4. Die Quantifizierung von Emotionen: Methodologische Bemerkungen zur Trilogie der Hite Reports

Quantifizierung und Analyse von Einstellungen und Emotionen gehören zu den schwierigsten Aufgaben der Sƒozialwissenschaften. Es wird auch selten versucht und fast nie in so großem Umfang wie in Hites Arbeit. Zu Hites Beiträgen zu den Sozialwissenschaften gehört es, eine exzellente Methodik zur Untersuchung der Einstellungen und Emotionen großer Gruppen entwickelt und gleichzeitig eine hohe qualitative Basis bewahrt zu haben: eine Fülle von Daten enthalten in persönlichen Aussagen von Menschen über ihre tiefsten Gefühle.[1]

Bei der Analyse von Emotionen und Einstellungen war es in den Sozialwissenschaften bzw. in der Psychologie üblich, sich auf extrem kleine Stichproben zu stützen; Freud ist bei ganzen Büchern von Befunden an einer Handvoll Patienten ausgegangen. Es wäre also für Hite durchaus legitim gewesen, wenn sie sich der kleinen Stichproben bedient hätte, die für psychologische Untersuchungen typisch sind. Sie setzte sich jedoch das schwierigere Ziel, eine größere, repräsentative Stichprobe zu gewinnen, und sich gleichzeitig die mehr in die Tiefe gehenden Qualitäten kleinerer Untersuchungen zu bewahren. Das tat sie, indem sie es Tausenden von Menschen erlaubte, sich frei auszusprechen, statt ihnen nur die Wahl zwischen vorgegebenen kategorisierten Formulierungen vorzugeben, wie es bei so vielen Untersuchungen der Fall ist. Diese Methode verlangt die Analyse Tausender von individuellen Antworten auf Hunderte von Fragen mit freier Antwortmöglichkeit - eine Analyse, die aus vielen Schritten besteht.

Hites Arbeit ist von einem Teil der populären Presse irrtümlicherweise als »unwissenschaftlich« kritisiert worden, weil die Beantworter der Fragebögen keine »Zufallsstichprobe« [2] darstellten. Fachleute auf dem Gebiet der Methodologie und der Meinungsforschung wissen jedoch, dass bei vielen Untersuchungen - und Hites Untersuchung ist eine davon - eine sehr umfangreiche, nicht zufällige Stichprobe, die eine Fülle von Daten ergibt, einer Zufallsstichprobe vorzuziehen sei. Dass eine Stichprobe »zufällig« ist, ist keine Garantie dafür, dass sie repräsentativ ist; in der Praxis taucht das Problem auf, »wer nicht geantwortet« hat. Damit diese Art Stichprobe mathematisch perfekt repräsentativ ist, müssen alle, die ausgewählt wurden, auch antworten. Doch in den meisten Fällen kommt keine solche Perfektion zustande. Und so gibt es, unverblümt gesagt, fast keine »Zufallsstichproben«. [3] Wie es John L. Sullivan, der bekannte Wissenschaftstheoretiker, formuliert: »Der größte Teil der Arbeit in den Sozialwissenschaften basiert nicht auf Zufallsstichproben; tatsächlich basieren viele - wenn nicht die meisten Artikel in psychologischen Zeitschriften auf Daten, die an Studentinnen und Studenten gewonnen und dann verallgemeinert werden ... Interessanterweise wurden diese kleinen und nicht repräsentativen Stichproben nicht im selben Maße kritisiert wie Hites größere, repräsentative Stichprobe.« Hites große, umfangreiche Stichprobe von 15 000 Frauen und Männern ist an sich schon eine hervorragende Leistung. Außerdem hat Hite ihre Stichprobe sorgfältig der US-Bevölkerung insgesamt angeglichen; die demographische Aufschlüsselung dieser Stichprobe entspricht der der US-Gesamtbevölkerung ziemlich genau.

Ein weiteres Kennzeichen von Hites Methodik ist die Anonymität, die den Teilnehmern garantiert wird. Diese Anonymität macht es ihnen möglich, freimütig über ihre persönlichsten Gefühle und Gedanken zu sprechen, denn sie gewährleistet ihnen, nicht aus Angst, ausgelacht, verurteilt oder »durchschaut« zu werden, mit der Wahrheit über diese sehr privaten Dinge zurückhalten zu müssen. Eben weil den Teilnehmern Anonymität garantiert wird, kann man zuversichtlich sein, dass Hites Ergebnisse genau sind. Und tatsächlich haben Untersuchungen in drei weiteren Ländern, mit denen die Ergebnisse des ersten Hite Reports überprüft wurden, ihre wesentlichen Erkenntnisse bestätigt.

Robert L. Emerson von der University of California erklärt- »Hites Methodik entspricht perfekt den Zielen, die sie verfolgt... unverwechselbare Qualität ihrer Daten ist, dass sie Männer und Frauen über die subjektive Bedeutung und Erfahrung einer Vielfalt von persönlichen Angelegenheiten sprechen lässt. Ziel ihrer Forschungsarbeit ist es dann, die Spielarten dieser Erfahrung zu beschreiben und zu kategorisieren... damit die ganze Bandbreite der Erfahrung erfasst werden kann. Dieses Ziel hat sie durchaus erreicht.« Hite legt offen dar, wie sie vorgeht; sie hat ihre Methodik im selben Maße, wenn nicht sogar gründlicher als andere Forscherinnen und Forscher erklärt. Sie stellt absolut klar, was sie methodologisch tut - soviel Klarheit findet man in der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht allzu häufig.

In der Literatur mehren sich die Stimmen, die für Methoden in den Sozialwissenschaften plädieren, die denen von Hite ähnlich sind. Besonders feministische Wissenschaftlerinnen haben eine differenzierte Kritik der gängigen Wissenschaftstheorie erarbeitet und deren zahlreiche Vorurteile und Verzerrungen aufgezeigt (siehe z. B. die von Sandra Harding und Merrill Hintikka herausgegebene Anthologie Discovering Reallty). Hites Arbeit kann als Teil dieses allgemeinen Umdenkens gesehen werden, als eine der ersten Untersuchungen, die neue Theorien in die Praxis umsetzt.

Nancy Tuana von der University of Texas schreibt: »jahrhundertelang haben Männer unter dem Deckmantel von Wissenschaftlichkeit Theorien über das >Wesen< der Frau konstruiert. Obwohl Frauen ihr Untersuchungsgegenstand waren, sind unsere Erfahrungen und Gefühle nicht ernst genommen worden. Shere Hites Arbeit ist das Muster einer Methodologie, die sich auf die Erfahrungen von Frauen stützt. Hite hat diese Tradition durchbrochen, die Frauen zum Schweigen verurteilt, indem sie erkannte, dass eine Theorie darüber, wie Frauen lieben, von unseren Bemühungen getragen werden muss, den Erfahrungen der Frauen durch sie selbst Ausdruck zu verleihen. Ihre Arbeit wird nicht nur wegen der Erkenntnisse geschätzt werden, die sie vermittelt, sondern auch wegen ihres revolutionären Ansatzes.« Und Barbara Ehrenreich, eine wissenschaftliche Biologin, stellt fest: »Tabellen, Diagramme, Korrelationskoeffizienten usw. machen eine Untersuchung nicht automatisch >wissenschaftlich<. Ich würde sogar sagen, dass jede Untersuchung menschlichen Verhaltens, die das Element der subjektiven Erfahrung nicht berücksichtigt und beleuchtet, in einem tieferen Sinne unwissenschaftlich ist. Das ist dem Kinsey Report vorzuwerfen und der Arbeit von Masters und Johnson. Was die Hite Reports so bahnbrechend macht, ist, dass wir endlich wissen, wie Liebe von Frauen und Männern erfahren wird, und das ist das Wichtigste, was wir darüber wissen können.«

Alles in allem präsentiert Shere Hite als Wissenschaftlerin und als Mensch, dem sehr an seinen »Untersuchungsgegenständen« gelegen ist, in den Hite Reports ein tiefgründiges, auf empirischen Daten basierendes Bild unserer Kultur, das uns erkennen lässt, wer wir sind und wohin wir gehen. Diese Arbeit ist ein Beitrag von außerordentlicher Bedeutung.

Gladys Engel Lang,
Professorin für Politologie und Soziologie,
University of Washington, Seattle