»Innovation« und »Roman« (»novel«) haben im Englischen eine gemeinsame Wurzel. Unter dem Stichwort »innovation« finden wir im Oxford English Dictionary folgendes: »Die Einführung von Neuigkeiten (»novelties«); die Veränderung des Etablierten durch die Einführung neuer Elemente oder Formen; eine Veränderung im Wesen (»nature«) oder in der Machart (»fashion«) eines jeden; das neu Eingeführte; ein neuartiges Verfahren (»a novel practice«), Methode ....«. Der Roman, den Virginia Woolf als »diese flexibelste aller Gattungen« bezeichnet hat, war schon immer ein Ort der Innovation. Ob der Begriffskomplex »Roman-Innovation« für »Weiblichkeit« - genauer gesagt, für die Schriftstellerin - den gleichen schöpferischen Freiraum gewährleistet, wird uns im folgenden beschäfügen. Um der Relevanz dieser Wortspielerei aus dem Wörterbuch für die Praxis weiblichen Schreibens näher zu kommen, richten wir den Blick zuerst auf Virginia Woolfs Aufsatz A Room of One's Own von 1929 (dt. Übers. Ein Zimmer für sich allein von 1978). In diesem für die feministische Wissenschaft ebenso kanonischen wie problematischen Text nimmt Woolf sich vor, über Frauen und Fiktion zu schreiben. Von Anfang an aber stellt sie den Zusammenhang dieser Worte in Frage und überlegt sich, was der Gegenstand ihrer Untersuchung überhaupt sei:
- »[Die Worte] könnten einfach bedeuten, ein paar Anmerkungen über Fanny Burney [...] Jane Austen [...] die Brontés [...] Miss Mitford [...] George Eliot [...] Mrs Gaskell [...]. Aber auf den zweiten Blick kamen mir die Worte nicht mehr so einfach vor. Der Titel >Frauen und Fiktion< könnte bedeuten [...] Frauen und wie sie sind; oder er könnte bedeuten, Frauen und die Fiktion, die sie schreiben; oder er könnte bedeuten, Frauen und die Fiktion, die über sie geschrieben wird; oder er könnte bedeuten, daß alle drei irgendwie unentwirrbar miteinander verwickelt sind und daß ich sie in jenem Licht betrachten sollte« (S. 5 f).
»In jenem Licht«, das ihr »das Interessanteste« an ihrem Gegenstand zu sein scheint, wird aber die Sache so kompliziert, daß Woolf fürchtet, »daß ich nie zum Schluß käme« / »l should never come to a conclusion« (S. 6).
»Conclusion« heißt »Schluß« nicht nur im Sinne von »Ende«, sondern auch im Sinne von »Ergebnis«. Mit anderen Worten, je interessanter, komplizierter, umfangreicher, ehrlicher die Fragestellung, um so unmöglicher wird es, die Form eines analytischen, informativen, aufschlußreichen Aufsatzes einzuhalten. Und bevor sie fortfährt, über Frauen und Fiktion zu reflektieren, was ein ganz anderes Unternehmen ist, als Schlüsse zu ziehen, kommt sie vorweg zu dem Resultat, das für sie die unverzichtbare Grundlage für weitere Reflexionen ist: »Eine Frau muß Geld und ein eigenes Zimmer haben, wenn sie Fiktion schreiben soll, was [...] das große Problem der wahren Natur von Frauen und der wahren Natur von Fiktion gänzlich ungelöst läßt« (S. 6). Diese Behauptung läßt erkennen, daß es sich in der Frauenliteratur kaum um »Innovation« im herkömmlichen Sinne handeln kann, da den meisten Frauen bis vor kurzem die finanzielle Unabhängigkeit und die Ruhe, ein Kunstwerk zu produzieren, fehlte. Auch wenn Frauen im 19. Jahrhundert Romane geschrieben haben - und Woolf weist darauf hin, daß fast alle diese Autorinnen relative finanzielle Sicherheit genossen und kinderlos waren - konnten sie sich nicht an der literarischen Tradition der herrschenden Kultur orientieren: [»Als jene Schriftstellerinnen aus dem frühen 19. Jahrhundert] ihre Gedanken aufs Papier bringen wollten, hatten sie keine Tradition hinter sich, oder nur eine so kurze und unvollständige, daß sie kaum hilfreich sein konnte« (S. 114). Der Begriff »Innovation« setzt voraus, daß eine starke Tradition den Künstler bestimmt und ihn herausfordert, mit ihr zu ringen, um sich einen Platz zu erkämpfen. »Make it new« (»Schafft es neu«) konnte nur das Motto von Woolfs männlichen Zeitgenossen sein. Horchen, suchen, informieren, bilden müssen die Frauen sich an einem ganz anderen Ort: »Denn wir denken zurück durch unsere Mütter, wenn wir Frauen sind. Es ist nutzlos, bei den großen männlichen Schriftstellern Hilfe zu suchen, egal wie sehr wir bei ihnen unser Vergnügen suchen mögen« (S. 114). Selbst wenn es den Frauen möglich gewesen wäre, die Universitätsbibliothek von Woolfs fiktionalem »Oxbridge« mit einem »Mitglied des Kollegiums oder [...] einem Einladungsbrief« zu betreten, so hätte ihnen diese Institution nichts geboten, was der stummen Tradition der Mütter eine Stimme hätte verleihen können. Woolf hat tatsächlich versucht, im British Museum sich wissenschaftlich über »Frauen und Fiktion« zu informieren. Sie scheiterte daran, daß »man [...] nichts über Frauen vor dem 18. Jahrhundert [weiß] « (S. 69). Daher ist sie der Auffassung, daß es die Aufgabe von Studentinnen und Akademikerinnen sein sollte, die Geschichte neu zu schreiben. »... wie alt war sie, als sie heiratete; wieviel Kinder hatte sie in der Regel; was für ein Haus hatte sie; hatte sie ein Zimmer für sich allein; mußte sie kochen; war es wahrscheinlich, daß sie Haushaltshilfe hatte? Ich gehe davon aus, daß all diese Fakten irgendwo wohl in Kirchenregistern u.ä. liegen...« (S. 68).
In der Geschichtsschreibung sei Innovation sowohl möglich als auch dringend notwendig: »Hier frage ich, warum Frauen im elizabethanischen Zeitalter keine Gedichte geschrieben haben, und bin gar nicht sicher, wie sie erzogen wurden; ob ihnen das Lesen beigebracht wurde; ob sie ein Zimmer für sich allein hatten« (S. 69). Der Innovation in der Fiktion jedoch stehe offensichtlich mehr im Wege, denn es gehe darum, sich erst von den Maßstäben der männlichen Kultur zu befreien und dann ein Kreativitätsbewußtsein - mit anderen Worten: eine Tradition - nicht, vor allem nicht, zu proklamieren, sondern wachsen zu lassen, erwachsen werden zu lassen. »... denn wir denken zurück durch unsere Mütter, wenn wir Frauen sind.« Wie kann die Schriftstellerin »durch unsere Mütter zurückdenken« mittels einer Sprache, durch die sich das Männliche schon immer gedacht hat und deren eigene Erneuerung (»innovation«) schon immer in der Gattung Roman (»novel«) institutionalisiert war? Gibt es eine Muttersprache, die nicht schon durch die Projektionen männlicher Bedürfnisse zum ödipalen Spiel mit einem Zerrbild der Mutter geworden ist? Woolf ist sich darüber nicht im klaren, wie dieses »Durch-unsere-Mütter-Denken« praktisch verlaufen soll, und es ist interessant festzustellen, daß sie in ihren Romanen z.B. Die Fahrt zum Leuchtturm (1927) und Die Jahre (1937) - ihre Handlung mit dem Tode einer Mutter einleitet oder zu Ende bringt. Weiterhin sollten wir beachten, wie sie in Ein Ziimmer für sich allein ihre Frauenliteraturgeschichte mit dem Selbstmord der von ihr erfundenen Vorgängerin, Judith Shakespeare, beginnt: »Sie brachte sich in einer Winternacht um, und nun liegt sie an irgendeiner Kreuzung begraben, wo die Busse [vor einer Kneipe] halten« (S. 72 f). Und diese Vorgängerin hat sich umgebracht, weil sie schwanger war. Das Vorhaben, »durch unsere Mütter zu denken«, droht vorerst daran zu scheitern, daß der Inhalt dieses Denkens sowohl wissenschaftlich als auch ästhetisch schwer assimilierbar ist. Woolfs Versuch, dieses Denken darzustellen, reproduziert, was diese »Mütter« an Affekt überliefert haben: Frustration, Bitterkeit, Wut. Stellt sie sich eine ihrer Vorgängerinnen vor, ist diese »irgendeine stumme unrühmliche Jane Austen, irgendeine Emily Bronté, die sich auf dem Moor den Schädel eingeschlagen hat oder auf den Landstraßen hin und her irrte, von der Tortur ihrer Begabung verrückt gemacht [...]. Hätte sie überlebt, das, was sie geschrieben hätte, wäre verzerrt und entstellt gewesen, das Produkt einer überspannten und morbiden Phantasie« (S. 74f). »Vorgänger ihr, Blut im Schuh« (Christa Wolf). Virginia Woolfs Schilderung der Geschichte, die geschrieben werden muß, ist durchaus brutal und erinnert in dieser Hinsicht gerade an den Aspekt des Werkes von Charlotte Bronté, den Woolf selbst getadelt hat: »... es ist klar, daß die Wut die Integrität von Charlotte Bronté als Schriftstellerin verfälscht hat. Sie hat ihre Geschichte verraten, der sie ihre ganze Zuwendung hätte widmen sollen, um einen persönlichen Groll zu hegen« (S. 110). »Durch unsere Mütter zurückdenken«, wie es hier dargestellt wird, reproduziert genau die Eigenschaften, die die Schriftstellerin vom Wesentlichen ihrer Kunst ablenken: »... sie dachte an etwas anderes als das Ding selbst. Runter stürzt uns ihr Buch auf den Kopf. Es gab einen Fehler mitten drin« (S. 111). Wenn wir Woolfs nicht gerade desinteressierte Kritik lesen, fällt uns auf, wie auch hier politische Überlegungen der Schriftstellerin die Aufmerksamkeit von der Frage »Frauen und Fiktion« abziehen. Bevor sich Frauen mit Fragen der »Innovation« beschäfügen können, müssen die Konditionen geschaffen werden, in denen sie der Kunst zuliebe die Fragen des täglichen Überlebens vernachlässigen können.
Es geht jedoch nicht nur darum, gegen äußere Umstände und die daraus resultierende Wut zu kämpfen. Abgesehen von der Gewalt, die unvorhergesehen, ja sogar ungewollt zum Ausdruck kommt, werden Schriftstellerinnen mit einem weiteren Widerspruch konfrontiert, der das Schreiben mit gutem Gewissen in Frage stellt. Um die Stimme der weiblichen Überlieferung kommunizierbar machen zu können, müssen sie an einer Sprache teilnehmen, die vom »Weiblichen« schon anderen, verstellenden Gebrauch gemacht hat und die den »anderen Diskurs« der Mütter aus seinem Wesen heraus Lügen straft. Woolfs Beschreibung der »äußerst komplexen Kraft der Weiblichkeit« in bezug auf weibliche Kreativität weist auf diese Schwierigkeit hin; in der Tat stellt die Logik ihres Diskurses auch hier das Dilemma weiblichen Schreibens dar: »Man geht in einen Raum - aber die Mittel der englischen Sprache würden sehr stark beansprucht und ganze Wortfluchten müßten illegitim ins Dasein treten, ehe eine Frau sagen könnte, was geschieht, wenn sie einen Raum betritt. Die Zimmer sind sich so wahnsinnig unähnlich; sie sind ruhig und donnerlaut; blicken aufs Meer oder, im Gegenteil, auf einen Gefängnishof, sind voller Wäsche oder schillern mit Opalen und Seidenstoffen; hart wie Roßhaar oder weich wie Eiderdaun - man muß nur in einen beliebigen Raum in einer beliebigen Straße gehen, um die ganze, äußerst komplexe Kraft der Weiblichkeit hautnah zu spüren« (S.131). »Man geht in einen Raum« - und plötzlich ist die Sprache nicht mehr in der Lage mitzuteilen, was geschieht, wenn eine Frau einen Raum betritt. Es wäre sogar, Woolfs Metapher zufolge, einer illegitimen Geburt vergleichbar, dies als Frau mitteilen zu wollen. Anstatt die Sprache zu vergewaltigen, um dieses Phänomen zum Ausdruck zu bringen, zählt Woolf eine Reihe von Gegensätzen auf, deren innere Spannung den Umfang dieser Erfahrung andeutet, aber nie ausspricht. Dabei vertritt Woolf die Ästhetik der Väter, als müßte ihre Feststellung, »wir denken zurück durch unsere Mütter, wenn wir Frauen sind«, sich einem Geschlechtswandel unterziehen: »Wir denken durch unsere Väter, wenn wir Schriftsteller sind.« Wenn sie z. B. die wichtige Qualität der »Integrität« beschreibt, verrät sie ihre eigenen Vorurteile: »Was Integrität für den Schriftsteller bedeutet, ist die Überzeugung der Wahrheit, die er uns mitteilt« (S. 108). Eine rein ästhetische Wahrheit, die nicht von Spuren unverarbeiteter Realität getrübt ist, konnte Charlotte Bronté, um Woolfs Beispiel aufzunehmen, nicht anbieten: »Sie schreibt über sich selbst, wo sie über ihre Figuren schreiben sollte. Sie hat ihrem Los den Krieg erklärt« (S. 104). Obwohl Woolf dem politischen Los der Frauen den Krieg erklärt, bleibt sie als Vertreterin der Spezies Schriftsteller der Tradition insofern verbunden, als sie sich als Innovatorin versteht. Sie betrachtete sich mit Recht als Konkurrentin von Joyce und Proust. Hingegen ist sie als Schriftstellerin immer dann ihren Müttern am nächsten, wenn ihre Praxis ihrer Ästhetik widerspricht, wenn sie ihre Wut zum Ausdruck bringt. Für Woolf, wie sicherlich auch für ihre Nachfolgerinnen, bleibt die ästhetische Frage weitgehend unbeantwortet. Es ist einfacher, ein politisches, sozialkritisches Urteil zu fällen und auf Innovation im Sinne von Gleichberechtigung zu plädieren, als eine neue Tradition ins Leben zu rufen, die sich völlig von den Maßstäben, sprich Vorurteilen, einer bestehenden Kultur emanzipieren kann.
Trotz der scheinbaren Sackgasse, die wir in Woolfs Schreiben über Frauen und Fiktion gefunden haben, bietet ihr Text auch einen Ansatz zum weiblichen Schreiben, der die Tür zu einer authentischen Praxis eröffnet, die die Gegensätze Erfahrung/Ästhetik, Wut/Distanz usw. auf produktive Weise ins Spiel bringt, ohne sie vorschnell zu versöhnen. Ein Zimmer für sich allein ist selber eine Mischgattung: ein Essay, der »auf zwei Vorträgen basiert, die im Oktober 1928 vor der Arts Society in Newnham und der Odtaa in Girton gelesen wurde. Die Papiere waren zu lang, um ganz vorgelesen zu werden, und sind seither geändert und vervollständigt worden« (S. 5). Obwohl der Essay sich inhaltlich wesentlich von den zwei Vorträgen unterscheidet, behält er die Form eines Dialogs zwischen Woolf und ihren Zuhörerinnen bei. So macht er die Zwiesprache zwischen einer erfolgreichen Schriftstellerin und den Vertreterinnen einer neuen Generation, die sich den Zugang zu den Institutionen (Girton, Newnham) errungen hat und nun mit der Aufgabe, »durch unsere Mütter zurückzudenken«, ringen muß, jedem Leser zugänglich. Woolf stellt sich, mit anderen Worten, als Mutter vor, und indem sie ihr Ringen beispielhaft darstellt, bietet sie wenigstens eine Fiktion der Geschichte, deren Fehlen sie dokumentiert und beklagt hat. In seinem dialogischen Aufbau sowohl mit der teils stummen, teils zu sehr affektiv beladenen Vergangenheit als auch mit der neuen Generation, die mit Woolf selbst als Vorgängerin zu ringen hat, bietet sich ihr Text als Muster für ein zukünftiges Unternehmen weiblichen Schreibens an. Dieses Muster legt keineswegs fest, was geschrieben werden kann oder muß, sondern deutet an, wie die Form des Dialogs der Vielstimmigkeit, der Ungewißheit, der zugleich spannenden und beunruhigenden Pluralität weiblicher Erfahrung gerecht werden kann.
In Wide Sargasso Sea von 1966 (dt. Sargassomeer, oJ.) antwortet Jean Rhys auf Woolfs Herausforderung in zweifacher Weise: der Roman ist sowohl eine Art nach vorn gerichtete Fortsetzung des Romans Jane Eyre (1847) von Charlotte Bronté als auch eine Inszenierung des »Durch-unsere-Mütter-Denkens«, welche die Radikalität dieses Prozesses für den Roman als Institution dramatisiert. In Hinsicht auf die Tatsache, daß es gerade Charlotte Bronté war, deren Wut, Frustration und Bitterkeit nicht in die Woolfsche Ästhetik paßte, ist es umso erstaunlicher, daß es Rhys gelingt, den affektiven Gehalt des Bronté-Romans zu steigern, ohne daß die ästhetische Qualität ihres Textes - oder die Qualitätsmaßstäbe der Woolfschen Romanästhetik - dadurch kompromittiert werden. Der dialogische Aufbau findet im Roman auf zwei Ebenen statt. Den einen Dialog führt Rhys mit der Vorgängerin, die einen weiblichen Bildungsroman auf Kosten eines weiblichen Opfers vollendet. Der andere verläuft zwischen den Ehepartnern Rochester und Antoinette (Bertha), deren hoffnungslose Beziehung in der Handlung und durch die Handlung aufgelöst wird. Im Dialog mit der Vorgängerin verleiht Rhys durch die Figur »Antoinette - Bertha« den Müttern die Stimme, die ihnen nach Woolfs These versagt geblieben ist. Der Dialog zwischen Antoinette und Rochester, dem Helden des Bronté-Romans, erweist sich als Katastrophe. Weil Rochester sich weigert, Antoinette als Trägerin der Stimme der Mütter zu akzeptieren - weshalb er sie auch statt »Antoinette« immer »Bertha« nennt - sind weder er noch sie in der Lage, aus den Monologen ihrer jeweiligen Ich-Erzählungen herauszukommen und in ein Zwiegespräch einzutreten. In Sargassomeer wird also die Erscheinung einer Frau beschworen, hinter der die Tradition des englischen Frauenromans steht und die in der Frauenliteraturgeschichte - so bei Sandra M. Gilbert u. Susan Gubar - als exemplarische Figur der weiblichen Imagination im neunzehnten Jahrhundert gilt. In Jane Eyre wird Bertha, die Verrückte, die Wilde, von Rochester im Dachgeschoß seines Landhauses eingesperrt, bis sie die Katastrophe verursacht, die das Happy End des Romans ermöglicht. In Sargassomeer hingegen spricht Rhys dieser Berthafigur in der Gestalt der Antoinette eine Vergangenheit und eine Stimme zu, die ihre gespenstische, phantomhafte Erscheinung im Roman der Bronté motivieren. Sargassomeer verfolgt teils aus Berthas, teils aus Rochesters Perspektive Antoinettes Entwicklung aus der kindlichen Unschuld hin zur pubertären Verwirrung, aus der Verzweiflung über die erzwungene Ehe mit Rochester hin zu dem, was Brontes Rochester als Wahnsinn bezeichnet und was in Rhys Roman durch die Umbenennung zu »Bertha« symbolisiert wird. Sargassomeer läßt sich durchaus unabhängig von Jane Eyre lesen. Um die Dynamik des Dialogs zwischen Rhys und ihrer Vorgängerin zu diskutieren, ist es jedoch notwendig, Berthas Rolle in Brontés Text kurz zu skizzieren. In Jane Eyre wird Berthas Anwesenheit durch eine Reihe von Gewaltereignissen angedeutet, die der Ich-Erzählerin bzw. Heldin unerklärlich bleiben. Sie werden entweder einer mysteriösen Haushälterin zugeschrieben oder als Traumbilder oder Hirngespinste von Jane verstanden. Daß es tatsächlich eine »Verrückte im Dachgeschoß« gibt, kommt erst zutage, als Berthas Bruder die Hochzeitszeremonie von Jane und Rochester unterbricht, um anzukündigen, daß der Bräutigam schon verheiratet ist. Daraufhin erzählt Rochester die Geschichte dieser Ehe: wie er Bertha habe heiraten müssen, um das Familienvermögen für den älteren Bruder intakt zu halten, wie er von der Schönheit und Schmeichelei dieser Kreolin entzückt gewesen sei: »...eine Heirat wurde vollstreckt, fast ehe ich wußte, wo ich war.« Rochester entdeckt aber bald, daß seine Frau »keine einzige Tugend [...], weder Demut, noch Gutmütigkeit, noch Ehrlichkeit, noch Sensibilität« besitze; außerdem stellt es sich heraus, daß ihre Mutter nicht, wie ihm gesagt wurde, tot ist, sondern in einer Irrenanstalt vor sich hindämmert, und daß die ganze Familie Opfer einer progressiven, erblichen Geistesumnachtung ist. Er habe die Qual des gemeinsamen Lebens vier Jahre lang ausgehalten, zugeschaut, wie seine Frau geistig abbaute, bevor er sich entschloß, sich zu retten, indem er nach England zurückkehrte. Rochester bezieht sein Gut Thornfield, sperrt seine Frau im Dachgeschoß ein und lebt weiter, als hätte die Ehe nie stattgefünden. Jane hört Rochester zu, um dann, von der Geschichte erschüttert, abzureisen und sich eine neue Existenz zu schaffen. Sie erbt das Vermögen eines in der Karibik verstorbenen Onkels und kehrt erst nach Thornfield zurück, als sie meint, Rochesters Stimme gehört zu haben. Sie findet das Gutshaus bis auf die Grundmauern abgebrannt und erfährt, daß Rochester den Brand zwar überlebt habe, aber nun verstümmelt und blind sei. Der Brand sei von Bertha gelegt worden, die dann vom Dach abgestürzt sei und dabei den Tod gefunden habe. Jane begegnet Rochester auf dem desolaten Gut Ferndean, wo dem Wiedersehn die Heirat folgt. Jane, die Ich-Erzählerin, gibt der Leserin/dem Leser zu verstehen, daß es um mehr als um ein Happy End geht: Rochesters Sehkraft stellt sich wieder her, damit er in die tiefen Augen seines Erstgeborenen schauen kann.
Jean Rhys modifiziert diese weibliche Bildungsromanze, die komplizierter und ambivalenter ist, als hier angedeutet werden konnte, indem sie bedeutungstragende Parallelen zwischen Janes Laufbahn und der ihrer gescheiterten Vorgängerin bzw. Konkurrentin bzw. Doppelgängerin zieht. Die von Bronté erzählten unglücklichen Kindheitsereignisse lassen sich durchaus vergleichen, wie auch die Tatsache, daß beide Töchter von Frauen sind, die als Störfaktoren im Familienpatriarchat gewirkt haben. Janes Mutter ist von ihrem Vater wegen ihrer Ehe mit einem armen Pfarrer enterbt worden. Nach dem Tod ihrer Eltern wird Jane vom Bruder ihrer Mutter in seine Familie aufgenommen, wo sie nach seinem Tod von der Tante und den Vettern als Mensch zweiter Klasse behandelt wird. Ihr Vermögen, und damit das Happy End, verdankt sie einem Bruder ihres Vaters, dessen Erbschaft sie in die eigene Patrilinie zurückversetzt. Nur so wird es ihr ermöglicht, eigenständig in die Ehe mit Rochester einzutreten. Rhys' Neuerzählung stellt die Prämissen dieser Handlung des Brontéschen Romans in Frage, indem sie das Drama der mütterlichen Erbschaft inszeniert. In Rhys' Version sind die Väter so uninteressant wie austauschbar; der Tod von Antoinettes Vater ist sicherlich ein auslösender Faktor für die fortschreitende Verrücktheit ihrer Mutter Annette, nur wird angedeutet, daß die Krankheit erblich bedingt ist und sich also auch von allein entwikkelt hätte. Die Armut und Hilflosigkeit der Familie ist ebenfalls dem Tode des Vaters zuzuschreiben, nur Rhys deutet unmißverständlich an, daß politische Ereignisse ähnliche Vorkommnisse hervorgerufen hätten. In der Tat gewährt die zweite Ehe von Antoinettes Mutter mit Mr. Mason, einem reichen Engländer, nur vorübergehend Aufschub des Verfalls dieser Familie. Nachdem Mr. Mason das Haus renoviert und den Kindern seinen Namen gegeben hat, schleicht das Chaos sich wieder in die Idylle ein. Rassenunruhen vertreiben die Familie, Annettes Lieblingssohn, der geistesschwache Pierre, stirbt auf der Flucht, Annette versinkt in der Umnachtung und Antoinette wird zur Trägerin eines affektiven Erbgutes, das ausschließlich mit Weiblichkeit identifziert wird und dessen Kraft jeden Versuch, diese Familie mit der patriarchalischen Ordnung zu versöhnen - oder sie in diese Ordnung so zu integrieren, daß sie gerettet wird - zum Scheitern verurteilt. Mr. Masons Reichtum selber stellt sich als Auslöser einer Katastrophe heraus, da Antoinettes Ehe nie zustande gekommen wäre, wenn sie nicht mit dem Vermögen ihres Stiefvaters belastet gewesen wäre. Diese Ehe verfehlt die Zwecke beider Parteien. Rochester wird den geheimnisvollen, rätselhaften Gesetzen von Antoinettes Welt so ausgesetzt, daß er nicht in der Lage ist, ihr die Ordnung aufzuerlegen, die er vertreten soll: »>Stimmt es<, sagte sie, >daß England wie ein Traum ist? Denn eine meiner Freundinnen, die einen Engländer geheiratet hat, schrieb und sagte es mir. Sie sagte, dieser Ort London sei manchmal wie ein kalter, dunkler Traum. Ich möchte aufwachen.< >Nun<, antwortete ich [Rochester] verstimmt, >das ist genau wie diese schöne Insel mir vorkommt, ganz unwirklich und wie ein Traum«< (S. 80). Die Tatsache, daß sich beide einander völlig entfremdet gegenüberstehen, ist ein Zeichen dafür, daß Rhys diese in Jane Eyre verdrängte Krise auf die Spitze treibt und damit deutlich machen will, um welchen Preis Bronté ihre Heldin glücklich gemacht hat. Rhys hat ihre Handlung also nicht nur durch den Prozeß des »Durch-unsere-Mütter-Denkens« konzipiert, sondern sie dramatisiert die bedrohlichen Folgen, die dieses Denken für die patriarchalische Kultur und ihre Institutionen haben muß. Woolfs Essay deutet an, daß die Mütter immer etwas gewußt haben, was in der herrschenden Ideologie nicht ausgesprochen und in der Kunst nie in vollem Ausmaß dargestellt wurde. Es sind die Frauen in Rhys' Roman, die wissen, wie nah der Wahnsinn und die Schizophrenie jedem/r steht und daß es nutzlos ist, dagegen zu kämpfen, da ein solcher Kampf nur zu weiterer Fragmentierung führt. Sie haben gelernt, mit der eigenen Schizophrenie umzugehen, wie auch die karibischen Familien in Sargassomeer sich mit ihren Mischlingen, unehelichen Kindern und Geschwistern irgendwie abfinden, bis die politische Situation ihnen eine Rassenidentität und entsprechende gesellschaftliche Haltung aufzwingt. Solange das eigene Ich und die eigene Familie als eine Phantasie erlebt und das Realitätsprinzip einfach vernachlässigt wird, kann man überleben. Wenn aber von diesem Wissen verlangt wird, daß es sich gegenüber einer Struktur wie dem Patriarchat behauptet, gehen beide zugrunde: Das »Frauenwissen« ist nicht in der Lage, die eigene Rechtfertigung auszudrücken; es bleibt aber gefährlich, weil es die Logik des Patriarchats entgleisen lassen kann.
Der Zusammenstoß der in Jane Eyre gezähmten und in Sargassomeer zum Ausdruck gebrachten Triebe mit der familiären, politischen und auch erzähllogischen Ordnung des Patriarchats wird von Jean Rhys auf jeder Ebene des Texts inszeniert. Worauf will ihre Revision des Jane Eyre-Texts hinaus? Wie wird »Antoinette« zu der »Bertha«, die am Ende des Romans im Begriff ist, Thornfield anzuzünden, eine Tat, die den Weg für Jane Eyres Ehe mit Rochester vorbereitet? Beide Namen zusammen kommen schon in Jane Eyre vor, und zwar bei der Lektüre des Aktenstückes, das beweist, daß Rochester schon verheiratet ist und daraufhin bewirkt, daß die Hochzeit unterbrochen wird: »>Ich bestätige und kann nachweisen, daß am 20. Oktoher AD [...] Edward Fairfax Rochester aus Thornfield im Bezirk [...] sowie aus Ferndean Manor in der Grafschaft [...] in England, meine Schwester Bertha Antoinette Mason, die Tochter des Kaufmanns Jonas Mason und seiner Frau Antoinetta, einer Kreolin, in der [...] Kirche, Spanish Town, Jamaica, geheiratet hat [...]< gez.JamesMason« (S. 292). In Sargassomeer wird die Kohärenz der Verhältnisse, die ein solches Dokument wirksam machen (das Gesetz, die Unterschrift des Bruders und Erben, die Kirche, die Namengebung selber), gesprengt. Rhys macht nirgendwo deutlich, daß ihre Antoinette tatsächlich Bertha heißt, sondern läßt den Eindruck entstehen, daß die Umbenennung Rochesters Willkür zuzuschreiben ist: »Jetzt haßt er mich. Ich höre jede Nacht zu, wie er auf der Veranda hin und her geht. Hin und her. Wenn er bei meiner Tür vorbeigeht, sagt er >Gute Nacht, Bertha<. Er nennt mich jetzt nie mehr Antoinette. Er hat entdeckt, daß es der Name meiner Mutter war. >Ich hoffe, du schläfst gut, Bertha< - es könnte nicht schlimmer sein« (S. 113). Der Name »Bertha« soll die Erbschaft von Antoinettes Mutter verdrängen; indem Rochester seine Frau »Bertha« nennt, will er eine andere aus ihr machen als diejenige, deren Mutter verrückt wurde und deren Bruder einer erblichen Verblödung erlag. Diese Umbenennung ist dem »Obeah« und »Vodoo« vergleichbar, das von den Inselfrauen praktiziert wird. Nur, wie die Kinderfrau und »Obeah«-Künstlerin Christophine warnt, gelingt dies bei den Weissen nie. Und in der Tat mißlingt Rochesters Versuch, sich eine neue Frau zu zaubern. Erstens ist er schon selbst unter dem Einfluß der Kräfte, die er aus seiner Welt bannen will - »Obeah« zu versuchen, heißt dessen Kräften zu unterliegen - und zweitens hieß die Mutter nicht »Antoinette«, sondern »Annette«. Rochester hat den Namen der Mutter der Urkunde in Jane Eyre entnommen (aber wiederum nicht genau: dort heißt sie Antoinetta) und hat es versäumt, auf die Stimmen um sich zu hören, für die diese Frau, von der so selten gesprochen wird, »Annette« hieß. Wenn er »durch die Tochter« zurück zur Mutter denkt, um deren Spuren zu vernichten, spricht er diese direkt an, indem er ein »toi« (das französische Wort für »du«) einschiebt. Dieses Wort »toi« ist ein Zeichen dafür, daß er gerade dort, wo er verdrängen will, genau das findet, was er verdrängen will. Paradoxerweise also ruft die Umbenennung zu »Bertha« die Kräfte wach, die hätten weiter schlafen sollen. Und viel später, wenn Rochester von den Stimmen des »Obeah«, der Christophine und den eigenen Leiden heimgesucht wird, zeigt eine weitere assoziative Umbenennung, daß er dem Geist der Mütter nie entkommt: »Nun schallte, schallte mir jenes ihrer [Christophinesl Worte laut im Kopf >Aber Sie lieben nicht. Sie wollen sie [Antoinette] nur zerbrechen [ >Sie sagt mir, daß Sie irgendwann angefangen haben, sie mit komischen Namen zu nennen. Marionette, oder so was. (Ja, ich erinnere mich, hab' ich. (Marionette, Antoinette, Marionetta, Antoinetta). >Das Wort heißt Puppe, nicht? Weil sie nie spricht. Sie wollen sie dazu zwingen, zu weinen und zu sprechen<« (S. 154 f). »Marionette«, das Produkt dieses (halluzinierten) Dialogs mit der »Obeah«-Frau, die auch Amme und Mutter-Ersatz ist, heißt zwar »Puppe« (»Bertha« soll die Puppe seines Willens werden), aber wir hören auch das Wortspiel »marry Annette« (heirate Annette), das die erfolgreiche Überlieferung des verdrängten Mütterlichen bestätigt. Auf der affektiven Ebene ist Rochester so sehr mit »Annette« verbunden, daß keine Gerichtsentscheidung, keine Scheidung, kein »In-Ordnung-bringen« der Verhältnisse diese Beziehung lösen kann. Nach England bringt er nicht nur seine wütende, frierende, zitternde Frau mit, sondern die Stimmen aller wütenden, frierenden, zitternden Mütter, die versuchen werden, im Frauenroman zu Wort zu kommen. Es ist also durchaus passend, daß die Frau, die nun »Bertha« genannt wird, eine neue Generation von Schriftstellerinnen veranlaßt, »durch die Mütter zu denken«. Im Namen »Bertha« (was die »Glänzende, Schillernde« bedeutet) hören wir auch das englische Wort »birth« (»Geburt«). Dieser Name und der Zustand derjenigen, die ihn trägt, müssen im Kontext der Geschichte des englischen Frauenromans verstanden werden: durch sie, so entnehmen wir Rhys' Handlung, kommt auch eine Jane Eyre zustande. Und wenn wir die Lehre der Mütter richtig gehört haben, wissen wir auch, daß ihre Stimmen auch in Janes Happy End einen Nachhall finden. Wir erinnern an Coco, den Papagei von Annette, der während des Brandes am Anfang des Romans vom Dach abstürzt, weil seine Flügel von Mr. Mason beschnitten wurden. Er konnte nur einen Satz sprechen: »Qui est là?« (»Wer ist da?«). Rhys' Namensspiel liefert uns die Antwort, die der Frauenroman immer wieder neu inszenieren muß: »toi«.
Innovation vollzieht sich im englischen Frauenroman als Bruch mit der Vaterwelt, als Erschreiben einer neuen Tradition, der Tradition des »Durch-die-Mütter-Zurückdenkens«. Bei Woolf ist diese Tradition selbst noch gar nicht vorhanden, sondern wird im Akt des Schreibens als fiktionales Gebilde erst geschaffen. Jean Rhys als die jüngere greift auf die Tradition des Frauenromans im neunzehnten Jahrhundert zurück, allerdings nicht so, daß sie diese bruchlos übernimmt. Vielmehr ist ihre Neuschreibung gerade dadurch charakterisiert, daß sie in ihrem Text die Verfälschungen und Entstellungen entlarvt, denen der Roman ihrer Vorgängerin auf Grund seiner Anpassung an die Tradition des männlichen Bildungsromans unterliegt. Erst durch diese Dekonstruktion erweist sich die Sprengkraft weiblichen Schreibens gegenüber den männlich geprägten Ordnungen. Es bleibt zu fragen, ob diese neue Form des Schreibens, die durch die fiktionale oder destruierende Schaffung einer eigenen Tradition sich auszeichnet, dem bisherigen ästhetischen Diskurs noch angehört, in dem der Begriff der Innovation an zentraler Stelle figuriert. Historisch gesehen, tritt dieser Begriff als grundlegendes Moment der Definition des Kunstwerks genau in dem Augenblick auf, als er sich auch im Bereich der materiellen Produktion, auf dem Markt nämlich, durchsetzt. Dort ist das Neue eine Eigenschaft der Ware, dem Tauschwert aufs intimste zugehörig. Hier - im deutschen Sprachraum etwa in den ästhetischen Theorien Gottscheds, Bodmers und Breitingers - wird es als inhaltliche Neuerung, als das Wunderbare verstanden, durch das das ästhetische Interesse erregt wird. In der Genieästhetik radikalisiert sich dieser Begriff, indem er gegen die Tradition selbst gewendet wird. Seitdem hat der einzelne Künstler im Konkurrenzkampf seine Originalität zu erweisen, indem er mit dem Hergebrachten, dem der Form wie dem des Gehaltes gleichermaßen, bricht. Innovation, als stetige Veränderung im ästhetischen Material begriffen, wird so zur eigentlichen Triebkraft der künstlerischen Moderne. Seitdem ist »die Autorität des Neuen«, wie Adorno in seiner Ästhetischen Theorie formuliert, »die des geschichtlich Unausweichlichen« (S. 38). Das Neue ist so von seinem Ursprung her eine Kategorie des Marktes, der Konkurrenz, also der Männergesellschaft, die in der Verbindung, die sie mit der Autonomie des Kunstwerks eingegangen ist, zu gleichsam metaphysischen Ehren gelangte. »Innovation« im weiblichen Schreiben wäre demnach ein Widerspruch in sich. Es wäre nur dann sinnvoll, von ihr zu sprechen, wenn damit gesagt wäre, daß auch und gerade mit dem historischen Begriff von Neuheit gebrochen werden muß. In Virginia Woolfs Formel des »Durch-unsere-Mütter-Zurückdenkens« deutet sich diese extreme Konsequenz an. In der Frauenliteratur wird der Begrdf der Innovation also insofern radikalisiert, als er gegen sich selbst gewendet wird. Das hat Folgen für die Rolle der Schriftstellerin wie für das Verständnis des Schreibprozesses selber. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ist der Schriftsteller als Prophet, als Priester gesehen worden, der sich allen hohen Herren der Welt ebenbürtig fühlen darf Schreiben von Literatur ist seitdem nicht nur ein sozialer Ausweis von Originalität und gleichzeitig ein Instrument der Ausbildung einer originellen Persönlichkeit, es verleiht dem Schreibenden darüber hinaus im öffentlichen Bewußtsein ein hohes Sozialprestige und damit Macht. Noch im zwanzigsten Jahrhundert gilt der Dichter als »Führer« (Kommerell), als »Held« (Gundolfi oder mindestens als Weiser. Selbst bei so reinen Figuren wie Kafka oder Canetti, die den Schriftsteller als den Antimachthaber definieren, behält das Schreiben seine Weihe, indem es als einziges Mittel der »Rettung« des Menschen erscheint. Was Canetti in Masse und Macht unter der Überschrift »Von der Unsterblichkeit« über Stendhal sagt, soll auch von seiner eigenen Rettung der ihm zugehörigen Menschen durch erinnerndes Eingedenken gelten: »Wer aber Stendhal aufschlägt, findet ihn selbst und alles wieder, das um ihn war, und er findet es hier in diesem Leben. So bieten sich die Toten den Lebenden als edelste Speise dar. Ihre Unsterblichkeit kommt den Lebenden zugute: in dieser Umkehrung des Totenopfers fahren alle wohl. Das Überleben hat seinen Stachel verloren, und das Reich der Feindschaft ist zu Ende« (S. 319). In diesen, den mystischen Gehalt der communio ins Säkulare der Erinnerungsarbeit des Autors überführenden Sätzen darf man zu Recht die inhaltliche Erfüllung des von Canetti und nicht nur von ihm - immer wieder mit Nachdruck behaupteten Anspruchs sehen, die Literatur vermöge den Menschen vorm Tode zu retten. So haftet dem Autor auch im zwanzigsten Jahrhundert im öffentlichen Bewußtsein noch etwas von der Kraft der Schamanen an. Die Auffassung vom Dichter als schöpferischem Individuum, in dem sich exemplarisch Mensch-, das heißt bisher vor allem Mannwerdung vollzieht und durch das die Welt ihrer Vergänglichkeit enthoben wird, hat in der bisherigen Literatur zu einer Heiligsprechung des Schreibens geführt. Die in ihr geleistete Erinnerungsarbeit wird als der Ort einer wenn auch noch so schwachen messianischen Hoffnung gesehen. Dieser Mythos ist das schlechte Alte, das zu zerstören die Literatur der Frauen zur Aufgabe hat. Die Frauen, d.h. vor allem die des Bürgertums, sind in der Neuzeit historisch viel später in den Schreibprozeß eingetreten als die Männer; von Ausnahmen abgesehen, haben sie sich erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in größerer Zahl schöpferisch mit Literatur zu befassen begonnen. »Die Frau als Intellektuelle« - so Christa Wolf in Kassandra - »gibt es in nennenswerter Zahl erst seit sechzig, siebzig Jahren« (S. 175). Damals war die Ideologie von der Originalität des schöpferischen Individuums schon brüchig geworden. In den Augen der schreibenden Frauen, denen schöpferisches Ingenium von der Öffentlichkeit nicht zugestanden wurde, mußte sie sich als gänzlich hohl erweisen. Die Tradition, aus der heraus der Schriftsteller sein Selbstverständnis und seine Rollenerwartung bezog, war demnach so eminent männlich besetzt, daß sie von schreibenden Frauen nicht erneuernd umgeschrieben werden konnte. Auf sie konnten die Schriftstellerinnen sich nicht beziehen. Sie mußten sich eine neue erfinden.
Diese neue Tradition ist zunächst negativ definiert: als Destruktion des männlichen Diskurses und damit als Durchsetzung ihrer eigensten Interessen als Frau in der Sprache. Hierhin gehört das, was Woolf als das »Zurückdenken-durch-die-Mütter« faßt: die Zerstörung der logozentrischen Schreibweise, die Aufnahme der vielen Sprachen, auch der des Korpers, in den Text. Maxime dieses Schreibens ist es, Ausschließungen und Verknappungen des Diskurses nach Möglichkeit nicht zuzulassen, die vielen Stimmen, möglichst alle, zu Wort kommen zu lassen. Auf eine Formel gebracht, die Christa Wolf in ihren Voraussetzungen einer Erzählung (1983) vorschlägt, könnte man sagen, dieser Aspekt der ästhetischen Neuerung der Frauenliteratur besteht darin, daß sie keine Geschichten mehr erzählt, weil diese immer Helden-Geschichten sind (S. 117). Radikal entsprechen Nathalie Sarrautes Prosa-Texte seit den Tropismes, die sie 1932 zu schreiben begann, diesem ästhetischen Konzept. Die Sarraute gehört zu den Autoren, die gleich zu Beginn ihres Schreibens ihr eigenes Thema gefunden haben, das sie ohne monoton zu werden - in immer neuen Aspekten entwickeln. Schon der Titel des ersten Bandes Tropismen ist eine Schlüsselmetapher, die auf den thematischen Kern ihres gesamten Oeuvres verweist: Der ursprünglich aus der Botanik stammende Begriff »Tropismen«, der dort die kaum wahrnehmbaren Krümmungsbewegungen bezeichnet, die Pflanzen als Reflex auf äußere Reize wie Licht, Wärme etc. vollziehen, wird bei ihr zum sprechenden Bild für die nur halb erahnten psychischen Regungen unseres Inneren, die sich in unkontrollierten, flüchtigen, fast unmerklichen Zeichen spiegeln, einem leichten Vibrieren in der Stimme etwa, einem vielleicht zu forschen oder zu gleichgültigen Ton, einem Augenzucken, einem um eine Spur zu herzhaften, freundlichen Lachen etc. Diese »Tropismen« werden für das sensible, aller glatten Oberfläche mißtrauenden Ich zu Indizien einer Wahrheit, die sich hinter den eingeübten Verhaltensmechanismen, der scheinbar gut funktionierenden Kommunikation einer gesellschaftlichen Gruppe verbirgt. Die Sarrauteschen Romane sind - so Portrait dun Inconnu (1948), Martereau (1953), Le Planétarium (1959), Les Fruits d'Or (1963), Vous les entendez? (1972) jeweils aus der Perspektive eines solchen überbewußten, mißtrauischen Ichs geschrieben, das die feinen, fast unsichtbaren Risse in den Masken freundlichen Wohlverhaltens, das Unechte in dem so echt natürlich Scheinenden aufzuspüren sucht. Der Stoff, die Handlung dieser Prosa - und das gilt in abgewandelter Form auch für die Hörspiele - entfaltet sich aus diesen psychischen Kurzdramen zwischen einem Ich, das die fest konturierte Außenansicht, welche die anderen ihm bieten, das runde, klare Charakterbild, ständig nach dem Geheimnis ihres verborgenen, eigentlichen psychischen Lebens abtastet. Für die Sarraute ist das Äußere nicht ungebrochen Ausdruck des Inneren, vielmehr ist es das, was wir für die anderen sein wollen, ist also Maske, Schutz und Rolle, eine Rolle freilich, in die uns die anderen auch drängen, denn das unverstellbare wahre Gesicht des Ichs mit seinen Ängsten, Unsicherheiten, Eitelkeiten, Haß-Ekelgefühlen, Sehnsüchten etc. würde die eingespielte gesellschaftliche Konvention stören, wäre unpassend unangepaßt, eben peinlich unkonventionell. In dieser Welt des Äußeren herrschen der Gemeinplatz, die unverbindliche Konversation, die Allgemeinheiten, die so perfekt von den komplexen, nicht schematisierbaren Regungen des emotionellen Ichs ablenken. Insofern wird auch die Sprache suspekt, verliert ihre authentische Ausdruckskraft, wird mit ihren Etiketten, Fertigsätzen, modischen Jargons, den eingespielten Sprachregelungen gleichsam zur Tarnkappe, hinter der das Individuum verschwindet. In dieser Welt des Scheins, der falschen Harmonie regiert das Mißtrauen; alles gerät in den Sog des Verdachts: die harmlose Bemerkung, ist sie nicht doppeldeutig, spielt sie nicht auf die Schwäche des Gegenübers an, die freundliche Zustimmung, ist sie nicht nur eine Falle, die das Ich in seinen Empfindlichkeiten herauslockt, es in Sicherheit wiegt, um es dann in seiner Blöße zu fangen - vielleicht nur mit einem auch wieder freundlich höflichem Kopfschütteln: »Nein wirklich, ich verstehe Sie nicht?« Und dieses »Nicht Verstehen«, will es nicht - überdeutlich - allerdings in der Maske des gutwillig um Verständnis Bemühten, demonstrieren, daß das Ich hoffnungslos spinnig ist, oder wie in der Gesellschaftszene im Hörspiel: verdeckt die uneingeschränkte Zustimmung nicht letztlich ein peinliches Berührtsein? Diese Doppelexistenz, zu der die gesellschaftliche Norm das Individuum verpflichtet, veranschaulicht sich bei der Sarraute im Bild der Muschel, deren glänzende Oberfläche ein waberndes, weiches, verletzliches Fleisch umschließt. Eingeschlossen in die abschirmende Schale des Clichés, das das Ich vor Selbstentblößung und Verwundung schützt, drängt es zugleich hinaus in den ungeschützten, aber wahren Bereich unverstellter Kommunikation und wird dann immer wieder zurückgetrieben - durch die Floskelsprache der Insider, durch verallgemeinernde Urteilssätze, die sich wie plakative Aufkleber über jede individuelle Äußerung legen. Das große Thema der Sarraute ist letztlich die Kommunikation, bzw. die in einer Welt des Gemeinplatzes verhinderte Kommunikation, die in Scheindialogen abläuft.
In einem noch spezifischeren Sinne jedoch verraten die schreibenden Frauen die literarische Tradition, wenn sie das Schreiben nicht mehr als sakrale Handlung verstehen, durch die ein Höchstes geoffenbart oder der Tod überwunden werden könnte. Darin liegt das eigentlich Neue der Texte jüngerer Schriftstellerinnen, daß sie der Mythisierung des Schreibens entgegentreten. Statt dessen begreifen sie es als Verrat am Leben, als Wahnsinn, als - um ein Wort Ingeborg Bachmanns zu verwenden - die schmerzlichste aller »Todesarten«. So sieht sich die schreibende Frau selber auch nicht mehr als Prophetin oder Heldin. Eher schon als Kind oder noch radikaler als Verräterin oder als Verrückte. Schreiben wird damit zu einem Weg, auf welchem dem eigenen Tod entgegenzugehen ist, womit es sich aller Macht versagt und sich im innersten der ganz und gar uneigennützigen, der ekstatischen Liebe zuwendet. In diesem Sinne macht Christa Wolf in ihrer jüngsten Erzählung (1983) die trojanische Seherin Kassandra zur Antiheldin. Obwohl sie als Tochter des Königs Priamos von ihrer Abstammung her an den Herrschaftsstrukturen des Stadtstaates teilhat, beginnt sie allmählich einzusehen, in welcher Weise sie von den Männern ausgenutzt und zum Objekt gemacht werden soll. Sie benutzt ihren besonderen Status als Opferpriesterin dazu, sich den Ansprüchen ihrer Umgebung immer mehr zu entziehen. Aus dieser bewußt gewählten Außenseiterstellung heraus vermag sie als einzige in der belagerten Stadt die Phrasenhaftigkeit der offiziellen Parolen und den menschenverachtenden Wahnsinn des Krieges zu durchschauen. Ihr Kampf gegen den von den Männern wegen eines Phantoms angezettelten Krieg bringt sie in einen sich verschärfenden Konflikt mit den Herrschenden und damit auch mit dem eigenen Vater. Wie die Schriftstellerin, als deren Statthalterin sie auftritt, ist sie durch ihre Kondition als Frau zum ersten Mal hellsichtig geworden. Indem sie ihre gesellschaftliche Randstellung bewußt akzeptiert, versucht sie, mit ihren Sprüchen Widerstand zu leisten gegen das allgemeine Mordsystem. So tritt sie als sprechende Frau der offiziellen Sprachregelung entgegen und begeht Verrat an der »heiligen« Sache des Vaterlands. Dieser Weg führt notwendigerweise in den Tod. Schon in den ersten Sätzen ihres Textes läßt die Erzählerin daran keinen Zweifel aufkommen: »Mit der Erzählung geh ich in den Tod. / Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein anderes Ziel geführt« (S. 5). Angesichts der Löwen über dem Eingang zur Burg von Mykenä, angesichts dieser steingewordenen Embleme der Macht bekennt sich Kassandra - und mit ihr die Erzählerin dazu, daß Schreiben, wenn es sich als Einsicht und als Widerstand begreift, den Abschied vom Leben bedeutet. Allerdings bleibt das Paradox bestehen, daß Christa Wolf diese Erkenntnis in ihrer poetischen Praxis nicht wirksam werden läßt. Theoretisch weiß sie zwar, daß Geschichten immer »Heldengeschichten« sind, doch sie erzählt das Leben Kassandras - die so sehr Antiheldin sein will, daß sie ihrem Geliebten Äneas auf seiner Flucht aus Troja nicht folgt, um ihn später nicht als römischen Helden sehen zu müssen - in der Form des traditionellen Bildungsromans. Als Erzählerin erliegt sie damit der »Indoktrination durch den Ästhetikbegriff«, den sie in ihren Voraussetzungen einer Erzählung zurecht als Teil des Systems der instrumentellen Vernunft entlarvt (S. 150). Die Aufspaltung in eine theoretische Abhandlung, in der mit aller Radikalität die poetologischen und politischen Voraussetzungen des Schreibens von Frauen analysiert werden, und in eine Erzählhandlung, die diese Positionen inhaltlich zwar aufnimmt, aber ihnen erzählerisch nicht gerecht wird, ist unmittelbarer Ausdruck dieses Dilemmas, das aus dem Erzähltext eine bloße allegorische Umsetzung von vorgefaßten Einsichten macht. Christa Wolf war sich dieses Mankos bewußt: »Empfinde die geschlossene Form der Kassandra-Erzählung als Widerspruch zu der fragmentarischen Struktur, aus der sie sich für mich eigentlich zusammensetzt. Der Widerspruch kann nicht gelöst, nur benannt werden« (S. 120). Ingeborg Bachmann ist es gelungen - das ist ihre auch ästhetisch innovative Leistung - die radikale Neuorientierung des Schreibprozesses im Roman selbst zu reflektieren. In Der Fall Franza, dem ersten Roman der als Trilogie geplanten Reihe der Todesarten, stellt sie dar, wie ein Mann »seine« Frau zum Objekt seiner Studien herabwürdigt, ihr dadurch die produktive Freiheit nimmt, die sie als junges Mädchen gehabt hatte, und so ihre Individualität zerstört. Sie wird von ihm zum Fall gemacht: »Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von alldem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist« (Bd. III, S. 150). Die Selbstentfremdung der Frau, der sie schließlich nur noch im Tod entkommen zu können glaubt, wird hier in ihrer extremsten Form vorgeführt und durch die Parallelisierung mit der Vernichtung der Juden und der Ureinwohner Australiens als das mörderische Prinzip einer vom wissenschaftlich-technischen Verstand organisierten Gesellschaft entlarvt. Dennoch hat Ingeborg Bachmann den so gut wie abgeschlossenen Roman nicht veröffentlicht, unter anderem deshalb, weil in ihm - ähnlich wie in Christa Wolfs Erzählung - die radikalste aller Erfahrungen, nämlich die, daß auch das Schreiben von literarischen Werken dieser von Machtstrukturen und Tötungswünschen besessenen Männergesellschaft zugehört, noch nicht gestaltet ist. Bis zu dieser äußersten Grenze ist sie erst in dem von ihr 1971 veröffentlichten Roman Malina vorgedrungen. In dessen erstem Teil wird in der Gestalt des Ivan der Verrat der Männer an der unbedingten Liebe der Frau kritisiert. Im zweiten Teil des Romans, beziehungsreich »Der dritte Mann« überschrieben, erweist sich die Welt für die Frau - wie für das Kind und die Juden - als destruktiver, patriarchalisch strukturierter »Mordschauplatz«. Der Vater im Kostüm des Henkers und SS-Schergen ist zugleich auch die Figur, die der Tochter Sprachfindung und Selbsterkenntnis verweigert. »Mein Vater läßt den See über die Ufer treten, damit nichts herauskommt, damit nichts zu sehen ist« (Bd. III, S. 219). Gegen diese Besetzung der eigenen Identität bietet die Erzählerin die scheinbar alles verstehende Bruderfigur auf, die dem Roman den Namen gibt. Doch dieser »ideale« Liebhaber wird im Laufe des Schreibprozesses immer mehr als Selbsttäuschung der Schreibenden dekouvriert. Er ist eine Ausgeburt ihrer Phantasie, und als solcher ist er ohnmächtig, macht die Erzählerin nicht tauglicher zum Leben. Wie ein Kind in seiner magischen Phase sich einen allmächtigen Partner erschafft, mit dem es in ständigem Dialog steht und der ihm zum liebsten Spielgefährten wird, so geht es der Erzählerin mit Malina: Für sie ist er dieser imaginäre Partner, der sie davon abhält, zu sich selbst zu kommen. Das Schreiben von Literatur wird so als kindisches, magisches Tun desavouiert, durch das sich die Ohnmacht der Erzählerin, sich ihrer selbst inne zu werden und das wahre Leben zu erlangen, endgültig manifestiert. »Schritte, immerzu Malinas Schritte, leiser die Schritte, leiseste Schritte. Ein Stillstehn. Es kommt niemand zu Hilfe. Der Rettungswagen nicht und nicht die Polizei. Es ist eine sehr alte, eine sehr starke Wand, aus der niemand fallen kann, die niemand aufbrechen kann, aus der nie mehr etwas laut werden kann. / Es war Mord« (Bd. III, S. 337). Diese Schlußsätze des Romans sprechen nicht nur die Ausweglosigkeit der Situation der Frau in der Gesellschaft aus, sie rechnen auch die Literatur deren Mordsystem zu. Am Ende der Suche nach dem eigenen Selbst steht so das Schweigen in seiner radikalsten Form, als Dekonstruktion der eigenen Sprache, als Tod. Diese radikale Absage an die Tradition einer mindestens als Lebenshilfe und Identitätsfindung, wenn nicht gar als metaphysische Rettung oder Rechtfertigung verstandenen Literatur im Kunstwerk selbst, ist der Extrempunkt des Neuen, der nicht nur das schlechte Alte, sondern die Literatur überhaupt in Frage stellt. Zugunsten des recht verstandenen Lebens, zugunsten der geglückten Liebe, die jedoch allenfalls noch in einer als negative Folie zur Haupthandlung fungierenden Märchenerzählung präsent ist. In der Legende Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran, welche die Erzählerin im ersten Teil des Romans wiedergibt, leuchtet dieses »ganze Leben« wie eine Fata Morgana in die Todeswelt hinein. »Ein Tag wird kommen, an dem die Frauen rotgoldene Augen haben, rotgoldenes Haar, und die Poesie ihres Geschlechts wird wiedererschaffen werden [...] Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen rotgoldene Augen und siderische Stimmen haben, an dem ihre Hände begabt sein werden für die Liebe, und die Poesie ihres Geschlechts wird wiedererschaffen sein ...« (Bd. III, S. 136 ff.). Und auch diese fragmentarischen Verheißungen werden am Ende noch »ausgestrichen« und »weggeworfen«. Ästhetische Innovation vollzieht sich demnach in Ingeborg Bachmanns Prosawerk dadurch, daß die Literatur an ihren absoluten »Nullpunkt« (Roland Barthes) vorgetrieben wird. Was der österreichischen Autorin nur in der radikalen Zerstörung des Mythos Literatur erreichbar scheint, vermag Marguerite Duras im anderen Kontext der französischen Literatur ins Positive zu wenden. In ihrem neuesten Werk L'Amant (Der Liebhaber, 1984) steht die negative Erkenntnis, zu der Bachmanns Erzählerin am Ende des Romans gelangt, am Anfang des Textes: »Die Geschichte meines Lebens gibt es nicht [...]. Schreiben heute, so scheint es, bedeutet häufig überhaupt nichts mehr. Manchmal weiß ich es: Schreiben ist immer dann, wenn es nicht in heillosem Durcheinander Suche nach Eitelkeit und Wind ist, nichts« (S. 14f). So sind denn ihre autobiographischen Erinnerungstexte nicht als Erzählung gestaltet, sondern aus einer Reihe von Bildern montiert, solchen des Körpers vor allem, an deren Anfang das ihres mit achtzehn Jahren alt gewordenen, zerstörten Gesichts steht, das schon das Gesicht der gealterten Schriftstellerin ist. Von dieser Folie geht sie zurück zu jenem anderen Bild, in dem das Kindmädchen in seinem theatralischen Aufputz auf der Fähre über den Mekong einem anderen Außenseiter, dem jungen chinesischen Millionärssohn, begegnet. Dieser »dritte Mann« gleicht dem Mädchen, das am Rande der kolonialen Gesellschaft lebt und das schon Schriftstellerin ist, ohne noch eine einzige Zeile geschrieben zu haben. Indem die beiden Liebenden ihre Klasse und Rasse verraten, die Loyalität gegenüber der eigenen Familie mißachten und die Gebote der Gesellschaft übertreten, entgehen sie dem Unglück, das im verpfuschten Leben der Mutter des Mädchens stets drohend gegenwärtig ist. Sie ist die eigentlich Liebende, die sich für ihre Kinder, insbesondere ihren ältesten Sohn, aufopfert. Aber dieses Opfer mißlingt. Es vermag die Grenzen der mörderisehen Gesellschaft nicht zu überwinden, weil die Mutter sich auf deren Spielregeln eingelassen hat. Anders das Schreiben der Tochter, das als autobiographische Erinnerungsarbeit die eigene Identität aus dem instinktiven Verrat des jungen Mädchens gewinnt. Auch Marguerite Duras »denkt zurück durch die Mütter«: Schreiben ist für sie der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung des Unglücks der Mutter durch die Bilder der Imagination. Der Geliebte lautet der Titel dieser Wiedergutmachung, worin sich andeutet, daß auch die Männerfigur dem weiblichen Kosmos ganz und gar angehört. Die schreibende Frau hat ihre negative Fixierung abgestreift, ist sich ihrer selbst sicher geworden. Auch für Marguerite Duras bedeutet das Schreiben nichts im Sinne der Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft. Aber gerade in dieser Nichtigkeit garantiert es die Ganzheit des Lebens und der Person dieser Frau, die dadurch die Intensität, die Reinheit jenes Augenblicks wiederfindet, in dem sie noch Kind und schon Außenseiterin war.