Anklage von Sklaverei und Unterdrückung

Protest aus angelsächsischen Ländern

Radikale Frauen sind eine Minderheit in einer Minderheit. Man weiß seit langem (auch wenn sich dies seit einiger Zeit zu ändern beginnt), daß Frauen in Gewerkschaften und Protestbewegungen unterrepräsentiert sind und eher Parteien des rechten Flügels wählen. Traditionsgemäß glauben wir, daß Frauen wenig von Politik verstehen, ziemlich triviale Interessen haben, Gewalt verabscheuen (aber als Krankenschwestern und auf andere Weise Hilfe leisten, wenn ihr Land im Krieg liegt), daß sie hauptsächlich damit beschäftigt sind, einen Mann zu finden und sich um eine Familie zu kümmern, religiöser, freundlicher und barmherziger sind als Männer. Trotzdem hoffe ich verdeutlichen zu können, daß zumindest bei einigen Frauen ihre »weiblichen« oder fürsorglichen Instinkte zum Protest führten.
Als Frauen gegen Ende des 18. Jahrhunderts anfingen, Romane zu veröffentlichen, fielen sie in der Regel nicht gerade wegen ihrer progressiven Einstellungen auf. Die meisten kamen aus ziemlich privilegierten Verhältnissen (sonst hätten sie gar nicht die Muße zum Schreiben gehabt), und nicht viele wollten ihre neu gewonnene Freiheit durch den Beinamen »Radikale« oder »Revolutionärin« gefährden. Harriet Taylor, die Frau John Stuart Mills, schrieb 1851, daß »die literarisch tätigen Frauen besonders in England gern ihr Bestreben nach gleichen Bürgerrechten in Abrede stellen und ihre völlige Zufriedenheit mit dem Platz verkünden, den die Gesellschaft ihnen zuweist« (The Enfranchisement of Women, in: Westminster Review, 1851). Um diese Zeit gibt es viele Romane von Engländerinnen, die sich gegen Sozialismus, Gewerkschaften, Gedankenfreiheit usw. wenden; später verkündeten viele von ihnen, besonders Humphrey Ward, daß sie kein Wahlrecht wollten. Und natürlich schrieben die meisten nur romantische oder gefühlvolle Prosa. Aber nach Mary Wollstonecraft finden wir häufig streng moralische und ehrbare Schriftstellerinnen, die die großen Fortschrittsbewegungen ihrer Zeit beeinflußten.
Mary Wollstonecraft ist eine untypische Erscheinung. Sie gehörte einer kleinen Gruppe englischer Intellektueller an, die die Französische Revolution unterstützte, und in ihren beiden kurzen Romanen Mary (1788) und dem unvollendeten Wrongs of Woman (1798) weitete sie ihren Radikalismus auf Frauen aus, eine Bevölkerungsgruppe, deren Rechte sehr selten ernsthaft erörtert worden waren. Aus künstlerischer Sicht sind die Romane zwar unbefriedigend, enthalten aber einige außergewöhnlich interessante Gedanken. Die Heldin von Mary ist eine starke Frau, die sich um hilflose Menschen kümmert - »die Not anderer ließ sie über sich selbst hinauswachsen« (4. Kapitel) - und die darauf besteht, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Ihr werden gewöhnliche, angepaßte Frauen gegenübergestellt:

  • Ihre Köpfe waren von Konventionen gefesselt, die um den Anstand kreisten [...]. Was wird man sagen? war das erste, woran sie dachten, wenn sie etwas tun wollten, das sie noch nicht getan hatten [...]. Und wenn diese Frage beantwortet war, hatten sie das Richtig oder Falsch herausgefunden, ohne den eigenen Kopf mit einer Meinung zu der Angelegenheit zu belasten. (11. Kapitel)

Mitgefühl für Leiden und ein unabhängiger Geist sind zwei Kräfte, die dazu angetan sind, einen Menschen Protestbewegungen zuzutreiben. Mary stirbt, weil ihr Familienleben zerstört ist, und dadurch wird angedeutet, daß Frauen gefühlsmäßig sehr verletzlich sind.
The Wrongs of Woman - chaotisch aufgebaut und mit langen, unvollendeten Passagen - ist ein noch traurigerer Roman. Die Heldin wird von ihrem Ehemann (der ihr das Kind wegnimmt) brutal mißhandelt, von ihrem Liebhaber verlassen und entscheidet sich schließlich, um ihrer Tochter willen weiterzuleben, die in einer von solchen Männern beherrschten Welt Schutz braucht. Die Schriftstellerin will, wie sie im Vorwort sagt, »das Elend und die Unterdrückung besonders von Frauen zeigen, die durch die einseitigen Gesetze und Konventionen der Gesellschaft entstehen«. Es ist nicht einfach die Geschichte einer einzelnen Frau. Sie wütet gegen Gesetze, die es einem Mann erlauben, seiner Frau das Einkommen wegzunehmen und sie ihrer Kinder zu berauben, lenkt aber auch fortwährend unsere Aufmerksamkeit auf andere Grausamkeiten. Wir hören von Mädchen, die keine Arbeit bekommen und zur Prostitution getrieben werden, und begegnen einer Frau, deren Mann eingezogen und dann getötet wird - »die Armen sind dazu verurteilt, zum Wohl ihres Landes zu leiden«, sagt Mary bitter (7. Kapitel). Dann gibt es die Erzählung von der Dienerin Jemima, die rücksichtslos von ihren Arbeitgebern ausgebeutet wird und kein Kind haben darf

  • Ich war ein auf den Sand gefallenes Ei...von Geburt an verachtet und ohne die Möglichkeit, einen Platz in der Gesellschaft zu bekommen (...) als Sklave geboren und durch Niederträchtigkeit fürs ganze Leben an die Sklaverei gekettet. (5. Kapitel)

Mary Wollstonecraft versucht, Verbindungen herzustellen zwischen Krieg, Arbeitslosigkeit, dem Ancien Régime in Frankreich, sexueller Ausbeutung und Sklaverei. Der Ehemann einer armen Frau ist ihr »Herr; kein Sklave auf den westindischen Inseln hat einen despotischeren« (12. Kapitel). Die Heldin erfindet ein neues Verb, wenn sie sagt, daß die Ehe sie »für das ganze Leben bastilliert habe« (10. Kapitel). Sie zieht den Schluß, daß Frauen, wenn nötig, lernen müssen, ohne Männer auszukommen und nicht zu viel Achtung vor einer repressiven Gesellschaft haben sollten. »Ich wünschte, mein Land billigte mein Verhalten; aber solange es Gesetze gibt, die von den Starken gemacht werden, um die Schwachen zu unterdrücken, berufe ich mich auf meinen eigenen Sinn für Gerechtigkeit« (17. Kapitel).
Mary Wollstonecraft war ihrer Zeit zu weit voraus, um in ihrem Jahrhundert großen Einfluß zu haben. Sogar die französischen Revolutionäre unterdrückten Frauenvereine, und erst viel später wurden feministische Gedanken in breiteren Kreisen diskutiert. Aber von 1830 an hatten Frauen, die aus sozialem Protest heraus schrieben, große Sympathien bei ihren Lesern, vorausgesetzt, ihre Botschaft war relativ leicht zu begreifen.
Die beiden großen humanitären Anliegen der Zeit waren der Kampf gegen die Kinderarbeit und den Sklavenhandel. Für beide Bewegungen engagierten sich Schriftstellerinnen, und eine, die leider anonym blieb, schrieb 1830 einen kurzen Roman, The Negro Slave, A Tale, addressed to the Women of Great Britain:

  • Aus zwei Gründen wendet die Verfasserin sich mit dieser kleinen Arbeit ausschließlich an die Frauen Großbritanniens: erstens wegen der erschütternden Gleichgültigkeit gegenüber dem Sklavenhandel mit Negern, auf die die Verfasserin bei ihren Geschlechtsgenossinnen gestoßen ist; und zweitens, damit keiner vom edleren Geschlecht sich beschweren kann, zur Durchsicht eines kindischen Werks verleitet worden zu sein. Um das zu verhindern, möchte sie ihnen darüber hinaus mitteilen, daß sie sich nicht anmaßt, auf diesen Seiten etwas zu ihrer Belehrung oder Unterhaltung anzubieten.
    Da sie nicht in der Lage ist, das Thema in seinem politischen Zusammenhang zu verstehen, unfähig, irgendwelche vergleichenden Berechnungen über den Profit aus Sklavenarbeit und freier Arbeit, Zuckersteuern etc. aufzustellen und bedauernswert ignorant, was die Entwicklung einer Geschichte angeht, mußte die Verfasserin das Thema in einer Art und Weise abhandeln, die sich ausschließlich an die Gefühle richtet und ihnen folglich zum großen Teil auch entstammt.

Unsere erste Reaktion beim Lesen dieser aggressiv bescheidenen Erklärung ist: Meint sie das wirklich? Gut möglich, daß sie glaubte, den Männern intellektuell unterlegen zu sein, aber darum geht es nicht. Wenn das »edlere Geschlecht« wirklich denkt, Zuckersteuern seien wichtiger als Leben oder Freiheit, ist offensichtlich selbst der Versuch, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, nutzlos. Stattdessen appelliert sie an ihr eigenes Geschlecht, das immer ermutigt wurde, sich nicht auf Wirtschaft oder Politik, sondern auf »die Gefühle« zu konzentrieren und wendet so eine Schwäche in eine Stärke.
Der Inhalt des Romans ist explosiv. Ein afrikanisches Mädchen wird entführt und als Sklavin auf eine der westindischen Inseln gebracht, die zu dieser Zeit noch britische Kolonie sind. Sie wird die Geliebte ihres Eigentümers (anders als viele Frauen in der Literatur ist sie nicht unnatürlich tugendhaft, weil die Autorin zeigen will, was in der Wirklichkeit hätte geschehen können), aber er jagt sie fort, nimmt ihr Kind weg, und sie stirbt. Die Autorin versucht, ihre relativ behüteten englischen Leserinnen dazu zu bringen, sich in die Lage einer ungebildeten und ausgebeuteten schwarzen Frau zu versetzen. Auch wenn sie unpolitisch waren, fiel es ihnen leicht, sich vorzustellen, wie sich eine Frau fühlt, die sexuell im Besitz ihres Herrn ist und der die Kinder geraubt werden. Sie schließt mit der Bitte an die »Töchter und Mütter eines freien Volkes«, »zieht den Kreis eurer Wohltaten nicht zu eng und beschränkt euren Eifer nicht zu sehr, auf die häuslichen Pflichten«:

  • Geneigte Leserin! Sie haben wahrscheinlich keine Stimme im Parlament und nicht einmal genug Ansehen, um eine Petition für dieses Haus zu unterschreiben. Aber haben Sie gar keinen Einfluß? Haben Sie weder Vater, Ehemann noch Bruder, die sich von ihrer Redekunst bewegen oder ihrem Eifer beeinflussen lassen? Haben Sie keine jungen Gemüter, die sie zu jenem hohen Sinn für Gerechtigkeit und jener Verachtung des Unrechts erziehen können vielgerühmte Eigenschaften der Bürger Ihres glücklichen Landes? - Eines Volkes [...] so entschlußkräftig, daß eine Flotte ausgerüstet oder ein Heer aufgestellt wird, sobald die Gesetze Englands von anderen Nationen verletzt werden, und die dreisten Angreifer den Donner seines Zorns zu hören und spüren bekommen. Und doch kann dasselbe Volk sich im Falle von achthunderttausend Mitmenschen auf den westindischen Inseln zurückhalten, faul und untätig bleiben (9. Kapitel)

Hier klingt ein Standpunkt an, der häufig von der modernen Friedensbewegung vertreten wird: alle wirkliche Anstrengung gilt dem Krieg und nicht humanitären Angelegenheiten (in den 80er Jahren stellt England immer noch Flottenverbände auf, um andere Nationen den Donner ihres Zorns spüren zu lassen!). Es gab jedoch Schriftstellerinnen mit anderen Prioritäten. Caroline Bowles protestierte zur gleichen Zeit leidenschaftlich gegen die Kinderarbeit:

Wie sie die kleinen jungen Wesen
In diesen fürchterlichen Fabriken behandeln!
Bei der Arbeit den ganzen Tag und die halbe Nacht,
Ach, Stunden um Stunden bei Kerzenlicht;
und wenn sie dem Schlaf verfallen,
Blinzeln oder ermatten, werden sie gezüchtigt und gepeitscht,
Und gezwungen, weiter und weiter zu machen
Bis sie Augenlicht und Verstand fast verlieren:
Oh, Christus! daß Christen die Kinder mißbrauchen,
Die du so liebtest!

Können jene armen Schwarzen, über die sie sprechen,
Halb so schlecht behandelt werden?

Manche Leute behaupteten mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, Sklaverei sei nicht so schlimm wie Kinderarbeit, und andere wiederum sagen, Kinderarbeit sei nicht so schlimm wie Sklaverei. Doch die Autorinnen von Negro Slave und Tales of the Factories haben den gleichen Ansatz, wenn sie ihre Leser bitten, an ihre eigenen Kinder zu denken und ihr Los mit dem der Entrechteten zu vergleichen. In einem anderen Fabrikgedicht läßt Caroline Bowles jemanden sagen:

Mein Herr, wenn Ihre Kleinen schlafend im Bett liegen,
Müssen meine weiter schuften - in Staub und Qualm und Rauch:
Sie mögen mit den Ihren den Tag des Herrn heiligen,
In seinem Haus. Es ist mehr als ich tun kann
(Unmensch, für den Sie mich halten), sie an diesem Tag
Ihrer Ruhe zu entreißen, arme kleine Teufel!

Religion ist ein wichtiges Thema. So gut wie die ganze Gesellschaft bekannte sich zum Christentum, aber nur wenige sorgten für Verlegenheit, indem sie Regierung und Mitbürger aufforderten, ihre Religion ernst zu nehmen. Immer wieder hören wir sie sagen, wie entsetzlich es sei, daß ein christliches Land Übel wie die Sklaverei und Kinderarbeit dulde. Eine Schriftstellerin, die gegen beides protestierte, war Caroline Norton, eine berühmte Dichterin und Frauenrechtlerin. Sie lebte getrennt von ihrem Mann, der sie ihre drei Kinder nicht sehen ließ, verfaßte Pamphlete und stritt für das Recht einer verheirateten Frau, ihr eigenes Einkommen zu behalten und das Sorgerecht für die Kinder zu haben; beide Kampagnen waren zu ihren Lebzeiten nur zum Teil erfolgreich. Davor, 1836, hatte sie über den Kampf gegen die Kinderarbeit A Voice from the Factories veröffentlicht:

Schon erheben sich die britischen Abgeordneten,
(Die Freigeborenen und Väter unseres Landes!)
Und während jene den Leidenskelch zur Neige trinken,
Leugnen sie die Leiden der Gemarterten.
Mit ausgeklügelten Rechnungen zur Hand,
Beweisen - widerlegen - erklären und räsonieren sie lange;
Stolz auf jede leere Ausflucht stehen sie da,
Und stellen die äußersten Kräfte ihrer Zungen bloß
Um das große und schreiende Unrecht schwach zu rechtfertigen.

So erhoben sich, mit solch einleuchtender Verteidigung
Des unveräußerlichen Rechts des Kain,
Jene, die gegen die gescheiteste Redekunst der Wahrheit
Aufrechterhielten Folter und Schmerz:
Und Angst vor Besitzverlust ließ jahrelang
Die Hoffnung christlicher Nächstenliebe vergeblich sein,
Den Fluch zu nehmen von dunkler Sklavenherrschaft
Und über den großen Atlantik
Die Parole der Mutigen zu schicken - den bebenden Schrei
»Seid frei!«

Wie die Verfasserin von The Negro Slave sagt Mrs. Norton, daß ökonomische Argumente letzten Endes keine Rolle spielen. Kinderarbeit mag zwar rentabel sein, ist aber dennoch unzulässig und muß abgeschafft werden. Obwohl sie vernünftige Argumente bestimmt nicht verschmäht, denkt sie wahrscheinlich, daß die Weisheit der Frauen »vom Herzen kommt«, während Politiker häufig oberflächlich argumentieren. Wenn es, wie die Leute sagen, wahr ist, daß Frauen nur fühlen und nicht denken können, dann werden sie zumindest » ein großes und schreiendes Unrecht« erkennen, wenn sie darauf stoßen.
1833 wurde die Sklaverei auf britischem Hoheitsgebiet abgeschafft; Kinderarbeit gab es noch ein weiteres Jahrzehnt lang. 1843 veröffentliche Elizabeth Barrett (Browning) ein sehr berühmtes Protestgedicht: The Cry of the Children (Der Schrei der Kinder):

>Denn, oh!<, sagen die Kinder, »wir sind müde,
Und wir können nicht mehr laufen und springen;
Wenn wir Wiesen suchten, dann nur
Um hineinzufallen und zu schlafen.
Unsere Knie zittern schmerzvoll beim Bücken,
Wir fallen aufs Gesicht beim Versuch zu gehen;
Und unter unseren schweren, zufallenden Augenlidern
Würde die röteste Blume blaß wie Schnee aussehen;
Denn den ganzen Tag schleppen wir erschöpft unsere Last
Durch das Kohlendunkel, unter der Erde -
Anklage von Sklaverei und Unterdrückung
Oder wir treiben den ganzen Tag die eisernen Räder an
In den Fabriken, rund und rund.«

Wie viele andere Schriftstellerinnen, wies Miss Barrett darauf hin, daß die Opfer eines grausamen Systems nicht an einen mitfühlenden Gott glauben können; die Kinder in dem Gedicht sehen keinen Sinn im Beten:

Sie antworten: »Wer ist Gott, daß er uns hören sollte,
Während die eisernen Räder angetrieben werden?
Wenn wir laut schluchzen, werden wir nicht gehört
Und bekommen kein gutes Wort von den Menschen, die vorbeigehen.
Und wir hören nicht (wegen der ratternden Räder)
Fremde, die an der Tür sprechen:
Ist es dann möglich, daß Gott, um den herum Engel singen,
Unser Weinen noch hört?

Tatsächlich wurde der Kinderarbeit im darauffolgenden Jahr ein Ende gesetzt, und dieses Gedicht trug wahrscheinlich zum Umschwung des Meinungsklimas bei. Aber es blieb weiter wirkungsvoll (und wurde noch im zwanzigsten Jahrhundert auf Protestveranstaltungen vorgetragen), weil die Situation der Kinder aus der Arbeiterklasse schrecklich blieb. Die 1840er Jahre wurden in England wegen extremer Armut und Arbeitslosigkeit die »Hungerjahre« genannt. Elizabeth Gaskell setzt die Tradition christlichen Protests fort, auf die wir bei den früheren Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts gestoßen sind. Wie die Verfasserin von The Negro Slave behauptet sie, sich mit »männlichen« Themen nicht auszukennen: »ich verstehe nichts von politischer Ökonomie oder Handelstheorien«; doch änderte das nichts an ihrer Überzeugung, daß ein System, das Kinder leiden ließ, unannehmbar sei.
Das Zitat ist aus dem Vorwort ihres ersten Romans, Mary Barton (1848).
In der ersten Hälfte ihres Erwachsenenlebens war Mrs Gaskell eine normale Hausfrau und Mutter gewesen. Vor Maty Barton hatte sie kaum etwas veröffentlicht, aber als Frau eines unitarischen Priesters in Manchester wußte sie viel über die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse. Nach dem Tod ihres Kindes war das Schreiben eine Art Therapie für sie. Damals starben so viele Kinder im Säuglingsalter, daß man es für normal und nicht besonders tragisch hielt:

  • Aber wohlgemerkt! Wir vermissen nur jene, die in ihrem bescheidenen Umkreis Männerarbeit leisten; die Alten, Schwachen und Kinder werden von der Welt kaum bemerkt, wenn sie sterben; und doch hinterläßt ihr Tod in vielen Herzen eine Lücke, die sich lange Zeit nicht schließt. (10. Kapitel)

Der ganze Roman ist ein Protest gegen die Auffassung, nach der Menschen ohne Einfluß als minderwertig gelten. Im Unterschied zu vielen Schriftstellerinnen aus ähnlichen Verhältnissen behandelt Mrs Gaskell die Arbeiterklasse nicht herablassend. Sie macht sich nicht über ihre Sprache lustig und erklärt mit Nachdruck, daß alte Dienstmädchen, Mütter und Kinder genauso wichtig seien wie jeder andere auch. Ihr eigener Verlust half ihr, die Gefühle von Eltern aus der Arbeiterklasse zu verstehen, deren Kinder hungerten. Der Gewerkschafter John Barton fängt an, die Arbeitgeber zu hassen, nachdem sein eigenes Kind an Hunger stirbt; dies geschieht, bemerkt er, den Kindern der Herren nie. Sein Haß bringt ihn dazu, den Sohn seines Arbeitgebers zu ermorden, aber schließlich erkennt er, daß sie beide auf gleiche Weise leiden:

  • Der Trauernde vor ihm war nicht mehr der Arbeitgeber; kein Wesen anderer Rasse [ ... ], sondern ein sehr armer und verlassener alter Mann [ ... ]. Er hatte sich das zerstörte Heim und die beklagenswerten Eltern genauso wenig vor Augen geführt wie der Soldat, der das Gewehr anlegt, sich die Verzweiflung der Frau und die mitleidvollen Schreie der hilflosen Kinder ausmalt, die gleich Waisen und vaterlos sein werden. (35. Kapitel)

Es stellt sich heraus, daß Mrs Gaskell keine Verfechterin des Klassenkampfes ist, aber für menschliche Solidarität plädiert. So wie sie die Arbeiter bittet, Unternehmer oder Streikbrecher nicht tätlich anzugreifen, appelliert sie an die Unternehmer, sich mehr um Armut zu kümmern. Statt von kalten ökonomischen Gesetzen beherrscht zu werden, sollte die Gesellschaft eher wie eine Familie organisiert werden, in der man für die schwächsten Mitglieder sorgt.
In Mary Barton sind es nur die Männer, die Gewerkschaften beitreten oder sich besonders für Politik interessieren; die Frauen sind ergebener und religiöser. Mrs Gaskell glaubt an und plädiert für traditionelle weibliche Werte. Sie meint, daß Frauen nicht in Fabriken arbeiten sollten, weil sie dann keine häuslichen Fertigkeiten lernen und ihre Familien vernachlässigt würden. Auf der anderen Seite betont sie den Wert der Wohltätigkeitsarbeit, die normalerweise von Frauen geleistet wird. Männer, meint sie, sollten »weibliche« Tugenden entwickeln, statt Gewalt anzuwenden. Sie liefert uns einige denkwürdige Beispiele von Männern aus der Arbeiterklasse, die sich um eine notleidende Familie kümmern (6. Kapitel) oder erfolgreich darum kämpfen, ein Kind zu retten, dessen Mutter gestorben ist (9. Kapitel). Indem sie aufzeigt, wie die Armen sich in Krisen gegenseitig helfen, deutet sie an, wie eine fürsorgliche Gemeinschaft der Zukunft aussehen könnte. »Die Laster der Armen versetzten uns hier manchmal in Staunen; aber wenn die Geheimnisse aller Herzen bekannt werden, werden uns ihre Tugenden in weit größerem Ausmaß in Staunen versetzen. Dessen bin ich mir sicher« (6. Kapitel).
In North and South (1855) protestiert sie später erneut gegen die Art und Weise, in der Industriearbeiter leiden mußten; eine der Hauptfiguren ist ein Mädchen, das langsam an dem Staub, den sie in der Baumwollspinnerei einatmet, stirbt. Die Heldin Margaret versucht, mehr Menschlichkeit in das Verhältnis von Herren und Untergebenen zu bringen - »Wenn ich einen Schlag, eine grausame, wütende Handlung verhindert habe, die sonst geschehen wäre, habe ich die Arbeit einer Frau getan« (23. Kapitel). Der Vorschlag, daß industrielle Konflikte durch die Ausübung »weiblicher« Tugenden gelöst werden könnten, mag naiv scheinen, ganz fraglos aber erweckte Mrs Gaskell in vielen ihrer Leser ein besseres Verständnis des Problems. Von allen englischen Schriftstellerinnen, die sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit der »Lage der Nation« beschäftigten, ist sie bei weitem die bemerkenswerteste.
Inzwischen wandte sich die öffentliche Meinung in Europa entschieden gegen die Sklaverei. Besucher in den Vereinigten Staaten äußerten sich oft über die Ironie von Menschen, die sich ihrer freien Institutionen rühmten und gleichzeitig Sklaven besaßen. Eine der ersten dieser europäischen Besucherinnen, die ein Buch über ihre Erlebnisse schrieb, war Frances Trollope. An sie erinnert man sich vor allem wegen ihres berühmten Sohns Anthony, doch sie war selbst eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Spät entdeckte sie ihr Talent, unterhaltende Bücher zu schreiben und ernährte mit ihrem Einkommen ihren arbeitsunfähigen Mann und eine große Familie. Auch zögerte sie nicht, zu wichtigen Themen ihre Meinung frei zu äußern. In Michael Armstrong - The Factory Boy (1840) attackierte sie die Kinderarbeit. Davor war sie in den späten 1820ern durch die Vereinigten Staaten gereist, und der Bestseller Domestic Manners of the Americans (1832) war das Ergebnis. Sie traf viele Sklaven und bemerkte (wie später Harriet Beecher Stowe), daß sie in den nördlichen Staaten relativ gut behandelt würden, aber fürchteten, in den Süden verkauft zu werden. Sie folgerte, daß »die höchsten und besten Gefühle des menschlichen Herzens durch das Verhältnis von Sklave und Besitzer lahmgelegt wurden«. Die Familie, bei der sie wohnte, war überrascht und amüsiert, als sie ein schwarzes Kind auf ihren Schoß nahm. »Der Gedanke an wirkliches Mitgefühl mit den Leiden eines Sklaven erschien ihnen so absurd wie über ein Kalb zu weinen, das vom Metzger geschlachtet worden ist«. Sie war der Meinung, daß sie um einiges besser behandelt werden könnten und sollten, aber ihre Befreiung nicht »im Einklang mit der Sicherheit des Landes« stehe (22. Kapitel).
Doch in der nächsten Generation gelangten immer mehr Amerikaner zu der Überzeugung, daß Halbheiten nicht möglich wären. Der Kampf gegen die Sklaverei brachte einen der meist verkauften Romane aller Zeiten, Onkel Toms Hütte, von Harriet Beecher Stowe hervor. Auf viele Arten glich ihre Karriere der von Mrs Gaskell. Sie war glücklich verheiratet, hatte mehrere Kinder und empfand tiefen Schmerz, als eines davon starb (der Roman bringt viele Hinweise auf diesen Verlust). Sie sah sich in erster Linie als Frau und Mutter (sie hatte kein Arbeitszimmer und kümmerte sich, während sie schrieb, weiter um Kochen und Hausarbeit) und begann, Onkel Tom aus Entsetzen über das Sklavenflüchtlingsgesetz zu schreiben. Sie sagte, sie »habe keinen Gedanken an Stil oder literarische Güte verschwendet, genauso wenig wie eine Mutter, die Hilfe rufend auf die Straße stürzt, um ihr Kind aus einem brennenden Haus zu retten, an Rhetorikunterricht oder Sprecherziehung denkt« (Forrest Wilson: Crusader in Crinoline. The life of Harriet Beecher Stowe, S. 159).
Als das Buch 1852 herauskam, sorgte es für eine Sensation ersten Ranges. Es wurde in siebenunddreißig Sprachen übersetzt; Verleger wetteiferten um die Herausgabe, und eine halbe Million britischer Frauen unterzeichnete eine Bittschrift, die gegen die Sklaverei protestierte und Mrs Stowe persönlich überreicht wurde. Später wurde ihr vorgeworfen, sie haben den amerikanischen Bürgerkrieg angestiftet. Sie blieb bis zum Ende ihres Lebens eine berühmte Persönlichkeit.
Sie hat offensichtlich Ähnlichkeiten mit den zuvor beschriebenen Schriftstellerinnen. Auch sie geht so vor, daß sie das vor allem Müttern nachgesagte instinktive Wissen um Recht und Unrecht der herzlosen Argumentation der Männer gegenüberstellt. Das Buch beginnt mit Mr. Shelbys Versuch, Elizas Kind zu verkaufen. Mit beißender Ironie wird uns erzählt, daß schwarze »Mädchen« unvernünftig sind, weil sie verzweifeln, wenn ihnen die Kinder weggenommen werden. »Wissen Sie, es ist ja nicht wie bei den Weißen, die erwarten können, daß sie ihre Frauen und Kinder behalten« (l. Kapitel). Genauso werden Ehen von Schwarzen gesetzlich nicht anerkannt, und wenn ein Mann oder eine Frau verkauft werden, gibt man ihnen den Rat, »sich mit jemand anderem zu begnügen« (2 1. Kapitel). Mrs Shelby fleht ihren Mann an:

  • Ich habe ihm die Pflichten der Familie beigebracht, die Bande zwischen Eltern und Kindern, zwischen Mann und Weib; Wie kann ich dieses offene Zugeständnis ertragen, daß wir, sobald Geld auf dem Spiele steht, keine Bindung, keine Pflichten, keine Verwandtschaft mehr achten [...]? Ich sie gelehrte daß eine lebendige Seele mehr wert ist als alles Geld auf Erden, wie soll sie mir glauben, wenn wir kommen und ihr das Kind verkaufen? Einfach verkaufen, vielleicht zu seinem sicheren Verderben! (5. Kapitel)

Die Religion gab Mrs Stowe ungeheure Kraft, denn sie half ihr, sich ihrer Auffassungen absolut sicher zu sein. In diesem Roman sind es die Frauen, die auf Grund ihrer religiösen Überzeugung auf der Unverletzlichkeit menschlicher Beziehungen bestehen, während ihre Männer dem entgegenhalten, daß Religion eine private Angelegenheit sein sollte - »Auch ich achte diese Gefühle, obwohl ich sie nicht in ihrem vollen Ausmaß gutheißen möchte«; »Ich will mich nicht in deine religiösen Ansichten einmischen, nur scheinen sie für Leute in dieser Lage äußerst ungeeignet« (5. und 21. Kapitel). Dasselbe Verhaltensmuster taucht wieder auf als Eliza in den freien Staat Ohio flieht und Senator Bird und seiner Frau begegnet:

  • Elizas Problematik war für die sanfte kleine Mrs Bird eine höchst ungewöhnliche Frage. Mit den Staatsgeschäften hielt sie sich niemals lange auf wohl wissend, daß es in ihrem Haushalt genug Betätigung gab. (9. Kapitel)

An keiner Stelle des Buches wird nahegelegt, daß Frauen in den Senat kommen oder sich überhaupt für Politik interessieren sollten; unter normalen Umständen ist Mrs Bird damit zufrieden, sich mit den Pantoffeln ihres Mannes zu beschäftigen und sich um die Kinder zu kümmern. Aber manche Dinge sind so wichtig, daß selbst die unpolitischste Frau kämpferisch werden kann; Mrs Bird war wie Mrs Stowe empört über die Verabschiedung eines Gesetzes, das Leute in den freien Staaten dazu zwang, entlaufene Sklaven zurückzuschicken:

  • »Es ist ein schändliches, gottloses Gesetz, und ich werde es bei der ersten Gelegenheit brechen, hoffentlich bietet sich bald eine! Es ist weit gekommen mit uns, wenn eine Frau darbenden Flüchtlingen nicht mehr eine warme Mahlzeit oder ein Bett abtreten kann, nur weil es Sklaven sind, die ihr Leben lang mißbraucht und unterdrückt wurden!«
    »Aber Mary nun hör doch einmal zu. Dein Gefühl in Ehren, ich liebe dich deshalb, aber Liebste, man muß doch die Dinge auch mit dem Verstand betrachten. Es geht hier nicht um unsere Privatgefühle, es handelt sich um Allgemeininteressen, es herrscht bereits eine allgemeine Aufregung, da müssen unsere Privatgefühle zurückstehen.«
    »Ach, John, ich verstehe nichts von Politik, aber meine Bibel kann ich lesen und da heißt es, daß ich die Hungrigen speisen, die Nackten kleiden und die Traurigen trösten soll. Und dieser Bibel will ich folgen.«
    »Aber für den Fall, daß daraus der Allgemeinheit ein großer Schaden entsteht ... «
    »Gott gehorchen bringt niemals öffentlichen Schaden. Das weiß ich zu gut. Am Ende ist es immer das sicherste, seinen Willen zu tun.«

Als ob das nicht genug wäre, findet der Senator nur wenige Minuten später in seiner eigenen Küche Eliza und ihr Kind, die sich von ihrer Qual erholen, und ist so gerührt, daß er seine Meinung auf der Stelle ändert. Hier wird angedeutet, daß Menschen mit wenig Vorstellungskraft die Opfer der Unterdrückung wirklich sehen müssen, um ihr Menschsein zu erkennen. Wie Mrs Gaskell (in der Szene, in der sich Carson und John Barton gegenüberstehen) zeigt die Verfasserin, daß er sich die Folgen seiner Handlungen nie vor Augen geführt hat:

  • Mit welcher Überlegenheit hatte er mit den Händen in den Hosentaschen die sentimentalen Schilderungen und Beweise seiner Gegner verlacht, denen das Wohlergehen einer Handvoll armseliger Flüchtlinge wichtiger war als die hohen Staatsinteressen! [...] Aber seine Vorstellung von einem Flüchtling bestand nur aus den Buchstaben, die das Wort bilden, oder höchstens dem Photo auf einem kleinen Zeitungsausschnitt von einem Mann mit Stab und Bündel und darunter »dem Unterzeichneten entlaufen«. Dem Elend wirklich gegenüberzustehen, das flehende Menschenauge, die zitternde Hand, die verzweifelte Bitte in hilfloser Todesangst hatte er noch nie erfahren. Er hatte nie gedacht, daß ein Flüchtling auch eine verzweifelte Mutter, ein unschuldiges Kind sein kann wie jenes, das jetzt seines Lieblings wohlbekannte kleine Mütze trug.

Jeder (darauf besteht Mrs Stowe) weiß in seinem Herzen, was recht ist und was nicht. Mr Shelby ist sich bewußt, daß es unrecht war, Tom zu verkaufen. »Vergeblich versucht er sich einzureden, daß er im Recht war, daß jeder das tat (...); sein Gewissen ließ sich nicht beruhigen« (10. Kapitel). Weniger gebildete Menschen, Hausfrauen und Sklaven eingeschlossen, nehmen gut und böse deutlicher wahr als die ihnen überlegenen. Ein Beispiel ist Toms Reaktion, als er eine schwarze Frau sieht, der das Kind weggenommen wird (die Trennung von Müttern und Kindern ist ein Thema, auf das sie immer wieder zurückkommt):

  • Ihm erschien es wie etwas äußerst Schreckliches und Grausames, denn die ungebildete schwarze Seele hatte noch nicht gelernt, zu verallgemeinern und den größeren Rahmen zu sehen. Wäre er nur von gewissen christlichen Priestern unterrichtet worden, er hätte es besser verstehen können und darin ein Alltagsereignis eines gesetzmäßigen Handels gesehen [...]. Ihm blutete die Seele wegen des Unrechts, das dem armen leidenden Ding widerfuhr, das wie ein zertretenes Pflänzchen auf den Kisten lag; das fühlende, lebendige, blutende, doch unsterbliche Ding, das das amerikanische Gesetz kalt zu Bündeln, Ballen und Kisten ordnete, zwischen denen es liegt.
    (12. Kapitel)

Es wäre falsch anzunehmen, daß in Mrs Stowes Weltbild Frauen aufgeklärter sind als alle Männer. In ihrem Buch kommen oberflächliche Frauen vor, die glauben, daß Sklaven nicht die gleichen Gefühle haben wie sie und auch die selbstmitleidige Marie St Clare, die sich wenig mit ihrem eigenen Kind abgibt und (29. Kapitel) ein junges Sklavenmädchen in eine Strafanstalt schickt. Es gibt deutlich erkennbar so etwas wie weibliche Brutalität, und wir werden darüber nicht im Zweifel gelassen, daß die Frau, die das Auspeitschen beaufsichtigt, ebenso schlecht ist wie der Mann, der dies tut. 'Aber die Autorin meint, daß die normale >weibliche< Haltung mit ihrer Achtung vor menschlichen Beziehungen und tiefen Gefühlen der berechnenden oder >männlichen< Einstellung weit überlegen ist. Aus diesem Grund ist sie im Unterschied zu Mrs Trollope in der Frage der Sklavenbefreiung zu keinem Kompromiß bereit; für sie ist die Sklaverei ein absolutes Übel. Es ist wahr, daß viele Sklaven wohlwollende Herren hatten, doch dienten sie den schlechten als Schutzschild. »Und doch es seid gerade ihr rücksichtsvollen und humanen Pflanzer, die man für alle Brutalität verantwortlich machen müßte, denn ohne eure Sanktionierung könnte dieses ganze System nicht einen Tag länger zusammenhalten« (30. Kapitel). Es ist interessant, das J. St. Mill wenige Jahre später in Die Hörigkeit der Frau (1869) das gleiche Argument benutzte. Die meisten Männer behandelten ihre Frauen nicht schlecht; die meisten Herren behandelten möglicherweise auch ihre Sklaven nicht schlecht, aber wenn man einer Gruppe Menschen alle gesetzlichen Rechte nimmt und einer anderen Gruppe absolute Macht über sie gibt, erzeugt das mit Gewißheit Grausamkeit.
Alle menschlichen Wesen - argumentierte Mrs Stowe - sind in den Augen Gottes gleich. Es reicht nicht, Abolitionist zu sein; Miss Ophelia will, wie viele Bürger der Nordstaaten, keine Schwarzen besitzen, aber kann es nicht ertragen, sie zu berühren oder um sich zu haben; sie wird lernen müssen, diese Gefühle zu überwinden.
Ausbeutung, ob sie Sklaverei genannt wird oder nicht, ist auf der ganzen Welt gleich, darum erwähnt St. Clare (im 19. Kapitel) die Behandlung der Arbeiter in England, gegen die Mrs Gaskell protestiert hatte und immer noch protestierte:

  • »Der Sklavenbesitzer kann den widerspenstigen Sklaven zu Tode prügeln - der Kapitalist kann ihn zu Tode hungern lassen. Was den Schutz der Familie angeht, ist es schwer zu sagen, was schlimmer ist - daß die eigenen Kinder verkauft werden oder zu Hause zu Tode hungern.«
    »Aber der Beweis, daß die Sklaverei nicht schlimmer ist als andere schlechte Dinge, entschuldigt sie nicht.«
    »So habe ich es nicht gemeint - nein, ich will außerdem nur sagen, daß unsere die unverschämtere und augenfälligere Verletzung menschlicher Rechte ist. Einen Menschen einzukaufen wie ein Pferd - seine Zähne anschauen, seine Gelenke abklopfen und seine Gangart prüfen, und dann zahlen [...] macht die Angelegenheit vor den Augen der zivilisierten Welt noch greifbarer, obwohl, was getan wird, im wesentlichen das gleiche ist: daß nämlich eine Gruppe Menschen eine andere Gruppe Menschen zu ihrem Nutzen und Wohlergehen besitzt, ohne Rücksicht auf deren eigenes.«

Andere Menschen zu besitzen - gleich auf welche Weise - ist das wirkliche Verbrechen. St. Clare fährt fort: »Eines ist sicher - daß sich auf der ganzen Welt die Massen zusammentun; und es wird früher oder später einen Tag des Zorns geben. Das gleiche gärt in Europa England und diesem Lande. Meine Mutter erzählte mir immer von einem kommenden tausendjährigen Reich, in dem Christus regieren und alle Menschen frei und glücklich sein würden.« Die Quäkergemeinde in diesem Roman, die Unrecht vergibt und gewaltlosen Widerstand gegen die Sklaverei leistet, ist ein Beispiel dafür, wie das Reich Christi außerdem aussehen könnte. Mrs Stowe wollte wie Mrs Gaskell keinen Aufstand, aber so, wie die Engländerin john Bartons Wut verstehen konnte, als es ihm nicht möglich war, für seine Kinder zu sorgen, so konnte sie mit George Harris mitfühlen, dem es nicht gelingt, das Christentum voll und ganz anzunehmen, weil er für sich und seine Familie das absolute Recht der Freiheit fordert. Sie spürt offenbar, daß er zu seiner Selbstverteidigung das Recht auf ein Minimum an Gewalt hat. Insgesamt sind die Frauen in beiden Romanen aber eher fromm und ergeben.
Protest und christlicher Glaube sind nicht identisch (Mrs Stowe wies mit Abscheu darauf hin, daß viele Priester die Sklaverei verteidigen), und überhaupt kann Protest Verschiedenes bedeuten. Man kann gegen ein bestimmtes Übel wie die Sklaverei oder Kinderarbeit kämpfen und gleichzeitig der Ansicht sein, daß die Gesellschaft im großen und ganzen in Ordnung wäre, wenn diese abgeschafft würden. Andere befinden sich in dem Glauben, daß nicht so sehr die Gesetze geändert werden müßten, als vielmehr die grundlegenden menschlichen Beziehungen. Mary Wollstonecrafts Romane sind, während sie zweifellos auch auf den rechtlichen Status von Ehefrauen aufmerksam machen, von dem Gefühl durchdrungen, daß die Gesellschaft äußerst korrupt ist und daß es für die einzelne Frau sehr schwer ist, darin glücklich zu werden. Eine Zeitlang sah sie Hoffnung in der Französischen Revolution, so wie Mrs Gaskell und Mrs Stowe Hoffnung im Christentum sahen. Olive Schreiner ist eine weitere Autorin, die glaubt, daß das Unrecht nicht durch die Änderung einzelner Gesetze ausgemerzt werden kann.
Als Feministin und Radikale kämpfte Olive Schreiner natürlich gegen bestimmte Mißstände. Sie war während des Burenkriegs interniert und schrieb unveröffentlichte, aber weit verbreitete Lyrik, in der sie die britische Regierung verurteilte Johannes Meintjes, Sword in the Sand, S. 195-198); sie engagierte sich in der Friedensbewegung, und ihr Buch Woman and Labour (Die Frau und die Arbeit, 1911) tritt eindrucksvoll für die volle Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Trooper Peter Halket of Mashonaland (1897) ist ihr freimütigster Protestroman. Seine Zielscheibe sind die britischen Soldaten und Spekulanten, die nach Südafrika kommen, um die eingeborene Bevölkerung auszubeuten. »Sie haben keine Gefühle, diese Nigger; ich glaube nicht, daß sie viel um L~eben oder Tod geben, nicht wie wir sollten« (2. Teil), ist eine gängige Sicht. Am Anfang ist Peter ein brutaler und oberflächlicher junger Mann, der auf Geld, Sex und Gewalt versessen ist; im Verlauf des Romans entwickelt er ein moralisches Bewußtsein und opfert sich schließlich, um einen Schwarzen zu retten. Aber die Mehrheit der Menschen in diesem Buch ist der Moral gegenüber gleichgültig und jeder, der protestiert, macht sich unbeliebt und zum Außenseiter:
Hier und da hat man gewagt, die Stimme zu erheben; aber der Rest flüstert hinter vorgehaltener Hand; es heißt: »Mein Sohn würde seine Stelle verlieren, wenn ich meine Stimme erhebe« und ein anderer: »Man hat mir Land versprochen« und wieder jemand: »Ich bin befreundet mit diesen Männern und würde meine gesellschaftliche Stellung verlieren, wenn meine Stimme gehört würde« (...). Weiß ich nicht schon zu schmerzlich, wie schwach meine Stimme ist; und daß ich so gut wie nichts tun kann: aber soll ich schweigend bleiben?  (1. Teil)
Bedeutender noch und komplexer ist ihr Werk From Man to Man (1927), das ich für einen der besten Romane halte, die in diesem Jahrhundert von einer Frau geschrieben worden sind. Der Untertitel heißt Perhaps Only ... (Vielleicht nur...), womit gesagt werden soll, daß wir vielleicht menschlichere Beziehungen haben könnten, wenn wir sie nur genug wollten. Wenn Olive Schreiner hier eine bestimmbare Zielscheibe hat, ist es die Doppelmoral. »Gefallene« Frauen wie tugendhafte Ehefrauen werden von den Männern, denen sie trauen, grausam ausgebeutet, und wie Mary Wollstonecraft legt Olive Schreiner deutlich nahe, daß sie aus persönlichen Beziehungen wenig Glück erwarten können. Auch ihre Technik erinnert an die vorangegangenen Schriftstellerinnen. Sie interessiert sich weniger dafür, eine fesselnde Geschichte zu erzählen (wozu Mrs Stowe und Mrs Gaskell sich genötigt sahen), als vielmehr Verbindungen zwischen verschiedenen Arten von Unterdrückung herzustellen. In der Mitte des Romans gibt es eine lange Unterbrechung, damit bestimmte Schlüsselgedanken erörtert werden können. Die Wortführerin der Autorin und Hauptproteststimme in diesem Roman ist eine unbedeutende kleine Hausfrau, die zwischen Sockenstopfen und Teigrühren ihre (revolutionären) Gedanken niederschreibt. Bei der Lektüre der zentralen Kapitel »Raindrops in the Avenue« und »You Cannot Capture the Ideal« sehen wir, daß Rebecca nicht nur im Namen der Frauen, sondern aller Opfer protestiert.
Zu solchen Opfern zählen nicht bloß die Menschen. Ein Unterschied zwischen Rebecca und ihrem Ehemann (der gefühllos ist und sie betrügt) liegt darin, daß er im Gegensatz zu ihr Gefallen daran hat, Tiere zu töten. »Für mich ist der erhabenste Augenblick nicht, wenn ich etwas Lebendiges überwinde oder töte, sondern der Augenblick, in dem sein Auge das meine trifft und sich eine Verbundenheit zwischen mir und dem Leben, das in ihm ist, bildet« (8. Kapitel). Rebeccas zärtliche Besorgtheit um alles Lebendige mag in einer Welt, in der seit den Anfängen des Lebens nur die Tüchtigsten überlebt haben, absurd und unrealistisch scheinen. Das zumindest ist uns allen erzählt worden, aber Olive Schreiner empört sich über diese Version der Geschichte:

  • Der Tüchtigste hat überlebt! Unter Wasser, halb in Schlamm begraben, zeigen nur der Umriß des Kiefers und zwei tiefe Augenschlitze, wo der Alligator liegt. Generation für Generation hat er in Morast und Schlamm gelegen. Die Gazelle kam zum Wasser hinunter, um zu trinken, und wurde hineingezogen von dem machtvollen Schlund; der kleine Affe, grazil, schnell, gewitzt, schwang sich von Ast zu Ast und streckte seine Hände aus, um im Wasser zu plantschen, kam zu nahe, und der braune Stumpfbewegte sich und schnappte zu; das menschliche Kind kam ans Ufer, um zu spielen und verschwand [ ... ] die Kreatur überlebt. Viele Zeitalter sind verstrichen, seit es geboren wurde, viele schöne und seltene Arten existierten und wurden ausgelöscht [ ... ]. Vieles ist geflüchtet - aber Ach! um das, was in dem langen räuberischen Kampf der Zeiten dem starken Schlund und der langen Klaue und dem Giftbeutel nicht entkommen konnte! Ach! um die Arten des Lebens, vielleicht höher als alle, die wir kennen oder kennen werden, die in ihrem allerersten Anfang verschwanden und für immer unmöglich wurden!  (7. Kapitel)

Dies geht weit über Protest im gewöhnlichen Sinne des Wortes hinaus. In der Klage um alles, was verloren ging, scheint sie für eine Welt zu plädieren, die von Liebe und Miteinander regiert wird, und dies ist sicher ein unmöglicher Traum. Aber er ist nicht so lächerlich wie es klingt. Recht exakt führt die Schriftstellerin aus, daß keine Form menschlichen oder tierischen Lebens ohne den Mutterinstinkt hätte fortbestehen können:

  • Weder Mensch, noch Vogel noch Vieh, nicht einmal ein Insekt ist, was es ist und hat bis heute überlebt, nur weil der Stärkere Jagd auf den Schwächeren machte [...]. In der ganzen Natur sind Leben, Wachstum und Evolution nur durch die Mutterliebe möglich. Rühre daran, lege einen kalten Finger darauf, und bring es im weiblichen Herzen zum Schweigen, und in fünfzig Jahren würde auf dem Planeten Erde das Leben in all seinen höheren Formen ausgelöscht [ ... ]. Überall liegt dem Leben die Mutterliebe und die zärtliche Sorge um die Schwachen zugrunde, und je entwickelter das Geschöpf um so größer die Rolle, die sie spielt.  (7. Kapitel)

Weibliche Geschöpfe aller Zeiten und Arten, versichert sie, haben in der Geschichte eine lebenswichtige, wenn auch versteckte Rolle gespielt. Sie verteidigt ihr Recht auf andere Arbeiten (es hat keinen weiblichen Shakespeare gegeben, sagt sie, weil Frauen, die große Schriftstellerinnen hätten sein können, nicht erlaubt wurde, ihre Talente zu entwickeln), aber ihr Hauptargument ist, daß die traditionelle fürsorgliche Arbeit der Frauen unschätzbar ist und daß eine Frau dies mit dem Gebrauch ihres Kopfes verbinden kann. Der Mutterinstinkt sollte jedoch nicht auf die eigene Familie beschränkt bleiben; er kann und muß in Protest münden.
Schriftstellerinnen wie Mary Wollstonecraft und Olive Schreiner finden erst seit kurzem die Anerkennung, die sie verdienen. Es ist für uns unmöglich abzuschätzen, welche zeitgenössischen Schriftstellerinnen noch in einhundert Jahren gelesen werden (wenn die menschliche Rasse bis dahin überlebt), aber ich glaube, daß Christa Wolf eine Schriftstellerin ist, die auch noch im einundzwanzigsten Jahrhundert Bedeutung haben wird. Während so viele Schriftstellerinnen nie über die minutiösen Einzelheiten persönlichen Erlebens hinauskommen, konzentriert sich Wolf entschlossen auf die wichtigen Themen wie Leben, Tod und moralische Verantwortung. Mit Nachdruck ist sie eine Schriftstellerin des Protests. Eines ihrer Hauptthemen ist der Gegensatz zwischen den wenigen denkenden, sensiblen und unangepaßten Menschen - denen ihr Interesse gilt - und der gleichgültigen Mehrheit. Als Harriet Beecher Stowe Onkel Toms Hätte schrieb, bemerkte sie, daß die meisten Leute sich nicht über die Sklaverei entrüsten, wenn sie nun mal Bestandteil ihres Lebens ist. »Heutzutage sündigt man gefällig und manierlich, um Augen und Sinne der ehrbaren Gesellschaft nicht zu schockieren« (29. Kapitel). Und zu denken, daß ein Sklavenherr viel schlechter ist als der Rest, wäre ein Fehler, »Sein Herz war genau an der gleichen Stelle, wo Ihres, Sir, und meins bei genügender Anstrengung und Bearbeitung hätte hinkommen können [...] Ach, man kann sich an solche Dinge gewöhnen, mein Freund« (12. Kapitel).
Heutzutage wird Onkel Toms Hütte gewöhnlich nicht zu den großen Romanen gezählt, weil Mrs Stowe nicht im geringsten - um ein bei modernen Kritikern beliebtes Wort zu benutzen subtil war. Ihre Helden und Schurken sind in grellen Farben gezeichnet, und sie läßt keine Gelegenheit aus, ihren Lesern zu sagen, was sie denken sollen. Christa Wolf ist eine komplexe und kunstvolle Schriftstellerin, die immer beim Bewußtsein des Individuums ansetzt und daran politische Aussagen anschließt. Und obwohl ihre Technik sich deutlich von der Mrs Stowes und den anderen hier besprochenen Schriftstellerinnen unterscheidet und diese sicherlich bestürzt hätte, ist der Impetus, der hinter ihrer Arbeit steht, zum großen Teil der gleiche.
Uns allen wurde beigebracht, das »Normale« zu achten. Aber die zentrale Aussage in Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) ist, daß der Wunsch, sich anzupassen, wie jeder andere zu sein, zu unaussprechlichen Schrecken führen kann. Keiner in diesem Roman und gewiß keiner aus dem Umkreis der kleinen Nelly ist bereit, gegen die Nazis zu protestieren. Als die erwachsene Nelly versucht, ihre Erinnerungen im Zusammenhang mit den historischen Fakten zu sehen und erkennt, daß Faschismus in Ländern wie Chile immer noch existiert, fragt sie sich, wie es zu diesem »massenhaften Gewissensverlust« kommen konnte? (15. Kapitel). »Denn eher machen wir aus unseren Herzen eine Mördergrube als eine Räuberhöhle aus unseren gemütlichen vier Wänden. Leichter scheint es, ein paar hundert, oder tausend, oder Millionen Menschen in Un- oder Untermenschen umzuwandeln als unsere Ansichten von Sauberkeit und Ordnung und Gemütlichkeit« (9. Kapitel).
Die zynische Antwort ist, daß »man die Menschen nehmen muß, wie sie sind« (11. Kapitel). Gewiß zeigt die Autorin Spuren wütender Verachtung für die »schweigende Mehrheit«, eine Ansicht, die viele im Protest aktive Menschen teilen, doch erkennt sie, daß nur eine Minderheit aktiv Unrecht begeht. Problematisch wird es, wenn solche Menschen das Ruder der Gesellschaft übernehmen und Grausamkeit zur Norm wird; da sich niemand ganz aus dem, was um ihn herum geschieht, heraushalten kann, wird es für die Mehrheit immer schwieriger, eine weiße Weste zu bewahren. Harriet Beecher Stowe, die frei veröffentlichen konnte und die öffentliche Meinung zum großen Teil hinter sich hatte, konnte viel leichter protestieren als jemand unter der Naziherrschaft. Er kann nur aufhören, über bestimmte Dinge nachzudenken und bestimmte Fragen zu stellen, wenn er in Sicherheit und am Leben bleiben will. Nelly im Roman der Christa Wolf begreift, daß Mitgefühl eine »unpassende Empfindung« ist (7. Kapitel); sie unterdrückt es. Als ihre Tante Dottie im Rahmen des Euthanasieprogramms getötet wird, spricht die Familie nicht darüber (Es gibt immer noch Leute, die geistig Behinderte am liebsten töten würden). Als die Einheit ihres Vaters zur Exekution von Geiseln herangezogen wird, ist er entsetzt, aber wir erfahren, daß er nicht so weit gehen kann, öffentlich zu protestieren:

  • Der Saucenfleck, den Nelly auf das frische Tischtuch gemacht hat, ist gebührend gerügt worden [...] Es ist nicht denkbar, daß irgendein Handgriff geändert oder unterlassen würde, bloß weil die Nachricht einging der Vater wäre um ein Haar zum Mörder geworden.  (8. Kapitel)

Zwei winzige Ereignisse im letzten Kapitel weisen auf die Existenz eines alternativen Wertsystems hin. Nelly, die immer noch an den Nationalsozialismus glaubt, weigert sich, sich dem sterbenden Kind Hannelore zu nähern, und fragt, was sie das angehen würde. Schließlich ändert sie ganz ohne Druck ihre Meinung. Dann ist da noch die Unterhaltung der erwachsenen Nelly mit dem Grenzsoldaten:

  • Er fragt: Soll ich mich vielleicht auch noch um jeden toten Vogel kümmern? Soll ich vielleicht meine Mütze darunterhalten, damit keiner aus dem Nest fällt?
    Da hat er recht, das kann er nicht.  (18. Kapitel)

Es ist unmöglich, jeden Vogel oder jedes Kind zu retten, aber dennoch wichtig, sich darum zu kümmern. Christa Wolf ist wie die anderen hier beschriebenen Autorinnen der Auffassung, daß wir auf unsere instinktiven Gefühle vertrauen und sie nicht, weil sie »weiblich« sind, schamhaft unterdrücken sollen. Wir wissen alle, daß manche Frauen genauso gewaltsam und konformistisch wie manche Männer sein können. Aber im großen und ganzen haben Frauen, gerade weil sie von der Entscheidungsgewalt ausgeschlossen waren, Werte entwickelt, die sich von denen der Politiker und Militärs sehr unterscheiden. Darum haben sich in Vergangenheit und Gegenwart einige dem Protest angeschlossen.

Protest aus Frankreich

  • »Reich muß man zu sein scheinen, das bestimmt die Mode, die Gewohnheit, an die man sich hält; bietet sich einem ein Hindernis, beseitigt man es mit einer Ungerechtigkeit. (Lettres d'une Péruvienne, 1747, S. 269)

Die für ihre Zeit sehr originellen zivilisationskritischen Äußerungen der Madame de Grafigny (Francoise D'Issembourg d'Happoncourt) stellen recht unverblümt eine Gesellschaft in Frage, in der Ansehen, auch Überlegenheit, letztlich nur noch eine Frage des Geldes sind und entlarven den falschen Glanz eines Reichtums, an den man sich um so mehr klammert, je weniger er wirklich vorhanden ist. Sie knüpft mit ihrer Zivilisationskritik an die 1720 erschienenen Lettres persanes von Montesquieu an, der wie sie über die Konfrontation zweier Kulturen, eine Gesellschaft im Auflösungsprozeß darzustellen versucht. Während Montesquieu seine kritischen Äußerungen auf ganz Europa ausdehnt, beschränkt sich Madame de Grafigny auf Frankreich, welches sie aus der Sicht einer >,edlen Wilden«, der Inkaprinzessin Zilia, beschreibt. Die Originalität dieser Briefe liegt nicht zuletzt in der Behandlung des Frauenthemas: die negativen Auswirkungen einer auf der Ungleichheit der Geschlechter basierenden Gesellschaft und eines Bildungssystems, in dem Frauen praktisch zur Unbildung verdammt werden, sind selten zuvor so deutlich ausgesprochen worden. Den Frauen fällt in dieser spätfeudalen Gesellschaft einerseits die Rolle der Repräsentantin eben dieses Reichtums zu - sie wird zum Ausstellungsstück: »Da er kein Vertrauen zu ihr hat, sucht ihr Mann sie auch nicht dazu anzuhalten, sich seiner Geschäfte, seiner Familie und seines Hauswesens anzunehmen. An dem ganzen kleinen Universum partizipiert sie nur durch die Repräsentation« (S. 293). Andererseits haben die Männer das Recht, jede Frau zu hintergehen und zu betrügen, zu verleumden, ohne damit Tadel oder Strafe auf sich zu ziehen. Einher mit diesen verächtlichen Praktiken geht die rücksichtslose Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft. » (...) fern davon, der Schwäche der Frauen Rechnung zu tragen, finden die schwer arbeitenden Frauen des Volkes Erleichterung weder beim Gesetz noch bei den Männern« (S. 28-7). An dieser Stelle weist Madame de Grafigny darauf hin, daß die Männer im Inkareich von Gesetzes wegen die Frauen schützen und vor Ausnutzung bewahren müssen, d. h. nur eine Gesetzesänderung könnte die ungerechten Verhältnisse in Frankreich, wo die Gesetze den Männern all die Rechte geben, die sie den Frauen vorenthalten, beenden. »Und wirklich, mein lieber Aza, wie sollten die Frauen sich nicht gegen die Ungerechtigkeit der Gesetze auflehnen, die den Männern eine Straffreiheit gewähren, die ebenso exzessiv ist wie ihre Autorität.« (S. 294) Diese Zivilisationskritik legt scharfsinnig die dekadenten Gesellschaftsverhältnisse des Ancien Régime bloß, als da sind Prestigebedürfnis der Adligen und Luxussucht, Parasitentum und Unbekümmertheit des elitären Daseins; daß sie diese Kritik am »französischen Wesen« mit der Frauenfrage verbindet, macht Madame de Grafigny zu einer der wichtigsten Fürsprecherin und Vorkämpferin für die Sache der Frau.
Nicht die ungerechten Gesetze, sondern die durch die Männer verfestigte erzieherische Konzeption prangert Madame Riccoboni an; sie ist es, die Unterlegenheit und Schwäche der Frauen provoziert: »Erzieht Ihr uns etwa nicht in Milde und Sanftmut, macht Ihr uns etwa nicht schwach und schüchtern, um Euch das gleiche grausame Vergnügen zu verschaffen wie jene Jäger, die ruhig dasitzend, die unschuldige Beute in ihre Falle gehen sehen, nachdem sie sie mit List dahin gebracht haben, sich in ihren Netzen zu verfangen?« (Lettres de Miss Fanni Butlerd, 1757, S. 194). Mit dieser Einschätzung weist Madame Riccoboni auf ein sich bis heute erhaltenes Dilemma der Frauen hin, welches sich darin äußert, daß moralische Tugenden wie Sanftheit und Güte fast immer an der Macht des Stärkeren scheitern, anstatt sie zu begrenzen oder gar außer Kraft zu setzen. Noch im Triumph über ihren Geliebten, der dadurch charakterisiert ist, daß sie sich von ihrem Opferstatus befreit und verantwortlich für ihr Handeln zeigt, verharrt Fanni Butlerd in anklagendem Leid. Die Stärke der Frauengestalten bei Madame Riccoboni liegt in ihrem Streben nach Selbstbehauptung und in ihrer Ungebundenheit, die sich in ihrem steten Beharren auf eigener Urteilskraft sowie jeden Verzicht auf ein Eingebettetsein in Systeme jeglicher Art äußern. Mit einem hohen Maß an Selbstwertgefühl, welches sich einerseits in dem Bewußtsein ihrer Liebesüberlegenheit, andererseits aber auch in dem Wunsch nach Unabhängigkeit verbirgt, fühlen die Frauen in ihren Romanen mit den Unterdrückten. »Ich sah wenig Menschenfreunde ihren Prinzipien getreu handeln (...). Den Bruder meiner Mutter [...] sah ich [...] eines Abends [...], den Stock in der Hand, einen reizenden kleinen Neger verfolgen, dessen Sanftmut und Natürlichkeit mir gefielen.
Ich rettete das Kind vor der Wut seines Herren und fragte nach dem Vergehen, das ihm so harte Bestrafung zugezogen habe Versehentlich hatte er soeben Wasser über die Papiere des unermüdlichen Schriftstellers vergossen. Wovon handeln denn diese kostbaren Blätter?, fragte ich meinen gereizten Verwandten. Vom Glück eines Teils der Menschheit, antwortete er leidenschaftlich; es ist das Werk meiner Empfindsamkeit, meinem Herzen am teuersten, es wurde mir von zarter Menschlichkeit eingegeben. Ich weise darin die Grausamkeit unserer Plantagenbesitzer nach, das Unrecht der Europäer, die sich nicht damit begnügen, zu einem schamlosen Handel zu ermutigen und davon zu profitieren, sondern sich das barbarische Recht zur Mißhandlung unglücklicher Sklaven anmaßen, deren Arbeiten sie bereichern. - An Ihrer Stelle, lieber Onkel, unterbrach ich heftig, begänne ich mein Mitleid dadurch zu zeigen, daß ich nicht den einzigen umbrächte, dessen Geschick von mir abhinge« (Lettres de milord Rivers à Sir Charles Cardikan, 1776, S. 162-63). Dieser Widerspruch zwischen der politischen Theorie und der konkreten Lebenspraxis vieler Männer wird von den Autorinnen immer wieder beklagt und angefochten.
Die dritte der bekannteren Romanautorinnen des 18. Jahrhunderts ist Isabelle de Charriére; ihr literarisches Schaffen charakterisiert sich im Spannungsfeld zwischen einer realistischen Selbsteinschätzung und der verzichtbereiten Selbstgenügsamkeit der Frau. Als unerläßliche Vorbedingung für eine Veränderung der sozialen und ethischen Bedingungen weiblicher Existenzmöglichkeit, nennt sie die Befreiung von Etikette und Übereinkommen, von der Versklavung durch das Geld und ein verbessertes Erziehungssystem, in dem Frauen in ihren intellektuellen Fähigkeiten nicht länger benachteiligt werden. Allerdings beläßt Isabelle de Charriére ihre Protagonistinnen weitgehend in der Defensive, die von der Möglichkeit ihres Bewegungsspielraums kaum Gebrauch machen. Eine Ausnahme bildet ihr Werk Trois Femmes, welches sie erst nach der Revolution, 1795 geschrieben hat; hier gründen drei Frauen Modellschulen und stellen pädagogische Experimente an, die der veränderten, auf absoluter Gleichheit basierenden Gesellschaftsordnung Rechnung tragen sollen.
Damit ist der Übergang zur nachrevolutionären Ära geschaffen: während der Aufstand der Frauen im 18. Jahrhundert noch geprobt wird, findet er im Verlauf der Französischen Revolution wirklich statt.
Marie Olympe de Gouges, eingegangen in die Geschichte als Dossier 210 in den Archives Nationales: »Nom: Aubry (Marie Olympe de Gouges) /Profession: femme auteur/Jugement: mort/Date: 12 brumaire an 11« und verbannt in die verstaubten Magazine der Pariser Nationalbibliothek. Nur
dort sind letztlich, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, ihre Werke zugänglich: sie umfassen Reden, Theaterstücke, Manifeste, Korrespondenzen und andere Broschüren. Schon 1788 nahm sie Kontakt zur revolutionären Bewegung auf und schrieb ihre Lettre au peuple, ou Projet d'ane Caisse Patriotique (Brief an das Volk, oder Entwurf für eine patriotistische Kasse), vorgelegt von einer Bürgerin. Sie schlägt darin vor, eine Kasse für eine freiwillige Abgabe zu gründen, um das Defizit im Staatshaushalt abzubauen. Allerdings begreift Olympe de Gouges sich immer als autonom handelnde Frau, die ihre eigenen Wege geht, alles Gleichförmige ablehnt und keinen Grund sieht, sich unterzuordnen oder im Gleichschritt mit anderen zu gehen. »Abhold jeglicher Intrige, jenseits aller Parteien, deren leidenschaftliche Kämpfe Frankreich gespalten haben, bahnte ich mir einen neuen Weg; mich nur auf meine eigenen Augen verlassend, nur meiner inneren Stimme gehorchend bin ich den Törichten entgegengetreten, habe ich die Niederträchtigen angegriffen und mein ganzes Vermögen der Revolution geopfert« (An das Revolutionsttibunal, Archives Nationales Paris, zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1980, S. 122). Schon sehr früh setzt sich Olympe de Gouges für die Rechte der Negersklaven ein; eines ihrer ersten Theaterstücke und eines der wenigen, die zur Aufführung gelangten, hieß Zamore et Mirza, ou l'heureux naufrage. Im Jahre 1784 reichte es die Schriftstellerin bei der Comédie Francaise ein; aufgeführt wurde es jedoch erst im Dezember 1789 unter dem Titel L'Esciavage des nigres. Die Schwarzen, so lehrt ihr Stück, leben naturverbundener als die Europäer, und ihre Menschlichkeit soll für die Weißen Vorbild sein. In gleicher Weise, wie sie sich für die Rechte der Schwarzen einsetzt und sich auf die natürliche Gleichheit beruft, tut sie es später immer wieder für die Frauen. Berühmt geworden ist ihre Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne von 1791, eine Schrift, die sie zu einer Wegbereiterin des modernen Feminismus machte.

  • Artikel I.- Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne ebenbürtig in allen Rechten. Unterschiede im Bereiche der Gesellschaft können nur im Gemeinwohl begründet sein. [...]
  • Artikel VI. Das Gesetz soll Ausdruck des Willens aller sein; alle Bürgerinnen und Bürger sollen persönlich oder über ihre Vertreter zu seiner Entstehung beitragen, für alle sollen die gleichen Bedingungen Geltung haben. [...]
  • Artikel X. Niemand darf wegen seiner Meinung, selbst in Fragen grundsätzlicher Natur, Nachteile erleiden.
    Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen, gleichermaßen muß ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen, sofern sie nicht in Wort und Tat die vom Gesetz garantierte öffentliche Ordnung stört.  (S.42-43)

Im zweiten Teil der Schrift, Entwurf eines Gesellschaftsvertrages zwischen Mann und Frau, finden sich Ansätze einer feministischen Kritik an den Gegebenheiten des männlich strukturierten Gesellschaftsapparates, und die Autorin vermittelt eine Ahnung von den positiven Möglichkeiten einer partnerschaftlich organisierten Gesellschaft.
Spätestens 1791, als die Nationalversammlung ihre neue Verfassung verabschiedet, wurde klar, daß die Menschen- und Bürgerrechte nur auf eine kleine männliche Minderheit angewendet werden sollten; Frauen, genausowenig die nichtbesitzenden Arbeiter und Kleinbürger, zählten nicht zu den wahlberechtigten »Aktivbürgern« und durften demzufolge auch keine öffentlichen Funktionen übernehmen. Auch die jakobinische Verfassung von 1793 machte die Frau nicht zur vollwertigen Staatsbürgerin. Zwar zeigte man sich im sogenannten Sechserausschuß bei der Beratung der Verfassung gegenüber den Forderungen nach Frauenstimmrecht nicht abgeneigt, hielt es aber für notwendig - aufgrund der Fehler im Erziehungswesen -, die Frauen wenigstens für ein paar Jahre vom Stimmrecht auszuschließen. Später beschloß der Konvent auf Vorschlag des Sicherheitsausschusses das Verbot aller weiblicher Vereinigungen und die Aufhebung des Versammlungsrechts für Frauen. Der völlige Ausschluß der Frau, der schließlich von der patriarchalisch-bürgerlichen Gesellschaft im Code Civil verankert wird, hat hier schon seinen Ursprung.
Die Entwicklung der kapitalistischen Industrie von 1830-1848, ermöglicht durch technische Fortschritte sowie die massenhafte Einbeziehung von Frauen und Kindern in die Großmanufakturen, beschleunigt und »radikalisiert« den Ausbruch der Arbeiterbewegung. Die Schulen des utopischen Sozialismus entwickeln Konzepte, um das soziale Ziel zu eliminieren und um die Klassenwidersprüche zu versöhnen. Nicht nur die Arbeiterschaft, sondern die Gemeinschaft aller Frauen waren das Ziel jener Versprechen, und ihre Entrüstung über den Verrat an der Hälfte der Gesamtbevölkerung findet Ausdruck in dem verstärkten politischen Engagement vieler Autorinnen.
Die auf das harmonische Zusammenleben in der Gesellschaft abzielenden Ansätze, die im weitesten Sinne menschenfreundlichen Lehren der Saint-Simonisten, ermöglichen überhaupt erst, daß Frauen die Idee von einer notwendig autonomen Selbstbefreiung für sich umsetzen und ihre Beiträge zur eigenen Emanzipation und zu der des »Volkes« laut werden lassen. Das Engagement der Frauen gegen patriarchalisch-bürgerliche Institutionen Justiz, Parlament) - welches sie schon als qualitativ andere Intervention gegenüber dem der Männer begreifen - ist zum Teil aber noch stark in den »utopischen« ökonomischen Einschätzungen der Saint-Simonisten verhaftet.
Bemerkenswert ist die Gründung einer Frauenzeitschrift La femme libre der Arbeiterinnen Marie-Reine Guindorf und Désirée Véret im August 1832, die später von Suzanne Voilquin übernommen wird. Diese »filles du peuple« (Mädchen aus dem Volke) konzentrieren sich vorrangig auf ein autonomes Handeln im Kampf um die Befreiung der Frau; sie zeigen in ihrer Autonomie und Praxis mit Frauen, daß Proletarierinnen sich nicht notwendig darauf reduzieren lassen, an der Seite der Männer für die alleinige Befreiung der Arbeiterklasse zu kämpfen. Auch wenn ihr Engagement für eine sexuelle Befreiung als untrennbare politische Dimension der Emanzipation der Frau gewiß durch die Initiative der Männer innerhalb der saintsimonistischen »Familie« mit der Tabuisierung des Themas der Sexualität zu brechen, mitproduziert wurde, so bedeutet das Auftreten der »filles du peuple« eine Eigenständigkeit der männlichen saint-simonistischen Theorie gegenüber. »Wir werden nur Artikel von Frauen abdrucken und begrüßen alle, die in dieser Broschüre schreiben wollen [...]. Wir werden über Moral, Politik, Industrie, Literatur und Moden sprechen, aber nicht gemäß der vorherrschenden Meinung und mit ihren Vorurteilen, sondern nach unserem Herzen. Wir werden weniger auf Wissenschaftlichkeit und Eleganz des Stils achten als auf die Freimütigkeit und Offenheit der Gedanken, denn wir wollen vor allem, daß die Frauen sich aus ihrem Zustand der Gezwungenheit und Hemmung, in dem die Gesellschaft sie festhält, befreien und mit aller Aufrichtigkeit ihres Herzens zu sagen wagen, was sie für die Zukunft erahnen und wollen« (Marie-Reine, La Femme libre, No. 1, S. 8). Ein äußeres Zeichen ihrer Selbstbestimmung setzen die »filles du peuple« mit der Verweigerung, Namen ihrer Männer zu tragen; der »männliche« Name repräsentiert für sie nur die sich gegen alle Frauen richtenden Herrschaftsverhältnisse.
Während die Frauen eine Öffnung nach außen versuchen, sich auflehnen gegen ihre doppelte Unterdrückung als Frauen und als Proletarierinnen, vollzieht die »Männerfamilie« mit der Intensivierung ihres Sektenlebens einen umgekehrten Prozeß, als sie ihren Rückzug in das zölibatäre Gemeinschaftsleben antreten, um auf die »Oberste Mutter« zu warten. Schließlich drängt ihre Verherrlichung der Industrie, der Auf- und Ausbau dieser produktiven Kraft, die Anliegen der Frauen wieder ganz in den Hintergrund. »Weder die Gewalt noch die Industrie haben die Frau jemals vereinnahmen können. Ihre Natur widersteht immer wieder den repressiven Gesetzen der Männer, die ihre Rechte negieren« (Suzanne Voilquin, Souvenirs dune fille du peuple, 1865, S. 202).
In dem Bewußtsein: Der Schritt einer Ameise hat Gewicht auf dieser Welt (ein Satz von Lamartine, den Suzanne Voilquin ihren Erinnerungen voranstellt), schreibt sie ihre Lebensgeschichte, die sie ihrer Nichte Suzanne und allen Frauen widmet. »Sich verweigern« den Interessen einer materiell orientierten und ausbeuterischen Gesellschaft, den sexualmoralischen Ansprüchen einer hierarchisch geprägten Männerwelt, der »institutionalisierten« Liebesbeziehung - und nur den selbst aufgestellten Regeln entsprechen wollen, bedeutet für Suzanne das Eintauchen in eine Welt mit den Schwachen, den Armen und den Frauen. Die Verbindung von »Klassenkampf« und Frauenbewegung, m.a.W die Emanzipation der Frauen als Voraussetzung für die Befreiung der Arbeiterklasse anzunehmen, befindet sich noch in ihren Anfängen; der Beginn einer neuen, weiblich orientierten Realität wird von den saint-simonistischen Redakteurinnen postuliert, und Suzanne Voilquin überschreitet allein, d.h. ohne männlichen Partner, die Grenzen der gesellschaftlichen Ordnungen, in die eine Frau damals eingebunden war (und heute sehr oft noch ist), trotz sozialer Unsicherheit, trotz der nie zu überwindenden Angst vor Gewaltanwendung - Angst als unvermeidbare Folge des sich eingestandenen Andersseins, der Verweigerung männlichen Schutzes -, die in der existenziellen Angst vor der Vergewaltigung kulminiert.
Claire Démar, eine begeisterte Vertreterin der saint-simonistischen Schule, begeht im August 1833 Selbstmord in einem Moment des tiefempfundenen Widerspruchs, der sich zwischen den »Glaubenslehren« einer »frauenfeindlichen« Männerwelt und den täglich neu empfundenen Grenzen eines Frauenlebens aufgetan hat. Ihre Selbständigkeit drückt sich in der Forderung nach Auflösung der bestehenden Eheverhältnisse aus, die sie in ihren fatalen Auswirkungen, Prostitution und Ehebruch, als Resultat der bürgerlich-patriarchalischen Doppelmoral beschreibt. Der Ausweg aus dieser Beziehungsmisere kann nur in der Schaffung eines völlig neuen Vertrauensverhältnisses möglich werden. Die Zerstörung der Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau, »die Revolution in den Beziehungen der Geschlechter« (Appel dune femme au peuple sur l'affranchissement de la femme, 1833, S. 16), kann ihrer Meinung nach nicht über vereinzelte Kämpfe oder eine Modifizierung bürgerlicher Gesetzgebung erreicht werden, sondern die Austragung des Kampfes muß überall dort stattfinden, wo sich diese Verhältnisse manifestieren. »Die Revolution in den Beziehungen der Geschlechter vollzieht sich nicht an den Straßenecken oder auf öffentlichen Plätzen während drei schöner Sonnentage, sondern zu jeder Stunde, an jedem Ort: in den Theaterlogen, bei den Wintergesellschaften, während der Sommerspaziergänge und während der langen Nächte, die oft und öfter im Ehebett vergehen. Diese Revolution untergräbt und höhlt unaufhörlich das große Gebäude unserer Gesellschaft, das zum Vorteil des Stärkeren errichtet wurde, und läßt es Stück für Stück, wie ein Gebirge aus Sand abbröckeln, auf daß eines Tages auf besser geebnetem Boden der Schwächere mit dem Stärkeren auf gleicher Höhe voranschreiten und unter denselben Bedingungen die Summe an Glück fordern kann, die jedes soziale Wesen mit Recht von der Gesellschaft verlangen kann« (S. 21-22).
Claire Démar unterscheidet sich von ihren Zeitgenossinnen dadurch, daß sie die Ausbeutung der Frau nicht nur als klassenspezifische, sondern vor allem als geschlechtsspezifische, d.h. sexuelle Ausbeutung entlarvt. Sie deckt den Widerspruch zwischen den Reproduktionsaufgaben der Frau, ihren sozialen Leistungen für die Gesellschaft und der gesellschaftlichen Entmachtung auf Darüber hinaus analysiert sie die qualitativ andere Unterdrückung der Frauen als Relegierung in die Familiensphäre und als Zensur oder als Verbot der eigenen Artikulierung durch die Diskriminierung weiblicher Revolte von seiten der Männer.
George Sand, Zeitgenossin von Flora Tristan, wird in den Hauptwerken bürgerlicher Literaturgeschichtsschreibung als Schriftstellerin geehrt, im Gegensatz zu Flora Tristan, die in Vergessenheit geriet. Die Popularität von George Sand ist mit darauf zurückzuführen, daß sie im damaligen Salonleben weitgehend integriert war und der männlichen Anerkennung offensichtlich bedurfte. Das Durchbrechen von bestimmten moralischen Normen ihrer Zeit, die Proklamierung der »femme libre« und ihre spätere Begeisterung für das Proletariat können nicht darüber hinwegtäuschen, daß George Sand in ihrem individualistischen, bisweilen gar rührseligen Feminismus, ihrem männerangepaßten »Verhalten« sowie in ihrer rauhen Beurteilung von engagierten - für die Frauenemanzipation - kämpfenden Frauen eine öffentliche Austragung des Problems der Frauenunterdrückung verhindert und seine politischen und gesellschaftlichen Dimensionen reduziert. Sich Exponieren heißt gerade für Frauen, die Ideologie des privaten Unglücks der einzelnen Frauen umzuwerfen und die weibliche »Pariaexistenz« als eine kollektive zu begreifen.
Die Erfahrung einer persönlichen Unterdrückung und der aus ihr resultierende Wille, die Unterdrückung aller Unterdrückten zu verhindern, kennzeichnen das Werk Flora Tristans, welches neben ihren Reisebeschreibungen ihrer Erfahrungen in London und Peru, einen Roman, politische Broschüren, Briefe und Tagebuchnotizen umfaßt. In dem »autonomen« politischen Verhalten Flora Tristans - sie unterlag im Gegensatz zu den »filles du peuple« nicht dem direkten Einfluß der sozialutopischen Theorien -, getragen von der Erkenntnis der dem kapitalistischen System innewohnenden Ausbeutungsformen, dem Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat und einer tendenziellen Entlarvung der Vergesellschaftung der Arbeit als Widerspruch zu deren privater Aneignung durch die Reichen, drückt sich ihr Kampf um die Emanzipation der Frau wie auch ihre politische Weitsichtigkeit aus. Ihre Schlußfolgerungen, die sie nicht der Lektüre ökonomischer Werke oder irgendeiner systematischen Bildung verdankt, sondern sowohl ihrer sensiblen Beobachtungsgabe, als auch der unermüdlichen Arbeit bis an die Grenze der Selbstaufopferung im Dienste der französischen Arbeiterklasse, brechen mit dem Gedankengut des utopischen Sozialismus und betreten schon das Terrain fundamentaler Prinzipien des marxistischen Sozialismus. Sie stirbt auf ihrer Rundreise durch Frankreich, auf die sie sich 1844 begeben hat, um ihren Entwurf für die Organisation der »Arbeiterunion« bekanntzumachen, in dem sie die volle Gleichberechtigung der Frauen als unerläßliche Voraussetzung für die Arbeiteremanzipation fordert (Union ouvriére, 1843). Der Internationalismus von Flora Tristan spiegelt ihre Erkenntnis, daß die Lage der Arbeiter in allen kapitalistischen Ländern die gleiche ist und daß das Proletariat eine internationale Klasse ist. Auf ihrer Reise nach Peru erkennt sie, daß auch die unterdrückten Völker, die Frauen und die Sklaven dieser »Interessengemeinschaft« des Proletariats angehören und fordert in diesem Zusammenhang gezielte Alphabetisierungskampagnen (Périgrinations d'une paria, 1838). Schon 1835 formuliert Flora Tristan die Notwendigkeit einer weltweiten Vereinigung für alle Unterdrückten und veröffentlicht ein kleines Werk: Nécessité de faire un bon accueil aux femmes itrangires, mit dem sie zum ersten Mal an die Pariser Öffentlichkeit dringt. »Hervorragende Gelehrte beschrieben unser Zeitalter recht treffend, indem sie es als eine Epoche des Übergangs in der sozialen Ordnung und der Erneuerung des Menschengeschlechts bezeichneten. Die Grundfesten, auf denen die vergangene Gesellschaft des Mittelalters ruhte, sind zerfallen - für immer zerfallen -, und auf ihren Überresten versucht eine neue Gesellschaft sich aufzubauen. Allerorten hört man den Widerhall einmütiger Stimmen, die neue Institutionen für die neuen Bedürfnisse fordern - Stimmen, die nach Assoziation und Vereinigung rufen, auf daß in gemeinsamer Anstrengung für die Entlastung der schmachtenden Massen gearbeitet werden kann, denn als einzelne sind sie schwach und nicht einmal in der Lage, sich zu erheben und gegen die letzten Anstrengungen einer überkommenen, verlöschenden Zivilisation zu kämpfen« (S. 3). Doch hat diese Broschüre, neben ihrem »gesamtpolitischen« Interesse, noch eine frauenspezifische Bedeutung, die sich in der Idee der Konstruktion von Häusern für die Frauen, unterstützt durch öffentliche Mittel, manifestiert. Diese Einrichtungen sind nicht nur der Ort des Miteinanderwohnenkönnens, sondern dienen zugleich einer Art »Erziehungsmaßnahme«, die den Frauen solidarisches Verhalten untereinander, wechselseitige Hilfeleistungen u.ä. ermöglichen soll. Darüber hinaus bieten sie Möglichkeiten des gemeinsamen Kampfes gegen die Unterbewertung weiblicher Arbeitskraft und für die Aufhebung des Konkurrenzverhaltens bei den Frauen untereinander.
In ihrem Werk Promenades dans Londres (1840), setzt sich Flora Tristan mit der Prostitution auseinander, reflektiert ihre Ursachen und problematisiert die bürgerlich-männliche Doppelmoral in diesem konkreten Zusammenhang.
Die Prostitution, und damit meint sie die subjektive Fähigkeit der Prostituierten, sich täglich selbst auszulöschen, empfindet Flora als Wahnsinn und erlebt sie außerhalb der menschlichen Empfindungsmöglichkeiten; ihr positives Verständnis von Moral, die Selbstachtung und Achtung des anderen als menschliches Wesen stehen im eklatanten Gegensatz zum »Laster« als Zerstörung, Mißachtung, Reduktion und Ausbeutung des Mitmenschen. Die konkreten Ursachen dieser Form von Prostitution liegen in der Sozialisation der Frauen, die nur unter dem Einfluß der Doppelmoral, welche Flora hier explizit angreift, vonstatten geht, sowie in der ökonomischen Basis, bzw. den mangelnden Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen begründet. Flora Tristan sieht in diesem Zusammenhang im industriell entwickeltsten Land Europas zu dieser Zeit die Proportion der Produktion an Reichtum für wenige und der demgemäß steigenden Armut und anwachsenden Zahl von Prostituierten, Frauen und Kindern.

  • Die Freudenhäuser sind die Tempel, die der englische Materialismus seinen Göttern erbaut! Die Diener, die jene bedienen, sind reich gekleidet; die industriellen Eigentümer dieser Einrichtungen begrüßen unterwürfig die männlichen Gäste, die dorthin kommen, um ihr Gold gegen Unzucht und Ausschweifung zu tauschen (S. 130).

Die Mädchen aus den ärmeren Schichten, d.h. aus der Arbeiterklasse, werden in ihrem Kampf um Arbeitsplätze auf dem Land oder in Manufaktur- und Fabrikbetrieben, der oft ein Kampf um das (!erleben wird, aus Hunger in die Prostitution getrieben. Sogar am Arbeitsplatz ist die Arbeiterin dem geschlechtlichen Abhängigkeitsverhältnis unterworfen: sie wird nicht nur schlechter bezahlt, sondern unterliegt darüber hinaus den Nachstellungen und Täuschungen der Chefs, Fabrikbesitzer oder Feudalherren. Diese Brutalisierung der Reichen durch ihre im materiellen Besitzstreben deformierten, pervertierten Emotionen und die damit zusammenhängende Reduktion auf eine ausbeuterische, degradierende Sinnlichkeit setzt sich, nach Ansicht Flora Tristans, in den armen Klassen fort. Ihr moralisches Verurteilen von prostituierten Frauen ist für die Autorin genauso ausbeuterisch. Diese für Flora unfaßbare Depravation selbst im Volk, die sie sowohl als Folge der anglikanischen Religion und der »Scriptural Education« wie auch der Korrumpierung durch die Laster der oberen Klassen beschreibt, schlägt sich konkret in der Tatsache nieder, daß die Mißhandlung einer Prostituierten (oder ihre Tötung) auf offener Straße, am hellichten Tag, weder vom Eingreifen »Unbeteiligter« verhindert wird noch eine Verfolgung durch die Polizei Justiz) nach sich zieht. Flora geht hier über eine Beschreibung des von ihr selbst beobachtenden Faktums nicht hinaus bzw. bleibt bei der Erklärung für die Verbreitung dieser sich so dargestellten Doppelmoral in allen Volksschichten allein auf der Ebene der Verdinglichung der Gefühlswelt stehen.
Flora Tristan zählt unter ihren Zeitgenossen zu denen, die die Folgen der Industrialisierung schon in ihrer Frühphase bemerkt und bewußt beobachtet haben und versuchten, aus ihren Beobachtungen eine Alternative zum Kapitalismus, wie er sich ihnen darstellte, zu entwerfen, eine Alternative, die das Elend des Proletariers beenden sollte. Doch der Wille zur Praxis ist bei ihr stärker und deutlicher zum Ausdruck gekommen als bei den männlichen Theoretikern.