hof war. — Seidenwurm: Rahe! variiert einen Vers aus Goethes Tasso: »Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen.« — Fleck: Schauspieler erst in Hamburg, dann in Berlin, wo er auch als Regisseur wirkte. Rahel stellte ihn weit über Iffland. — Iffland: Berlins gefeierter Schauspieldirektor. Rahel Levin schätzte ihn nicht; sie nannte ihn einen »wenig begabten Pedanten«.
Jean Paul Richter an Rahel Levin
Berlin, den 6. November 1800.
Geflügelte! — in jedem Sinn; denn hier hätten Sie noch einige Wintermonate lang Ihre Reiseschwingen zusammengelegt behalten sollen. Mit unbeschreiblichem Interesse hab' ich einige Ihrer Briefe von Ihrer Freundin, die sie so sehr verdient, gelesen; aber mit eben so vielem Schmerz. Sie behandeln das Leben poetisch, und das Leben daher Sie. Sie bringen die hohe Freiheit der Dichtkunst in die Gebiete der Wirklichkeit, und wollen die Schönheiten dort, auch als Schönheiten hier wiederfinden; — aber die poetischen Schmerzen sind, in die Prosa des Lebens übersetzt, recht wahre Schmerzen. — Vor der Muse ist der Teufel schön und die Parze, aber sie wohnet nur in uns, und der Teufel so oft außer uns, und hat dann keine milde Beleuchtung.
Leben Sie froh unter einem Volke, das sie besser fassen werden, als dieses Sie.
Schreiben Sie mir, aber kein Brief wird mir gefallen, als der längste. — J. P. F. Richter
- Reiseschwingen: Rahel hielt sich ein dreiviertel Jahr in Paris auf.
Rahel Levin an Alexander von der Marwitz
Sonnabend vormittag halb zwölf Uhr, den 23. November 1811.
Sagen Sie, Liebster, Bester, warum schreiben Sie mir wieder nicht? Ein Wort. Ich bat Sie darum, Sie haben mir auch zu antworten, wenn Sie wollen. Sie sind aber nicht ganz herkulisch, nicht sehr entfernt vom Flußfieber in unleidlichem Wetter hier abgereist. Das verdiente wohl zwei Zeilen. Ich erwartete sie immer und wollte nicht mit meiner Stimmung und meinen Angelegenheiten so zuplatzen. Gestern aber hätte ich Ihnen doch geschrieben, wenn mich nicht H. Kleists Tod so sehr eingenommen hätte. Es läßt sich, wo das Leben aus ist, niemals etwas darüber sagen; von Kleist befremdete mich die Tat nicht, es ging streng in ihm her, er war wahrhaft und litt viel. Wir haben nie über Tod und Selbstmord gesprochen, — Sie wissen, wie ich über den Mord an uns selbst denke, wie Sie. Und niemals hör' ich dergleichen, ohne mich der Tat zu freuen. Ich mag es nicht, daß die Unglückseligen, die Menschen, bis auf den Hefen leiden, denn Wahrheit, Großes, Unendliches, wenn man es konzessiert, kann man sich auf allen Wegen nähern; begreifen können wir keine, wir müssen hoffen auf die göttliche Güte, und die sollte grade nach einem Pistolenschuß ihr Ende erreicht haben? Unglück aller Art dürfte mich berühren? Jeden Abend Fieber. Jedem Klotz, jedem Dachstein, jeder Ungeschicklichkeit sollte es erlaubt sein, nur mir nicht? Siech auf kranken und Unglückslagern sollt' ich müssen, und wenn es hoch und schön kommt, zu achtzig Jahren ein glücklicher imbecile werden, und wenn dreißig schon midi ekelhaft deteriorie-ren? Ich freue mich, daß mein edler Freund — denn Freund ruf ich ihm bitter und mit Tränen nach — das Unwürdige nicht duldete; gelitten hat er genug. Sehen Sie mich! Keiner von denen, die ihn etwa tadeln, hätten ihm zehn Rtl. gereicht, Nächte gewidmet, Nachsicht mit ihm gehabt, hätt' er sich ihnen nur ungestört zeigen können. Der ewige Calcul hätte sie nie unterbrochen, ob er wohl recht, ob er wohl unrecht, ob er wohl Recht, ob er wohl nicht Recht zu dieser Tasse Kaffee habe. Ich weiß von seinem Tode nichts, als daß er eine Frau und dann sich erschossen hat. Es ist und bleibt ein Mut. Wer verließe nicht das abgetragene, inkorrigible Leben, wenn er die dunklen Möglichkeiten nicht noch mehr fürchtete? Uns loslösen vom Wünschenswerten, das tut der Weltgang schon, dies von denen, die sich nichts zu erfreuen haben; forsche ein jeder selbst, ob es viele oder wenige sind.
- Heinrich von Kleist, von dem Rahel Levin gesagt hatte: »loh lieb' ihn, und was er macht. Er ist wahr, und sieht wahr«, hatte am Nachmittag des 21. November zusammen mit der Schauspielerin Henriette Vogel Selbstmord verübt. Noch kurz zuvor hatte Kleist ihr in einer Absage auf eine Einladung geschrieben: »Aber wie traurig sind Sie in Ihrem Brief — Sie haben in Ihren Worten so viel Ausdruck, als in Ihren Augen. Erheitern Sie sich; das Beste ist nicht werth, daß man es bedauere.« Bei Marwitz, einem jungen Studenten der Altertumswissenschaft, dessen »Ekel vor der Gegenwart« sie teilte, konnte Rahel Verständnis für die Tat Kleists voraussetzen.
Rahel Varnhagen an Karl August Varnhagen von Ense
Freitag, den 13ten März 1829. Halb 11
Duschiges Wetter, trockene Straße
.... Michael Beer ist in französischen Blättern wegen seines Struensee gelobt, welcher übersetzt ist: da sagt Heine: »So lange er lebt, wird er unsterblich sein.« Von der Bachschen Musik, die er vorgestern auch hörte, sagte er — sagte er, ist hier zu viel, — er hätte acht Groschen Profit dabei; einen Gulden kostete sie, und für einen Thaler hätte er sich ennuyirt ....
Guten Morgen es ist Sonntag Vormittag,
10 Uhr vorbei, der 15.
Schnee auf den Dächern und Straßen.
Er verdunstet aber schon; die dicken Wolken
spalten sich: Helligkeit, wenn auch nicht
Sonne, dringt hervor
.... Das Resumé, was ich heraus habe, ist und bleibt sein großes Talent: welches aber auch in ihm reifen muß, sonst wird's inhaltleer, und höhlt zur Manier aus. Aber begründete Kritik hat er nicht; weil ihm in der Tiefe der Ernst und das höchste Interesse fehlt; welches allein Zusammenhang, und zusammenhängenden Überblick gewährt. Er kann sich, und Göthe'n, seinen, und dessen Ruhm verwechslen: denkt überhaupt an Ruhm! — kann Dich, Gentz, und den Lump zusammennennen. Denkt überhaupt, was ihm entschlüpft, was er sagen mag, ist für die Menschen genug. Hat klätrige Geschichten, — auch daher —, die er verschweigt, und deren Lücken ihn in das größte Unbehagen versetzen. Will noch immer ausziehen, sucht Quartiere; will nach Potsdam, Freienwalde etc. etc. Vorgestern kam er schon um halb 7 zu mir. Ich nahm ihn, ohnerachtet der Stunde, doch an: weil ich mich nicht mit Lesen quälen wollte; und Ludwig's und Moritz'ens bestellt hatte. Er sprach und sprach; und zeigte sich mir, wie ich ihn Dir nur schildere. Rike kam um 8.
Wir spradien Alle viel. Einer oft à tout hasard: welches er aber doch noch anders meinen muß; ich nur, wenn es mit mir durchlief, wegen damaligen Hustenkrampf. Die Rede kam auf Fräulein von Schätzel's Auswärtsstehen. Rike erwähnte die ägyptischen Bildwerke. Ich nahm ihre steifen Haltungen in größten Schutz: ein Strohm ergoß sich aus mir — ein längst zurückgedämmter — ich erwies, die Natur im Vaguen, und alles, was die versucht und zu thun gezwungen ist, aus lauter nur für sie geltenden Gründen nachahmen zu wollen, sei durchaus falsch, und daher un-thunlich; in eine menschliche Schranke müsse Kunst sich engen; in einen solchen, für den höchsten gehaltenen Men-schenzustand; in Beschränkung, in Gränze ihre Einwilligung geben, das allein sei ihre Freyheit; und so seyen der Ägyptier Stellungen eine Art Bild ihres geselligen Daseyns; nicht arbeitend, nicht strebend, nicht noch bewegt. Der Gegensatz davon sei der Wiener Walzer; der oft so unsinnig angebracht schiene, nach jedem ernsten Kampf oft; mir aber immer guten Eindruck mache und gefalle — ohne daß ich lange den Grund deutlich gewußt — so wie ein Leid, ein Kampf, eine Verwirrung, ein Vollbrachtes geschehen sei: gewalzt! Was will der Mensch mehr. Schweben, Leben, Sein, Fertigsein! Heine schlug über die Fauteuil-Lehne, blutroth, ganz weg vor Lachen; er brach wider Willen aus. »Tollheit!« schrie er, »toll, ganz toll; o wie toll! Tollheit, nein, das ist rasend: solcher Unsinn ward noch nicht gesagt«: und so blieb er lachend. So wie er wieder zu sich war, war es reinster, lichter Neid. Ich sagte ihm auch: »Den Unsinn möchten Sie gemacht haben.« Ich lachte auch. Die letzte Hälfte, die vom Walzer, mußte ich ihm erklären: er frug ganz ernsthaft; und fand es dann sehr gut. Aber dies Lachen! So natürlich sah ich ihn nie. Das wollte ich Dir erzählen, ehe Dein Liebesbrief kam. Um 9 Uhr ging Heine. Moritz'ens kamen: wir aßen Sardellenfische, und waren beredt und vergnügt ....
- Heine, der ein Hundehalsband tragen wollte mit der Aufschrift »Ich gehöre Frau Varnhagen«, bezeichnete Rahels Haus als sein »Vaterland«.— Beer: Verfasser von Trauerspielen, deren berühmteste »Der Paria« und »Struensee« waren. — Gentz: bedeutender Publizist, Diplomat in österreichischen Diensten, Verteidiger des Rechtes des Absolutismus. — Ludwig's und Moritz'ens: Brüder Rahels.
Rahel Varnhagen
[Berlin] Dienstag, den 18. März 1828
Frau von Kalb ist von allen Frauen, die ich je gekannt habe, die geistvollste; ihr Geist hat wirklich wie Flügel, mit denen sie sich in jedem beliebigen Augenblick, unter allen Umständen, in alle Höhen schwingen kann; dies ist ein absolutes Glück, und sie fühlt sich dadurch so frei, daß sie nach dem erhabensten oder tiefsten Geistesblick öfters lacht, wo es gar nicht hinzugehören scheint: gleichsam, in dem Gedanken, daß es etwas Komisches hätte, nur in der eben erblickten Sphäre verweilen, oder gar bleiben zu wollen: flugs nimmt ihr Geist eine andre, öfters entgegengesetzte Richtung, und thut da wieder Wunder. Auf diese Weise giebt sie sich auch getrost, und eben so frei, hergebrachten Meinungen, Vor-urtheilen, beliebten, herrschenden Formen des Seins und Denkens hin: sie kann doch lachen und vergnügt sein. Ein wenig lüftet sie die Flügel; und die leere Last sinkt zu ihren Füßen, an den Boden: und die edlen Gedanken nehmen ihren Flug.
Frau von Arnim ist von allen, die ich kannte, die geistreichste Frau. Man möchte sagen: ihr Geist hat die meisten Wendungen. Ihr Geist hat sie, nicht sie ihn. Was wir Ich nennen können, ist nur der Zusammenhang unsrer Gaben, und die Regierung derselben, die Direktion darüber. So wie Frau von K. jeden Gesichtskreis als solchen verlassen und in der Gewißheit, einen neuen zu finden, freudig sein kann; so leuchtet, oder blitzt wenigstens, bei Frau von A. Mißvergnügen gegen das eben Gefundene hervor, und dieses spornt sie an, um jeden Preis Neues hervorzufinden; — dies Verfahren kann aber nicht immer ohne Störung vorgehen.
Den größten weiblichen Karakter, den ich je gekannt, hat Gräfin Josephine Pachta. Nichts hat sie abgehalten, nach ihrer Überzeugung zu handeln; und nie war sie darin gestört. Auch die ist freudig; und durchaus ehrwürdig.
Der einzige metaphysische Kopf, den ich je unter Weibern kennen lernte, ist die Großherzogin Stephanie von Baden. Unter allen Umständen zum Denken aufgelegt, und fähig. Unwillkürlich in jedem Gespräch darauf hinarbeitend. Und auch, wie die andern Hoben, nur störungsweise nicht immer in den höchsten, heitersten Geistesregionen; in jedem Augenblick aber dahin zu versetzen.
Alle diese Frauen haben noch tausend angenehme, liebe Eigenschaften: jede nach ihrer Art modifiziert; Talent, Verstand, alles. —
- Frau von Kalb: Charlotte von Kalb, Freundin Schillers und Jean Pauls, die unter sehr unglücklichen äußeren Umständen in Berlin lebte. — Frau von Arnim: Bettina, geborene Brentano. — Gräfin Josephine Pachta: geborene Gräfin von Canal-Mallabaila, von der Rahel aus einem gemeinsam verbrachten Aufenthalt in Bad Töplitz schrieb: »Die Frau, bei der ich hier geblieben bin, ist offenbar eine der ersten. Sogar mit Einem Fuß auf wildem Boden, — und kann sie sich nicht entschließen, den andern nachzuheben, so ist's, daß er auf lieblichstem Gefild unter den duftendsten wohlthätigsten Blumen steht, von denen es jeder milden Seele hart scheint davon zu weichen.« — Großherzogin Stephanie von Baden: Nichte der Kaiserin Josephine, von Napoleon I. adoptiert