Bilder neuer Welten

Else Lasker-Schüler hat sicherlich am stärksten dazu beigetragen, daß sich im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts das Bild von der Eigenart und vom Vermögen schreibender Frauen tiefgreifend gewandelt hat. In zweifacher Hinsicht, die neu verstehen ließ, was eine »Dichterin« sein könne: Sie hat, zum einen, eine Rollenverteilung durchbrochen, wonach die dichtende Frau vor allem auf ein Terrain zu fixieren sei, auf dem sie tradierte weibliche Funktionen - als Liebende, Gattin, Mutter - wahrzunehmen und als Sprecherin individueller Lebenserfüllung ihr Eigentliches vorzubringen habe. Solche Rollen auszufüllen, solchen Erwartungen zu entsprechen, hat sich Else Lasker-Schüler - bewußt und mit Konsequenz provokativ - geweigert, sie hat Ansprüche neuer Art angemeldet und neue Maßstäbe einzusetzen geholfen. Mit ihren Gedichten, zum anderen (nicht vom Gesamtwerk, das mehr als die Lyrik umfaßt, kann im Folgenden die Rede sein), hat sie bis dahin ungehörte Töne und Sprechweisen, ein neues Greifen nach Welt in die deutsche Dichtung überhaupt eingebracht, so die Felder des Sagbaren wesentlich erweitert und von dem, was das Gedicht zu leisten vermag, neue Dimensionen sichtbar gemacht. Mit ihr hat sich auch eine Emotionalität offenbart, die vielleicht Spezifisches im authentischen Gedicht von Frauen ausmacht - in seiner Positivität und allgemeinen Produktivität wäre es zu bestimmen durch das, was hier ausgeschlagen wird: Härte, Kälte, treffender Witz, verletzender Zynismus. Aus dem gegebenen Rahmen eines bürgerlichen Lebensablaufs und den eingeführten Verhaltensmustern hat sich Else Lasker-Schüler erst herausarbeiten müssen. Nur so konnte sie ihr eigenes Gesicht, ihre Sprache, die ihr gemäße Gestalt schaffen; etwa um das Jahr 1905 ist diese Gestalt und das ihr eigene Selbstbewußtsein wesentlich ausgeprägt. Da ist sie (was sie aber damals und später zu kaschieren verstand) schon 35 Jahre alt. Was die Lasker nicht sein wollte: bürgerliche Ehefrau, Dame, »wie die Berliner Puppen«, eine der Künstlerinnen oder Frauenrechtlerinnen oder Corsettfabrikantentöchter mit künstlichen Busen oder Lockenfrisuren (Br. 1,41 u. 69). Dann lieber wie ein Knabe, ein Vagabund, der über die Bürger lacht, der verkleidete Orientale, der weiß: »Ich bin ein verprügelter Junge, ein verwundeter Prinz« (Br. 1,136). Auf solche Weise schuf sie das Gegenbild einer jungenhaften, herben, ungebändigten Frau (das sie auch durch ihren äußeren Habitus sinnfällig machte), die nicht mit bürgerlichen Maßen und quasinatürlichen Normen gemessen werden wollte; für sie als Dichterin sollte auch das Alter keine Rolle spielen und nicht ihre reale Biographie. Das wird - ein spätes Beispiel - überdeutlich in ihrem Beitrag zu Führende Frauen Europas (1930), der sich in seiner Eulenspiegelei und Selbstmystifikation demonstrativ von allen anderen »Selbstschilderungen« abhebt, die Elga Kern 1930 herausgegeben hat (vgl. Else Lasker-Schüler: Etwas von mir. In: Führende Frauen Europas.) Für den Aufbruch in diese Richtung waren verschiedene Kreise im Berlin der Jahrhundertwende von wesentlicher Bedeutung. Dazu zählen, nach der »Neuen Gemeinschaft« der Harts, vor allem »Die Kommenden«1 eine literarische Vereinigung mit »wilden Diskussionen« und »voller Ungezwungenheit« - so charakterisiert sie Stefan Zweig in Die Welt von gestern (S. 139) - und die Gruppe um die Zeitschrift »Der Kampf«. Peter Hille, Peter Baum und die Lasker hätten - so Erich Mühsam in Unpolitische Erinnerungen (S. 518) - bei den »Kommenden« eine »eigene lyrische Melodie« gespielt, deren »Grundnote« aus dem »Zusammenklingen von Jean-Paul-hafter Bildfreudigkeit und psalmodierender Getragenheit« entstand. Im »Kampf«-Kreis trafen sich ebenfalls Mühsam, Hille, Herwarth Walden, weiter Paul Scheerbarth, Franz Pfemfert, Ludwig Rubiner; der Herausgeber der Zeitschrift 1904-1905 war Johannes Holzmann (Senna Hoy). Die erst zu schreiben begonnen hatte, erlebte in diesen Kreisen die Proklamation unverstellter Entfaltung der Individuen und deren Ausdruck, sie erfuhr das gemeinsame Eintreten für »freiheitliche Bewegungen, welcher Art auch immer«, von politischen oder sozialen, in der sexuellen Sphäre oder in der Kunst (vgl. Senna Hoys Programmartikel in Kampf. Neue Folge [Nr. 1]). Wie wichtig Hille für sie wurde (ihr »Prophet«), hat die Dichterin immer wieder herausgestellt; er hat sie in ihrem Weg zu Natürlichkeit, emotionaler Unbedingtheit, zu einem antibourgeoisen Leben und Schreiben ohne Marktgängigkeit, aber auch ohne Esoterik bestärkt, und er hat früh in Formeln gefaßt, was zu einem Grundmuster der Dichterin werden sollte: »Der schwarze Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen ist. Strahlt kindlich, ist urfinster ... « (vgl. Kampf Nr. 8 v. 26.3. 1904). Weniger offengelegt ist, von welchem Gewicht die frühe Begegnung mit Menschen war, die ihr Leben für anarchistisch geprägte revolutionäre Ideen einsetzten, mit Erich Mühsam und vor allem Senna Hoy. Else Lasker-Schülers erstes Gewand, das ihr zur Distanz verhalf: die Prinzessin Tino von Bagdad, das zweite: Joseph, den seine »Brüder verkauft haben, das Bürgermillion« (11,150) (uralte Überlieferung und gänzlich Heutiges gehen im Denkstil der Dichterin zusammen), aufgestiegen zum regierenden Prinzen Jussuf im ägyptischen Theben. Indem sie ihr Kunstreich schuf, die Stadt Theben und ihre Provinzen (»Und doch liegt in Wirklichkeit mein Theben in meinem Herzen« / Br. 1,172) und andere, die sie schätzte, zu Herzögen, Königen, Prinzen erhob, bewegte sie sich außerhalb der Hierarchie des kaiserlichen Deutschland und der bürgerlichen Ordnung und gegen sie, stellte sie in solch phantastischer Selbstherrlichkeit ihre poetischen Gestalten auf die Ebene einer anderen Wertehierarchie, einer vom Dichter herzustellenden Weltordnung. Ein Balanceakt, weil auf der einen Seite das Spiel der Mystifikationen leicht als Verrücktheit verlacht und in seinem Ernst und emanzipativen Sinn verkannt werden konnte (und wurde) und weil auf der anderen Seite die erdichteten Gewänder ihrer Schöpferin sich auch als Schleier vor ihren Blick auf die wirkliche Welt legen konnten. Das Gefühl, in einer Welt und einer Zeit zu leben, die dem Ich mit feindlicher Kälte begegnet, es einsam macht, und die Sehnsucht, solche i Einsamkeit zu überwinden, Gemeinschaft zu finden und zu stiften, ist schon in Else Lasker-Schülers frühsten Gedichten ein Urgrund des Schreibens und wird es bleiben. »O, ich sterbe unter Euch!/ Da Ihr mich erstickt mit Euch«, heißt es 1902; dem entspricht der Wunsch, »zu entflieh’n/ Meinwärts« (1, 14). 1909 beginnt eines ihrer schönsten Gedichte, Heimweh:

Ich kann die Sprache,
Dieses kühlen Landes nicht,
Und seinen Schritt nicht gehn.
(I,168)

Zu einem Ihr, das die Dichterin verhöhnt, sagt sie im Stillen Lied.

Doch ich griff nach euren Händen,
Denn meine Liebe ist ein Kind und wollte spielen
Und ich artete mich nach euch,
Weil ich mich nach dem Menschen sehnte.
(I,285)

Die Liebe, mit Kindhaftigkeit und Spiel in Verbindung gebracht, nimmt hier eine markante Stelle ein - in ihr haben wir ein Hauptwort der Dichterin, aus der Mitte ihres lyrischen Kosmos. Nur an Beispielen kann dies gezeigt werden. Viele ihrer Gedichte hat Else Lasker-Schüler an Personen gerichtet oder Einzelnen gewidmet. Diesem Vorgang ist das Klischeebild von der »ewig verliebten« Dichterin abgezogen worden. Es ging aber um in etwas anderes. Ihre Widmungen verteilte sie, wie man Geschenke gibt, ihre Gedichte für und von Einzelnen meinten und sagten mehr als eine persönliech-individuelle Beziehung (was nicht ausschließt, daß sie hellsichtig-genaue Porträtgedichte schrieb!), zu ihrem »so geliebten Spielgefährten Senna Hoy« etwa oder zu Gottfried Benn. Senna Hoy, der als Zwanzigjäriger 1905 Berlin verließ, 1907 nach Rußland ging und dort wegen revolutionärer Aktionen von 1907 bis zu seinem Tod 1914 im Kerker war - diesem Senna Hoy gelten die innigsten Liebesgedichte. Es ist eine Liebe ohne den Sinn des Habens. »Seit du nicht da bist / Ist die Stadt dunkel« (1,184) - seelischer Gleichklang wird aufgerufen, Verbundenheit im Dialog mit dem fernen Partner hergestellt, so in Ein Trauerlied, in Versen mit einem unpathetischen intensiven Sprechton:

Die Leiden, die dir gehören,
Kommen zu mir.
Die Seligkeiten, die dich suchen,
Sammle ich unberührt.
So trage ich die Blüten deines Lebens
Weiter fort.
Und möchte doch mit dir stille stehn;
Zwei Zeiger auf dem Zifferblatt.
(I,186)

Mit der Person des Senna Hoy, mit seinem Schicksal verbindet sich für die Dichterin eine besondere humane Qualität (charakteristisch dafür die vegetativen Bilder des Blühens), die nicht zerstört werden darf weil die Erde eine Liebe wie die seine braucht. Nach seinem Tod faßt ein Gedicht diese Idee im Bild vom Aufgehen des Freundes ins Universale, am Schluß wird er zu einer erlösenden Instanz:

Aber du stehst am Tor der stillsten Stadt
Und wartest auf mich, du Großengel.
(I,189)

Über ihre Beweggründe, für Senna Hoy einzutreten, auch für eine Reise nach Rußland, die seiner Befreiung dienen sollte, hat sich die Dichterin in Briefen an Karl Kraus ausgesprochen: »weil ich sein Freund war, weil ich es für eine Weltordnung halte, daß man jeden Menschen, der so hilflos gefangen ist«, zu befreien sucht. Das treibende Motiv ist nicht allein ihre Überzeugung, daß er, der für seine Sache, »für die gepeinigte Menschheit in den Tod ging«, sie in ihrer Einsamkeit verstanden habe wie keiner sonst: »Ich tat es aus Ordnung. Es giebt noch was grandioseres wie Liebe, er war mein liebster Mensch; jede Schaufel Erde, die über seinen Sarg fiel, fiel auch über mein Gesicht« (S. 62; 66; 69). Daß in den ihm gewidmeten Gedichten mehr als eine Individualbeziehung ausgesagt wird, er vielmehr als Inbegriff eines bestimmten menschlichen Verhältnisses gesetzt ist, geht auch aus dem Ordnungsprinzip der Gesammelten Gedichte von 1917 hervor. In die Textgruppe, die dem »Spielgefährten« gewidmet ist (einem, der sich naives Dasein und Unschuld bewahrt hat, bei dem, mit dem das Ich Kind sein kann), stellt die Autorin Gedichte auch auf andere, die sie als verwandt empfand. Entsprechendes gilt ebenso für die Benn gewidmete Gruppe, sie vereint an ihn gerichtete Gedichte mit anderen, in denen eine ähnlich geartete emotionale Spannung waltet. Auch mit Bezug auf Benn fällt im Brief das eigenartige Wort »Weltordnung«, wenn die Lasker ihrem Verleger erklärt, warum sie sich dafür einsetzt, daß er dessen Gedichte drucken soll; zusammen mit der Feststellung, »daß bis jetzt die derbe Art der Dichtung mir immer wie mit Gewalt heraufbeschworene Ekstase vorkam«, hier jedoch »wirkliche Eigenart« sei, »ungeheurig«, versichert sie, sie stehe »Dr. Benn nicht was Liebe betrifft nah [...] tue es aus Weltordnung nicht mal aus Cultur« (Br. 1,88). Liebesgedichte anderer Art entstehen in dieser Beziehung - sie sind bestimmt vom Verlangen nach Überwindung der Gegensätze, von Trauer über nicht erkannte und angenommene Liebe, über abgewiesene Gemeinsamkeit, vom Leiden unter Härte und Kälte. Höchst symptomatisch für die aufeinanderstoßenden Prinzipien, das fordernd werbende »Ich bin dein Wegrand« bei der Dichterin (I,215) und die harte Replik in Benns Gedicht:

Keiner wird mein Wegrand sein.
Laß deine Blüten nur verblühen.
Mein Weg flutet und geht allein.
(Bd. II, S. 388)

Liebe wird in der Lyrik der Lasker zu einem Inbegriff einer immer wieder gesuchten und herzustellenden Verbindung der Menschen in Mitmenschlichkeit, gegen Kälte, Einsamkeit, Gottverlassenheit. Durch ihr Gedicht möchte sie eine humane Kommunion ermöglichen; so benennt die Dichterin im Gebet ihre Lage in der Welt und den Sinn ihres Mühens:

Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat
[...]
Ich habe Liebe in die Welt gebracht -
Daß blau zu blühen jedes Herz vermag.
(I,288)

In späterer Zeit, mit vorschreitendem Alter - sie leidet tief am Verlust ihres Sohnes, an den Erfahrungen des verstärkten Antisemitismus, am fehlenden Echo auf ihr Angebot, die Religionsgemeinschaften zu versöhnen (vgl. die Geschiche Arthur Aronymus und das Drama Arthur Aronymus und seine Väter von 1932), sie fühlt sich äußerlich und innerlich gefährdet (»mein Gerüst, das ich um mich baute, darf nicht einstürzen« /Br.1,199 nimmt ihre Liebesbotschaft einen zunehmend tragisch-religiösen Gestus an:

Die Heimat fremd, die ich mit Liebe überhäufte,
Aus der ich lebend in die Himmel reifte.
(I,328)

Ihr letztes Gedichtbuch, Mein blaues Klavier (1943), widmete Else Lasker-Schüler »Meinen unvergeßlichen Freunden und Freundinnen in den Städten Deutschlands - und denen, die wie ich vertrieben und nun zerstreut in der Welt, in Treue!« Wenn in diesen Elegien des Exils (sie floh 1933 in die Schweiz, war in den letzten Lebensjahren in Palästina) die Kältebilder zunehmen, wenn bitter gesprochen wird vom Zerbrechen der »Klaviatür«, des blauen Instruments, »seitdem die Welt verrohte« (I,337); wenn gegen das Grauen gesetzt wird: »Meine Freiheit soll mir niemand rauben« (I,371), so sind dies Zeichen der Treue. Und Treue hielt sie dem Hochbild und Hauptwort Liebe, das bei allem transzendenten Klang seinen widerständigen Sinn bewahrte:

Das ewige Leben dem, der viel von Liebe weiß zu sagen.
Ein Mensch der Liebe kann nur auferstehen!
Haß schachtelt ein! wie hoch die Fackel auch mag schlagen.

Dies steht im Gedicht Herbst, das auch einen Prosatext für Ernst Toller abschließt; Tollers gedenkend, dem sie gut war »wie dem Gleichnis eines Menschen, den man ewiglich liebt«, erinnert die Dichterin noch einmal Senna Hoy, dessen Schicksal dem des toten Dichter Exilgefährten glich, »gestorben beide für die Menschheit«, »die zwei heiligen Kämpfer« (III,82f). Der poetische Liebesentwurf umschließt ein solches Kämpfen für die Menschheit, wie er nach der Anstrengung derer verlangt, an die die Botschaft gerichtet ist: sie ist utopisch-fordernd auf die Hoffnung gestellt, die dichterische Hinterlassenschaft werde ein erlösender »Psalm« für eine Welt, die »ihn übe« (I,353). Gertrud Kolmar hat nicht viele Gedichte veröffentlicht - in jungen Jahren wohl: veröffentlichen wollen, später: veröffentlichen können; die Konturen ihres lyrischen Werks sind erst den Nachgeborenen erkennbar geworden. Schon dies legt nahe, nach dem Stellenwert des Schreibens in ihrem Leben zu fragen. Ihr Gedicht bewegt sich zunächst im Rahmen des Konventionellen und Traditionellen - charakteristischer Titel aus der frühen Zeit: Wunschlied - es sind Sehnsuchtsgedichte, in denen ein im bürgerlichen Leben ungestilltes Verlangen ausgesagt wird oder auch Beziehungen als verwirklicht vorgestellt werden, die dieser Frau im privaten Leben real versagt sind: im Verhältnis zu einem Mann, zu einem Kind zu stehen. Konventionell sind solche Gedichte auch insofern, als der Entwurf glücklich erfüllter Bindung an den traditionellen Rollen von Frau und Mann orientiert ist - er ist der starke, harte, dem sie sich hingeben will, sie ist Gefühl und Werbung um Gefühl, will ihn bezaubern. In vielen Varianten erscheint dies, bis in die spätesten Gedichte hinein. Aber: bei der unmittelbaren Aussage von Ersehntem und Erlittenem bleibt die Schreibende nicht stehen, sie schafft sich objektivierende lyrische Sprech- und Darstellungsweisen, häufig in Form des Rollengedichts, in dem Frauen in verschiedenen Lebenslagen ihre Erfahrungen, ihre Verletzungen und Träume vortragen. Von der Autorin aus betrachtet, ist z.B. Die Entführte das Wunschbild eines in sich sinnvollen Lebens in Gemeinschaft mit Mann und Kind; als Resultat poetischer Hervorbringung betrachtet, begegnet uns das sozial bestimmte Bild einer Frau, die sich für ein tätiges Dasein jenseits bürgerlicher Herkunft entschieden hat und sich damit neu entdeckt (»Meine Wurzel schwankte siech im Winde/ Und ist heimgewachsen in die Tiefen«, 29). Wie hier steht die Mehrzahl der Frauen-Ichs der Zyklen Weibliches Bildnis nicht in, sondern außerhalb bürgerlicher Normalität, häufig sind sie Außenseiter, sozial oder emotional an den Rand und in die Vereinsamung gedrängte; mit großer Kraft weiß die Dichterin Frauen darzustellen, die mit ungebärdigem, rebellischem Gestus ihren Lebensanspruch aussagen, sich gegen Unterwerfung und Verachtung zur Wehr setzen und auch im Erleiden ihr Selbstbewußtsein nicht aufgeben. 1933 schon erschien in Herz zum Hafen, Die Fahrende, ein äußerst intensives Bild einer Frau, die in heiter-schmerzlichem Ton ihr Ausgeschlossensein, ihr Verlangen, »einen Zipfel dieser Welt« zu packen, ausspricht und das Wissen, ihr Teil sei »zögernd heimzugehen,/ Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein« (S. 125).
Nelly Sachs wird diese Metapher vom Sand in den Schuhen aufgreifen. Innerhalb dieser Sammlung von »Frauenlyrik« - deren Stärke seit der Droste, so Langgässer, im Ruf liege, »den Menschen in seiner Ganzheit wieder aufzurichten« und das »Geistland ihrer Sehnsucht« zu schaffen - heben sich aus einer Masse von Konventionell-Gefühlsseligem die Gedichte E. Lasker-Schülers und G. Kolmars besonders ab. Es gehört zur Eigenart der Dichtung Gertrud Kolmars, daß in ihr gegenständlich bestimmte Gestalten dominieren und daß sie tendenziell ihre Gegenständlichkeit nicht im gesellschaftlichen Raum des sozial und politisch gegliederten und von Widersprüchen bewegten modernen Lebens ansiedelt. Die zeitgenössische Welt wird substituiert durch vor- und außermoderne oder außergesellschaftliche Sujets, indes sind diese erfüllt von individuellen und kollektiven Erfahrungen in der zeitgenössischen Welt. Damit wird auch eine romantisch-antikapitalistische Tradition fortgesetzt, am deutlichsten in Alte Stadtwappen (z.T 1934 ediert, »entstanden im Winter 1927/28«). Vielfach werden darin Bilder einer vormodernen Welt noch funktionierender Beziehungen zwischen Natur und Mensch oder einer natürlichen Ordnung und unwiederbringlich verlorenen Ganzheit imaginiert - zumeist als Gegenbilder zum Jetzt. Der Auerochs in Wappen von Auras erinnert ein Einst mit starker, undomestizierter Natur und konfrontiert es mit dem Heute, das »kaum das Wesenlose fassen« kann, in dem »wir kraftlos, schutzlos« sind, Brodeln und Gemeng des »Menschenschaumtopfs« (465). Als Medien der Selbstaussprache werden der Dichterin Natursujets wichtig, vorzüglich das gefangene und das gemeinhin verachtete Tier (s. Aquarium, Flehn bzw. Die Kröte). Die Nachfolge (nach-)romantischer und symbolistischer Anthropologisierung von Natur, die hier wie auch im Sonettzyklus Bild der Rose deutlich ist, wird aber immer wieder aufgesprengt - und das schafft Stücke mit einer starken Intensität in den Gestalten der Entfremdung und mit großer anklagender Wucht (s. das jüngste Gericht der gequälten Kreaturen in Der Tag der großen Klage). Gerade Texte wie der letztgenannte drängen die Frage auf, ob es den poetischen Arbeiten dieser Frau angemessen ist, sie im üblichen Sinne als Literatur zu betrachten. Denn wesentlich für sie war, daß ihrer Hervorbringung bei der Schreibenden eine lebenspraktische Funktion zukam. Lebenspraktisch in der Frühzeit zunächst in einem individuell-privaten Sinne, zur Bewältigung von Enttäuschung und Verlust erfüllter Lebensbeziehung als Frau, in einem viel weiteren existentiellen Sinne in den letzten zehn Jahren, die der deutschen Jüdin in Hitlerdeutschland noch zu leben blieben. Es war ein Schreiben, das das Leben aktiv zu bestehen half indem es das eigene Erleben in objektivierten Bildern poetisch durcharbeitete und das individuelle Dasein in größere Zusammenhänge stellte und damit sinngebend aufzuheben suchte. (Eine Selbstbeobachtung der Autorin: Sie beginne eine Arbeit immer »aus einem Ohnmachts- einem Verzweiflungszustand heraus«, Br. 206). Sind also die Gedichte von Tieren oder die unaktuellen Bilder leidenden oder widerständigen Lebens als Camouflage zu lesen, als Verschlüsselungen einer sozialen und politischen Anklage? Nein und ja. Nein insofern, als bei Gertrud Kolmar eine Vorstellung vom Dichter wirksam war, wonach sein Werk nicht so sehr das rasch wechselnde »Zeitgeschehen« verarbeite und weniger auf den Tag denn aufs »Ewigkeitsgeschehen« gerichtet sei; der heutige Tag werde »richtbar«, indem man auf ihn von einem distanzschaffenden Standort aus blickt (vgl. Br. 30, 33/34). Daß aber eine solche Bejahung der »zeitlosen« Dichtung, wie sie sich in späten Briefen ausspricht, eine Komponente des Selbstschutzes vor der »Zeit« enthält, die ihresgleichen zunehmend den Lebensraum, das Lebensrecht verweigerte, geht aus einem erst 1978 bekannt gewordenen Zyklus Das Wort der Stummen (entstanden August bis Oktober 1933) hervor. Wie nirgends sonst bezieht sich Gertrud Kolmar hier unmittelbar und offen auf politische Zeitereignisse, auf die Brutalität, mit der die deutschen Faschisten den Widerstand unterdrücken, Gefangene physisch und psychisch vernichten wollen. Sie möchte für die Opfer des Terrors, denen sie sich zurechnet, Klänge finden, die »rasen, wie eine Sturmglocke aufschreit um Mitternacht«.

Oh, ich müßte mit euch, in Krämpfen, zerprügelt, hungrig, verlaust
Hinkriechen auf tränendem Stein, gefesselt mit eiserner Kramme.
Das wird kommen, ja, das wird kommen; irret euch nicht!
Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen.
(Wo 24)

Solidarisierung mit den Verfolgten und Verhalten des Aufschreis, Auflehnung gegen die Entwürdigung des Menschen und Bemühen, sich das Lebensganze nicht als sinnlos entwerten zu lassen - dies alles wirkt zusammen. Die 1933 geschriebenen Gedichte offenbaren deutlicher als spätere den Widerstreit der Reaktionen auf die feindliche Umwelt, von der die Schreibende weiß, sie werde sie »auf den Aschenhügel« zerren (Wo 31), und sie lassen - in der Art, wie sie den Zyklus aufbaut - erkennen, wie sie um eine Haltung ringt, die ihr das Weiterleben ohne Selbstaufgabe möglich macht. Im Zyklus Das Wort der Stummen sind alle wesentlichen Themen, Motive und Haltungen der Gedichte des letzten Lebensjahrzehnts enthalten: Sehnsucht und Trauer der Kinderlosen; Tier und Pflanze; Sujets der Geschichte. Hier sind - in dieser Art neu und zu den bedeutendsten von Gertrud Kolmar zählend - Gedichte, die von der Leidensgeschichte der Juden zeugen, die seit altersher dauert und nun grausam aktualisiert ist »im dritten, christlich-deutschen Reich« (Wo 29): der Ewige Jude, der zum gehetzten alten Mann geworden ist - >Ach, das Zeichen, gelbes Zeichen / Das ihr Blick auf meine Lumpen näht« (Wo 20); Wir Juden, ein klagend streitbares Bekenntnis zum geliebten »Volk im Plunderkleide« (Wo 31). Doch: für Gertrud Kolmar reduziert sich Geschichte nicht auf eine ewig fortgesetzte Leidensgeschichte; gerade in einer Lage, die sie in die Rolle des ohnmächtigen Opfers zu werfen drohte, vergewissert sie sich alternativer Möglichkeiten geschichtsverändernden Handelns. 1933 stehen dafür Milton und Robespierre als Beispiele des Aufbegehrens:

Daß getroffner Amboß jäh sich hob
Und die Erde stampfend schlug die Hämmer,
Daß mit Zähnen packte eins der Lämmer
Und das Wölferudel blutend stob.
(Wo 38)

Texte wie dieser, auch ein Essay und in der Folgezeit ein großer Gedichtzyklus Robespierre, entspringen gründlichen Studien zur Französischen Revolution, in denen sich die Autorin mit dem herrschenden Zerrbild von Robespierre auseinandersetzt (vgl. ihren Essay Das Bildnis Robespierre). Da sie die Protagonisten der Revolution als Modelle eines unbedingten Einsatzes für soziale Gerechtigkeit begreift, der bis in ihre Gegenwart nicht abgegolten ist, kann sie sie auf echt lyrische Weise vergegenwärtigen (herausragend: Die Kerze). Ein zentrales Stück: Die großen Puritaner: die reinen Erneuerer von Moses und Savonarola über Milton zu den Jakobinern, ihr rückhaltloses Kämpfen, das den eigenen Untergang bejaht, werden als Ahnen und Leitbilder aufgerufen, die auch der Heutigen helfen sollen, ihre Schwäche zu überwinden. Die Schlußstellung im Wort der Stummen erhielt nicht das Gedicht auf den Täter, sondern eine Gestalt des Nichthandelns, Der Engel zum Walde (in Motiv und Haltung auf ein Gedicht gleichen Titels im Zyklus Welten von 1937 deutend). Entworfen als ein Inbegriff reinen Leides und des Einverständnisses mit dem Geschehen, steht dieser Engel für eine geistig seelische Verfassung, die die Dichterin in ihren letzten Jahren zu erringen sucht: ein Sein »außer aller Wirklichkeit« (Wo 44), durch das Ruhe und innere Harmonie gefunden werden kann. Es ist eine tief religiöse Haltung, die auf eine ganz eigentümliche Weise Selbstaufgabe und Lebensbejahung zu vereinen gestattet. 1941 - zur Zeit, als sie zu Zwangsarbeit verpflichtet worden war sagte Gertrud Kolmar von sich, zu ihrer »Kraft zum Dulden« gehöre »etwas durchaus Aktives«: der Glaube, »daß der Mensch, wenn auch nicht immer und nicht überall, ein äußeres widriges Geschick aus seinem eigenen Wesen heraus zu wandeln vermag, mit ihm ringen kann, wie Jakob mit dem Engel kämpfte« (Br. 117). In diesem Verlangen, »dem scheinbar Sinnlosen einen Sinn zu geben« (Br. 116), vermochte sie mit Welten gegen Verzweiflung und Einsamkeit Bilder einer Fülle und Diesseitigkeit aus sich herauszustellen, die ihren nie aufgegebenen Anspruch auf die Bewahrung des Humanen vermitteln. Nelly Sachs gehörte der gleichen Generation an wie Gertrud Kolmar, gemeinsam ist ihnen auch das großbürgerliche Milieu ihrer Herkunft und die enge Bindung ans Elternhaus. Wie Gertrud Kolmar bei ihrem Vater blieb und vor allem seinetwillen Deutschland nicht verließ, blieb Nelly Sachs mit ihrer Mutter zusammen, mit ihr konnte sie 1940 noch ins Exil fliehen. Als sie ihren ersten Gedichtband »Meinen toten Brüdern und Schwestern« widmete, gehörte auch die Dichter-Schwester Kolmar zu jenen, denen die Totenklage »Dein Leib ein Rauch durch die Luft« galt. Dieses erste Buch, In den Wohnungen des Todes (1947), den »Schrecken eines nie zuvor erlebten Menschenbebens und Gewaltherrschaft« abgerungen (vgl. ihr Vorwort zu Von Welle und Granit, S. 7), wird ein Bleibendes sein in Nelly Sachs' Werk. Zu Totenklage und Monument der Opfer werden diese Gedichte, Klage um die Getöteten, deren Leib zu Staub und Rauch wurde, Klage um die verkürzten Leben, Zwiegespräch der (!erlebenden mit dem »toten Bräutigam«, die die »Sehnsucht« seines Staubes in ihr »Herz« aufnehmen will (30). Und sie sind Anklage, gerichtet auf die Mörder - »Todesgärtner«, die »nur noch den Tod [...] in den würgenden Händen« hielten (15), Anklage auch der »Zuschauenden« - die »keine Mörderhand« erhoben, aber »unter deren Blick getötet wurde« (20). Im Anrufen, Aufrufen, Klagen, womit der Band anhebt, und in den »Chören nach Mitternacht«, Stimmen kollektiver Leidensgeschichte, mit denen er schließt, sind in vieler Hinsicht Bibeltöne aufgenommen, sakrale Stilfiguren, Bildsprache, elegisch-emphatischer Gestus. Der erste Gedichtband machte die Autorin - sie lebte bis zu ihrem Tode in Schweden - zu einer der wesentlichen deutschen Dichterstimmen der Zeit - ein außerordentliches Debüt mit 54 Jahren (einem Alter, in dem bei »normalen« Lebensläufen das Eigentliche bereits zutage getreten, der Übergang zum Spätwerk abzulesen ist); war er plötzlich entstanden? Die Lebensphasen vor 1940 und das Schreiben vor 1945 liegen weitgehend im Dunkel, doch wurden aus den zugänglichen Fragmenten die Verbindungsfäden zum veröffentlichten Werk erkennbar gemacht. Als junges Mädchen begann Nelly Sachs zu schreiben (das einzige Buch, Legenden und Erzählungen von 1921, entstand vor 1908), ihre Verse standen in Motivik und Form im Bann romantischer Lyrik. Auch die wenigen liedhaften Texte, die seit 1929 Zeitungen druckten (zwischen 1933 und 1938 solche des Berliner jüdischen Kulturkreises, in dem Nelly Sachs auch Getrud Kolmar persönlich begegnete), wirken merkwürdig zeit- und harmlos. Für das, was ihr persönlich widerfuhr, was sie zunehmend in Hitlerdeutschland bedrängte, hatte sie noch keine Sprache. Zu Beginn des Exils, vom lastenden Druck befreit, entstanden nochmals schwermütig-verträumte und naturversunkene Verse (Miniaturen um Schloß Gripsholm) - sie schrieb sich, in rasch aufeinanderfolgenden Schüben, erst an ihr eigentliches Thema heran, mit Elegien von den Spuren im Sand, Vorstufen zum ersten Gedichtband, und einem weiteren Zyklus, Vorform vor allem der Chöre. Jetzt spricht sie sich zu:

Du sollst auch nicht singen
Wie du gesungen hast -
Ein Feuer brach aus nach der
Musik von Gestern -

Ihren Stilwandel begründete sie 1948 gegen »den Vorwurf vieler Emigranten [...], die ein Anknüpfen an die Vormartyrium-Tradition verlangen und sind doch in einer Zeit, die aufgerissen ist wie eine Wunde« (zit. bei Peter Sager, S. 245). Das Wissen um das katastrophale Ausmaß der Judenvernichtung zerstört die »Musik von Gestern«, es treibt die Umbrüche in Weltbild und Sprache hervor, den Neubeginn mit den Wohnungen des Todes. Und wichtig kann dabei nun - wozu früher keine Beziehung bestand - eine Lyrik werden, die an europäischer Moderne teilhat. Die neuromantischen Motive werden nach 1940 keineswegs eliminiert, sondern erscheinen als Traditionsfragmente weiter - verändert nun, in tiefgreifender Umwertung, bis zur spätesten Lyrik. Als »schmerzlich-schöne Enklave der Innerlichkeit, deren Tore grausam eingeschlagen wurden« (Peter Sager, S. 54), bildet das Frühere eine Hintergrundfolie, die in allem Wandel durchscheint. Mit Blick auch auf die Dokumente zur Biographie und literarischen Produktion der Frühzeit werden Eigenarten im lyrischen Gesamtwerk erkennbar: Einige wenige Grunderlebnisse sind von prägendem Gewicht und bleiben in gewandelter Form im Schaffen präsent - die Liebe für einen Mann, 1908, und dessen Ermordung in einem Konzentrationslager fließen im Bild des »toten Bräutigam« zusammen, das bis ins achte Lebensjahrzehnt als Symbol zerstörter Liebesmöglichkeit poetisch aufgerufen wird; die persönliche Erfahrung von Verfolgung im Faschismus, mit Grundworten eines Ausgeliefertseins - den sich nähernden Schritten, dem Verhör bei der Gestapo, dem »Trennungsmesser«, das durch die Familie schnitt - im autobiographischen Text Leben unter Bedrohung (S. 19) benannt und im Gedicht als Zeichen der Gefahr immer wieder anwesend; und später die Erfahrungen vom jahrelangen Lebensende des ihr nächsten Menschen, Sterben und Tod der Mutter. Stärkstes Grunderlebnis aber die Massenvernichtung der Juden, die eine tiefe Lebenszäsur mit sich brachte und für die Dichterin Gegenwärtigkeit behielt - das Bewußtsein, eine Überlebende zu sein, hat sie nie mehr verlassen. Es wirkt so stark, daß es ein Erlebensraster bildet, das die Aufnahme gegenwärtiger Wirklichkeit präformiert, deutlich z. B. in einem um 1960 geschriebenen Gedicht, in dem eine Stadtszenerie mit Marktplatz und Schornstein Vergangenheit assoziiert; der Rauch über dieser Stadt aktualisiert die Vorstellung vom »Grab der Luft«, den Krematorien, ein Aufsteigen des Menschen als »grade Kerze/ in die Nacht« (268). Korrespondierend mit der Präsenz der Grunderlebnisse ein zweites: Im Schaffensprozeß der Nelly Sachs ist eine Transformation von früh entstandenen Leitbildern festzustellen, und zwar in poetischer Hinsicht in Form des Wiederaufnehmens, Abwandelns, Verkürzens eines Grundvorrats früher ausgeprägter Bilder und Symbolfelder (Nacht, Tod, Sand, Staub, Feuer, Rauch, Stern), und ebenso in weltanschaulicher Hinsicht - zu einer frühen Rezeption christlicher Mystik tritt später die jüdische Mystik, es bildet sich eine Art mystischer Synkretismus aus. Dies äußert sich um 1945 im Appell an sich selbst und die Leidensgefährten, lauschen zu lernen, »Wie im Tode/ Das Leben beginnt« (19). Der sinnlose Tod, der Massenmord kann im Gefühl nicht als sinnlos akzeptiert werden, daher das Bemühen, Leid und Tod in einem großen Zusammenhang aufgehoben zu sehen. Einen frühen Entwurf solcher Aufhebung gibt Zahlen (110): aus der Asche der Toten des Konzentrationslagers erheben sich Zahlen, »(gebrannt einmal in eure Arme/ damit niemand der Qual entginge)« und werden »eingerechnet« in den himmlischen Kreislauf. In diesseitiger Lebenspraxis kann Sinn nicht gefunden und festgemacht werden, und nicht in sozialem Handeln in der Geschichte (wie bei G. Kolmar), daher muß die Lösung in einem allgemeinsten Lebensrhythmus gesucht, ein universaler Naturkreislauf im geistigseelischen Akt und im poetischen Bild evoziert werden. Geschichte kann so erscheinen als ein »Immer wieder«, in dem Sehnsucht überwältigt wird (234), und allgegenwärtig die »Schritte - Urzeitspiel von Henker und Opfer / Verfolger und Verfolgten / Jäger und Gejagt« (77). Die nicht zu bannende Fatalität treibt starke Gedichte hervor - so die imaginäre Landschaft aus Schreien (221f), die sich spannt von Isaaks Schrei unter dem Opfermesser über die Angst- und Todesschreie Gefangener und Gottgeprüfter bis zum »Aschesehrei« über »Maidanek und Hiroshima«. Doch die Bilder von Verlust, Entzweiung, Tod sollen kein Endpunkt sein, die Subjektivität der Dichterin ist darauf gerichtet, ihnen eine transitorische Bedeutung zu verleihen. Programmatisch für das selbstgestellte Ziel die Titel der lyrischen Zyklen Flucht und Verwandlung (1959), Fahrt ins Staublose, Noch feiert Tod das Leben (1961). 1960 formuliert Nelly Sachs in einer Rede anläßlich der Verleihung des Droste-Preises die Aufgabe, »diesen Stern [die Erde] zu durchschmerzen - zu durchlieben - bis er durchsichtig wird«, bis durch das Wort »ein unsichtbares Universum lesbar« gemacht werde (zit. bei Peter Sager, S. 93). Dem dichterischen Wort wird so eine sakrale Funktion zugemessen, die Idee der »Verwandlung« rückt ins Zentrum der poetischen Anstrengung. Die Schwierigkeiten, diese Idee in Bildern des Realen zu entfalten, ihr poetische Evidenz zu verleihen, sind unaufhebbar; vielfach werden an Naturmetaphern - die Metamorphose des Schmetterlings, des Samenkorns universale Bedeutungen geknüpft, die nachzuvollziehen die Bereitschaft voraussetzt, die mystischen Sinngehalte aufzuschließen oder sich ihnen hinzugeben. Im lyrischen Zusammenzwingen von einfach-anschaulichem und ideell-abstraktem Bildmaterial setzt sich ein Prozeß durch, der die Metaphern als Chiffren stereotyp verwenden und Vokabeln beschwörend setzen läßt. Wie stark diese Verfahren vom subjektiven Verlangen nach innerer Befreiung, nach Umwendung von Not getragen werden - und gerade dies ermöglicht unsere Anteilnahme -, zeigt z.B. die Empfindungsart, mit der das Aufblühen des Weißdorns erlebt und gestaltet wird, die Spannung von »Hängend am Strauch der Verzweiflung/ und doch auswartend ... « bis zum plötzlich »außer sich/ vom Tod in das Leben geraten -« (378). Nicht mehr Pathos und intensive Bildkraft der Klagegesänge, auch nicht die evokative Metaphorik einer transzendenten Bewegung von Asche zu Stern kennzeichnen das späteste Gedicht. Aus dessen Reduktionen der einfachen Nennungen und der kargen Protokolle einer Sprach-Not bricht noch einmal, unverstellt, eine Elegik auf, die teilnehmen läßt an einem Ringen um Würde des Lebensendes.
»Für Nelly Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung« - das Gedicht »Ihr Wort« von Ingeborg Bachmann trägt 1961 diese Widmung. Man meint zu spüren, wie sehr das Gedicht mit seinem dringlich flehenden Schluß »Kein Sterbenswort / Ihr Worte! « (1, 162) der Älteren zugesprochen war und verwandte Nöte zur Sprache bringen sollte. Dieser Text erwuchs aus anderen Erfahrungen als denen der Freundin, und dennoch trägt die jüngere ein Gemeinsames vor: daß die Arbeit mit dem Wort frag-würdig, ein quälerischer Vorgang geworden ist. Was man mißverstehendes Verstehen nennen kann, wirkt dabei mit: Übereinstimmung oder Gleichgerichtetes mit einem anderen wird von den eigenen, andersgearteten Voraussetzungen aus entdeckt und, so umakzentuiert, als Bestätigung des Eigenen erfahren. Auch bei Else Lasker-Schüler gab es dieses mißverstehende Verstehen, da sie von vielen Dichtern aus der jüngeren Generation des Expressionismus als Zeitgenossin ihrer Rebellion und ihrer Visionen gesehen und verehrt wurde. Der Erfahrungsgrund, aus dem ihre besondere Art, Welt anzuschauen und poetisch herzustellen, erwuchs, wurde dabei oft nicht gesehen und mitbedacht, wesentlicher war die einfache Wahrnehmung von gleichgerichteten Grundimpulsen. Im Verhältnis jüngerer Dichter zu Nelly Sachs wird man Ähnliches wiedererkennen - sie erst, Enzensberger, Andersch und auch Bachmann, haben sich für ihr Werk eingesetzt, sie als Zeitgenossin eigenen Bestrebens und Poesieverständnisses entdeckt. Ihr Worte entstand bereits zu einer Zeit, als Ingeborg Bachmann kaum noch Gedichte schrieb (wohl aber die große Prosa); ihre Anfänge prägte anderes. Auf dem Lande aufgewachsen, in einem Landstrich in Kärnten, der »das Bewußtsein der Grenze« (4,301) von Nationalitäten und Sprachen vermittelte, zu einem »Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus« gelangt in Österreich, das als Land mit »übermächtiger, monströser Vergangenheit« »aus der Geschichte ausgetreten« (Interview, S. 46) zu sein schien, eingelassen in eine reiche Erbschaft von Versuchen, in Philosophie und Literatur diese Vergangenheit geistig anzueignen - auf das spezifische Gewicht dieser ihrer Ausgangspunkte hat Ingeborg Bachmann mehrfach verwiesen. Solche Herkunft hat aber auch ihr Bewußtsein geschärft, mit Deutschland nicht nur die Sprache gemeinsam zu haben, sondern auch die Problematik eines restaurativen Nachkriegs zu teilen, in dem zu erfahren war, daß sich die Mörder mit den Opfern zu Tische setzen können. Insbesondere ihre Erzählung Unter Mördern und Irren zeugt von diesem Bewußtsein. Wesentliche, Ingeborg Bachmanns Lyrik durchziehende Bilder, Motive und Konstellationen wurzeln in der individuellen Ausgangslage, die bald als symbolträchtige erscheint: Landschaft über allem Wandel stets gegenwärtig, »als Traum nach innen« gezogen (1,92), die »mit dem scharfen Gehör für den Fall« (1,61) als geschichtliche gezeichnet wird, als von Arbeit und Arbeitenden geprägte; Ausfahrt aus dem Herkunftsland in eine größere Weite, ein Aufbruch, der die Erfahrung des Miteinanders an den Grenzen aufzuheben hat. Das Eröffnungsgedicht des ersten Bandes (1953) entfaltet die Dimensionen von Aufbruch und Fahrt: Ausfahrt gibt das Widerspiel der Fahrt weg von der Küste und dem scharfen Hinüberschauen auf das Zurückgelassene, Wissen um den Lebensrhythmus der Fischer und um die Untiefen, denen es standzuhalten gilt, Ausfahrt ist der geffünschte, gebrauchte tätige Bezug, nicht Bewegung auf ein Ziel der Ankunft hin, vielmehr ein Sich-in-Bewegung-Wissen. Später wird oft als verkürztes Bildmotiv gesetzt, was hier noch Nähe zum realen Vorgang einer Meeresfahrt hat. Charakteristische Redefiguren der Poesie Ingeborg Bachmanns offenbaren sich bereits in Ausfahrt: Sätze wie »Steh ruhig auf Deck« und »man ruft dich, und du bist froh,/ daß man dich braucht« (1,29) enthalten die schöne Schwebe der Selbstanrede, die Wendung an den Aufnehmenden ist - ein Dialogisches im Sich-selbst-Aussagen. Und ebenso zeichnen sich hier Eigenarten ihres bildhaften lyrischen Sprechens ab: es behält anschauliche Kontur, bleibt im sinnlich Konkreten und übersteigt und überhöht es zugleich - in Verfahren, die einsehbar werden lassen, wie das lyrische Ich das Reale durcharbeitet. Durcharbeitet im wörtlichen Sinn: für Ingeborg Bachmanns Gedicht ist eine Aktivität des Subjekts konstitutiv, welche die Gegebenheiten nicht anzunehmen gewillt ist, die gegen Wort-Kosmetiker und Unentschiedene den Appell zur Wachheit setzt (vgl. 1,40), die sich im Dennoch zu behaupten sucht - mit einer Intensität, die (so die Schlußmetapher von Was wahr ist / 1,118) Kette und Verlies aufsprengen soll:

Du haftest in der Welt, beschwert mit Ketten,
doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand,
Du wachst und siehst im Dunkeln nach dem Rechten,
dem unbekannten Ausgang zugewandt,

Eine solche Maxime entspringt dem Gefühl der Vergeblichkeit ebenso wie dem energischen Angehen gegen Vergeblichkeit. Was den zeitgeschichtlichen Grund für die tragische Tönung abgibt, wird in Ingeborg Bachmanns Gedichten nur selten unmittelbar eingezeichnet. Politischer Zeitbezug trägt einige Stücke ihres ersten Bandes, die sich gegen Fluchtmanöver und Wegwischen der Schuld zur Wehr setzen, die nach Widerstandsformeln suchen gegen das Bestreben, zu einer Tagesordnung überzugehen, in der »das Unerhörte [...] alltäglich geworden« ist (1,46). Exemplarisch ist hierfür Früher Mittag (1,44/45), das eine Szenerie des Deutschland sieben Jahre nach dem Krieg entwirft: Vergangenheit, schon überwunden geglaubt, hat bestürzende Gegenwart, im Balladen- und Volksliedton wird es lyrisch sichtbar gemacht (»in einem Totenhaus / trinken die Henker von gestern/ den goldenen Becher aus«); dagegengesetzt moderne Bild-Zeichen tödlicher Spur (»Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt / sucht die Wolke nach Worten und füllt den Krater mit Schweigen«); Hoffnung »kauert erblindet im Licht«, ihr die Fessel zu lösen, bedarf es des tätigen Einsatzes. Schichtung der Zeiten und der Stillagen ist der Versuch, das Unfaßbare doch gestalthaft zu fassen, lähmende Bedrohung und Aktivitätsverlangen in Chiffren der Stille aufzuheben (»Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers Land«). An Erfahrung und Ertrag solchen poetischen Arbeitens ist zu denken, wenn man in den Poetikvorlesungen der Autorin von 1959 von den Veränderungen der Sprache liest, »die weder zuerst noch zuletzt ästhetische Befriedigung will, sondern neue Fassungskraft« (4,192) und davon, daß das Gedicht, das »in einer Zeit äußerster Sprachnot« »Not abzutragen« sucht, aus dieser Leistung »eine neue Würde« bezieht (4,215). Dies vermag Ingeborg Bachmann nicht fortzusetzen. Die Zuversicht, zur Änderung beizutragen dadurch, daß die Übel der Zeit namhaft gemacht, durch ideologiekritische Spracharbeit denunziert werden, ist letztlich der E)ichterin Sache nicht. »Dem Tier beikommen wird nicht, wer den Tierlaut nachahmt«: nicht »Nachrede«, in der man sich reproduzierend an die »schlechte Sprache« des Lebens (4,268) zu verlieren droht, soll das Gedicht geben; aufgerufen wird dagegen das Wort »von uns,/ freisinnig, deutlich, schön« (1, 116/117). Dem dichterischen Wort wird so eine hohe Aufgabe zugemessen: Es soll wahrhaftige Modelle humanen Daseins entwerfen, ohne die Sprache der »Zeit«, aber mit dem Wissen, »daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt« (4,276) - eine doppelte Abgrenzung, welche die lyrische Arbeit beschweren und die Rezeption erschweren muß. Das Bildmaterial für diese Modelle entstammt vorzüglich der heimatlichen und der südlichen Naturlandschaft Italiens (wo Ingeborg Bachmann viele Jahre lebte), exemplarisch hierfür die Gedichtfolgen Von einem Land, einem Fluß und den Seen und Lieder auf der Flucht. Natur wird da nicht zur idyllisch widerspruchsfreien Gegenwelt, sie ist ein offener Raum der Selbst- und Welterfahrung, vor allem der Liebe, in dem Widersprüche ausgetragen werden. Gesucht wird eine Liebe, die den anderen nicht überwältigt, welche die Isolationen im wechselseitigen Selbstentdecken aufhebt, die im Zeichen der Übereinstimmung mit der Natur steht, auch der eigenen. Im real-überrealen Land mit Fluß und Seen leuchtet der utopische Zustand eines Gleichklangs auf, in der Liebe erreichbar, die - charakteristische Koppelung - Einklang über Sprachgrenzen erwirkt. Der Augenblick größten Übereinstimmens jedoch hebt das Bewußtsein des Getrenntseins nicht auf, umgekehrt ist dieses Bewußtsein eine Bedingung für gelungene Übereinstimmung:

Wir aber wollen über Grenzen sprechen,
und gehn auch Grenzen noch durch jedes Wort:
wir werden sie vor Heimweh überschreiten
und dann im Einklang stehn mit jedem Ort.
(I,89)

Die Lieder auf der Flucht führen in schrofferen Kontrasten und vehementer Sinnlichkeit einen bis zum äußersten gehenden Spannungsbogen vor. Unlöslich verklammert ihre Metaphorik Landschaft, Eros und Spracharbeit - Beispiel »klarster Vieldeutigkeit«, einer »Grammatik der vielfachen gleichzeitigen Bezüge«; so interpretiert Christa Wolf in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen die Ästhetik des Gedichts Erklär mir, Liebe (S. 129). Mehr und anderes wird so lesbar als naturhafte Zyklen von Wintereinbruch, Vereisung, großem Tauen und vom Aufbrechen der Subjektivität in der Liebe, Erleiden des Widerrufs und vernichtendem, todbringendem Enden. Die Verheißung einer Metamorphose im Lied steht am Schluß - in deutlicher Nähe zur Idee der Rilkeschen Orpheusdichtung: »Doch das Lied überm Staub danach/ wird uns übersteigen« (1,147). Dieses Postulat wird jedoch in der Lyrik der Bachmann nicht zum EndPunkt, zur Beruhigung in Transzendenz. Nicht anzunehmen, die Welt sei »endgültig« zu machen in Worten (1,162), das ist der Selbstappell des späteren Ihr Worte, und mit genauem sozialem Sinn wird gesagt, »wer bloß sich zu helfen weiß / und mit Worten -/ dem ist nicht zu helfen« (1,166). Ihr Ethos beweist sie gerade auch dort, wo das Gedicht erklärt, daß und warum es ihr die Sprache verschlägt, »mit dem Schreibkrampf« in der Hand (1,173) darauf deutend, was sie in der Realität ungelöst weiß und im lyrischen Sprechen als untauglich empfindet im Sich-Nicht-Abfindenkönnen ist Selbstbehauptung.