Geh an Orte, wo neue Gegenstände, Worte und Menschen Dich berühren, Dir Blut, Leben, Nerven und Gedanken auffrischen. Wir Frauen haben dies doppelt nötig. (Rahel Varnhagen und ihre Zeit, S. 188)
Diesen Rat gibt Rahel Varnhagen ihrer Schwester Rose in einem 1819 verfaßten Brief Rahel beschreibt die Sehnsucht des Menschen in die Ferne, die Abwechslung, Veränderung und Erneuerung durch Kennenlernen alternativer Lebensweisen verspricht. Sie betont gleichzeitig, daß diese Veränderung besonders für Frauen notwendig sei. Rahel kritisiert in der Fortsetzung des Briefes die soziale Stellung der bürgerlichen Frau ihrer Zeit, deren Aufgabenbereich sich auf Haus und Familie beschränkte:
Aber erfüllen, erholen, uns ausruhen, zu fernerer Tätigkeit, und Tragen, können die [Mann und Kinder] uns nicht; oder auf unser ganzes Leben hinaus stärken und kräftigen.
(Rahel Varnhagen und ihre Zeit, S. 188)
Für den größten Teil der weiblichen Bevölkerung dieser Zeit blieb der Blick in die Ferne unerfüllbare Wunschprojektion; denen, die lesen konnten, war wenigstens imaginäres Reisen möglich, das durch eine Fülle von Reiseliteratur angeregt wurde. Reisebücher erfreuten sich schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit: Die Zahl solcher Veröffentlichungen hatte sich zwischen 1770-1800 verfünffacht, während die allgemeine Buchproduktion sich etwas mehr als verdoppelte. Tatsächlich reisende Frauen und deren auf eigenen Erfahrungen beruhende Reiseberichte blieben bis ins späte 18. Jahrhundert eine Seltenheit.
Das Thema der Reise, eines der ältesten Motive in der Weltliteratur, findet sich hingegen häufig in der Literatur weiblicher Autoren. Neuere feministische Bearbeitungen haben etwa auf die Eigenart weiblicher Robinsonaden im 18. Jahrhundert hingewiesen oder die literarische Verarbeitung des Reisemotivs in Romanen von Frauen untersucht. Als Beispiel läßt sich in der deutschen Literatur im späten 18. Jahrhundert Sophie von La Roche anführen, in der englischen Literatur Anne Radcliffe und in der französischen Mme de Staél.
Die Darstellung imaginärer Reisen wurde durch Gemälde, Theateraufführungen oder Reiseberichte vorwiegend männlicher Autoren angeregt. Männer waren seit Jahrhunderten gereist. Schon im 16. Jahrhundert war es für junge Adlige üblich, zukünftige Berufserfahrung auf einer Kavaliersreise zu sammeln. Daneben entstand im 17. Jahrhundert die Erwerbsreise des Bürgers. Im 18.Jahrhundert kam es zu vermehrter Reisetätigkeit auch der Bürger, denen es nicht unbedingt um Erwerb ging, und sehr bald gehörte die Bildungsreise zum guten Ton für die Söhne des gehobenen Bürgertums.
Frauen hatten an diesen Erfahrungen zunächst kaum Anteil; doch gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts begannen auch sie zu reisen und ihre Erlebnisse aufzuzeichnen. Als Vorbild dienten sicherlich die bekannten Reisebriefe der Lady Mary Wortley Montagu (Letters from the East, 1763), die als Reiseliteratur einer Frau besondere Beachtung verdienen. Darauf wird zurückzukommen sein.
Die bekannte englische Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft reiste durch Europa und veröffentlichte 1796 durch ihre Letters Written During a Short Residence in Sweden, Norway and Denmark (Briefe eines kurzen Aufenthaltes in Schweden, Norwegen und Dänemark); Sophie von La Roche verfaßte mehrere Reiseberichte: Tagebuch einer Reise durch die Schweiz (1787), Journal einer Reie durch Frankreich (1787) und Tagebuch einer Reise durch Holland und England (1788). Johanna Schopenhauer schrieb das Buch Reise durch England und Schottland (1800, gedruckt 1818).
Diese reisenden, schreibenden Frauen gehörten fast ausschließlich gehobenen gesellschaftlichen Kreisen an, denn Reisen war zu jener Zeit mit großen Schwierigkeiten verbunden, die sich nicht nur auf das Finanzielle beschränkten, sondern für Frauen besonders mit Transport- und Unterkunftsschwierigkeiten zusammenhingen. Außerdem verstieß die reisende Frau gegen die weiblichen Rollenvorstellungen jener Zeit. Noch 1822 steht im Brockhaus:
Im Allgemeinen unternehme nur der reifere, mit dem Geiste der alten und neuen Classiker vertraute, in der Mathematik und Gewerbskunde, in der Staatswissenschaft, in Geschichte, Statistik und Geographie wohl unterrichtete und einer oder mehrerer Sprachen ganz kundige Jüngling eine Reise; sie sei ihm der Übergang aus der Studierstube zum praktischen Leben, der ihn zu einer freiern, lebendigern Ansicht der Welt führt. Übrigens muß der Zweck der Reise vorher fest bestimmt, und dem Hauptzwecke müssen alle übrige untergeordnet werden.
Der ausschließliche Bezug auf den jungen gebildeten Mann schließt also die Frau aus, die zu höherer Schulbildung bis in späte 19. Jahrhundert in Deutschland kaum Zugang hatte.
Um so beachtlicher sind deshalb die weiblichen Reiseberichte, die auf tatsächlichen Reisen beruhen. Trotz gesellschaftlicher Vorurteile, trotz großer physischer Anstrengungen und Gefahren reisten Frauen durch Europa, in den Orient, nach China und Indien, nach Afrika und Amerika. Für deutsche und englische Frauen war Italien ein beliebtes Reiseziel, doch Margaret Fuller und Harriet Beecher Stowe reisten sogar von Amerika nach Rom. In die Türkei war nicht nur Lady Mary Montagu im frühen 18. Jahrhundert gereist; ihr folgten im 19. Jahrhundert u.a. die deutsche Schriftstellerin Ida Hahn-Hahn (Orientalische Briefe, 1844), die Österreicherin Ida Pfeiffer (Reise einer Wienerin in das Heilige Land, 1843), die englische Schriftstellerin Harriet Martineau (Eastern Life: Present and Past, 1848) und die schwedische Autorin Frederika Bremer (Reisen in das Heilige Land, 1862). Ida Pfeiffer lernte auf ihrer Reise um die Welt Südamerika, China und Indien kennen (Eine Frauenfahrt um die Welt, 1850); die Engländerin Mary Kingsley erforschte Westafrika (Travels in West Africa, 1897), und noch im 20. Jahrhundert erregten die Afrikabriefe der bekannten dänischen Autorin Isak Dinesen Aufsehen (Letters from Africa 1914-1931, 1978). Nach Amerika reisten u. a. Harriet Manineau (Retrospect of Western Travel 1838) und Frederika Bremer (The Homes of the New World, 1853).
Diese Reiseschilderungen von Frauen sind von der literaturwissenschaftlichen und literaturhistorischen Forschung gänzlich übersehen worden. Obwohl auch die Reiseliteratur männlicher Autoren lange Zeit Stiefkind literaturhistorischer Untersuchungen war, so läßt sich seit dem Ende der 1970er Jahre doch ein erneutes wissenschaftliches Interesse an diesem Genre feststellen. Der Reiseliteratur von Frauen wird auch in den neuesten Untersuchungen kaum Beachtung geschenkt, oder sie wird mit Kriterien beurteilt, die heute nach den Forschungsergebnissen einer seit fünzehn Jahren bestehenden feministischen Literaturwissenschaft - abgelehnt werden müssen. In dem umfangreichen Band Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts z. B. erwähnt nur Alfred Opitz die Reisebriefe Esther Bernards in seinem Aufsatz Durch die Wüste, Lichter tragend... Abwertend weist er dann allerdings auf die sehr subjektive Erzählweise der Autorin hin, die »bisweilen auch eine totale Beschränktheit des Herzens und des Urteilsvermögens« spiegele und die Verfasserin durch die Begegnung mit der fremden Wirklichkeit »hilf- und sprachlos« werden lasse. Diese durch »weibliche Augen« geprägte Erzählweise - so Opitz - sei dann noch im 19.Jahrhundert in den Reiseberichten der Gräfin Hahn-Hahn zu erkennen.
Aufgabe ist deshalb, zunächst einmal auf das umfangreiche Material der Reiseliteratur von Frauen aufmerksam zu machen. Mit »Reiseliteratur« sind hier Reiseberichte, Reisebriefe, Reisetagebücher gemeint, denen tatsächliche Reisen zugrunde liegen. Es sind Texte, die meistens Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben, obwohl die subjektive Gestaltungsweise häufig zu einer Vermischung von Faktischem mit Fiktivem neigt. Ihren besonderen Reiz erhält ja die Reisebeschreibung gerade durch die Intention der Autorin/des Autors, sowohl persönliche Erfahrungen und Eindrücke als auch Fakten topographischer, ethnographischer, (kunst-)historischer, ökonomischer oder gesellschaftspolitischer Art zu vermitteln.
Wegen der Fülle des Materials sollen im Rahmen dieser Arbeit einige charakteristische Beispiele herausgegriffen werden, die richtungsweisend für eine zukünftige Bearbeitung dieses Themas sein könnten. Für die Diskussion der Anfänge einer weiblichen Reiseliteratur sind die schon erwähnten Reisebriefe der Lady Mary Wortley Montagu unerläßlich. Sie gehören zu den frühesten, uns überlieferten Aufzeichnungen von Frauen, die noch im 19. Jahrhundert als Vorbild dienten. Ida Hahn-Hahn bezieht sich in ihren Orientalischen Briefen ausdrücklich auf Lady Montagu (S. 284).
Unsere weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil sich das Genre der Reiseliteratur vor allem in den 1830er Jahren zu einer der populärsten Literaturgattungen entwickelte, u.a. angeregt durch Heinrich Heines Reisebilder (1826-1829), Ludwig Börnes Briefe aus Paris (1831-1834) und Fürst Pückler-Muskaus Briefe eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch aus Deutschland Holland und England, geschrieben in den Jahren 1826, 1827, 1828 (anonym 1831). Genauso bedeutend als Kulturdokumente ihrer Zeit sind die kaum bekannten Reiseschilderungen Ida Hahn-Hahns und Fanny Lewalds, die im folgenden genauer untersucht werden sollen. Auf die Reiseberichte anderer Frauen jener Zeit (z. B. Ida Pfeiffer und Harriet Martineau wird wiederholt Bezug genommen.
Die genaue Betrachtung dieser weiblichen Reiseliteratur erfordert andere Fragestellungen als die Beschreibungen männlicher Autoren. Frauen und Männer lebten und schrieben damals wie heute noch - unter verschiedenen Voraussetzungen; Frauen machten andere Erfahrungen, die in dieser Art von Texten vielleicht besonders deutliche Spuren hinterlassen haben. Wenn Wulf Wülfing 1980 für eine intensivere Rezeption der Reiseliteratur des Vormärz plädiert, weil gerade sie eines der sichersten Medien sei, verganzene Wirklichkeit zu erkennen, so gilt das für Frauen in besonderem Maße. Für die Frau bedeutet die Reise an sich schon einen Aufbruch, Ausbruch aus dem »normalen« Frauenleben jener Zeit. Ida Pfeiffer beschreibt, wie Verwandte und Freunde sie von ihrem Vorsatz abzubringen versuchten, von Wien nach Konstantinopel zu reisen:
Höchst lebhaft stellte man mir all die Gefahren und Beschwerden vor, die den Reisenden dort erwarten. Männer hätten Ursache zu bedenken, ob ihr Körper die Mühen aushalten könne und ob ihr Geist den Mut habe, dem Klima, der Pest, den Plagen der Insekten, der schlechten Nahrung usw. kühn die Stirn zu bieten. Und dann erst eine Frau! So ganz allein, ohne alle Stütze hinauszuwandern in die weite Welt, über Berg und Tal und Meer, ach das wäre unmöglich.
(Reise einer Wienerin in das Heilige Land, S. 9)
Die reisende Frau setzte sich Beschwerden und Gefahren aus; aber sie beging eine noch größere Sünde: sie verließ den Alltag, der »normalerweise« ein Leben im Hause mit Mann und Kindern bedeutete. Wenn Frauen ihre Erlebnisse und Eindrücke dann auch noch aufschrieben und veröffentlichten, so wurde dieser Aufbruch zum doppelten Ausbruch. Die Reise wird zum Schreib-Ort, welcher der Reisenden neue Möglichkeiten bietet: sie hat Zeit, nachzudenken, sich über wünschenswerte Veränderungen zu äußern, zu einem besseren Selbstverständnis zu gelangen und vielleicht sogar sich selbst zu befreien. So sind dann viele dieser Reisetexte als Zeugnisse von Versuchen zu verstehen, sich bessere Überlebensbedingungen zu schaffen. Diese Reiseunternehmungen waren im 19. Jahrhundert - wie schon vorher angedeutet - durchaus nicht an der Tagesordnung. Zu fragen wäre deshalb kurz nach der Vorgeschichte dieser Frauen, die auf so ungewöhnliche Art und Weise die Anpassung an patriarchalische Normen verweigerten. Wichtige Einsichten bringt in diesem Zusammenhang Annegret Pelz in ihrem Aufsatz Außenseiterinnen und Weltreisende. Ihr geht es nicht um Inhalt oder Form der Reiseberichte, sondern ausschließlich um die Vorgeschichte, um den Weg, den die Frauen gehen, bis sie die Entscheidung zur Reise treffen. An den Beispielen Ida Pfeiffer, Alma M. Karlin und Franziska Gräfin zu Reventlow erarbeitet Pelz, was diese drei Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert dazu brachte, ein Reiseleben als mögliche Befreiung zu wählen. Auch Ida Hahn-Hahn betont am Anfang der Orientalischen Briefe die schwierige Entscheidung zur Reise:
Furcht habe ich nicht einen Augenblick empfunden, und ebensowenig die momentane Desperation gekannt, die uns ausrufen läßt: »Hätte ich das doch nie unternommen!« Bei der ganzen Sache ist nur Eines mir schwer geworden: zum Entschluß zur Reise zu kommen.
(Bd. I, S. 3)
Zu fragen wäre außerdem nach dem Anlaß der Reise, nach Erwartungen und Zielvorstellungen, und inwieweit sie erfüllt oder enttäuscht werden. Eine Bearbeitung des Problemkreises Reiseliteratur muß jedoch darüber hinausgehen und die Texte selbst auf thematische und formale Eigenheiten untersuchen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Ich der Autorin und dem Land und seinen Menschen. Geht es der Autorin primär um die eigene Veränderung, um die verändernde Wirkung der fremden Welt auf das eigene Ich, um Selbstsuche und Befreiung, oder richtet sie ihre Beobachtungen hauptsächlich auf Land und Leute? Übt sie Kritik an der fremden Wirklichkeit und meint damit indirekt die eigene, zurückgelassene? Zu überlegen wäre außerdem, warum so viele Autorinnen den Brief oder das Tagebuch als Ausdrucksform wählen. Inwieweit lassen sich schließlich - trotz einschränkender patriarchalischer Normen - Ansätze eines frau-bewußten Schreibens erkennen, das sich thematisch und vielleicht auch formal abzeichnet?
Wer sich über Reiseliteratur informieren will, stößt in Nachschlagewerken hier und da auf Lady Mary Wortley Montagu und ihre Letters from the East (Briefe aus dem Orient, 1763). Sie wird meistens als einzige Frau genannt. Veröffentlicht wurden diese Reisebriefe aus mehreren Gründen: die Verfasserin gehört der oberen Gesellschaftsschicht an; sie richtet die Briefe an bekannte Persönlichkeiten wie Alexander Pope, und sie legt ein kulturgeschichtlich interessantes und bedeutsames Dokument vor. Außerdem war die Reise einer Frau in den Orient im frühen 18. Jahrhundert etwas ganz Ungewöhnliches. Montagu ist sich dessen durchaus bewußt, wenn sie an Pope schreibt, daß sie »eine Reise getan, die seit Jahrhunderten keine Christin unternommen hat«, (Briefe aus dem Orient, S. 117). Zum Erfolg dieser Reisebriefe hat sicher auch beigetragen, daß die Reisebeschreibung sich in England schon um 1700 großer Beliebtheit erfreute.
Lady Montagu hatte ihre Briefe in den Jahren 1716-1718 verfaßt; sie wurden aber erst 1763 nach ihrem Tode veröffentlicht. Eine Abschrift der Briefe war allerdings schon bald nach ihrer Rückkehr aus der Türkei im Freundeskreis bekannt geworden, denn Lady Mary Astell schrieb 1724 ein Vorwort mit dem Wunsch auf spätere Veröffentlichung. Von Interesse ist vor allem Astells Hinweis auf die Frauenperspektive in den noch unveröffentlichten Briefen Montagus:
Ich [Lady Astell] bin, ich bekenne es, boshaft genug, zu wünschen, daß die Welt sehen möge, wie die Damen weit besseren Nutzen aus ihren Reisen zu ziehen wissen als die Herren, daß, da die Welt mit Männerreisen bis zum Ekel überladen worden ist, die alle in dem nämlichen Ton geschrieben und mit denselben Kleinigkeiten angefüllt sind, eine Dame die Fähigkeit hat, sich eine neue Bahn zu eröffnen und einen abgenutzten Stoff mit einer Mannigfaltigkeit von neuen und zierlichen Bemerkungen zu verschönern.
(Briefe, S. 14)
Lady Astell glaubt, eine »getreuere und genauere« Darstellung »von Sitten und Gebräuchen der verschiedenen Völker« zu erkennen, die »mit einem mehr mitleidigen als züchtigenden Blick« beschrieben werden
(Briefe, S. 14).
Zur Vorgeschichte Lady Montagus muß erwähnt werden, daß sie durch ihre Herkunft eine privilegierte Stellung einnahm. Sie war die Tochter des Herzogs von Kingston, der sich nach dem frühen Tode seiner Frau jedoch wenig um die Erziehung seiner Kinder kümmerte und sie einer alten Gouvernante und Hauslehrern überließ. Mary Pierrepont (-Montagu) eignete sich dennoch beachtliche Kenntnisse in der umfangreichen Bibliothek des Vaters an; sie interessierte sich für Literatur, Geschichte und Sprachen (Französisch, Latein). Ihre unerschöpfliche Neugierde und das Bedürfnis, die Sprache des bereisten Landes zu erlernen, zeigte sich später in Konstantinopel, als sie innerhalb weniger Monate die türkische Sprache erlernte. In einem an Alexander Pope gerichteten Brief übersetzte sie sogar mit Hilfe eines Dolmetschers ein Gedicht Ibrahim Paschas an seine spätere Gattin, die Tochter des Sultans (Briefe, S. 123-124).
Ihre Unabhängigkeit bewies sie zum ersten Mal, als sie die vom Vater arrangierte Heirat verweigerte und sich stattdessen 1712 heimlich mit Edward Wortley Montagu trauen ließ. Die gesellschaftliche Stellung ihres Mannes als Mitglied des Unterhauses und ihre lebhafte, geistreiche, witzige Persönlichkeit trugen dazu bei, daß Lady Montagu sehr bald am Hofe Georgs I. eine Rolle spielte und auch in Literatenkreisen gern gesehen wurde. So lernte sie Alexander Pope kennen, der sie eine Zeitlang sehr achtete, sich aber später von ihr abwandte.
Im Gegensatz zu Ida Hahn-Hahn, Fanny Lewald oder Ida Pfeiffer unternahm Lady Montagu die Reise in die Türkei nicht aus eigener Initiative. Sie begleitete Edward Montagu, der 1716 zum Gesandten in Konstantinopel ernannt worden war. Der schwere Entschluß zur Reise, von dem Ida Hahn-Hahn sprach, wurde ihr abgenommen. Die Reise führte sie zunächst nach Wien, durch Ungarn, den Balkan, über den Bosporus nach Konstantinopel, wo sie zwei Jahre verbrachte. Für die Rückreise wählten die Montagus den Wasserweg durch die Dardanellen und das Mittelmeer. Von Genua aus überquerten sie die Alpen und reisten über Frankreich nach Italien zurück. Trotz der Strapazen dieser Reise darf nicht vergessen werden, daß die Montagu als Frau des englischen Gesandten in privilegierter Stellung reiste, was sie voll ausnutzte. Diese Reise bedeutet keinen bewußten Ausbruch aus der gewohnten Gesellschaft wie bei Lewald, Hahn-Hahn und Pfeiffer, obwohl das neue Leben in der Fremde auch für sie zum besonderen Schreibort wird. Sie betätigt sich mit dem Erlernen der türkischen Sprache, mit der Lektüre klassischer Autoren und schreibt Briefe, während sie in London den größten Teil ihrer Zeit mit gesellschaftlichen Verpflichtungen ausfüllte (Briefe, S. 159). Der unbekannte Ort, die fremdartige Atmosphäre, die neuen Menschen und ihr ganz anderer Lebensstil schaffen ihr einen geistigen Freiraum, der immer wieder erneut zum Schreiben anregt.
Ihre besondere Wirkung erzielen diese Schilderungen durch die geschickte Verflechtung von Form und Thematik. Wenn Lady Astell von »einer neuen Bahn« spricht, die hier eröffnet wird, dann meint sie damit die Erzählweise ebenso wie inhaltliche Neuigkeiten. Mit der Form des Briefes wählt die Montagu eine halb private, halb literarische Form des Ausdrucks, die sich - ähnlich wie das Tagebuch - durch »publikumsbezogene Subjektivität« auszeichnet. Mary Montagu hat damit teil an einer Tradition der westeuropäischen Briefkultur, die gerade durch den Frauenbrief im 18. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte.
Durch seinen scheinbar intimen Charakter weckt der Reisebrief die Neugierde des Lesepublikums und verleiht ihren Berichten ein größeres Maß an Authentizität. Auf Authentizität legt Montagu besonderen Wert. Sie betont wiederholt den Wahrheitsanspruch ihrer Schilderungen, der sie von anderen abhebt:
Auf mein Wort, Madame, meiner Achtung für die Wahrheit und nicht meiner Faulheit ist es beizumessen, daß ich Sie nicht mit ebensoviel Wundern unterhalte, wie sie andere Reisebeschreiber erfinden, ihre Leser damit zu belustigen.
(Briefe, S. 70)
Eine lebendige Schreibweise charakterisiert diese Briefe, die sich nur hier und da an höfische Konventionen hält. Im Sinne Gellerts, der sich vor allem über den deutschen Frauenbrief der Aufklärung äußerte, ließen sich diese Reisebriefe als »freye Nachahmung eines guten Gesprächs« (Briefe nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 8) bezeichnen, das die Distanz zwischen der Reisenden und den zurückgebliebenen Freunden verringert. Die Briefform eignet sich gut für den hier praktizierten Perspektivenwechsel, der besonders deutlich wird, wenn es sich um weibliche oder männliche Adressaten handelt. Sowohl Schreibweise als auch Thematik ändern sich. Der weitaus größere Anteil der Briefe ist an Frauen aus adligen oder gehobenen bürgerlichen Kreisen gerichtet, vor allem an Gräfin Mar, die jüngere Schwester. Als männliche Briefempfänger fallen der bekannte englische Dichter Alexander Pope und der italienische Abbé Conti auf.
Die meisten Briefe konzentrieren sich auf die Darstellung des neuen Landes und seiner Bewohner, ihrer Sitten und Lebensgmohnheiten. Die Autorin entpuppt sich dabei als aufmerksame, verständnisvolle Beobachterin, die sich sogar selbst als verschleierte Frau durch die Straßen Konstantinopels tragen läßt, um einen besseren Einblick in das Leben der Frauen zu gewinnen. Wichtig ist, daß sie sich ausschließlich in den oberen Kreisen der Gesellschaft bewegt und deshalb von der Armut nur sehr wenig sieht und beschreibt, ganz im Gegensatz zu Ida Hahn-Hahn und Harriet Martineau, die etwa einhundert Jahre später in den Orient reisten.
Vergleicht man etwa die Briefe an die Gräfin Mar und an Alexander Pope, so fällt zunächst der viel lebhaftere, anschaulichere Stil in den Briefen an die Schwester auf, während die an Pope gerichteten distanzierter, kühler anmuten. Das mag zum Teil an der unterschiedlichen persönlichen Beziehung Montagus zu beiden liegen. Ein ebenso wichtiger Grund ist aber auch das besprochene Thema des jeweiligen Briefes, das die Autorin auf die Empfänger abstimmt. An Pope berichtet sie über politische Probleme; sie weist auf die destruktive Kraft des Krieges hin, der ein deutlicher Beweis »für die Unvernunft der Menschen« sei (Briefe, S. 87). An anderer Stelle will sie den Dichter mit ihrer eigenen Belesenheit und »morgenländischen Gelehrsamkeit« beeindrucken, indem sie ihm die orientalische Poesie zu erklären versucht.
In den Briefen an die Schwester und die anderen Freundinnen geht es meistens um die Situation und die Lebensgewohnheiten der Frauen, um Themen also, die in ihrer Problematik gewisse Identifikationsmöglichkeiten bieten. Die Frauenmode wird bis ins kleinste Detail geschädert; die Institution der arrangierten Ehe kommt zur Sprache, ebenso der übertriebene Fruchtbarkeitskult, der den Wert der Frau nach der Kinderzahl bestimmt. Ernsthaft setzt sie sich mit dem Freiheitsbegriff im Hinblick auf türkische Frauen auseinander und scheint hier eine ambivalente Position einzunehmen: Sie gesteht ihnen durch Mittel der Verkleidung und Schliche »einen hohen Grad der Freiheit selbst im Schoße der Knechtschaft« zu und erkennt andererseits die Lebensgefahr, die eine Entdeckung mit sich bringt (Briefe, S. 166, 198). Aufschlußreich ist der indirekt kritische Blick auf die Situation der englischen Frau: »Sie können mir glauben, daß die türkischen Frauen ebensoviel Geist und Artigkeit, ja selbst Freiheit haben wie die unseren« (Briefe, S. 198).
Diesen Eindruck bestätigt sie in einer der faszinierendsten Stellen im Text: In Sophia besucht sie ein türkisches Frauenbad. Sie hat damit Zugang zu einer Welt, die Männern verschlossen ist ebenso wie der Harem. Etwa zweihundert Frauen treffen sich hier einmal wöchentlich vier bis fünf Stunden lang. Hier scheinen sich diese Frauen - abseits von patriarchaler Unterdrückung - einen Freiraum geschaffen zu haben, in dem auch die fremde Engländerin ohne Vorurteile Aufnahme findet (Briefe, S. 96-99).
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß diese Reisebriefe alle gängigen Aspekte der Reiseliteratur aufweisen: Sie erfüllen sowohl Unterhaltungs- als auch Informations- und Bildungsfunktion. Lady Montagu versuchte ihre Landsleute sogar davon zu überzeugen, die Pockenimpfung nach dem Beispiel der Türken in England einzuführen - allerdings vergeblich. Diese Reisebriefe unterscheiden sich jedoch von den zeitgenössischen Reiseschilderungen männlicher Autoren: Sie wenden sich auch an Frauen, indem sie Probleme und Lebensbedingungen von Frauen in einem fremden Land nicht nur beschreiben, sondern sie erfahren und verständlich machen. Als Reisende wird Lady Montagu zur Identifikationsfigur. Daß sie sich dabei an eine kleine Anzahl von Leserinnen/Lesern aus gehobenen Kreisen wendet und auch nur über die gehobene Schicht in der Türkei berichtet, darf nicht vergessen werden.
Die Reisebriefe der Lady Montagu boten sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit zur Untersuchung an, als Texte einer Frau, die gewissen Signalwert besitzen, indem sie im frühen 18.Jahrhundert Situation und Probleme von Frauen in einem noch unzugänglichen Land wie dem damaligen türkischen Reich beschreiben und reflektieren. Spätere Beispiele aus der steigenden Quantität weiblicher Reiseschilderungen herauszugreifen, bereitet einige Schwierigkeiten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich mit der fortschreitenden Industrialisierung und dem Bau von Eisenbahnen auch die Reisemöglichkeiten für Frauen verbessert. Einhergehend mit beginnenden Emanzipationsforderungen der Frau auf verschiedensten Gebieten (z. B. Bildung, Arbeit) galt es um 1850 nicht mehr als Unmöglichkeit, wenn eine Frau - allerdings in männlicher Begleitung - reiste. Allein zu reisen war weiterhin eine Sensation. Ida Pfeiffer schreibt dazu noch 1844:
Bald hörte man vom Schiffskapitän, daß eine Frau auf dem Schiff sei, die bis Konstantinopel zu reisen gedenke, und nun betrachtete man mich von allen Seiten. Einer der Herren, der dieselbe Reise machte, sprach mich an und bot mir seine Dienste an, wenn ich deren benötigen sollte, und wirklich stand er mir überall schützend zur Seite.
(Reise einer Wienerin, S. 10-11)
Ida Hahn-Hahn, Ida Pfeiffer oder auch Harriet Martineau bieten sich als interessanter Vergleich zur Montagu an, weil auch sie den Orient bereisten, wenn auch mehr als hundert Jahre später. Trotz unterschiedlicher soziohistorischer Bedingungen dieser Frauen wäre sowohl nach Gemeinsamkeiten als auch Unterschieden in der Verarbeitung ihrer Orienterfahrung zu fragen, besonders im Hinblick auf die Probleme der Frau. Wenn vorher die Frage nach einem fraubewußten Schreiben gestellt wurde, das gerade in einem stark autobiographischen Genre wie der Reisebeschreibung deutlich werden könnte, scheint Ida Hahn-Hahn darin am weitesten zu gehen: Sie spürt in ihren Orientalischen Briefen der Geschichte der »verborgenen Frau« nach; ihr Werk soll deshalb eingehend behandelt werden.
Ida Hahn-Hahn reiste aber nicht nur in den Orient; sie bereiste fast alle Länder Europas und schrieb sieben Reisebücher über diese Erfahrungen. Die zwei Bände Jenseits der Berge (1840), die ihre Italienreise schildern, sind im Rahmen der Fragestellung dieses Beitrags von besonderem Interesse. Als Vergleich zu Ida Hahn-Hahn bietet sich Fanny Lewald, ihre Zeitgenossin und Antipodin an, die auch fünf Reiseschilderungen veröffentlichte, darunter Römisches Tagebuch (1845,146; veröffentlicht 1927) und Reisebriefe aus Deutschland. Italien und Frankreich (1880), die ihre Italienerlebnisse darstellen.
Die reiche Produktion von deutschen Reisetexten in dieser Zeit (1830-1850) muß im Kontext der literarischen Entwicklung des deutschen Vormärz verstanden werden, denn das Genre der Reiseliteratur wurde zur beliebtesten Literaturgattung. Dieser Einfluß ermutigte sicherlich beide Schriftstellerinnen, obwohl Fanny Lewald eher vom Einkommen ihrer Veröffentlichungen abhängig war als Ida Gräfin Hahn-Hahn, der als Aristokratin nach der Scheidung ihrer Ehe eine Rente zustand. Dennoch müssen diese Reisebücher bei der Autorinnen ebensosehr als persönliche Befreiungsversuche gelesen werden. Trotz andersartiger Vorgeschichte bedeutet die Reise für beide Frauen Ausbruch aus vorgeschriebenen Normen, Bestätigung der eigenen Unabhängigkeit, Suche nach alternativen Überlebensmöglichkeiten.
Während Ida Gräfin Hahn aus einer äußerst reaktionären mecklenburgischen Adelsfamilie stammte, wuchs Fanny Lewald in einer bürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Der Vater, der die Ausbildung seiner Töchter - in den Grenzen des frühen 19. Jahrhunderts streng überwachte, beeinflußte ihr Leben entscheidend, so daß sie sich später noch an männlichen Vorbildern orientierte. Ihre Ausbildung war gründlicher als die Ida Hahn-Hahns, die von den Eltern keinerlei Unterstützung bekam und Autodidaktin war. Von ungeheurem Wissensdurst und großer Neugierde getrieben, eignete sich Hahn-Hahn ein erstaunliches Wissen an, das in ihren Reisebüchern deutlich wird. Entscheidend für ihr Emanzipationsbewußtsein wurde die Ehe mit ihrem Vetter, die nach drei qualvollen Jahren seelischer und körperlicher Mißhandlung 1829 geschieden wurde. In ihren Reiseschilderungen setzt sie sich häufig mit dieser traumatischen Erfahrung auseinander, die sie als Leiderfahrung vieler Zeitgenossinnen erkennt. In ihrem ersten Reisebuch Jenseits der Berge (1840) fragt sie:
Geschehen nicht ganz unerhörte Dinge, um das Leben zu fristen? Deshalb sitzen Menschen tagelang am Schreibtisch oder in dumpfen Werkstätten; deshalb stehlen, morden, betrügen sie [...]; deshalb setzen sie sich der Möglichkeit aus, am Galgen oder im Kriege zu sterben; ja, was noch viel grausiger ist, deshalb heirathen Frauen unerträgliche Männer. Ich reise um zu leben.
(Jenseits der Berge I, S. 16)
Reisen bedeutet also Flucht und Befreiung für Ida Hahn-Hahn; sie sieht im Reisen eine alternative Lebensform, die ihr erlaubt, sie selbst zu sein und frei von den Zwängen der Frauenrolle ein erfülltes Leben zu führen. Leitmotivisch durchzieht der Satz: »Ich reise, um zu leben«, ihr erstes Reisebuch. Es geht ihr nicht in erster Linie darum, »Kenntnisse und Wissenschaft zu erwerben« (1, S. 16) oder der Mode des Tages zu folgen und auf »Jagd nach Novellen- und Reiseskizzen - oder Reisebilderstoff« zu gehen (1, S. 44). Sie lebt das Leben »in der Reisefreiheit, wo die Menschen freundlich mit [ihr] sind wie mit einem Zugvogel, und wo [sie], gleich einem solchen, rasch und leicht an ihnen vorüberstreife« (1, S. 18). Mit diesem Freiheitsgefühl ist das Schreiben aus Ausdruck ihres Selbst eng verbunden. Der Prozeß des Schreibens ist dabei entscheidend und nicht der fertige Text:
Wenn die Gedanken ungeregelt in meinem Kopfe umherschweifen, so kommen sie mir vor wie leuchtende Kometen, welche aber auf dem Wege durch die Feder auf das Papier immer blässer und blässer, und zuletzt, als gedruckte Blätter, zu stillen, kalten, graugrünen Erden werden. (I,S.4)
So erhofft sie sich die Italienreise als geistigen Schreib-Ort, der einen Kreativitätszustand schafft, durch den sie leben kann, indem sie schreibt.
Der Prozeß des persönlichen Freiwerdens spiegelt sich in der Form des Textes. Es ist dies kein geschlossener Reisebericht, sondern eine Mischung von Beschreibungen, Reflexionen, Erzählungen und Gedichten. Der Text weist Brüche, Sprünge und Längen auf, Übergänge zwischen einzelnen Abschnitten fehlen häufig. Hahn-Hahn wählt diese Form bewußt: »Es wäre wol ordentlicher, wenn ich in einem Athem schriebe und immer hübsch glatte Übergänge machte. Aber ich kann nur nach meiner Natur schreiben, die hat keine Übergänge« (II, S. 232). Die Autorin schreibt sich selbst in den Text ein, um mit der französischen Feministin Hélène Cixous zu sprechen. Zu beachten ist dabei, daß Reiseliteratur die offene Form bevorzugt und sich dahingehend in den 1830er Jahren entwickelt hatte, vor allem durch den Einfluß Heinrich Heines.
Ida Hahn-Hahn beabsichtigte mit der Italienreise sicherlich auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte dieses Landes. Sie ist gut informiert und zeigt große Neugierde und unstillbaren Wissensdurst. In Bologna besucht sie zwölf Kunstmuseen in fünf Tagen. Als Beurteilungskriterium gilt dabei immer ihr eigenes, subjektives Interesse: »Ich spreche nur von den Dingen, die mich frappiert haben« (I, S. 61). Die Autorin läßt sich, über die Konventionen hinweg, hier - wie später im Orient - ganz auf das besuchte Land ein. Sowohl vom Thema als auch von der Perspektive her äußert sich Hahn-Hahn explizit und bewußt als Frau. Ihr Interesse gilt den gegenwärtigen gesellschaftlichen Problemen der italienischen Frau ebenso wie ihrer historischen Vergangenheit. Schon hier deutet sich die Suche der Autorin nach den Spuren weiblicher Geschichte an, die in den Orientalischen Briefen zentral wird. Bis in die Sprache hinein läßt sich der weibliche Standpunkt vernehmen, wenn sie von einer »Heiligin« oder »Sultanin« spricht (I.S. 75).
Die Reiseerfahrungen vermitteln ihr bessere Einsicht in das Problem der Benachteiligung der Frau, gegen die sie sich auflehnt:
Es ist auf Reisen recht unbequem, kein Mann zu sein! Bei den Messen in der Sixtinischen Kapelle dürfen die Männer in die innere Abtheilung, wo sie, unmittelbar hinter den Kardinälen, Alles aus der ersten Hand sehen. Wir sitzen wie sehr schädliche wilde Thiere in der äußeren Abtheilung hinter einem fein carrirten Gitter, so daß wir die ganze Ceremonie hinter sich kreuzenden Strichen wie ein Stickmuster erblicken. (I, S. 204)
Die Reisebeschreibung dient als Mittel, ihr Emanzipationskonzep über die Grenzen ihres eigenen Standes hinauszutragen. Für Frauen des Bürgertums und des Proletariats mehr noch als für aristokratische Frauen müßten Chancen zur Emanzipation erkämpft werden. Ambivalent bleibt ihr Konzept allerdings, wenn sie sich hauptsächlich für die physische und nicht so sehr für die geistige Eigenständigkeit der Frau einsetzt:
[...] und Emancipation der Frauen sollte doch vor allen Dingen heißen, daß Keine, Keine, aber auch nicht eine Einzige für einen Piaster zu kaufen und zu verkaufen sei [...]. (I,S.296)
Dieses erste Reisebuch Ida Hahn-Hahns gewinnt seine Bedeutung als Manifest ihrer persönlichen Befreiung, die in ihrem unkonventionellen Lebensstil, ihrer selbstsicheren Urteilskraft und in der Kritik an einer patriarchalen Gesellschaft Ausdruck findet. Auch wenn sie behauptet, nicht für andere schreiben zu wollen, so läßt sich die Botschaft an die Frauen ihrer Zeit nicht überhören. Dieser Text erfüllt also auch eine besondere, hauptsächlich für Frauen intendierte Appellfunktion.
Am bekanntesten sind sicherlich Hahn-Hahns Orientalische Briefe (1844) geworden, denn die Reise einer Frau in den Orient war im 19. Jahrhundert immer noch eine Sensation. Sie reiste weiter als Lady Montagu: In Begleitung von Baron Adolf Bystram, mit dem sie seit 1831 in einem »freien Neigungsverhältnis« zusammenlebte, ging ihre Reise über Konstantinopel, Smyrna, Beirut, Damaskus, Jerusalem bis nach Ägypten. Ida Hahn-Hahn weist darauf hin, daß sie als erste Frau in Konstantinopel zur Fortsetzung ihrer Reise einen Reisepaß beantragt (OB I, S. 301). Sie nimmt große Strapazen auf sich: Auf einem verschmutzten, verwanzten Dampfschiff erreicht sie Konstantinopel; sie läuft durch Schlamm und Schmutz der Städte und reitet mehrere Wochen lang auf dem Kamel durch die Wüste. Sie will die fremde Welt am eigenen Körper spüren. Während Mary Montagu sich in den oberen Kreisen der Gesellschaft bewegte und eine idealisierte Situation der Frau schildert, die mit Reichtum, Pracht und Schönheit strahlt, so erweist sich die Autorin des 19. Jahrhunderts als realistische Beobachterin mit einem stärkeren sozialen Bewußtsein. Sie beschreibt die Armut des türkischen Volkes und spricht sich entschieden gegen die Haremssklaverei aus, die sie in ihrer Problematik sehr viel differenzierter sieht als Mary Montagu. Darin trifft sich Hahn-Hahn durchaus mit der Engländerin Harriet Martineau, die die Idee des Harems scharf kritisiert. Die Ambivalenz der Hahn-Hahnschen Einsichten spiegelt sich jedoch gleichzeitig in der beschränkten Perspektive der weißen Europäerin, der es an Verständnis für die schwarze Sklavin fehlt:
Ich muß ehrlich gestehen, daß mich bei der ganzen Prozedur [des Sklavinnenmarktes] nichts so anwiderte, als ihre Häßlichkeit, und daß mir der majestätische Königsgeier zu Schönbrunn mehr Mitleid mit seiner Gefangenschaft einflößte, als die Sclaverei dieser Geschöpfe. (OB I, S. 177)
Die Autorin widmet diese Reisebriefe ihrer Mutter, der einzigen Person, die ihr imponiert und ihr genug Freiheit ließ, sich zu der selbständigen Persönlichkeit zu entwickeln, die sie jetzt ist. Im Gegensatz zum ersten Reisebuch wählt Hahn-Hahn hier die Briefform - wie Lady Montagu. Es sind dies allerdings Briefe, die an wenige, eng mit ihr verbundene Menschen gerichtet sind: an die Mutter, die Schwestern, den Bruder und vor allem an die Freundin Emy, Gräfin Schönburg-Wechselburg. In diesen Briefen geht es der Autorin nicht mehr in erster Linie um die eigene persönliche Befreiung; es geht ihr um die Vermittlung einer Botschaft, die an alle, vor allem aber an Frauen gerichtet ist. Sie befindet sich auf dieser Reise intensiver noch als in Italien auf der Suche nach den Spuren der Geschichte der Frau und damit indirekt auch auf der Suche nach sich selbst.
Wer das Reisen wie eine oberflächliche Zerstreuung betrachtet, der gehe nicht in den Orient. Vergnügungen bietet er nicht, nur Lehren und Offenbarungen. Das habe ich vorausgesetzt, sie gesucht und gefunden, und darum bin ich vollkommen mit meiner Reise zufrieden. (OB I, S. 4)
Wie sehr diese Reise die Erfüllung einer langjährigen Sehnsucht bedeutet, drückt der 10. Brief an die Freundin aus:
Meine geliebte Emy! So stehe ich hier denn wirklich an der Pforte des Orients, des Landes vom Aufgang, von dem wir so viel zusammen gesprochen, nach dem wir so oft uns geträumt haben. (OB I, S. 190)
Ziel der Reise Hahn-Hahns ist das Kennenlernen der Stätte des Ursprunges ihrer eigenen Zivilisation. Sie reist aus der europäischen Gegenwart in die orientalische Vergangenheit und will keine Erinnerungen sammeln, sondern Hoffnungen, nicht für sich selbst, aber für alle (OB 1, S. 281). Sie spricht über die hoffnungslose Lage in Europa, die »umgeändert, oder umgebildet, wenn nicht gar umgestoßen werden müsse« und sieht »eine bis jetzt noch unbekannte aber gewisse und in ihrer Art vollkommene Phase« voraus, die »neu über den Trümmern unsrer Welt beginnen wird« (OB I, S.282).
Aus den Trümmern der orientalischen Vergangenheit gräbt sie große Frauen der byzantischen Kaisergeschichte aus. Die eigentliche Antwort findet sie dann in Ägypten, dem Höhepunkt ihrer Reise. Sie befindet sich auf den »Spuren einer Geschichte die Niemand kennt« (OB III, S. 313), und die sich ihr schließlich in dem Mythos der Göttin Isis offenbart (G. Geiger, S. 180 f). Wirklichkeit und Phantasie vermischen sich in den Vorstellungen der Reisenden und schaffen eine Zukunftsvision, die sie ihrer Freundin Emy zu Beginn der Ägyptenreise mitteilt:
Der Nil hat sich z. B. in meiner Phantasie ganz mit der Isis verwebt, und zwar nicht mit der mumienhaften schwarzen Gestalt, der man in unsern egyptischen Museen diesen Namen giebt, sondern wiederum mit meinem Phantasiegebilde der Isis, als einer herrlichen dunkeln Frau mit tiefen, schwarzen Augen, mehr Zauberin und Königin als Göttin, mit mystischen Attributen, die zugleich auf Zauberstab und Scepter deuten. Zu ihren Füßen floß der Nil - aus der unerforschten Wüste ins unergründliche Meer, ein unermüdlicher Segensstrom, den die Völker seit Jahrtausenden nur durch seine Wohltaten kennen, und sie hielt die Hand über ihm ausgestreckt. Man sieht ja dergleichen innerlich. (OB III, S. 29)
Der »grandiose Isistempel« taucht schließlich als »Wunderbau« aus dem Nil vor ihr auf, und sie beklagt die Zertrümmerung durch Barbarenhände, deren »rohe Fäuste [wie] in einem Blumengarten« gewütet hätten (OB III, S. 277). Hinter den Pylonen dieses Tempels offenbart sich ihr eine verschüttete vergessene Welt:
Nicht in die lichte Götterwelt des Olymps, nicht in die glühendselige Paradieseswelt des Islams, nicht in die lächelnde Engelwelt eines Fiesole führen diese Pforten. Vor der Welt des Gedankens stehen sie, des Gedankens der nur ein Ziel hat, ein letztes, ein höchstes: Erkenntnis!
(OB III, S. 278)
Beim Besuch des Tempels Edfú fragt sich die Suchende, warum er dem ägyptischen Gott der Sonne gewidmet sei und »von alten Autoren« in Beziehung zu Apollo gesetzt werde, wenn doch die herrschende Göttin Isis auf sechzig Wandbildern alle Opfer empfängt. Die Verbindung zur weiblichen Geschichte wird dann endgültig hergestellt in der mythischen Begegnung mit der »Gesellschaft von grauen Weibern, die beisammen im Kreise am grasigen Hügelabhang saßen, und sich heimlich Märchen aus ihrer Zeit erzählten« (OB III, S. 295). Die Autorin möchte das Geheimnis dieser Frauen erfahren.
In den Orientalischen Briefen spürt Ida Hahn-Hahn für aufmerksame Leser/-innen verschüttete, vergessene, weibliche Orte auf die utopische Bedeutung gewinnen. Durch die Erkenntnis weiblicher Geschichte gelingt ihr der Blick aus der Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in eine bessere Zukunft. Die Autorin des 19. Jahrhunderts wagt es, in ihrer Reiseschilderung etwas vorzudenken, was heute Autorinnen wie Christa Wolf (Kassandra, 1983) oder Irmtraud Morgner (Amanda, 1983) aufgegriffen haben.
Ein Vergleich der Reisebücher Hahn-Hahns mit denen Fanny Lewalds macht die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten sichtbar, die sich hier für Frauen öffnen. Grundsätzlich war der Befreiungsprozeß für die vom Vater streng behütete Bürgerstochter Fanny Lewald schwieriger als für Ida Hahn-Hahn, deren aristokratisches Selbstbewußtsein ihr schon früh Sicherheit verlieh. Die Möglichkeit des Ausbruchs aus den Fesseln des bürgerlichen Familienkreises verwirklichte sich für Lewald durch ihren schriftstellerisehen Erfolg: »Es war mir ein Blick aus der Wüste in das gelobte Land, es war eine Aussicht auf Befreiung«, schreibt sie in ihrer Autobiographie Meine Lebensgeschichte (S. 193). Die finanzielle Unabhängigkeit, die zum Umzug aus dem Elternhaus nach Berlin geführt hatte, gab ihr die nötige Selbstsicherheit, um sich den langjährigen Wunsch einer Reise nach Italien zu erfüllen. Fanny Lewald reiste mehrere Male gen Süden; sie verarbeitete ihre Erfahrungen und Eindrücke in drei Reisebüchern: Römisches Tagebuch 1845/1846 (1927 veröffentlicht), Italienisches Bilderbuch (1847) und Reisebriefe aus Deutschland, Italien und Frankreich (1880).
Diese drei Texte unterscheiden sich in Inhalt und Schreibweise entscheidend voneinander: Zeugnis der persönlichen Befreiung gibt das Römische Tagebuch, das zu ihren Lebzeiten interessanterweise nicht veröffentlicht wurde. Fürs Publikum bestimmt war hingegen das kurz nach der Reise herausgegebene Italienische Bilderbuch, das primär Unterhaltungs-, Bildungs- und Informationsfunktion erfüllt. Es konzentriert sich auf das bereiste Land und dessen Bewohner und spart das persönliche Ich der Autorin größtenteils aus. Die sehr viel später erschienenen fingierten Reisebriefe stellen ein Erinnerungsbuch dar, in dem sich Nostalgie und gegenwärtige Eindrücke vermischen. Eine sehr viel konservativere Lewald läßt sich hier vernehmen, die auch den Frauen mit erhobenem Zeigefinger entgegentritt. Fleiß und Disziplin, Sparsamkeit und Bescheidenheit, also bürgerliche Tugenden, mit denen sie selbst aufgewachsen war, fordert sie von ihnen.
Am interessantesten ist im Rahmen dieser Untersuchung ihre erste Reiseschilderung, das Römische Tagebuch, da es die Reise am intensivsten als Teil ihres eigenen Befreiungsprozesses beschreibt:
Es war mir, als wären mir Flügel gewachsen; und so unglaublich kam es mir oft vor, daß ich die Kaufmannstochter aus der Kneiphöfschen Langgasse in Königsberg in Preußen, jetzt aus eigener Machtvollkommenheit so weit, so weit von der Heimat, am Lago maggiore umherging.
(Römisches Tagebuch, S. 11)
Diese Reise bedeutet Selbstbestätigung für Lewald. Im fremden Italien ist sie nicht mehr die Tochter eines Königsberger Kaufmanns; hier wird ihr Anerkennung als Schriftstellerin zuteil. Sie trifft Reisende, denen ihr Name ein Begriff ist, und das stärkt ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstsicherheit. Die Reise wird auch ihr zum besonderen Schreib-Ort, obwohl sie gleichzeitig als Mittel zum Zweck dient. Im Gegensatz zu Hahn-Hahn äußert sich hier die Berufsschriftstellerin, der das Sammeln von Buchmaterial zum wichtigen Reisezweck wird.
Aufschlußreich ist das Römische Tagebuch aus zwei weiteren Gründen:
Hier bahnt sich zunächst sehr zwiespältige Beziehung zu ihrem späteren Ehemann Adolf Stahr an, der im Grunde die Vaterfigur zu ersetzen scheint. Lewald erkennt die Problematik, wenn sie schreibt:
Die Kluft zwischen seinen und meinen Ansichten über die Bedeutung der Frau und über ihr Verhältnis zu dem Manne in der Ehe war so groß, so unausfüllbar, daß keiner von uns beiden [...] über sich selber oder über die Empfindungen des anderen auf die Länge im Ungewissen bleiben konnte.
(RT, S. 79)
Die Möglichkeit einer alternativen Lebensweise ergibt sich erst in der Begegnung mit anderen Frauen. Italien war seit Goethes berühmter Italienreise beliebtes Reiseziel, und so trifft Fanny Lewald hier mehrere bekannte deutsche Frauen, u. a. Adele Schopenhauer und Ottilie von Goethe. Diese Frauen sind sich der Unterschiede zwischen dem viel freieren Lebensstil in der Fremde und dem beengten Dasein der Freundinnen in der Heimat bewußt. Die Reise ermöglicht ihnen ein Leben im »Ausnahmezustand«, das sie verändert. Ottilie von Goethe äußert sich dazu in einem Gespräch mit der Freundin Fanny Lewald: »Wie wird's uns nur in Deutschland wieder gehen? Man wird uns ganz unanständig geworden finden, und wir werden uns in den unanständigen Anstand der andern auch nicht mehr recht schicken können!« (RT, S. 89) Fanny Lewald hat andere Länder Europas bereist und ihre Erfahrungen literarisch verarbeitet: so z. B. im Revolutionsjahr 1848 die Reise nach Paris in den Erinnerungen aus dem Jahre 1848 und 1850 die Reise nach England und Schottland. Sie äußert sich hier und da zur gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau; zu einer so radikalen Erkenntnis des revolutionären Potentials in der verborgenen Geschichte der Frau wie Ida Hahn-Hahn gelangt Fanny Lewald nicht. Sie äußert sich bewußt als erfolgreiche Berufsschriftstellerin und gleicht sich in Thematik und Schreibperspektive eher an ihre männlichen Zeitgenossen an.
Bei der Untersuchung weiblicher Reisebücher handelt es sich um ein sehr umfangreiches Material, das neu gelesen werden und unter anderen Gesichtspunkten betrachtet werden muß als Reisebücher männlicher Autoren. Es geht dabei um eine Literatur, die unter besonderen Voraussetzungen entstanden ist. Die Reise schafft im konkreten wie im geistigen Sinn einen Schreib-Ort, einen Frei-Raum, der Anregung und Mut zu Gedanken und Einsichten gibt, die unter den beengenden Verhältnissen der Heimat nicht möglich gewesen waren. Häufig wird dabei das in der Fremde Erfahrene zur idealisierten Wunschprojektion, die Veränderung im zurückgelassenen Land herbeisehnt. Obwohl jede der hier besprochenen Autorinnen sich in Thematik und Form unterschiedlich äußert, erfahren alle drei eine Art
Selbstbefreiung; die Probleme der Frau werden von allen angesprochen, wobei sich ein mehr oder minder starkes Bewußtsein für die eigene Situation äußert.
Diese Reiseliteratur weiblicher Autoren erfüllt Informations-, Unterhaltungs- und auch Bildungsfunktion; jedoch steht die Vermittlung wissenschaftlicher Kenntnisse nicht im Mittelpunkt wie etwa Alexander von Humboldt sie sich zum Ziel gesetzt hatte. Es lassen sich hier viele Aspekte weiblicher Wirklichkeit ablesen, die direkt oder indirekt, unter dem Deckmantel der Ferne, des fremden Landes, dargestellt werden. Deutlich wird in diesen Texten auch die Doppelexistenz der Frau in der Gesellschaft, die sich einerseits angleichen muß und andererseits doch den Ausbruchversuch unternimmt. Diese Reisebücher von Frauen bergen Einsichten, die uns beim Verstehen weiblicher Literatur weiterhelfen können, die aber auch für eine Diskussion des gesamten Reiseliteraturgenres von Bedeutung sind.