Angst - Flucht - Hoffnung

Von der Gothic Novel zum utopischen Roman

Warum sie Ann Radcliffes Schauerroman The Italian lese, fragt Caroline Helston in Charlotte Brontés Roman Shirley die kleine Rose York. Roses Antwort ist verblüffend einfach: Dann wünsche sie sich zu reisen, denn auf jeder Art von Reise müsse sie glücklicher sein als in ihrem sich nie verändernden Dorf. Ihr Fluchtwunsch ist verständlich. Noch 1849, als Shirley erscheint, ist die Reise in die Phantasie so ziemlich die einzige, die z. B. die Bronté-Schwestern Anne und Emily unternehmen. 1812, der Roman spielt zur Zeit der Ludditen-Aufstände in England, wird gerade für das von Verarmung bedrohte Proletariat - ihre stellvertretende Leserin ist die kleine Rose - jede Reise Wunsch bleiben.
Die Literatur stellt uns noch andere Radeliffe-Leser vor - und damit Gründe für den Erfolg ihrer Romane. Bereits unmittelbar nach dem Erscheinen des Italian (1797) parodiert Jane Austen in Northanger Abbey (konzipiert 1797/98, erschienen 1818) mit ihrer Antiheldin, der höchst normalen bürgerlichen Catherine die Realitätsferne der empfindsamen romantischen Heldinnen. Catherine »erliest« sich ihre Rolle à la Burney, Richardson und Radcliffe. Diese falsche Rolle manövriert sie in eine Sicht- und Erlebensweise, der die ihr gemäße vernünftige bürgerliche Wirklichkeit nicht entspricht. Die als romantische Heldin komisch scheiternde Catherine ist jenseits aller Parodie die typische bürgerliche Leserin der Zeit, die der Langeweile genormter Wirklichkeit entfliehen will.
Auch Henri de Marsay, der Dandy par excellence in Balzacs La Fille aux Yeux d'Or (1833/34) erweist sich als Radcliffe-Leser. Der Dandy, der aus Langeweile sich selbst und seine Wirklichkeit kunstvoll inszeniert, überführt auch seine Furcht und seinen Schauer in ein »künstliches« Gefühl: ein verlassenes Haus mit seinen unbewohnten Sälen erinnert ihn an Radeliffesche mysteriös bedrohliche Gemäuer.
Die drei fiktiven Leser höchst unterschiedlicher Autoren (auch sie Leser!) repräsentieren typische Rezeptionsweisen; sie beweisen, daß die Gothic Novel Radeliffescher Prägung mehr war als eine kurzlebige Mode, nämlich zeitrichtig: Roses Reisefieber und Catherines Wunsch, eine andere zu sein, verraten ihre Wunschphantasien: Flucht aus ännlicher Beschränkung, Flucht aus der Vernünftigkeit der tradierten Rolle. Die Fluchtorte werden in de Marsays Zitieren eines typischen Motivs erkennbar als, so Weber, »Lust [...] an künstlichen Paradiesen der Angst und des Schmerzes« (20), deren eine Zeit bedarf die sich nicht mehr als vernünftig geordnet begreift. Im Erkennen, Wiedererkennen von Handlungsmustern, Natur- und Architekturtopoi und ihnen zugeordneten Affekten transformiert der Gebildete die Wirklichkeit in Künstlichkeit.
Ann Radcliffes Genre, die Gothic Novel, der Schauerroman, hat seinen datierbaren Prototyp, der bereits das phantastische Handlungs-, Charakter- und Motivraster vorgibt: Horace Walpoles 1764 erschienenen, in einem scheinhistorischen Mittelalter spielenden Roman The Castle of Otranto. Ein derartiges, vom Publikum zudem sofort akzeptiertes Raster, in Einzelteile zerlegbar und neu zusammensetzbar, mußte zu erfolgsträchtiger Schnellproduktion reizen, von der sich Radcliffes Romane unterscheiden.
Ihre plots und Topoi, von ihrem ersten Erfolgsroman The Mysteries of Udolpho (1794) bis zu The Italian, variieren und verfeinern stets dieses eine Genre: die reinen Liebenden, die verfolgte, empfindsame - aber auch zur Hysterie neigende, sich immerzu auf der Flucht befindende Unschuld, die von der Aura des Bösen (Verbergen geheimer Verbrechen) Gezeichneten, die von Standesdünkeln oder Geldgier getriebenen Intriganten und Finsterlinge, die Schrecken (aber auch der Friede) des Klosters oder Schlosses, die düsteren Gewölbe, Zellen und nächtlichen Ruinen, die entarteten Mönche und Äbtissinnen, die blutigen Gewänder, verschleierten Bilder, die halben Andeutungen, die erlauschten irreführenden Gesprächsfetzen, die endliche Vereinigung der Liebenden und die rationale Auflösung des Geheimnisses.
Es seien hier am Beispiel ihrer beiden erfolgreichsten Veröffentlichungen Aspekte wesentlicher Themen ihres Romanmusters herausgegriffen. Das mitleidende Interesse des Lesers wird vor allem auf die Heroine, die liebende, leidende, unschuldige, in ihrer Furcht auch paralysierte Frau gelenkt. Diesem ungeborgenen Subjekt entspricht seine Existenzweise: die Flucht, die Reise, der Aufenthalt an geheimnisvollen finsteren Orten. Die Beschreibung dieser Reisen, die zugleich immer Fluchten sind, und der Landschaften sprengen bei Radcliffe, insbesondere in The Mysteries of Udolpho, fast den Handlungszusammenhang. Das Phantastische, das Fremde wird hier erkennbar als Flucht aus dem rollenfixierten, starren bürgerlichen Gehege, das z.B. auch der englischen, züchtig drinnen waltenden Frau höchstens die Reise nach Bath erlaubte. So typisch weiblich für ihre Zeit das unbekannte, weil nur zurückgezogen private Leben der Radcliffe selbst ist schon Christina Rossetti gibt, weil darüber nichts in Erfahrung zu bringen war, den Plan einer Biographie auf - so typisch ist auch, daß sie die so ausgiebig beschriebenen Landschaften nie kennenlernte, weil sie die jeder Realgeographie spottenden Reisen durch Frankreich oder Italien nie unternommen hat. Die von de Sade bis Balzac bewunderten »Radcliffe-Landschaften und »Genreszenen«, die zu sehen und zu empfinden den reinen Liebenden, insbesondere der unschuldigen Heroine vorbehalten ist und die so virtuos aus der subjektiven Sicht dieser einzig Empfindsamen geschrieben scheinen, erweisen sich als wortgewaltige Replikate von Reisebesehreibungen oder von Bildern der Salvatore Rosa, Gaspar Dughet (auf die sie selbst verweist), Domenicino oder Claude Lorrain.
Der Erfolg solcher sich scheinhistorisch und -geographisch gebender Fluchtliteratur ist erklärlich: Seit dem 18. Jahrhundert war das Bürgertum romanfähiger Stand, der Roman sein Genre. Der aufklärerische englische Roman, auch in seiner empfindsamen Ausprägung durch Richardson, auf Alltäglichkeit verpflichtet, setzte ein normatives Wertesystem voraus. Ihm entsprachen relativ stabile Klassenbeziehungen und die Entfaltung bürgerlichen Selbstverständnisses und -bewußtseins. Beides war bis ins zweite Drittel des 18. Jahrhunderts in England gegeben. Mit der qualitativen Veränderung des Kapitalismus von der Manufakturproduktion zur industriellen radikalisierten sich nicht nur die Klassengegensätze, sondern die Verunsicherung erfaßte auch das sich gerade etablierte, nun von Verarmung bedrohte Kleinbürgertum. Die ideologische Verunsicherung wurde zudem verschärft durch die amerikanischen Unabhängigkeitskriege und die französische Revolution.
Der der Gothic Novel eigene Blick auf ferne, scheinhistorische Zeiten und/oder Länder, die Verengung des Romanpersonals auf den Adel mit seinen festen Ständeregeln, denen die Moral der Agierenden nur selten entspricht, die Flucht in den Schrecken und das Unerklärliche kommen der Bereitschaft der zeitgenössischen Leser entgegen, ihrem Alltag lesend zu entgehen und doch die bürgerlichen Tugenden gewahrt zu wissen. Im Grunde erweisen sich nämlich insbesondere Radcliffes Heroinen, aber auch ihre um deren Zukunft besorgten Mütter und Tanten als bürgerliche Frauen ihrer Zeit. Ohne das (mitlesende) Wissen, daß die bürgerliche Ehe des 18.Jahrhundert keine Arbeits-Gemeinschaft mehr ist, daß sie der Frau allein den häuslichen privaten Bereich zuweist und sie aus dem bezahlten Produktionsprozeß ausschließt, daß außerhalb der bestehenden oder einzuheiratenden Familie die Frau ökonomisch und gesellschaftlich nicht abgesichert ist, entrieten alle Radcliffe-plots ihrer inneren Glaubwürdigkeit, ohne die auch das Phantastische nicht auskommt. Einzig Ellena, der Heroine des Italian, ermöglicht ihr »gewerblicher Kunstfleiß« (116) - sie arbeitet als Stickerin, übt also wieder eine typisch weibliche Tätigkeit aus - Unabhängigkeit und Stolz, so daß sie eine heimliche Einheirat als Schande empfindet. Auch dem Zeitideal der englischen Lady sind Radcliffes verfolgte und durch Leid erhöhte Heroinen näher, als es das fremde Ambiente vermuten läßt. So mutig sie Schrecken und Gefährdung meistern, in vergleichsweise konventionelleren Situationen schwinden ihnen, entsprechend dem Anstand der Zeit, anmutsvoll die Sinne. Emily (Mysteries of Udolpho) flieht stets propper gekleidet, versucht ihre jeweils erzwungenen Behausungen fraulich-freundlich herzurichten. Ellena (The Italian) verwirrt nicht so sehr der Standesdünkel der sie gefangenhaltenden Äbtissin - ihm tritt sie mutig entgegen - als das wenig ladygemäße Benehmen der Nonnen bei Tisch, ihnen ermangelt »durchaus jenes Dekorum [...], das unter seiner Züchtigkeit all die Anmut vereinigt, welche dem Wesen des Weibes zur Zierde gereichen sollte.« (155)
Ann Radcliffes Romane, die in ihrer Art die subtilste Ausfeilung des »gotischen« Genres darstellen, verdanken ihren Erfolg sicher nicht zum wenigsten genau dem, was ihr wohl zu unrecht als imaginative Schwäche ausgelegt wurde: der rationalen Auflösung der Geheimnisse, der säuberlichen Trennung in Intriganten und verfolgte Opfer und dem endlichen happy-end, das, indem es die göttliche Ordnung wiederherstellt, auch die ständische feiert. Ihre Fluchtromane stabilisieren einen bürgerlich christlichen Normenkanon, ohne daß sich dieser im Alltag bewähren müßte.
Allerdings, diese konservativen Aspekte begründen noch nicht den europaweiten Erfolg ihrer Romane bei einem Lesepublikum, das weder sozial noch intellektuell auf »Durchschnittlichkeit« zu stutzen ist, er erklärt sich vielmehr aus ihrer Fähigkeit, »das triviale Genre in den Bereich der Kunst« (641) zu überführen, wie Miller in seinem Nachwort des einzigen derzeit deutsch vorliegenden Romans Der Italiener oder Der Beichtstuhl der schwarzen Büßermönche analysiert. Ihr Romanoeuvre, von The Castles of Athkin and Dundayne bis zum blassen Gaston de Blondeville, ist »der beharrliche und methodische Versuch, [...] ein vorgegebenes Sujet und ein vorgegebenes Genre in ein eigenständiges und makelloses Kunstwerk« (646) zu verwandeln. Radeliffcs Virtuosität erschöpft sich nicht nur in der Entfaltung des immer selben Kanons geheimnisvoller Zeichen und Orte, sondern auch in der immer subtileren Gestaltung der Charaktere, ohne freilich das Gut-Böse-Raster aufzugeben. Indem der edle Mensch - die Heroine, die Liebenden - auch der empfindsame ist, der allein das Natur-Erhabende zu sehen, Furcht zu verspüren vermag, entläßt ihn die letztlich rationale Auflösung durchaus nicht in die Alltäglichkeit einer nur vernünftigen Ordnung. Das was ihn - und den Leser - in letztlich befreienden »terror« (unbestimmte Angst, gepaart mit gespannter Erwartung) und eben nicht wie bei Matthew Gregory Lewis in »horror« (mit Ekel vermischtes Grauen) versetzt, prägt und verändert ihn. Mit der Figur des Mönchs Schedoni, die nicht nur Byron beeinflußt, die Radcliffe, inspiriert und angeekelt von Lewis »schwarzem Horror-Monk« in The Italian, entwirft, erweitert sie zudem den Typ des schurkischen Intriganten zum romantischen, zerrissenen, unversöhnten Charakter. Er ist fähig zur Liebe zu seiner vermeintlichen Tochter, die zu ermorden er angetreten war, die zu erretten er dann, sich selbst gefährdend, alles unternimmt. Aber seine böse Energie ist damit nicht aufgehoben, sondern bleibt konstituierend, sie ist auch nur rational - Verdecken eines früheren Verbrechens - nicht zu erklären.
Bereits 1818, als der Roman Frankenstein, or The Modern Prometheus (Frankenstein oder Der neue Prometheus) von Mary Wollstonceraft Shelley erscheint, ist das Genre der Gothic Novel auf Leihbibliotheksniveau verkommen und seine unversöhnliche, disharmonische, Einflüsse des Sturm und Drang verarbeitende Horror-Variante, deren Prototyp The Monk von Lewis ist - den Shelley kannte - nicht minder. Die Faszination, die die Geheimnisse des Schreckens und Unerklärlichen ausübt, ist nicht mehr neu, aber geblieben. Der Erfolg von Mary Shelleys Romanen, insbesondere ihres zunächst anonym veröffentlichten Frankenstein, erklärt sich aber kaum daraus, daß die Autorin den Sensationserwartungen eines potentiellen Publikums entsprechen wollte.
Allerdings, der plot gerade dieses Romans ist sensationell genug: Der Naturwissenschaftler Viktor Frankenstein erschafft, um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen, einen künstlichen Menschen: »eine ekelhafte Anhäufung aus Fleisch und Bein« (158). Das namenlose, auf sich allein gestellte Ungeheuer versucht vergeblich Anschluß und Liebe bei den Menschen zu finden. Seine Liebe verkehrt sich in Haß, seine fürchterliche Rache gilt seinem »Schöpfer«, bzw. dessen Familie. Schöpfer und Geschöpf Herr und Knecht sind fortan in wechselseitiger Flucht und Verfolgung bis in den Tod aneinander gekettet: »Du bist mein Schöpfer, doch ich bin dein Herr« (181). Der phantastisch-schreckliche Vorgang selbst ist aber nicht Shelleys eigentliches Thema, obwohl es phantastisch genug ist, daß eine junge Frau die Schöpferin dieses langlebigsten aller Monster ist. Stattdessen geht es ihr, jenseits aller phantastischen Konstruktion, um menschliche Beziehungen. Nicht zufällig steht am Anfang des Frankenstein die Klage der Rahmenfigur, des Polarforschers Walton: »Mir gebricht's an einem Freunde« (13). Auch er ist ein potentieller Frankenstein, der venneint, ihm stehe es zu, »Großes zu vollbringen« (11). Am Schluß ihres utopischen Romans The Last Man begibt sich Verney, eben jener letzte Mensch, auf die verzweifelte Suche nach einem Mitmenschen, um der ihm »unerträglichen Monotonie der Gegenwart« (335) zu entfliehen. In diesem Roman ist am Ende des 21. Jahrhunderts durch Kriege und eine Naturkatastrophe, die Pest, die Menschheit ausgerottet, die, völlig untypisch für eine utopische Fiktion, offen das plane Spiegelbild der englischen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts ist.
Isolation und Gemeinschaft, Idylle und Katastrophe, das Schöne und Gräßliche, das Edle und Gemeine, Harmonie und Disharmonie, dies bleiben bestimmende Antinomien, die, schärfer kontrastiert als in der glatteren Darstellung in The Last Man, bereits ihren ersten und erfolgreichsten Roman charakterisieren. Entsteht das Phantastische durch (auktoriales) Zerreissen von Zusammenhängen oder ist der nicht erstellbare Zusammenhang Bedingung des Phantastischen? Anders gefragt: Was charakterisiert das Phantastische dieser Romane? Das namenlose Science-fiction-Geschöpf oder sein Schöpfer? Die Vision einer Welt, in der die Menschen »toter Staub inmitten einer gesunden, blühenden Natur« (268) sind, oder das Porträt eben dieser ausgestorbenen Rasse, die sich ganz im Stil der Tories und Whigs ihrer Zeit noch fragt, »ob England wirklich seine feudalen Relikte abschaffen [konnte], um sich mit dem demokratischen Stil Amerikas zu begnügen? Konnte man den Stolz auf seine Herkunft, den patriarchalischen Geist [...] wirklich ausradieren?« (132) Es ist kaum anzunehmen, daß die Tochter derart gesellschaftlich und literarisch engagierter Eltern, der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft und des anarchistisch-atheistischen William Godwin, die zudem ihr eigenes Leben kaum den Konventionen ihrer Zeit gemäß einrichtete, sich keine andere als die bestehende Gesellschaftsordnung hätte vorstellen können. Nein, mit Verney, dem letzten Mann, der »seine« Geschichte erzählt, schließt sich der Kreis zum ersten selbstmitleidstarken Selbstdarsteller Frankenstein, dieser »Junggesellenmaschine« (Marcel Duchamps), die ein sozialisierungsunfähiges Monster zeugt. (Der Topos des besessenen Wissenschaftlers als Junggeselle, als »Kopfgebärer« - so auch in Thea von Harbous/Fritz Langs Metropolis - gehört noch immer zum Sience-fiction-Inventar.) Unter empfindsamer Verkleidung verbirgt sich eine patriarchalische Gesellschaft, deren wechselseitigen Beziehungen Warencharakter eignet. Es ist kein Zufall, daß Shelley im Frankenstein beispielsweise vorwiegend die Perspektive von drei männlichen Erzählern wählt. Der Arktisforscher Walton berichtet in Briefen seiner Schwester zunächst von sich, dann teilt er ihr die Selbstbiografie Frankensteins mit. Er ist dessen letzter Freund und wirklicher Schüler: Er lernt aufzugeben und fährt am Schluß »heimwärts«. Diese Figur ermöglicht also Frankenstein seinen Bericht, der, im wesentlichen chronologisch, in seinen Gewichtungen, Auslassungen, Raffungen und Bewertungen den Leser in dessen subjektive Perspektive reißt. Diese stimmige eigenparteiliche Perspektive irritieren die zum indirekten Kommentar werdenden beiden Monologe des Opfers, des namenlosen Ungeheuers. Nur vordergründig bildet das auch dem Trivialen eigene Schwarzweiß-Raster gut und böse, ihm zugeordnet die glückliche Familie/die Liebenden und die im Leid zerbrechende Familie, die liebliche und düster-heroische Landschaft Sonne, Frühling, Sommer und Sturm, Gewitter, Kälte, Nebel, Topoi, die Shelley mit großer erzählerischer Frische gestaltet - das Grundmuster des Romans. Wesentlicher ist, daß die Figuren, nur notdürftig sentimental verbrämt, eine rollenfixierte Gesellschaft spiegeln, die durch egoistische Einzelinteressen geprägt ist. Besonders die als Ideal geschilderte Gemeinschaft: die Familie, Hort des Friedens und der Harmonie, wird sichtbar als zerbrechliche, der Außenwelt nicht standhaltende, sich vor ihr absondernde Idylle, als Konstrukt. Frankensteins Vater gönnt sich »seine« Familie erst als Altersrefugium. Seine wesentlich jüngere Frau ist die aus Not gerettete Tochter eines Freundes. Dieser anerotischen, aus Dankbarkeit und Altersabgeklärtheit erwachsenen Liebe der Eltern, die sich ihres wechselseitigen Besitzes sicher sind, entspricht das Verhältnis zu ihrem ältesten Sohn Viktor, der »seiner Eltern Spielpuppe« (29) ist. Diese Beziehung wiederholt sich in der Viktors zu seinem »Eigentum«, seiner Pflegeschwester und späteren Frau Elisabeth, die seine Mutter ihm einst als »hübsches Geschenk für meinen kleinen Viktor« (32) übereignet hat. Die Familie als Konstrukt, als von der liebenden Frau zu bewahrendes Fluchtidyll des nach außen drängenden und nur in der Isolation Selbstverwirklichung findenden Mannes, bestimmt die willkürlich auswählende Beschreibung der Familie durch Frankenstein, der schon seine Brüder kaum wahrnimmt. Sie ist als Idylle, als Inselexistenz auch dadurch gekennzeichnet, daß sie als schroffer Gegensatz zur feindlichen, bösen oder schlicht mediokren Umwelt dargestellt wird. Nur einmal gerät in den Blick, daß die Innensicht der Idylle der Außensicht nicht standzuhalten vermag: Wilhelm, Frankensteins Bruder und das erste Mordopfer des Monsters, ist nur im Familienzusammenhang ein »lächelndes Kind in all seiner Unschuld und Fröhlichkeit« (84), außerhalb ist er trotz seines »Angstgeheuls« verblüffend standes- und privilegienbewußt: »Mein Papa ist Ratsherr [...], er wird dich ins Gefängnis werfen« (153). Ähnlich abgeschnitten, ausgeschnitten - gesehen durch einen »schmalen, nahezu unmerklichen Riß« (114) - zeigt sich uns das zweite Familienidyll, die Familie de Lacey, von der das Monster, zur schönen Seele ästhetisch durch Miltons Paradise Lost und Goethes Werther gebildet, Liebe, Gemeinschaft erhofft. Angesichts des Häßlichen, das eben zunächst nicht das Böse ist, zerbricht das fragile Idyll. Die Familie flieht vor dem Monster in herzlosem Schrecken. In dieser Mikrosozietät Familie mit ihren emotionalen und rollenspezifischen Bindungen ist Gesellschaft als repräsentativer kleinster Ausschnitt zugleich enthalten und verweigert. Die scheinbaren Ausblicke aus dem Familiengehege erweisen sich als dramaturgische Krücken. So scheint, entsprechend ihrem ich-zentrierten Studenten, die eigenartige Ingolstädter Universität nur aus zwei auf Frankenstein wartenden Professoren zu bestehen. Elisabeths Hinweis auf die standesnivellierenden »republikanischen Einrichtungen« (65) der Schweiz dienen allein als Motiv, das zweite (indirekte) Mordopfer, Justine Moritz, einzuführen. Daß Armut verweigertes Menschsein bedeutet, gerät nur einmal in den Blick. Frankenstein wählt als zweite Experimentierstätte, um die Monsterbraut zu basteln, die Hütte völlig verarmter Inselbewohner, weil er sonst »wohl einiges Aufsehen erregt [hätte], wären die Inselbewohner nicht durch Mangel und bitterste Armut gegen alles, was in ihrer Umgebung vorging, gleichgültig gewesen.« (177)
Während verweigerte Gemeinschaft das Monster erst zum Monster macht, verweigert sich der Mann selbstherrlich genau dieser Gemeinschaft, der er sich - samt liebendem Weib erst nach getaner Arbeit und Selbstverwirklichung zuwendet. Frankenstein als »neuer Prometheus« will eine Menschheit mit seinen »Geschöpfen« beglücken. Über beide reflektiert er jedoch herzlich wenig. Ungefähr 2,50 m mißt sein mit »zunehmender Besessenheit« (54) zusammengeklaubtes Werk, weil die menschliche Normgröße wegen der »Winzigkeit der einzelnen Bestandteile« ein »beträchtliches Hindernis« (52) gebildet hätte. Als Modell dient ihm das an der Natur nie überprüfte Ideal des Kunstschönen. Erst nachdem er aus Tod und Verwesung neues Leben geschaffen hat, vermag er die selbstverschuldete Häßlichkeit seines »Geschöpfes« zu erkennen, von dem er sich sofort entsetzt abwendet. Er verdrängt seine »Erfindung« durch Flucht in Vergessen, die Scheinidylle der Freundschaft, die liebliche Natur, die plötzlich erinnerte Familie. Dieser Science-fiction-Prometheus, den Shelley mit unterhaltendem, nie trivialem Format ausstattet, ist durchaus anders als seine idealen schöpferischen Verwandten und deren erweckungsbedürftige Menschheit: der Sturm-und-Drang-Prometheus Goethes oder die Prometheus-Gestalten P. B. Shelleys oder Byrons. Dieser Frankenstein-Prometheus erweist sich, sentimentalisch verbrämt, als der denkbar schlechteste, weil nie mit- sondern nur selbstleidende »Vater« seines Geschöpfes. Es mag sein, daß Mary Shelleys frühe Schwangerschaften - sie war zunächst die Geliebte, dann die Frau Shelleys - und der rasche Tod der Kinder, dies verweigerte Leben also, und die neuerliche Schwangerschaft während der Niederschrift des Romans den Aspekt, daß Frankenstein ein sich verweigernder Vater ist, mit beeinflußen.
Daß das namenlose Geschöpf Frankensteins im Verlauf seiner breiten, von Adaptionen, Bearbeitungen, Fortsetzungen begleiteten Rezeption den Namen seines Schöpfers erhielt, ist sicher nicht zufällig. Des Monsters Haß ist das andere Gesicht der Gemeinschaft erst stiftenden Liebe. Seinen Widersprüchen gemäß, flieht der künstliche Mensch ins Eis, um sich dort zu verbrennen, er flieht den »natürlichen« Menschen, weil dieser das von ihm propagierte Ideal schöner Humanität nicht zu leben imstande ist.
Phantastische Literatur - Radcliffe und Shelley sind hier typische Beispiele - ist oft auch »Reiseliteratur« in ferne Länder, Zeiten oder, wie bei E. T. A. Hoffmann, ins bei Dresden gelegene Atlantis. Dennoch erleidet die englische Lady alle Schrecknisse, zerbricht ein Familienideal zwischen Alpen und Arktis, dessen Zeittyp datierbar ist, nämlich auf seine Entstehenszeit. Aber wer vermutet schon das Phantastische, beunruhigend Nichterklärliche so um die Ecke, im nächsten Bauernhaus etwa, und sei es ein englisches um 1800?
1847 erscheint der Roman Wuthering Heigths (Die Sturmhöhe) von Emily Bronté, ein Roman, dessen Handlung äußerlich kaum Phantastisches vermuten läßt. Die Handlung ist exakt datierbar (Winter 1801 und September 1802) und lokalisierbar (zwei vier Meilen und Weiten entfernte Höfe im Moor), der Rahmen ist konventionell: Dem erkrankten Pächter von Thrushcross Grange, einem der Höfe, vertreibt die Haushälterin Ellen Dean erzählend die Zeit. Ihr Bericht ist aber alles andere als gemütlich. Sie erzählt die eine Generation zurückliegende und bis in die unmittelbare Gegenwart greifende Geschichte und Anatomie zweier von düsteren Stimmungen, Leidenschaften, Haß und Rache und letztlich von Liebe aufgezehrten Familien. Mit Wuthering Heights erscheint ein Roman, der seiner viktorianischen oder zeitgeschichtlichen europäischen Gegenwart quersteht, der in seiner erratischen Eigenwüchsigkeit die Erzähl- und Romanraster realistisch oder phantastisch, Familienchronik, Gespenstergeschichte, Bildungsroman usw. sprengt und doch alles das auch ist. Dies ist ein Roman, dessen Geschichte aus so ver-rückter Perspektive erzählt wird, daß der Leser mit seiner Wertung auf sich selbst zurückverwiesen wird, da er auf die Sicht der Autorin und deren Wertung, wenn überhaupt, dann nur vorsichtig schließen kann.
Eröffnet wird der Roman mit der kaum ein Zehntel ausmachenden Rahmenperspektive des Städters und nunmehrigen Pächters Lockwood. Dieser besucht dreimal, eben 1801 und 1802, den Nachbarhof »Wuthering Heigths«, »ein echtes Paradies für Menschenfeinde« (7), und lernt dort zunächst seinen Pachtherrn Heathcliff, dessen Schwiegertochter Catherine und den Neffen Hareton kennen. Letztere zeigen sich ihm beim dritten Besuch nach Heathcliffs Tod als Liebende und Lernende. Der Selbsttäuschung Lockwoods (Täuschung, Selbsttäuschung und Verkennen sind strukturbestimmende Merkmale des Romans), der glaubt, Stadt- und Zivilisationsekel habe ihn in die Einsamkeit getrieben und trotzdem sofort Anschluß bei seinen Nachbarn sucht, entspricht die »common-sense-Perspektive«. Seine konventionellen Konversationsversuche mit dieser archaischen, mit sich selbst beschäftigten »Familie« sind so lächerlich unangemessen wie seine spontane Charakteristik Heatheliffs als eines »famosen Burschen« (7), weil dieser seinem Klischee vom Misanthropen in ländlicher Einsamkeit zu entsprechen scheint. Es wird erkennbar, daß diese Perspektive falsch ist, als Lockwood konfrontiert wird mit den von kindlicher Leidenschaft, Haß und Anklage erfüllten Tagebuchaufzeichnungen einer anderen Catherine, die ihm dann nachts erscheint. Deren wild-emotionale Perspektive verstört Lockwood so, daß er - und der Leser zwischen Alptraum und »realem« Geist nicht unterscheiden kann. Diesem vorweggenommenen, ausschnitthaften (der Ausschnitt, das aus dem Zusammenhang gerissene Detail ist ein weiteres strukturelles Merkmal), sich zum Alptraum verdichtenden Rückblick auf eine zerstörte, archaische Kindheit (die Catherines und Heathcliffs) folgt der weitgehend chronologische, aber Episoden auswählende Bericht Ellen Deans. Auch deren scheindistanzierte, zugleich betroffene, auch ins Geschehen eingreifende Perspektive bleibt als subjektive - und eben nicht auktonale - erkennbar.
Der Eindruck höchster Emotionalität gründet nicht allein in den Charakteren der zentralen Figuren Heatheliff und Catherine und ihrer gegenseitigen, sie ganz bestimmenden und zerstörenden Leidenschaft. Diesen Eindruck erzielt auch der »filmisch-dramatische« Erzählduktus, der die lineare, weitgehend chronologische Handlung in die Eigendynamik von Einzelbildern und Ausschnitten auflöst. Diese Erzählhaltung überdeckt und konterkariert die höchst experimentelle, analytische Struktur des Romans, ein Moment, das begründet sein mag in der isolierten Lebens- und Schreibsituation von Emiliy Bronté in der Einsamkeit des Yorkshirer Pfarrhauses von Haworth. Erzählt wird das Schicksal einander symmetrisch zugeordneter Personen. Analoge Konstellationen und ihnen zugewiesene erwartete Wirkungen werden synthetisch wiederhergestellt. Aber ihre Wiederholbarkeit erweist sich als Täuschung.
Die Ausgangsbedingungen der drei Earnshaw-Kinder, der leiblichen Hindley und Catherine und des angenommenen Findlings Heatheliff, sind, obwohl Heatheliff von vornherein nicht nur äußerlich »dunkel« ist, zunächst gleich. Doch diese gleichen Möglichkeiten, sich zu entwickeln, ändern sich abrupt mit dem Tod der Eltern, für Heathcliff bereits mit dem Tod des Vaters. Hindley nimmt nun rigoros die Rechte des Hausherrn wahr, ein Verhalten, das in unkontrollierte Brutalität umschlägt, als seine Frau, die ihm bislang Halt gab, bei der Geburt seines Sohns stirbt. Hindley, der durch seine Trunksucht allmählich verroht, drückt Catherine und Heathcliff in einen vorzivilisierten Urzustand, in das Dunkel und die Wildheit ihrer Leidenschaften, den verhaßten Findling, der ihm die Liebe seines Vaters »absaugte«, obendrein in die Knechtsexistenz. Heatheliffs Versuche, mit der rudimentären Weiterbildung Catherines mitzuhalten, scheitern. Aber auch die emotionale Gleichheit dieser beiden scheint durch die Schere gegensätzlicher Entwicklungen aufgehoben. Die Zurückentwicklung Heatheliffs zum geknechteten Nicht-Menschen steht im Kontrast zum Zivilisationsschub Catherines durch die benachbarten Lintons, zu deren Herrenhaus »Thrushcross Grange« es die beiden bei einem heimlichen Ausflug verschlagen hat. Diese verweisen den verwilderten »Knecht« aus dem Haus, dessen Besitz er sich später erzwingen wird, nehmen aber das »Herrenkind« auf und domestizieren es. Der danach erkennbare Standesunterschied veranlaßt Heathcliff, getäuscht durch die von ihm erlauschte nur halbe Wahrheit Catherines, zur Flucht. Zurückgekehrt - Catherine ist mittlerweile mit Edgar Linton verheiratet - ist auch Heathcliff zu zivilisatotischen Fertigkeiten und Geld, nicht aber zu Charakterbildung gekommen. Er lebt nur noch seiner zu Dämonie, fast Vampirismus verfinsterten Leidenschaft zu Catherine. Diese zerbricht daran, daß sie die Widersprüche zwischen ihrer archaischen Emotion und der Sicherheit stiftenden Konvention - ihre Ehe - nicht zu lösen vermag. Heathcliffs systematisch geplante und durchgeführte Rache gilt nur vordergründig dem mit krimineller Energie angeeigneten Besitz der Familien. Sie gilt letztlich den Menschen, Hindley und den Lintons, ersatzweise deren Kindern Hareton und Catherine. Letztere ist das sanftere, nicht von deren Selbstsucht und Egoismus getriebene Abbild ihrer Mutter. Er zwingt sie in eine Mitleidsehe mit seinem Sohn, der kränkelnden Karikatur des Vaters. Das an Hindley und Sohn Hareton vorgeführte Racheexperiment: deren Zurückentwicklung auf eine knechtische, primitiv dumpfe Existenz, entspricht spiegelverkehrt seiner »Entwicklung« als Jugendlicher. Dieses böse Experiment scheitert auf der psychologisch erklärbaren Ebene an der Liebe Catherines und Haretons, die einander als Lehrende und Lernende zu Menschen entwickeln. Es scheitert aber auch auf der jede Erklärbarkeit sprengenden Ebene des Magischen. Ihr entsprechen auch strukturbestimmend - die Märchenmotive, die im Volkswissen lebendigen Zauber-, Beschwörungs- und Bannungszeichen oder die magische Existenz der sinnverwirrten, zwischen Liebe und Treue zerriebenen kranken Catherine. Die tote Geliebte, die in Heathcliff weiterlebt, bannt seine Racheenergie und sucht ihn als Vision »heim«.
Auch in diesem magisch-phantastischen, rational nicht aufzuschlüsselnden Bereich, in dem eine Mensch und Natur, Tod und Leben verschränkende pantheistische Religiösität aufscheint, kommt die Botschaft des Romans nicht zu sich selbst. Er hat nämlich auch eine erstaunlich realitätsverpflichtete Dimension. Seit Saugers Aufsatz The Structures of »Wuthering Heights« von 1926 wird dem Roman ein Stammbaum der fiktiven Familien beigefügt. Saugers Durchrechnen des Romans, seine Vergleiche der Besitzaneignungen Heathcliffs mit dem Erbrecht der Zeit, weisen nicht nur für diesen Bereich das hohe Maß an Realitätsnähe nach. Seine Daten machen auch einsichtig, daß sich jenseits aller dichterischer »Versuchsanordnung« die Figuren jeweils adoleszensgemäß verhalten, daß diese Kinder und Jugendlichen keine vorweggenommenen Erwachsenen sind.
Die differenzierte Vielschichtigkeit dieses Romans, sein experimenteller Charakter, die fehlende Einbindung der Figuren in religiöse, ethisch-moralische, ja zivilisatorische Konventionen irritierte nicht nur die Zeitgenossen. Noch 1936 läßt Irene Cooper Willis die Frage offen, die schon die Zeitgenossen stellten, ob nicht doch der Bronté-Bruder Branwell der Verfasser sei. Willis referiert diese zeitgenössischen Urteile, denen zufolge nur ein »ferocios male« (174) den Roman geschrieben haben könne, weil ihn eine »unmistacable masculinity« (175) präge. Die in diesen Urteilen in Abrede gestellte Weiblichkeit der Imaginationskraft Emily Brontés verengt das Weibliche auf rollenspezifische Normen. Mit dem unausgesprochenen eigentlichen Postulat, daß der Frau ein eingeborener, sozusagen domestizierter Blick eigen sein müsse, brauchen wir uns wohl nicht ernsthaft auseinanderzusetzen.
Wenn das Ersinnen einer Figur wie Heathcliff als unweiblich gewertet wird, dann übersieht diese Kritik die motivische Tradition der Figur: ihre Verwurzelung in der Schauerromantik. Schon Radcliffes Schedoni ist, jenseits seiner genre-gemäßen Verkleidung, ein Zerrissener, eingeboren böse und doch fähig zur Liebe. Zugespitzt zum dunklen (!) Findling, als dem in seinem Ursprung Unbekannten, variiert diesen Typ z. B. Kleist bereits 1811 in seinem Nicolo, der im übrigen auch, eine eigentümliche Parallele, subjektiv unrechtmäßig, objektiv in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen, seine Familie ökonomisch und sozial »aussaugt«. Brontés Imaginationskraft liegt weniger in der Erfindung einer Figur, als in deren Ausstattung mit scheinbarer Realitätshaftigkeit. Die eigentliche Irritation der Figur gründet vor allem aber in ihrer rollensprengenden Verdoppelung. »Ich bin Heathcliff«, sagt die nur an der Oberfläche sozialisierte Catherine. »Ich habe ihn immer, immer im Sinn [...] als mein eigenes Selbst.« (90)
Derart bornierte Vorstellung von weiblicher bzw. unweiblicher Imagination entlarvt eine verstörte Prüderie, die typisch ist für das die realen Widersprüche verbrämende viktorianische England, sie entlarvt sich als Rückschritt, der die zwei Generationen frühere »unmännliche« Phantasie eines Friedrich Schlegel in Lucinde (1799) retrospektiv zu Pornografie degradiert. Für Schlegel ist die die Rollen vertauschende Liebe »eine wunderbare, sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit.« (13)
Diesen Stolperweg zur »vollen ganzen Menschheit« beschreibt Virginia Woolf wiederum zwei Generationen später mit ihrem/ihrer Orlando, dessen/deren 36jähriges Leben, 1928 in der Gegenwart angekommen, gut 360 Jahre Geschichte umgreift, ein Roman, der mit ironischer Verve die Genres Biographie, Geschichts- und Abenteuerroman und ihre immanenten Männer- und Frauenbilder parodiert. Orlando, für den/die die plötzliche Geschlechtsverwandlung nicht zu einem Identitätsproblem führt, sondern der für ihn/sie zunächst spielerischer Rollenwechsel ist, erlebt ihre Frauenrolle als Zwang (z.B. zur Ehe) erst im viktorianischen England. Rolle wird hier zum Identitätsverlust, zum Zwang zur abgeschnittenen, nur weiblichen Identität. »Frauen«, zitiert Woolf damalige (männliche) Vorurteile sarkastisch, »sind bloß Kinder, [...] ein verständiger Mann tändelt ihnen nur, spielt mit ihnen, hält sie bei Laune und schmeichelt ihnen« (151). Dieses kindische Geschlecht hat folglich »einander nichts zu sagen [...]. Wenn sie miteinander allein sind, reden sie nicht, sondern kratzen«, weil sie »füreinander nur die größte Abneigung haben« (156).
Der »fremde Blick« ermöglicht eine verschärfte Sicht auf die Widersprüche der existierenden Gesellschaft. Das dem Märchen, dem Phantastischen, der Science-fiction, der Utopie eigene Motive des Rollentausches, der Verwandlung in einen anderen Zustand, setzt in seiner besonderen Variante als Geschlechtertausch präzise die Defizite einer Gesellschaft frei, die z.B. heute die Gleichberechtigung theoretisch bewältigt hat. Der zur Frau gewordene Mann in Günter de Bruyns Geschlechtertausch erfährt seine neue Rolle als Gewinn von Wärme und Verlust von Macht. Seinem Wunsch, in die Urrolle zurückzukehren, widersetzt sich die einstige Frau, die ihre neuen Privilegien genießt. Das der Wissenschaft zuliebe in einen Versuchsmann verwandelte weibliche Ich in Christa Wolfs Selbsversuch erlebt die Veränderung ihrer/seiner emotionalen Identität als »Defekt«. Die nur funktionstüchtige Gesellschaft ist eine ohne Liebe: »jetzt steht uns mein Experiment bevor: Der Versuch, zu lieben. Der übrigens auch zu phantastischen Erfindungen führt: Zur Erfindung dessen, den man lieben kann« (247). Das Motiv »Geschlechtertausch« schließt ein, daß das Subjekt stets die Widerspruche, eigene und anderer Verhaltensänderungen als Praxis erlebt, deshalb ist es typisch, daß das phantastisch transformierte Subjekt innerhalb seiner spezifischen rollengeprägten Gesellschaft porträtiert wird.
Anders strukturiert begegnet uns das fiktionale Konstrukt »fremder Blick« in den Orts- und Zeitutopien. Ein von seiner jeweiligen Gesellschaft (oder den Ideologien seiner Zeit) geprägtes Subjekt entdeckt einen im Nirgendwo und Nirgendwann realisierten Idealstaat. Es ist das bis weit ins 19. Jahrhundert ermüdend wiederholte ästhetische Mittel, eine stets überschaubare, ideal funktionierende Sozietät in ihrer Totalität beschreibbar zu machen. Bei aller entwicklungsgeschichtlich und ideologisch bedingten Unterschiedlichkeit der Staatsutopien eint sie in der Regel folgende Merkmale: Da wohl ein Verstehen gesellschaftlicher Mechanismen von einer Frau nicht angenommen werden konnte, verschlägt's immer als Beobachter einen Mann in die Ferne. Die ideale Gesellschaft ist zwar meist vergleichsweise gleichberechtigter aufgebaut, wird aber nie von einer Frau geleitet. Herrschaft ist eben als Frauschaft nicht zu denken! Den Staatsutopien ist der didaktische Impuls eigen, das Interesse auf die noch falsche, also reformierbare Gegenwart zu lenken. Obwohl Frauen gesellschaftliche Veränderungen am sichersten zu fordern gehabt hätten, sind sie als Erfinderinnen gerechterer Gesellschaftsmodelle bis ins 20. Jahrhundert die höchst seltene Ausnahme. Der verweigerten Teilhabe entspricht wohl die Weigerung, in Ordnungsmodellen zu phantasieren. Es ist ja bezeichnend genug, daß der Amazonenstaat der einzige jahrhundertelang literarisch rezipierte Frauenstaat ist, ein Staat, den die Rezipienten zumeist geprägt sehen von der männlichen Naturtugend, dem Kampf, dem Krieg, der also nur funktionieren kann aufgrund weiblicher Denaturierung.

Erst 1915 erscheint mit dem Roman Herland von Charlotte Perkins Gilman eine feministische Utopie. Zu diesem Zeitpunkt ist zwar das Problembewußtsein für die Rolle der Frau in der Gesellschaft gewachsen, aber es ist auch in Amerika eine Zeit extrem verschärfter, nicht mehr aus dem Bewußtsein zu drängender gesellschaftlicher Widersprüche. Der Komplexität dieser Widersprüche das Gegenbild einer befriedeten Insel der Seligen entgegen zu stellen, signalisiert eher eine Flucht aus der Realgesellschaft als die Hoffnung auf deren Reform. Dieser Roman, sie schreibt insgesamt drei utopische, stellt sicher auch eine späte feministische Reflexion auf Edward Bellamy dar (der wie sie für die Zeitschrift The American Fabian arbeitete) und auf dessen utopisch-sozialistische Bewegung, deren Intention er 1888 in seinem Roman Looking Backward - 2000-1887 beschreibt. Er entwirft dort ein sozialistisch und militärisch strukturiertes Gesellschaftsmodell.
Die literarische Tradition variierend, erkunden in Herland drei entdekkungslustige junge Amerikaner ein sich durch Parthenogenese fortpflanzendes, sich seit sechstausend Jahren zur idealen Schwester- und Mütterlichkeit reformierendes Frauenland. Diesen Männern entsprechen drei männliche Reaktionsweisen: die des sensiblen, realistischen Ich-Erzählers, die des »Softy« und die des zuletzt des Frauenlandes verwiesenen »Macho«. Ihre schlichtesten Vorurteile: »Das ist ein zivilisiertes Land! Da müssen Männer sein« (24), ihre Vorstellungen von klösterlicher Zucht, weil sonst Streit und Chaos herrschen müsse, oder von Kampfweibern bestätigen sich nicht. Stattdessen begegnen sie Frauen, die ein Leben gegen Kampf und Gewalt leben, die liebende und wissende Friedenspädagoginnen und Mütter sind, die zukunftsgewandt ständig bedacht sind, zu lernen, zu verbessern - kein Gesetz ist älter als zwanzig Jahre; die Liebe zu den Müttern erweist sich in der Erziehung der Töchter, »die sich über uns hinausentwickeln müssen« (148). Dem Wir-Gefühl, in dem sich das Ich geborgen, verstanden und geliebt weiß, entspricht die ökonomische, soziale und bedingt auch an Ökologie orientierte Struktur des Landes. Herland-Frauen kennen weder Dienerinnen noch Anführerinnen, sondern nur gewählte Führerinnen. Das Land ist sozialisiert ebenso die bedarfsangepaßte Produktion und Distribution. Die Trennung von Privat und Öffentlich ist weitgehend aufgehoben, weil eine substantielle Entfremdung von Individuum und Gruppe im Frauenland unbekannt ist. In Herland ist die Arbeit spezialisiert, aber nicht entfremdet, nicht nur weil der Beruf den Neigungen und Fähigkeiten entspricht, sondern weil sich in jedem Teil die Struktur des Ganzen widerspiegelt. Diese im höchsten Maß zur Schwesterlichkeit, Mütterlichkeit und Vernunft begabten Frauen überlassen gegebenenfalls sogar die Erziehung ihrer Kinder eigens dazu Ausgebildeten. »Bei uns ist die Kindererziehung eine Kultur und Wissenschaft geworden« (114), eine Wissenschaft, die wir uns als konsequente Fortentwicklung der Montessori-Pädagogik, auf die verwiesen wird, vorstellen müssen: eine unserer heutigen Friedenspädagogik bereits erstaunlich ähnliche Erziehung mit Sport- und Lernspielen, die keinen Zwang, keinen Wettkampf, weder Sieger noch Besiegte kennt.
Perkins Gilman stellt uns die schwesterlichen Prinzipien, nach denen diese Frauen leben, vor; sie beschreibt nicht detailliert, wie sie exakt umgesetzt werden. Ausgespart bleibt auch, wie die agrarische Gesellschaft funktioniert. Anhand des männlichen Antipoden Terry, der auch in »Muttchenland« weiß, was Weiber wollen: beherrscht werden, Lustobjekt und Heimchen am Herd sein, wird deutlich, daß die Frauengesellschaft nur eine sozialistische sein kann. Terry liebt den Kampf, den Wettbewerb, den Erfolg des Stärkeren, er kann sich also weder biologisch noch ökonomisch ein Leben außerhalb von Ausbeutungsverhältnissen vorstellen, er verkörpert als kapitalistischer Macho barbarische »Natur« - und gerade keine Kulturgesetze.
Es ist typisch für Utopien, daß es Widersprüche, »Systemfehler« also, so gut wie nicht gibt. Auch in Herland, in dem Sexualität zur großen Schwesterlichkeit und später in der Ehe zwischen dem Ich-Erzähler und Ellador zur großen Menschlichkeit verinnerlicht ist, gibt es keine individuationsbedingten Außenseiter. Die letzte Kriminelle z. B. ist vor sechshundert Jahren ausgestorben. Herland kennt weder seelische noch körperliche Krankheiten. Eines aber ist Herland auch nicht: antirassistisch. Gerade diese Erweiterung hätte doch die amerikanische Wirklichkeit und die phantastische Konstruktion der Parthenogenese provozieren müssen. Das nimmt dieser feministischen Utopie die »tagträumende« (Bloch)Antizipation vom schwesterlichen zum menschlichen Leben. Ihr Land ist weiß und sauber.
Staatsutopien, und da ist Herland keine Ausnahme, setzen häufig autoritäre Phantasien voraus und frei, deren anderes Gesicht die Fratze totaler Normierung ist. Seit den 20er und 30er Jahren verkehren sich derartige Gesellschaftsmodelle obendrein zu utopistischen: Das sozialistische Nirgendwo hat seit 1917 seinen von der Theorie zur Praxis zwingenden Ort: die Sowejetunion. Im Kontext des sich perfektionierenden Monopolkapitalismus verkommt die Vision einer ökonomisch befriedeten Gruppe zum verlogenen Idyll. Die Wirklichkeit produziert ihre zeitgemäßen Warnutopien. Der Wissenschaftsanspruch egalitärer sozialistischer Praxis, für die er selbst kämpfte, provoziert schon 1920 Samjatin in My (Wir) zu einer Horrorvision vom »mathematisch fehlerfreien Glück« (5). Die entfremdete Fließband-Arbeitswelt von den Schlachthöfen Chicagos zu Fords Detroit trägt Huxleys Arbeitsordnungsstaat mit gentechnisch befriedeten menschlichen Arbeitsmaschinen (Brave New World, 1932) nicht erst im »7. Jahrhundert nach Ford« in sich.
Der Staat als Selbstzweck, als terroristische Ordnungs- und Todesmaschine, in dem der einzelne nicht nur nichts ist, sondern auch, den Parolen zum Trotz, die Gemeinschaft nicht alles sein kann, weil sie nichts als Propagandakonstrukt ist, dieses Modell brauchte nicht erfunden zu werden, es war seit 1933 gelebter deutscher Faschismus. Einen derartigen Staat beschreibt Karin Boye 1940 in Kallocain. Die scheinbare Warnutopie »aus dem 21. Jahrhundert« ist die phantastisch verdichtete Wirklichkeit selbst.
Ausgelöst durch Peter Weiss' bewegendes, verstörendes Porträt der schwedischen Dichterin und durch seinen Verweis auf Kallocain in der Ästhetik des Widerstands, wird Boyes Roman hierzulande spät wiederentideckt. Sein Erscheinen im »Orwelljahr« und Boyes Etikettierung als »Orwells große Schwester« lenkt kurzsichtig das Interesse auf die menschenverachtenden Macht- und Kontrollmechanismen eines totalitären »Weltstaates«, der vom feindlichen »Universalstaat« nicht unterscheidbar ist. Beider Ideologie besteht in nichts anderem als purer Herrschaftssicherung durch Knechtschaft der »Mitsoldaten«, d.h. permanenter Kontrolle, täglicher, lebenslanger Reglementierung, dem rein dienstlichen Informationsrapport an »meinen Chef« in »Achtungsstellung«, Militär- und Staatsfeierdienst, zum knappen, von »Polizeiauge« und »Polizeiohr« und zur Denunziation verpflichteten Dienstmädchen, kontrolliertem Familienleben und dem den Nachwuchs sichernden Beischlaf von der durch Kriegsspielzeug verseuchten Kleinkindererziehung und paramilitärischen vorschulischen und schulischen Ausbildung bis zur Zwangsumsiedlung in Arbeitsstädte.
Boyes plot ist einfach: der Chemiker Leo Kall, Gefangener des Universalstaates, führt eine Existenz, die sich kaum von der in seiner weltstaatlichen »Chemiestadt Nr. 4« unterscheidet; heimlich beschreibt er seine letzte Tätigkeit für den Weltstaat: die experimentelle Erprobung an »Menschenmaterial« und den dann gezielten überwachungsstaatlichen Einsatz - die totale Gesinnungskontrolle - des von ihm erfundenen Wahrheitsserums Kallocain. Leo Kall, der sich selbst zum konzisen »autoritären Charakter« (Adorno) zwingt, erweist sich als sein eigenes Experiment. Er ist derjenige, der die an die Oberfläche gezerrten Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, diffusen Hoffnungen der »anderen« als seine eigenen nicht erkennen will und zu verdrängen sucht. Nicht allein der Staat produziert diesen Kall, er deformiert sich selbst. Sein Selbstzwang zur Konformität führt zu Allmachts- und Verfolgungsphantasien, das »andere« kennen zu müssen, um es besitzen zu können. Weil er Liebe als Besitz mißversteht, glaubt er sich seiner ihm fremd gewordenen Frau versichern zu können, indem er sie »wie eine Konservenbüchse« (163) aufbricht, um ihre »Wahrheit« zu erpressen. Die triebhafte Destruktion, mit der er seinen »Chef« Edo Rissen, in dem er vordergründig den Liebhaber seiner Frau, eigentlich aber dessen - und damit sein eigenes - Anderssein haßt, zum Feind stilisiert und ihn der tödlichen »Gerechtigkeit« des Weltstaates ausliefert, zielt im Grunde auf Selbstzerstörung: »Ich war rasend vor Verbitterung, daß ich mich selbst verstümmelt hatte« (176).
Indem Boye diesen anscheinend so konzis autoritären Kall zum Erzähler macht, zwingt sie uns in die Komplexität der eigenen Widersprüche. Denn Kall ist nicht einfach nur der Anpassungshörige, der Befehle antizipiert, weil er ihnen gehorchen will, sondern seine Gier, sich unterzuordnen, zu funktionieren, Gesinnungsklarheit zu schaffen, »ein wirklich reines Gewissen« (49) haben zu wollen, ist pervertierter Ausdruck seiner Sehnsucht, es möge einen Weg »von der Einsamkeit zur Gemeinschaft« (54) geben. Nur in der Gemeinschaft weiß er seine Identität gesichert. Deshalb neidet er seiner ersten »Versuchsperson«, der »Nr. 45« vom »Freiwilligen Opferdienst«, den nie selbst erlebten »Augenblick höchster Seligkeit« (45) extatischer Identifikation, eine »Seligkeit«, die Karin Boye 1932 in Berlin bei einem NSDAP Sporthallenritual angeekelt und zugleich fasziniert hat. Diese Gemeinschaft z.B. mit »seiner« Frau Linda will er als seinen »Traum von grenzenloser Sicherheit« (149) im Gewalt- und Besitzverhältnis erzwingen. Daß es eine Gemeinschaft der Entmündigten, Fremdbestimmten nicht geben kann, erfährt er in Lindas Ermordungsphantasien, aber auch in ihrer den anderen freilassenden Liebe. Die »Mitsoldatin« Linda funktionierte als »kostspielige Produktionsmaschine« (168), ihrem »Besitzrecht« an ihrem Sohn entsprach seine Befehl-Gehorsam-Erziehung. Erst die Liebe zur Tochter macht sie zur Mutter. Deren Ruhen-in-sich-selbst - »sie hatte ihre eigene Melodie« (168) - läßt Linda die Liebe als Freiheit des anderen und des Ich ahnen. Unter allen Verschüttungen bleibt die Ahnung von organischem, nicht organisiertem Leben, von Stille, die keine Einsamkeit ist, von unglücklicher Liebe, die erfüllte Sehnsucht ist, weil sie nicht besitzen will. »Ich war«, erkennt Kall, »aus einem Zusammenhang gelöst worden, der mich fast erstickte, und in einen neuen, selbstverständlichen, einfachen gerettet worden, einen Zusammenhang, der trug, aber nicht band« (169). Die Vision selbstbestimmten, organischen Lebens ohne Angst, wo es »frische Wasseradern im Boden gibt« (133), die Sehnsucht »in Freundschaft [zu] leben und sich gegenseitig [zu] helfen« (134), hat ihren bezeichnenden Fluchtort: eine fast völlig vergiftete »Ruinenstadt in der Wüste«.
Die späte, vermittelte Rezeption des Romans hierzulande, die des äußeren Anlasses »Orwelljahr« und vor allem der Intervention von Peter Weiss bedurfte, ist symptomatisch für uns. Im nachhinein wird erkennbar, daß Orwells Sicht auf einen totalitären Staat in den frühen 50er Jahren den Rezipienten unbeschädigt in seine hoffnungsvoll aufstrebende Republik entlassen konnte: so hatte sich der totalitäre deutsche Staat gegeben, so funktionierte der kommunistische noch immer. Karin Boyes personale Sicht läßt derart unkritisch unbetroffene Rezeption nicht zu. Sie zwingt den Leser in ihre eigene Betroffenheit und Beschädigung zurück. Mit der Gestalt von Leo Kall ist der Leser gezwungen, sich selbst zu erkennen, denn Kalls Widersprüche sind noch immer die unsrigen. In seinen totalitären Ordnungsphantasien scheint ja nicht nur seine Sehnsucht nach Gemeinschaft und Liebe auf, sondern auch der Wunsch, beides festzuhalten, sich ihrer zu versichern. Boye entläßt den Leser nicht in die einfache Lösung, ins unbeschädigte Gegenbild, sie fragt ihn nach seiner »Fähigkeit zu trauern«. Sich auf diese Irritation 1947 einzulassen, als der Roman erstmals deutsch erschien, hätte vorausgesetzt, kollektives Bewußtsein als vom Individuum mitgestaltetes eingestehen zu können.
»Schlechte Zeit für - positive - Utopien« (174) ist Hiltrud Gnügs Fazit der Perspektiven, die die utopischen Romane des 20. Jahrhunderts aufweisen. Eine Wirklichkeit, die den Autor nicht mehr erreicht, weil sie ihn erstickt, läßt keinen Raum für positive Gegenbilder. Einer fragmentarisiert, chaotisch, selbstzerstörerisch erfahrenen Realität entsprechen die Fluchten nach Innen, die schiefe Idylle, das Versinken im irgendwie Ganzheitlichen.
Ein »utopischer Roman«, wie z.B. Maria Erlenbergers (Ps.) Singende Erde, der das, was war, nämlich eine Gesellschaft, die ihre Katastrophe und ihren Untergang herbeigeführt hat, überhaupt nicht mehr beschreibt und der von dem, was als ganzheitliche Gegenexistenz gemeint sein mag, nur noch mythisch zu raunen weiß, setzt eine Wirklichkeit voraus, die nicht lohnt, wahrgenommen zu werden. Die Sozietäten - allesamt zivilisationsfeindlich oder pervertiert - die Erlenbergers zerfließendes Ich durchwandert (z. B. computerhörige Bewohner eines Wolkenkratzers, die ökoromantische Agrarkommune, die spirituelle Sekte, die fick- und fäkalgeile Kommune - sinnenfreudig mag man das euphemistisch nennen -) sind Stadien, »Hirnmuster« (610), dieses a-sozialen Ich, das endlich zu sich findet, als ihr »faltiges Hirn [...] in die Klomuschel« (613) fällt. Schlechte Zeiten für Utopien, wenn der ver-rückte Sinn, die Flucht in »weises Gemurmel« (605) als Gegenbild einer Gesellschaft, der ganz rational, geplant, geordnet der Sinn abhandengekommen ist, gutgeheißen wird.
Jede Zeit produziert auch ihre eigene Apokalypse und das Genre, diese zu beschreiben. Deshalb ist kaum verwunderlich, daß sich die in galaktischen Dimensionen operierende Seience-fiction oder, wie Doris Lessing ihre Sonderform nennt, die »Space-fiction«, des stellaren Unfallherdes Erde verstärkt zu einer Zeit annimmt, in der die globale Vernichtbarkeit von Natur und Mensch, die tägliche Wegzivilisierung von Tier- und Pflanzengattungen so normal ist, daß selbst der Schlager diese Themen kommerziell verwerten kann. Insofern kann auch nicht wundern, daß eine so engagierte Autorin wie Doris Lessing, die Schreiben immer auch instrumental als Verantwortung, als den Leser erziehendes Medium versteht, insbesondere in ihren späten Romanen gleichermaßen den die Faktizität von Geschichte in Natur rückverwandelnden Mythos und die interstellare Perspektive, die das irdische »Des-aster« in seiner wörtlichen Bedeutung zeit- und raumgreifend darstellbar macht, entdeckt.
Lessings umfangreiches Oeuvre, auf das hier nur in wenigen Aspekten eingegangen werden kann, wurde hierzulande verspätet zur Kenntnis genommen. Die von verschiedenen Verlagen besorgten Einzelausgaben verstellen ebenso wie die derzeitige Doris-Lessing-Welle den Blick auf die Genese derart endzeitlich gerichteter, alle individuellen, sozialen, ökologischen Konflikte verschmelzender Apokalypse. Der Genese von der Krisenbeschreibung zur Apokalypse entspricht die zunehmend unkonkreter gestaltete Hoffnung auf eine Gesellschaft befriedeter Menschen, die Doris Lessing zunächst als realisierbare Handlungsanweisung, dann nur noch als mythischen Ort, als Paradies, zu beschreiben vermag: als die die heilige Stadt mitzitierende »Sternenstadt mit fünf Zacken« (517), die schon in The-Four-Gated-City (Die viertorige Stadt) entworfen wird, oder als heilige Idylle - der Jaguar, der bei Schäfer und Herde lebt - ein Bild, in das Shikasta, der erste ihrer Space-fiction-Romane, mündet. Abgesehen davon, daß man bezweifeln kann, ob, wie Doris Lessing zu Shikasta anmerkt, der der Space-fiction eigene »Zugang zu einem größeren Zusammenhang mit umfassenderen Möglichkeiten und Thernen« und seiner »Freiheit zum Experimentellen« (7) sich auch als Erweiterung der »Botschaft«, um die es ihr immer auch gegangen ist, definieren läßt. Lessings Weg von der konkretisierbaren Utopie, die allen ihren realistischen Roman eignet, zum Mythos-Gegenstand des Space-fiction-Folgeromans The Marriages Between Zones Three, Four and Five (Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf ) läßt sich schon früher festmachen.
Humanitäre Parteilichkeit prägt Doris Lessings Realismus. Ihre Wirklichkeit ist nicht einfach, sondern fragmentarisch, zerstückelt. Dieser Wirklichkeit entspricht das fragmentarische, in Einzelaspekte zerfallene Individuum, das lernt, sich in seiner Unfertigkeit zu erkennen und anzunehmen und das dadurch Entwicklung ermöglicht. Das Individuum mit seinen rollen-, geschlechts- oder sozialbedingten, z.T. psychotisch gelebten Widersprüchen und die ihm entsprechende Gesellschaft schaffen sich ihre utopischen Sinninseln, die als Traum, als Ver-rücktsein, als individuelle oder gruppenspezifische Wunschphantasien erscheinen. Sie geben den »Mühen der Ebenen« (Brecht) Perspektive, Ziel und Halt. Dazu gehören vor allem das Schreiben selbst - thematisiert in The Golden Notebook (Das goldene Notizbuch) oder spezifische Motive: das ihren Figuren typische Sich-Wiedererkennen, Verlieren oder Versenken in unbewußte Sinnzusammenhänge im Traum; dazu gehört die als Beglückung erfahrene, weil Sinn und Ziel stiftende Identität von Selbst und Gesellschaft in einer politischen - sozialistischen Partei. Diese konkrete politische Arbeit wird aber im Romanzusammenhang stets als Phase gekennzeichnet, als Verabsolutierung und Vereinzelung eines Moments. Parallel dazu muß Lessings bereits in den späten 50er Jahren einsetzende Kritik gesehen werden, die sie im Vorwort zu The Golden Notebook wiederholt, daß der Marxismus nämlich »in unserer Zeit der erste Versuch war, ein umfassendes Bewußtsein, eine weltumspannende Ethik zu schaffen«, daß er aber scheiterte, weil er sich »wie andere Religionen in immer kleinere Kirchen, Sekten und Bekenntnisse teilte und unterteilte« (15). Zu diesen Sinn-Inseln gehören auch - in The Four-Gated-City das utopische Konstrukt einer idealen, mythischen, nach göttlichen Ordnungsharmonien (der Mandala) gebauten Stadt, die Martha und Mark entwerfen, oder die neuen Kinder nach dem Menschheitsholocaust: »Geschöpfe, die diese Geschichte in sich tragen und über sie hinausgelangt sind« (964).
Schwonke hatte zukunftssicher im Science-fiction-Autor die Weiterentwicklung des gesellschaftsplanenden Staatsroman-Autors gesehen: der Autor als »Konstrukteur, der den Bauplan der Welt entwirft«, als »Generalstäbler der Menschheit, der Feldzugspläne [...] für die Zukunft [...] aufstellt« (146). Lassen wir beiseite, daß die Gegenwart derartige Weltraummilitarisierungs- und Befriedungsvisionen schon eingeholt hat, die eine so unbefragt positive Interpretation nicht mehr zuläßt, so provoziert auch Doris Lessings Sonderform Space-fiction die von Neusüss angemeldeten Zweifel, ob die den Gesellschaftsmodellen der Staatsromane eignende »gesellschaftskritische Intention« (91) auch auf die Mehrzahl der Science-fiction-Modelle zutrifft, ob sich hier nicht vielmehr »in verstellten Wunschphantasien, trübe Mythen und Märchenklischees als ungeklärter Impuls niederschlagen« (92). Die Kritik, die typischen Science-fiction-Gesellschaftsmodelle hätten keine gesellschaftskritische humanere Dimension mehr, trifft für Lessings Romane sicher nicht zu, vergleichen wir sie mit gängiger kommerz-spezialisierter Science-fiction-Literatur, wohl aber, vergleichen wir ihr Spätwerk mit ihrem frühen und mittleren. Geblieben ist der allerdings zunehmend uneingelöste Anspruch, Gesellschaft und Individuum exakt zu beschreiben und daraus die konkrete Utopie einer veränderbaren Welt herzuleiten.
Die immer schärfer und differenzierter gestaltete Fragmentarisierung schlägt nun um in eine letztlich perspektivlose, weil alle Widersprüche gleichmachende Apokalypse. Schon in Briefing for a Descent into Hell (Anweisung für einen Abstieg zur Hölle) ist das nach orthodoxer - von Lessing häufig negativ beschriebener - Psychiatrie kranke Individuum nur im Wahn identisch mit sich selbst und dadurch frei; in The Memoires of a Survivor (Memoiren einer Überlebenden) begründet den Aufbruch der älteren und jungen Frau in eine vielleicht bessere Zukunft die Trennung von zerstörter äußerer und innerer (Flucht-)Welt.
Der immer endzeitlicher gestimmte Doris-Lessing-Leser ahnt also durchaus, daß ihm die »Archive von Canopus im Argos« Arges enthüllen werden. In Shikasta protokolliert Johar, Kolonialbeamter von Canopus, Planet des Heils, der Harmonie, des reinen Geistes, die fürchterlichen Veränderungen des Kolonialgebiets Erde - unsere Geschichte: »Rohanda«, die »Blühende«, ist unter dem Einfluß Shimmats, Planet des Bösen, zu »Shikasta«, die »Verletzte«, »Zerstörte«, geworden. Der allwissende Erzähler Prophet, Seher - ein nur höchst vermittelt Mitleidender und Nichtverantwortlicher, berichtet scheinbar dezidiert realitätshaftig von »Umschwüngen, Umbrüchen, Veränderungen, Zusammenbrüchen« (14), in denen wir die gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und nuklearen Katastrophen unserer Gegenwart erkennen. Auch Lessings Hölle - unsere Welt - kennt das Paradies: Die Sehnsucht der Kinder, der Liebenden und Unterdrückten wird manifest in den wenigen Überlebenden des III.Weltkrieges, die sich zu einer Natur und Mensch versöhnenden Idylle zusammenfinden -jenseits der Dimension konkreter Hoffnung.
Sie habe sich, sagt Lessing in einem Gespräch mit Robert Anton Wilson, für ihre Romanserie »die Aufgabe gestellt [...], eine Bibel im Science-fiction-Stil zu schreiben« (63). Eine Bibel, ein heiliges Buch, und die Menschheitserlösung verkümmert zur Idylle? Die Versöhnung der Widersprüche Kampf, Barbarei und Zivilisation, Harmonie, von Patriarchat und Matriarchat als mythische »Ehe zwischen den Zonen Drei und Vier«?
Der Widerspruch bleibt: Dem moralischen Verdikt von der bösen Welt die Geschichte als Apokalypse, unsere Gegenwart und nahe Zukunft als bedrängend realistisch geschilderte Phase der Selbstvernichtung - entspricht kein als konkrete Utopie vorweggenommenes Ziel mehr. Die in den Mythos zurückverwandelte Geschichte kondensiert sich zu romantizistischen Hoffnungsinseln im Nebel. Der Fantasy an der Macht ist die kritische Phantasie abhanden gekommen.