- * Annette von Droste-Hülshoff, Halt fest!
Einsamkeit lautlos samtener Acker
aus Stiefmutterveilchen
verlassen von rot und blau
violett die gehende Farbe
dein Weinen erschafft sie
aus dem zarten Erschrecken deiner Augen
(Nelly Sachs, Einsamkeit)
»In Tinte oder in Traum getaucht, eile, meine Feder eile!«
Im 19. Jahrhundert galt es als Zeichen vornehmer Weiblichkeit, Piano zu spielen und zu feierlichen Anlässen im Freundes- und Familienkreis selbstgedichtete Verse zu verschenken. Hatten diese Gelegenheitsgedichte ihren diskreten Ort im Poesiealbum oder wurden sie von vornherein in verschwiegene Sekretäre eingeschlossen (z. B. das umfangreiche lyrische Werk von Emily Dickinson, das erst nach ihrem Tode aufgefunden wurde), so überrascht aus heutiger Sicht die unermeßliche Anzahl der Verse, die - von unbekannten Frauen und Mädchen verfaßt - in Anthologien, Musenalmanachen oder Modejournalen publiziert worden sind. In der Gunst des Lesepublikums nahm die Lyrik in den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts noch eine herausragende Stelle ein, die dann aber auf den Roman übergegangen ist. In der Geschichte der Lyrik hat sich seit der Jahrhundertmitte eine Bipolarisierung vollzogen: die »entromantisierte«, moderne Lyrik, die sich auf die Autonomie der Sprache beruft, kontrastiert mit der darstellungsorientierten Lyrik, die aber nicht als Absage an die Moderne überhaupt mißverstanden werden sollte.
Die Herausgeber der bereits im 19.Jahrhundert zielgruppenorientierten Lyriksammlungen konnten davon ausgehen, daß ihre Leserschaft mehrheitlich aus Frauen bestand, denen durchaus zugestanden wurde, selbst poetisch zu dilettieren. Unzählige Preise der Dichterwettbewerbe sind denn auch an Frauen verteilt worden. Das ist ein erstes Indiz für das Verhältnis von Publikumserwartung und lyrischer Produktion, das wiederum mit der zeitgenössischen Vorstellung von Poesie und Weiblichkeit zusammenhängt. Seit der europäischen Romantik hat sich die Auffassung durchgesetzt, Poesie spreche dort, wo die Vernunft versagt. Und eines der Wesensmerkniale, die der Frau als »schöner Seele« gesellschaftlich zugeschrieben wurden, ist nun gerade ihre Un-Vernunft. Dem Bereich des »Naturschönen« zugeordnet, konnte die Frau als Repräsentation des Poetischen an sich gelten. Die stillschweigende Übereinkunft, das Weibliche vermittle sich auf spontane Weise poetisch, machte jenen Autorinnen zu schaffen, die sich nicht mit dem Verdikt abfinden wollten, weibliche Poesie sei dilettantisch, mit Lust und Liebe, im besten Fall mit artistischer Raffinesse verfaßt, aber ohne poetische Reflexion und habe mit Kunst nichts zu tun.
Sobald sie ihre Gedichte nicht mehr im Schonraum der Anonymität publizieren und diese zerstreut und zusammenhanglos an Zeitschriften verschenken wollten, hingegen mit durchkomponierten Lyrikbänden an die literarische Öffentlichkeit traten, begann das kulturgeschichtlich bekannte Spiel: andere übernahmen die Verantwortung für die Publikation, machten gutgemeinte »Verbesserungsvorschläge« oder gingen nachlässig mit den Manuskripten um. Betty Paoli sah sich veranlaßt, diesen Mißstand zum Thema eines Gedichts zu machen: Censor und Setzer. »Stoßseufzer beim Erscheinen meiner->neuen Gedichte<« (in: Brinker-Gabler, S. 178f.).
Auch die Dichterinnen hatten ihren Tribut an die gesellschaftliche Rolle der Frau zu entrichten, zumindest in Form von bescheidener Zurückhaltung im Literaturbetrieb. Annette von Droste-Hülshoff, die erst als 41jährige mit einem Lyrikband an die Öffentlichkeit getreten ist, bezeichnete sich selbstironisch als »Blaustrumpf von Stande«. Sie war zu vornehm, um sich im literarischen Tagesgeschehen zu exponieren. Das hat sie nicht davon abgehalten, den Habitus des »stolzen Künstlers« zu kritisieren (Einer wie viele und viele wie einer, 1843/44) oder die trivialisierte Pose des romantischen Dichters zu ironisieren, der noch immer - »in Jamben, Stanzen, süßen Phrasen« - die Lerche mit der Nachtigall verwechselnd, sich von der Muse »küssen« ließe (Dichters Naturgefühl, 1842/43).
Offensiv dagegen meldete Elizabeth Barrett-Browning ihre Ansprüche als professionelle Schriftstellerin an, während ihre Biographen gerade sie als die sanfte, eine lebenslange Krankheit still erduldende Poetin verehren. In der Versnovelle Aurora Leigh (1852/57) thematisiert sie den Kampf einer Schriftstellerin um Unabhängigkeit und gesellschaftliche Anerkennung. Für die aktuelle Problematik hat sie zwar eine damals schon antiquierte Form gewählt, doch sie fand große Anerkennung beim einen Teil der zeitgenössischen Leserschaft. Dem Cornhill-Magazine war das Sujet nicht genehm, es lehnte das Manuskript ab. Angesichts der eigenen Probleme, in der literarischen Öffentlichkeit Fuß zu fassen, haben die Dichterinnen immer wieder ihre Bewunderung für eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Zeit zum Ausdruck gebracht: George Sand galt ihnen als großes Vorbild. In Gedichten wird ihr Werk gewürdigt und die Autorin verehrt, die zugleich gegen die Verleumdungen in Schutz genommen wird, denen George Sand ob ihres literarischen Erfolgs und ihres eigenwilligen Lebensstils ausgeliefert war (E. Barrett, To George Sand (1844), Ida v. Reinsberg-Düringsfeld, An George Sand, in: Brinker-Gabler, S. 183).
Eine dritte Möglichkeit, sich innerhalb der Stereotypen des Rollenverhaltens zu bewegen, spielte Marceline Desbordes-Valmore durch: Am Anfang des Jahrhunderts steht sie geradezu modellhaft für die dichtende Frau; sie begründete eine Tradition weiblicher Lyrik, auf die sich die Nachfolgerinnen - positiv oder negativ - beziehen konnten. Ihre romantische Selbststilisierung bedient sich jener Attribute, die das Bild der Frau als die Verkörperung des Poetischen an sich ausmachen. Trunken vor Sehnsucht, bedingen sich bei ihr Lieben und Dichten gegenseitig. Der romantischen Doktrin vom unbewußten Schöpfertum folgend, verlangte es sie danach, ihre Gefühle unmittelbar auszusprechen, ihnen die als natürlich empfundene Form, d. h. die der lyrischen Poesie zu geben. Ihre Verse vertraute sie einem neuen, recht eigentlich mit der romantischen Lyrik erst herausgebildeten Publikum an, bei dem sie die Intensität des Fühlens voraussetzte. Und sie hatte Erfolg. Die Großen unter den zeitgenössischen Dichtern haben sie literarisch portraitiert und das Bild fixiert von der glühenden Dichterin, jeder Schulung und Kunstunterweisung fremd, deren Lehrmeister einzig das Herz und die Liebe sei. Sie selbst spricht unablässig von einem »Riß«, der mitten durchs Herz gehe und von ihrer Existenz, der diese Welt die Heimat verweigere:
Die Welt war nicht mein Haus!
Ich scheute ihr Gesetz, ihr Urteil, ihre schlimme
Verlockung und Bedrohung - und von Angst gehetzt,
Fand ich das Wort, den Ruf, das laute Lied zuletzt!
(Von Dir, 1839)
Im Vorwort zu Blumen und Gebete (1845) verwendet sie das Bild der »eilenden Feder« »in Tinte oder in Traum getaucht, [...] den Schwingen eines Vogels entnommen, der vielleicht verwundet ist wie meine Seele« - um ihre Einstellung zum Schreiben zu signalisieren, ein Bild, das auf die beiden wichtigen Aspekte ihrer Lyrik verweist: die konkrete Arbeit an der Sprache, die die intendierte »Leichtigkeit« letztlich erst ermöglicht und das Träumen von einer Welt, in der es anders wäre.
Bedenkt man, daß die Gedichte der hier zur Sprache kommenden Dichterinnen nur mit wenigen Ausnahmen in Klassikerausgaben oder Lesebüchern tradiert und heute kaum noch gelesen werden, so ist der Vertrautheitsgrad des Mitteilungsmodus umso erstaunlicher. Das liegt vor allem daran, daß diese Texte die Tradition des romantischen Dichtens nicht primär in Frage stellen. Im Gegenteil, sie machen sich die Errungenschaften der Romantik als Chance zu eigen, die den Gegenstandsbereich der lyrischen Gattungen erweitert und Freiheiten gegenüber dem klassischen Regelkanon ermöglicht. Dem bereits irn Kreise der deutschen Romantiker geforderten Reflexionsgebot scheinen sich die Autorinnen weitgehend entzogen zu haben. Zurückhaltung gegenüber der poetologischen Reflexion kennzeichnet - über die nationalen Grenzen hinweg - ihre Werke ebenso wie die Anstrengung, nicht auf die darstellende Funktion und die kommunikative Valenz ihrer poetischen Aussagen zu verzichten. Sie muten ihren Lesern ein Mitteilungsschema zu, das auf bildhaftem Sprechen beruht, das die traditionelle Form des Vergleichs, - »als ob«, »gleich wie« - und den erweiterten Vergleich bevorzugt. Offensichtlich sind die Dichterinnen von der Prämisse ausgegangen, daß es ihren Lesern in erster Linie auf die Gedichte selbst und weniger auf theoretische Rechtfertigung ankommt. In sich stimmige Einheiten, die durch die Komposition semantischer, lexikalischer, rhythmischer und musikalischer Elemente erreicht werden sollen, verfolgen die Intention, Stimmungen zur Sprache zu bringen, in denen sich die Leser - insbesondere die Leserinnen - wiederfinden konnten. Diese poetische Ausdruckshaltung bedient sich der Sprache als Medium, und zwar als Medium für die Mitteilung von Gefühlen, die in imaginierten Dialogen zwischen dem lyrischen Ich und einem benannten oder vorausgesetzten Du ausgesprochen und im Einklang von Natur und Seele veranschaulicht werden. Intensiviert wird die Bildhaftigkeit durch eine ausgeprägte Musikalität, die im Werk von M. Desbordes besonders auffällt. Viele ihrer Gedichte wurden für Klavier und Sologesang vertont, u.a. von ihrer Freundin, der Komponistin Pauline Duchambge.
Die relative Abwesenheit der Dichterinnen in der zeitgenössischen Diskussion um die Theorie der Kunst und Literatur - und folglich noch heute in der literaturtheoretischen Reflexion sollte nicht über die Bedeutung hinwegtäuschen, die ihre Gedichte für die literarische Erfahrung und das (romantische) Poesieverständnis mehrerer Generationen hatte.
Vor der Folie des hier nur skizzierten Bezugsrahmens erscheint es aus heutiger Sicht von Interesse, den Blick auf die realisierten Möglichkeiten des thematischen und formalen Horizontes dieser Lyrik zu lenken, und die Frage zu stellen, ob angesichts nicht zu leugnender Konventionalität dennoch Aspekte einer poetischen »Weltaneignung« zur Sprache kommen, die die zeitgenössische Ideologie der Frau verschweigt.
Vorausschickend kann festgehalten werden, daß im Unterschied zu den kosmologischen Gesamtentwürfen in Form von Menschheitsgedichten eines mit göttlicher Mission versehenen Sänger-Dichters den Lyrikerinnen die Themenkreise der individuellen Existenz am nächsten lagen, und zwar weniger der allgemein-menschlichen schlechthin, als der poetischen Existenz der Dichterin.
Orte des Schreibens: »In meiner Träume Zauberturm«
Die europäische Romantik hat die Tradition der Erlebnis- und Stimmungslyrik begründet, in der Gedichte stehen, die z.B. die Erinnerung an historisch erlebte Augenblicke sprachbildend werden lassen. Selbst wenn explizit an faktische Momente angeknüpft wird, ist die mithin intendierte Authentizität der Kommunikationssituation ausschlaggebend. Unter diesem Vorzeichen entwerfen die poetischen Vergegenwärtigungen Räume, auf die die Erinnerung offensichtlich nicht verzichten kann.
Poetische Räume, die ein ganzes Universum in sich bergen, entstehen in den Gedichten, die die Erinnerung an die Kindheit ins Bild setzen. Untrennbar ist das Erinnern mit dem Haus verbunden, in dessen Schutz das kleine Mädchen die Welt entdeckt: offene, »glückliche« Häuser mit Fenstern und Türen, Zimmern und Dachböden konstituieren »das Universum, in dem wir die ersten Schritte machten, Kammer und Himmel zugleich, dessen Weltkarte unserem Herzen eingeschrieben ist« (M. Desbordes, Das Haus meiner Mutter, 1839). In dieser Welt en miniature dominieren freie Bewegung und ungetrübte Helligkeit. Blumensträuße wirbeln durch die Luft, Mädchenröcke flattern im Sommerwind (M. Desbordes, Ein Gäßchen in Flandern, 1860, Sommertage, 1843). In der Erinnerung ist die Zeit der Kindheit par excellence ein einziger Sommertag. Der Tag beginnt mit einem Blick aus dem geöffneten Fenster, der gleich einem Glücksversprechen die ferne Freiheit und das zukünfüge Leben erahnen läßt. Die Erfüllung des kindlichen Tages bringt das Hereinbrechen der »frischen« Nacht: Beim Zubettgehen genießt das Kind die »Nähe«, die ihren höchsten Ausdruck im Gutenachtkuß der Mutter findet. Das Nachtgebet eines kleinen Mädchens (M. Desbordes, 1833) - den »zarten Wangen des Kopfkissens anvertraut« evoziert das beruhigende Bild des Nestes:
Du liebes kleines Kissen, angefüllt
Mit zarten Federn, weiß und warm bist du;
Wenn Wind und Wolf und Ungewitter brüllt
Bei dir ist Schlaf für mich und gute Ruh.
[...]
Jetzt sag'ich leis mein innigstes Gebet,
Noch einen Kuß, Mama, und gute Nacht.
Diese Kindheitsbilder sinken deshalb nicht auf die Schwundstufe einer Biedermeieridylie herab, weil das Glück aus der Perspektive des Kindes noch in ungewisser Zukunft liegt, aus der Perspektive des lyrischen Ich hingegen längst verloren ist. Es ist im unwiederbringlichen Paradies der Kindheit aufbewahrt: die Tür ist verschlossen, die Wendeltreppe, die auf den Dachboden führte, zerfallen. Allein der Imagination gelingt die Vergegenwärtigung glücklicher Zeiten, in denen das kleine Mädchen nicht nur laufen und singen gelernt hat, sondern auch lesen und schreiben (Droste, O frage nicht, 1841/1842; Carpe diem, 1845).
Einer der großen Augenblicke stellt in den Kindheitsbildern die Entstehung des ersten Gedichts dar. Droste hat als 47jährige dieses Ereignis erinnernd festgehalten: Das erste Gedicht ist zugleich ein Gedicht über das Dichten der Frau. Aus zeitlicher und räumlicher Distanz (vierzig Jahre später, »Ich aber stehe draußen«) läßt sie ein altes Haus entstehen, das, unmerklich in die Perspektive des Kindes übergehend, zu einem »Zauberturm« wird, den das Kind eines Tages verbotenerweise erobert hat. Heimlich ist es »Den schwer verpönten Gang / Hinauf die Wendelstiege, / Die unterm Tritte bog« geklettert - »Bis zu des Sturmes Wiege, / Zum Hahnenbalken hoch« - um dort oben »ein heimlich Ding«, das erste Gedicht zu verbergen. Die Ausdruckskraft des Textes beruht auf seiner Bildhafügkeit. Symbolische Oppositionen schaffen eine Spannung zwischen dem alten Turm und dem kleinen Kind, dem gefährlichen Aufstieg und dem zerbrechlichen Geheimnis, das, aus tiefstem Herzen kommend, in höchster sturmgefährdeter Höhe in Sicherheit gebracht werden soll. Die einzelnen Szenen stehen für die ambivalente Situation des Dichtens: das Eindringen in eine »verpönte«, gefährliche und zugleich äußerst verlockende Sphäre, in der es zwar riskant ist, den Boden unter den Füßen zu verlieren, die dafür aber zwischen »Himmel und Erde« angesiedelt ist. Dort »oben« befindet sich der Freiraum, in dem die imaginären Projektionen eines sich nach fernen Abenteuern sehnenden Ich entstehen können, das gleichwohl eingebunden bleibt in die kindliche und weibliche Welt des Hauses und seine Sicherheit.
Ist der Zeitpunkt gekommen, die Schwelle zu überschreiten, wird der Eintritt ins Leben unter dem Vorzeichen des Zögerns, des Schmerzes oder der Verlockung signalisiert. Im Sonett XXXV von E. Barrett (Sonette aus dem Portugiesischen, 1847-1859) erfährt das lyrische Ich die Übergangssituation zunächst als schmerzhaft: »Das stille Heim mit seinen Schwesternküssen / Und Segensworten, die so sanft umfassen« weist auf die glückliche Mädchenzeit zurück; »In fremden Gassen und Räumen zu frieren« benennt die Vorstellung der ungewissen Zukunft. Die Schwelle wird zum Zeichen des Begehrens, der Versuchung, sobald sie überschritten werden muß, um den Geliebten zu erreichen.
Interieurszenen - im Sinne des sanften Reichs der Frau oder als verklärter Ort bürgerlicher Privatheit - werden unter der Signatur der »Konteridealisierung« entworfen oder stehen in polemischem Zusammenhang. Louise Aston, die in ihrem Lyrikband Freischärler-Reminiszenzen (1850) die Fesseln der Ehe und der bürgerlichen Moral verwirft und »freie Liebe« fordert, wird in einer Replik von Louise Spreu, An Louise Aston (Frauen-Zeitung, Nr. 23, 22.9.1849) eines Besseren belehrt:
Des Mannes Freundin soll die Gattin sein,
Ihn mit dem Ernst des Lebens zu versöhnen;
Des Hauses Glück kann wahrhaft nur gedeih'n,
Wenn sie das Gute einet mit dem Schönen.
Selbst Droste sah sich herausgefordert, den Frauen die Rückbesinnung auf ihre eigentliche Sphäre ins Gedächtnis zu rufen. Im Appell An die Schriftstellerinnen in Deutschland und Frankreich (1842/43) warnt sie davor, »den Handschuh Zeus und allen Göttern« hinzuwerfen und den »naturgegebenen« Ort der Frau zu verlassen:
Vor allem aber pflegt das anvertraute,
Das heil'ge Gut, gelegt in eure Hände,
[...]
Des Tempels pflegt, den Menschenhand nicht baute,
Und schmückt mit Sprüchen die entweihten Wände,
Daß dort, aus dieser Wirren Staub und Mühen,
Die Gattin mag, das Kind, die Mutter knieen.
An anderer Stelle hat sie dann hingegen das Mutterglück als Illusion dargestellt (Die junge Mutter, 1841/42). Im Werk von M. Desbordes stellt die Erfahrung der Schwangerschaft und die Mütterlichkeit eines der wiederkehrenden Themen dar. Es vermittelt sich - ähnlich der Liebe - als Quelle höchsten Glücks (Schwangerschaft, Geburt, glückliche Kinder etc.) und tiefsten Schmerzes (Sorge um das kranke Kind, Tod des Kindes). Der familiäre Kontext bleibt dabei zumeist ausgespart. Die Lyrikerinnen scheinen eher vom Zustand eines Nicht-Mehr fasziniert gewesen zu sein, den sie in Form des »verlassenen Hauses« evozieren, als impliziere jedes Haus auch schon seine »Ruine«. Das verlassene Haus (1907) von Mary Elizabeth Coleridge erinnert zwar noch in elegischem Ton, das Wissen um die Idealität des Heimes voraussetzend, daran, daß mit dem Zerfall des Hauses auch die Spuren der Menschen verwischen, die früher darin gelebt haben. Doch besitzen die noch in wilder Natur angesiedelten Ruinen ihren eigenen Reiz, den z.B. das lyrische Ich in Drostes Das öde Haus (1843/44) in schauerromantischer Manier zu genießen weiß.
An die Stelle des kindlichen Hauses, das, einmal ausgekundschaftet, in Besitz genommen werden konnte, tritt in der Gegenwart das Zimmer der Frau. Und diese Gedichte lassen zugleich das Dichten thematisch werden. Ähnlich der Erinnerung, die der Lokalisierung bedarf, um der abstrakten Zeit einen konkreten Raum zur Seite zu stellen, benötigt die schreibende Frau das Bewußtsein, über einen eigenen Raum zu verfügen. Sprachlich entwirft sie ihn, poetisch wird er bewohnbar. Zwei Grundmuster kristallisieren sich in den vielfältigen »Zimmer-Landschaften« heraus; sie spiegeln zugleich die Stimmung der Seele: Zimmer, die hoch oben, offen und hell und andere, die tief unten, geschlossen und im Dunkeln liegen.
Die Liebende im Sonett XLI von E. Barrett singt ihre Lieder »mit schluchzender Stimme« in einem Kerker, aus dem allein der Geliebte sie befreien kann, oder sie summt als »arme Spielfrau« im Sonett III müde, im Dunkel hinter »Gitterfenstern« kaum hörbare Melodien. Diese trostlosen Bilder der Gefangenschaft und Bewegungslosigkeit vermitteln das Gefühl der Einsamkeit, sprechen von Verzweiflung und Todesnähe (»nur der Tod gräbt solches um und eben«, Sonett III) und kontrastieren mit den anderen poetischen Räumen, die hoch oben angesiedelt sind: die Turmzimmer.
Mein Zimmer liegt fast
Schon im Wolkenbereich;
Der Mond ist sein Gast,
Immer ernst, immer bleich.
Mag's drunten nur läuten!
Denn was es auch ist,
Hat nichts zu bedeuten,
Da du es nicht bist!
M. Desbordes, Mein Zimmer (1843)
Auch hier teilt sich das Gefühl der Einsamkeit mit, nur spricht sich das Subjekt im Modus der Träumerei aus: zwischen Erinnerung und Imagination befindet sich das weibliche Ich im Zustand des Wartens. Der Geliebte, dessen Spuren im Interieur noch an ihn erinnern, wird nicht zurückkommen.
Ein imaginäres Fenster lädt stattdessen die Träumende ein, den Blick zu heben, in die Ferne zu schauen, so daß sich die Imagination auf einer Bahn bewegen kann, die den Boden spannt vom tristen Hier zum schillernden Dort des wolkenlosen Himmels oder des Gewittersturms. Der kaum merkliche Wechsel von Nähe und Ferne, von Stille und Naturlauten macht die Musikalität dieses oft vertonten Gedichts aus. In diesem Zimmer »stickt« die Einsame »ganz still und verborgen« ihre »Blumen«: ein romantisches Bild fürs Dichten. Als poetische Miniatur, die sich diskreter Details bedient, um das winzige Zimmer zu »möblieren«, partizipiert das Gedicht am »Großen«, indem es nichts anderes vorgibt, als ohne Thema zu phantasieren.
Fast gleichzeitig ist das Gedicht Am Turme (1841/42) von Droste entstanden.
Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Gesell, O toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
Hier überschreitet die Imagination jede Grenze des Häuslichen, äußert sich eine Sehnsucht, die angesichts des Naturschauspiels des stürmischen Sees, nicht zu bändigen ist. Lautmalerei, beschleunigter Rhythmus, fremd klingende Worte und Archaismen intensivieren die Faszination der Versuchung, gegen die das Ich, mit dem das Gedicht unvermittelt anhebt, kämpft. Als wollte sie nie mehr auf die Kindheitserfahrung der Turmbesteigung verzichten, lokalisiert Droste das Ich oft kühn in respektheischenden Burgen und erhabenen Balkonzimmern. Um so dramatischer ist dann auch der Abstieg in die Enge des Zimmers. Am Turme endet mit den Versen:
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Drostes Aufbruchsphantasien rebellieren gegen die Begrenzungen des weiblichen »Elfenbeinturms«. »An des Balkones Gitter« gelehnt, weckt »jedes wilden Geiers Schrei / in mir die wilde Muse«, und dennoch ist nicht zu übersehen, daß sie sich keinen Illusionen über die Möglichkeiten jenseits des Ortes hingibt, von dem aus sie schreibt. Der immer wieder thematisierte räumliche Bezugsrahmen - »das umhegte Haus« - macht den Erfahrungsgehalt dieser Gedichte aus. Sie verwehren sich gegen die Darstellung eines jenseits von Raum und Zeit angesiedelten Ewig Weiblichen. Vielmehr vermitteln sie ein Bewußtsein über die eigene Geschichtlichkeit, die nicht zu trennen ist von den gesellschaftlichen Zuordnungen, die die Frauen in die »geschlossenen« Räume verweisen und somit auch ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten konditionieren. Individuelle, gesellschaftliche und literarische Erfahrungen sprechen aus den Texten, die die Sehnsucht nach der Ferne aus der subjektiven Perspektive des Innenraums darstellen. Die spezifische Präsenz der Frau im Interieur wird zur poetischen Valeur wider den falschen Schein:
Verschlossen blieb ich, eingeschlossen
in meiner Träume Zauberturm.
Droste, Spätes Erwachen (1843/44)
Von dort aus erst gelingt es, den Ort zu bestimmen, in dessen Einsamkeit die Suche nach dem Ich beginnen kann.
Poetische Konturen des Ich
Ein unverzichtbares Requisit der imaginären Räume stellt der Spiegel dar. Damit wird eine poetische Figur thematisch, die ihre Faszination, »Spieglein, Spieglein an der Wand ...«, auch das ganze 19. Jahrhundert hindurch nicht verliert. Der Spiegel, ins Zentrum der inneren Räume gerückt, verfügt über Prägnanz und Komplexität und ist geeignet, die ästhetische Einstellung angesichts der Selbstaussprache des Ich zu gewährleisten. Während die gesellschaftliche Artikulation des weiblichen Ich in der Subjektposition eher als »Schweigen« überliefert ist, gesteht die Lyrik traditionell dem Ich die zentrale Stellung zu. Das Personalpronomen in der ersten Person erscheint in einem Gedicht von Betty Paoli provokativ als Titelwort: als Anapher eingesetzt, wird das Ich mit einer der Indifferenz abgetrotzten Selbstverständlichkeit ausgesprochen, die natürlich die Aufmerksamkeit gerade auf das lenkt, was die vierzehn Verse des Gedichts Ich ausschließen: die Unmöglichkeit, öffentlich Ich zu sagen.
Die Besonderheit der lyrischen Sprechweise privilegiert das Subjekt und erlaubt ihm gemessen an der Sprache des Alltags - die Freiheit, die zweite Person zu modifizieren. Es kann sozusagen alles anreden, Menschen und Objekte ebenso wie Naturphänomene oder Phantome, nicht zuletzt das eigene Spiegelbild.
Die Lizenz, die das Ich-Sagen durch die lyrische Tradition absichert, genießt auch die Figur des Spiegels. Er ist so alt wie die Literatur selbst und steht traditionell als Metapher für ästhetische Darstellung und Vorstellung, deren Funktionsveränderungen er mitvollzogen hat. Die symbolische Bedeutung des Spiegels verfügt seit der Romantik über eine Komplexität, welche die »Spiegel-Gedichte« unausgesprochen voraussetzen: der Spiegel als Symbol der Seele, die das Universum reflektiert oder als Medium der Identitätsfindung, das zugleich das Verhältnis zur Kunst mit thematisiert.
Haben lyrische Spiegel-Bilder angesichts der vielfach verbürgten Konventionen überhaupt noch Spielraum für die weibliche Wahrnehmung, oder ist nicht alles längst gesagt? Kaum wird der Spiegel Ungesagtes als polierte Oberfläche, als plattes Bild poetischer Selbstüberhöhung reflektieren. Hart am Rande dieser Gefahrenzone steht ein Poem von Delphine Gay, in dem das weibliche Ich beim Blick in den Spiegel geradezu leichtsinnigjubiliert, von seiner eigenen Schönheit entzückt ist. Das Gedicht steht noch in der Tradition des Esprit und Charme der Salons des 18.Jahrhunderts und hält den flüchtigen Moment des ersten Verliebtseins fest. Narzißtisch genießt das Ich Das Glück schön zu sein (1822), ohne sogleich seine Naivität zu verlieren. Das Identitätsangebot - »ich bin die Schönste ...« ist zwar gemein, doch die mädchenhafte Illusion, Schönheit lasse sich eigenwillig selbst bestimmen, dauert nur einen Augenblick. Das Wunschbild, das die junge Frau glücklich erstaunt in ihrem Spiegelbild fixiert, entspricht selbstredend den vorweggenommenen Blicken ihrer Mitwelt. Gegen Ende des Jahrhunderts formulierte M. Coleridge in Anspielung auf die Tradition der Spiegel-Portraits eine Fin-de-siècle-Antwort auf die Frage, was bedeuten die Augen? Sind sie farbiges Glas oder geöffnete Fenster, die Schönheit und Liebe, Klugheit und Witz spiegeln? Ihre Faszination haben sie nicht verloren, wenn auch den »lebhaften«, den »feurigen Blick«, den ihnen D. Gay zuschrieb: Es sind »Quellen eines gespenstigen Lichts, Gefängnisse des Unendlichen« (Augen, 1890). Noch unter dem Vorzeichen der Tändelei erkennen sich die Blicke des verliebten Paars im Spiegel eines Salons (M. Desbordes, »Wiedersehen mit Délie, 1830). Doch kaum ist Liebe im Spiel, wird aus dem kristallinen Spiegel ein lebender, in dem die Liebende vergeblich ihr eigenes Bild wiederzufinden sucht. Sie möchte sich in seinem Blick »gespiegelt« sehen, wünscht, er möge sie anschauen, damit sie »schön« werde. Doch der Geliebte entzieht sich, er bevorzugt das gläserne Spiegelbild, seine Augen geben der Frau ihr Bild nicht zurück. Ihr bleibt die Erinnerung, die der Spiegel vervielfältigt. Die Umrisse werden fließend, die Bilder traumhaft. Sie gleichen jenen Wassern, die seit Petrarca das Portrait der bzw. des Geliebten entstehen lassen, zerbrechliche Portraits, die vor der Wirklichkeit zurückweichen (Desbordes, Der Welt enfernt, 1860).
In einem Distanz schaffenden Zwiegespräch mit dem eigenen Spiegelbild versucht das Ich, der Wahrheit über sich selbst auf die Spur zu kommen (Droste, Das Spiegelbild, 1841/42). Hier gerät das Bild in Bewegung: Das Selbst wird verfremdet, in Ich und Du gespalten. Die gebrochene Spiegelrelation fordert zum Doppeltsehen heraus und wirft die Frage auf »Trätest du vor, ich weiß es nicht, / Würd ich dich lieben oder hassen?« Zwischen anfänglicher Verkennung - »Phantom du bist nicht meinesgleichen!« - und dem Versuch, mit dem dämonischen Doppelgesicht in ein Verhältnis zu treten, um es letztlich doch als eigenes anerkennen zu können, spielen sich schaurige Szenen ab, die zunächst zu der Einsicht führen: »Es ist gewiß, du bist nicht ich.« In der Ballade Das Fräulein von Rodenschild (1840/41) gestaltet Droste das Doppeltsehen zu einer grauenhaften Begegnung mit dem Selbst:
O weh meine Augen! bin ich verrückt?
Was gleitet entlang das Treppengeländ?
Hab ich nicht so aus dem Spiegel geblickt?
Das sind meine Glieder - weich ein Geblend!
Nun hebt es die Hände, wie Zwirnes Flocken,
Das ist mein Strich über Stirn und Locken!
Weh, bin ich toll, oder nahet mein End?
Während die Ballade, die eine aufregende Handlung in Szene setzt, damit endet, daß das Fräulein v. R. seine Doppelgängerin stellt und mit dem Schrecken davon kommt, meditiert das Ich in der lyrischen Selbstdarstellung (Das Spiegelbild) über das Verhältnis zu sich selbst. Die ausgesprochene Faszination des Spiegelbildes vermittelt eindringlich die Zerrissenheit und die Gefährdung des Ich, das fremd und »verwandt« zugleich, abstoßend und dennoch anziehend ist. In diesem Gedicht, das versöhnlich endet, wird die Zerrissenheit des Ich noch nicht ausgehalten, seine Risse sind noch kommunizierbar:
Ja, trätest aus Kristalles Rund,
Phantom, du lebend auf den Grund,
Nur leise zittern würd ich, und
Mich dünkt - ich würde um dich weinen!
Den Ausbruch aus der habitualisierten Spiegelrelation beschwört das Ich in Die andere Seite eines Spiegels (1882) von M. Coleridge. Das seit alters her reflektierte Portrait ist nicht mehr erkennbar. Die hier festgehaltene Vision, die »kein Mann sich je vorstellen könnte«, läßt an die Stelle der luftdurchwehten Haare eine »Dornenkrone der Verzweiflung« treten, über die geöffneten Lippen nur noch Schweigen kommen. Der rote Mund gleicht einer häßlichen Wunde, die unbemerkt verblutet, die Flammen der Sehnsucht sind in den aufgerissenen Augen erloschen, die entschwundene Hoffnung macht dem Wahnsinn Platz. Im Appell an den dunklen Schatten des eigenen Schattenportraits beschwört das Ich die Befreiung vom Zwang einzugestehen: »Ich bin sie!«. Die zur Qual gewordene Selbstbespiegelung befördert das Bedürfnis, die Spiegelbilder zu zerstören, die »andere Seite des Spiegels« zu zeigen: Erst die Kehrseite des Kristalls wird das hervortreten lassen, was der ungetrübte Spiegel verbirgt.
Der weibliche Blick ändert die Wahrnehmungsrichtung in jenen Gedichten, die Portraits anderer Frauen entwerfen und mithin das eigene Ich vervielfachen, ohne auf den mechanischen Reflektor zurückzugreifen.
E. Barrett entwirft in einem inneren Monolog (Die Schwestern / Bertha in the Lane, 1844) das Portrait ihrer »kleinen Schwester«, die in die intimsten Gedanken und »Fieberträume« eingeweiht wird. Das Bild der Schwester zeichnet ein zweites Ich, in dem das lyrische Ich sich wie in einem Spiegel findet und entfernt. Die spiegelbildliche Nähe und Identität der beiden Schwestern, die auf der gemeinsamen Kindheit beruhen, werden zu Distanz und Differenz in jenem Augenblick, in dem das Zwiegespräch auf der biographischen Achse angesiedelt ist: am Vorabend der Hochzeit der kleinen Schwester. Die Entlassung der anderen ins Leben wird vom Ich als Trennungsschmerz erfahren, der zugleich das Bewußtsein über die »innere« Zeit herausbildet: Die bislang »Kleine« steht an der Schwelle zum Leben und konfrontiert die »große Schwester« mit dem Wissen um das Älterwerden. Während die eine das Hochzeitskleid anlegt, bereitet die andere sich auf das Sterben vor: Der Abschied von der identitätsstiftenden Kindheit erscheint als tödlicher Verlust. Die Vorstellbarkeit des eigenen Todes vermittelt sich auch im Portrait der jugendlichen Freundin (Droste, An Philippa, 1844), die als Verkörperung des Horizontes der noch offenen Zukunft dient, dem sich seines Alters bewußten Ich aber auch die Chance gibt, an der Bewegung und der Grazie des noch jungen Lebens teilzuhaben:
Um dich Philippa spielt das Licht,
Dich hat der Morgenhauch umgeben,
Du bist ein liebes Traumgesicht
Am Horizont von meinem Leben;
Seh deine Flagge ich so fern
Und träumerisch vom Duft umflossen,
Vergessen möcht ich dann so gern,
Daß sich mein Horizont geschlossen.
In den Entwürfen der anderen Frauen spielt das weibliche Ich im Medium der Sprache die Möglichkeiten durch, die es selbst nicht zu realisieren vermag. Im Doppelbild der Freundin entstehen Facetten weiblicher Subjektivität, die über die Spiegelrelation hinausgehen: von der Tochter-Mutter-Beziehung - »Zu alt zur Zwillingsschwester, möchte ich / mein Töchterchen dich nennen« (Droste, An Elise Rüdiger, 1843) - über die Vertraute in Liebesnöten bis zur perfiden Rivalin, die das einsame Ich in den Schatten stellt. Insgesamt präsentieren die Werke der Lyrikerinnen des 19. Jahrhunderts eine kleine literarische Gemäldegalerie, in der unterschiedliche Frauengestalten poetische Konturen erhalten: Gegenbilder, von denen das Ich sich distanziert, oder Projektionen, in die es sich verliebt. Wie das eigene Spiegelbild als piktorales Portrait zum Objekt, d. h. zur Repräsentation des Weiblichen aus männlicher Sicht werden kann, thematisiert das Gedicht Im Atelier eines Künstlers von Christina Rossetti. Die Dichterin, die ihrem Bruder oft Modell saß, erkennt sich in der Dargestellten »nicht wie sie ist, sondern wie sie seine Träume füllt.«
Einen Höhepunkt erreicht die Faszination der anderen bei der Entdeckung des weiblichen Körpers in ihrem Bilde. Denn über den eigenen Körper zu sprechen, ist noch an das Gebot negativer Vorzeichen gebunden: Müdigkeit, Krankheit, Sterben. Bezogen auf den viktorianischen Kontext, vollbringt das weibliche Gegenüber in M. Coleridges Regina (1884) eine »kühne« Tat: Es befreit sich von allen vestimentären Attributen und wird in seiner Nacktheit zur »Königin«, die sich selbst, die »ganze Welt« und das lyrische Ich fasziniert.
Immer wieder und noch einmal: Die Sprache der Liebe
»Obwohl dies Wort vielleicht, / so wiederholt, dem Lied des Kuckucks gleicht« (E. Barrett, Sonette aus dem Portugiesischen, XXI), die Liebe ist ein unverzichtbares Thema der weiblichen Lyrik. Und daß diese Liebesgedichte nicht nur in einem Verhältnis zur Realität der erlebten Liebe stehen, zeigen die Auseinandersetzungen mit der Tradition der europäischen Liebeslyrik. So werden Oden an die Dichterinnen geschrieben, die die weibliche Geschichte der Liebeslyrik geprägt haben: Sappho wird als die Begründerin der Lyrik gerühmt (Marie von Najmájer, E. Barrett, Ch. Rossetti) oder Louise Labé von M. Desbordes als »poetische Seele, in der sich das Universum spiegelt«, als »Sängerin der Liebe« romantisiert. Auf der Suche nach der Sprache für das »gewisse Unbeschreibliche« (Droste) stellte sich E. Barrett explizit in die Tradition der europäischen Liebesdichtung: Sie nannte ihre Liebesgedichte Sonette aus dem Portugiesischen, eine Reverenz an die Briefe einer portugiesischen Nonne (1669), die man im 19. Jahrhundert noch einer anonym gebliebenen französischen Nonne zuschrieb, die die Liebesbriefe eines anderen großen Liebespaares zum Vorbild genommen hat: Abaelardus und Heloise, auf die sich wiederum Louise v. Plönnies in einem Sonettenkranz bezog. Es war, nebenbei bemerkt, bereits Heloise, die die originelleren und, gemessen an der zeitgenössischen Literatursprache, verwegeneren Liebesbriefe geschrieben hat. Eine andere Form der Traditionsaneignung unternahm Ch. Rossetti. In einem Zyklus von vierzehn Sonetten stellt sie den poetischen Portraits der Beatrice und Laura das Portrait einer Monna Innominata (1882) aus weiblicher Feder zur Seite. Im Rückgriff auf das Sonett als einer der traditionellen Formen der Liebeslyrik, die sich durch Kürze, Reimschema und strenge Isometrie auszeichnet, äußert sich der Wille, eines der intensivsten Gefühle in prägnanter Form auszusprechen. Im Sonett nimmt das Ich die Rolle der Liebenden und die Dichterrolle ein, d. h. die Dichterin wendet sich in der Ich-Form an den Geliebten und reflektiert zugleich das Dichten. Durch den Wechsel von hochgradiger Unmittelbarkeit und distanzschaffenden Überlegungen entsteht eine Spannung, die vor allem in den Sonetten von E. Barrett die Aufmerksamkeit weckt. Das erste Gedicht breitet das thematische Spektrum von der Kontemplation antiker Liebesdichtung zur Tristesse der eigenen Existenz aus, um dann unvermittelt die Liebe einzuführen:
Da stand plötzlich jemand hinter mir und riß
aus diesem Weinen mich an meinem Haar.Und eine Stimme rief, die furchtbar war:
»Rate, wer hält dich so?« - »Der Tod gewiß.«
»Die Liebe« - klang es wieder, sanft und nah.
Damit ist das Thema der folgenden 43 Sonette benannt: die Liebe in allen Phasen ihres Erlebens; vom ersten Erkennen über die Qual der Selbstzweifel und Mißverständnisse bis zur glücklichen Gewißheit. Die Liebende nimmt dabei wechselnde Rollen ein. Sie erniedrigt sich, um die Idealität des Geliebten ins Grenzenlose zu steigern, weist ihn ab oder gibt sich hin, macht leidenschaftliche Geständnisse oder fordert diese: »Sag immer wieder und noch einmal sag, / daß du mich liebst. Ich möchte schrein: / >Sag wieder daß du liebst<« (XXI). Die pluralische Struktur des Sonetts, das traditionell als Zyklus konzipiert ist, ermöglicht das Spiel mit der wechselnden Perspektive, der Intensität der Gefühlsaussprache oder der Dissimulation, so daß letztlich die Mitteilung unausweichlich wird. »Wie ich dich liebe?« (XI.III):
Mit allem Lächeln, aller Tränennot
und allem Atem. Und wenn Gott es gibt,
will ich dich besser lieben nach dem Tod.
Neben den thematisch strukturierten Zyklen stehen die ungezählten Liebesgedichte, die jeweils nur eine Situation, einen momentanen Ausschnitt der »Liebesgeschichte« thematisieren: das passionierte Liebesgedicht als »Denkmal eines Augenblicks«. Viele der meist nur diskret angedeuteten Elemente der Liebe auch als Sinnlichkeit, als Sexualität werden noch hinter dem »viktorianischen« Schleier versteckt oder in die im 19. Jahrhundert modischen Orientalismen »gehüllt«. Der Schleier stellt neben dem Spiegel eines der bevorzugten poetischen »Requisiten« dar: Er verdeckt und macht doch auf das Unsichtbare aufmerksam. Droste hat eines der erotischen »Schleiergedichte« geschrieben (Klänge aus dem Orient: Gesegnet, 1837), in dem die Verführung der körperlichen Anmut »in Gewändern umschließend deine Huld« - und die Faszination des Blicks - »wie Sterne deine Augen / durch deines Schleiers Nächte« - als unaussprechlich angedeutet werden.
Ch. Rossetti (Ein Geburtstag, 1857) inszeniert die Eröffnung des Liebesspiels. Sie markiert die Ankunft des Liebsten wie ein zweites Geburtsdatum, das ihr Leben in neuem Licht, ihre innere Zeit in einem anderen, im Gedicht durchgespielten Rhythmus dahinfliegen läßt. Ihrem Jubel verleiht sie durch die Konkretheit der Bilder Ausdruck, die dem Bereich der belebten, erntereifen Natur und der Pracht des von Menschen geschaffenen Luxus, der festlichen Inszenierung des Sinnengenusses entstammen. Schwelgender Überfluß und generöser Reichtum der Natur und Menschenwelt werden aufgeboten, um die Bedeutsamkeit des Augenblicks festzuhalten. Ohne rhetorische Gespreiztheit setzt sie Wiederholungsfiguren ein: »Mein Herz singt wie ein Vogel singt, [...] Mein Herz gleicht einem Apfelbaum, [...] Mein Herz schwankt wie ein heitrer See. [...] Mein Herz ist froher als all dies: Es kam mein Liebster heut zu mir.« Die Steigerung der Emotion gipfelt im Schlußvers: »Denn meines Lebens erster Tag Ist heut: mein Liebster kam zu mir!«
Auf die Phase der erotischen Erfüllung deutet der Bilderreichtum dieses Gedichts schon voraus; sie wird zum eigentlichen Thema in M. Desbordes Die Rosen von Saadi (1860). Mit der Erzählung einer kleinen »Katastrophe« setzt sie ein:
Heut morgen wollt' ich dir Rosen bringen,
Ich füllte mit ihnen den Gürtel zum Springen
Der allzu bedrängte, er konnt' sie nicht fassen.
Er brach auseinander; die Rosen verflogen
im Wind und sind alle zum Meere gezogen.
Die konventionellen Rosen stehen auch hier als Symbol der leidenschaftlichen Liebe, und sie sind ein Bild für die Schönheit der Geliebten. Der Text assoziiert beides gleichermaßen mit dem Subjekt, dem weiblichen Ich, das am Morgen eine »körperliche« Liebeserklärung machen wollte. Diese etwas bedeutungsschwere Eindeutigkeit wird im folgenden Vers für Vers zurückgenommen: Das viel zu üppige Rosenbouquet löst sich auf, verliert sich in den Wellen des Meeres. In einer diskret angedeuteten Metamorphose verbindet sich die kühle Flut mit der »glühenden Flamme« der Leidenschaft, und die Rosen werden von ihrer Materialität befreit, so daß schließlich nicht mehr als die Leichtigkeit ihrer Essenz zurückbleibt:
Die Wogen, um die sie mich wirbelnd verlassen,
Erschäumen von rötlicher Glut überflossen,
Mein Kleid aber hält noch die Düfte verschlossen...
Von der Wellenbewegung über den Duft der Rosen gelangt das Gedicht zur körperlichen Präsenz, die nur im Hinweis auf das nach Rosen duftende Kleid vermittelt wird. In einer zweiten Lektüre formt sich die zunehmend leichter werdende Bewegung zur Darstellung der noch mit einem Hauch von Scham bedeckten Erotik der Frau. Sie scheint sich dem leidenschaftlichen Verlangen hinzugeben, sich in der imaginären Liebeserfüllung in Analogie zu den Rosen im Wasser zu verflüchtigen, so daß von der Sensualität des Anfangs nur noch schwerelose Bewegung und Wohlgeruch bleiben. Das Gedicht ist auch lesbar als eine Skizze des Liebesaktes, der mit einem Verlust beginnt und in der Hingabe endet:
Mein Kleid aber hält noch die Düfte verschlossen...
Komm abends - ich will sie dich atmen lassen!
Was darauf folgt, kommt vor allem im Werk von M. Desbordes in den zahllosen Elegien zum Ausdruck, die den Schmerz der Trennung beklagen. Die Erinnerung an das Nicht-mehr, bzw. an den Duft des verlorenen Liebesglücks - »ein herbstlicher Wohlgeruch öffnete meine Erinnerung« (Ein Deserteur, 1835/1860) - vertraut sie den einsamen Wänden des Zimmers oder den ungelesenen Liebesbriefen an. Doch manchmal wird die unstillbare Sehnsucht so mächtig, daß der treulose Geliebte mit dem »Zauberwort« der Poesie beschworen, in seiner Abwesenheit durch die Macht der poetischen Bilder in eine imaginäre Gegenwart gerückt wird: »Ganz still hier verborgen [...], höre ich im Abgrund deines Schweigens, daß du mich liebst«.
Die unerschöpfliche Faszination der poetischen Sprache der Liebe liegt in ihrer suggestiven Wirkung. Die Verwendung der Sprache erweist sich immer wieder als die wirksamste Strategie der »Verführung« und als Möglichkeit der ästhetischen Glückserfahrung jenseits der begrenzten Realität.
Tränen und rote Nelken: Zeitbilder
Während die Selbstaussprache des weiblichen Subjekts durch die lyrische Tradition verbürgt und in das herrschende, der Privatheit zugeordnete Bild der Frau mehr oder weniger integrierbar war, sahen sich die Dichterinnen des 19. Jahrhunderts, die das »öffentliche« Wort ergriffen, mit dem Diktum konfrontiert: In der Öffentlichkeit sei das Schweigen der Frau beredter als jede noch so feierliche Volksrede eines Mannes! Dennoch haben sie in Form der Sozialpoesie und der Agitationslyrik den Anspruch erhoben, auf die öffentliche Diskussion Einfluß nehmen zu wollen. Das Terrain bereitete die in den 30er und 40er Jahren geführte Diskussion des Zusammenhangs von Kunst und Gesellschaft vor, die ein literarisches Potential freisetzte, das man heute engagierte Literatur nennt. Die Lyrik verschloß sich nicht länger den Themen des »unidealen« Alltags und partizipierte an der Wendung der Literatur zur gesellschaftlichen Aktualität. Vom Prestige der noblen Form versprach sich das lyrische Engagement wirkungsmächtigen Ausdruck für das Pathos der sozialen Anklage und für die Forderungen nach Freiheit und Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang stehen die emphatischen Verse, die M. Desbordes den streikenden Arbeitern von Lyon gewidmet hat:
Als das Blut die bestürzte Stadt überschwemmte,
Als Kugel und Blei alle Schritte hemmte
Und das Schluchzen der Sturmglocke wilder entfachte,
[...]
War ich da! - Ich vernahm den Todesschrei
Der brennenden Stadt, und ich war dabei.
(Für Monsieur A. L., 1839)
Vor dem Erfahrungshintergrund der teilnehmenden Beobachterin verfaßte sie 1834 mehrere Gedichte, die das soziale Elend anklagen und an die Solidarität mit den Aufständischen appellieren. Keine Zeitschrift wagte es, ihre Texte zu veröffentlichen. Unmißverständlich hatte sie Partei ergriffen, zu deutlich die Verantwortlichen beim Namen genannt: Mörder, Pfaffen, Fabrikbesitzer. Die Poetin will das soziale Mitleid wecken und den Hoffnungsschimmer aufleuchten lassen im Appell an jene, die ihre humanitären Gefühle teilen und die Versöhnung der gesellschaftlichen Widersprüche anstreben.
Handlungsorientierter war das sozialpoetische Engagement von E. Barrett: Sie publizierte 1844 ein Poem, das die Lage der arbeitenden Kinder in England pathetisch schildert. Mit Der Kinder Weinen (1814) unterstützte sie die Forderungen nach einem Schutzgesetz gegen Kinderarbeit. Die beabsichtigte Wirkung des populär gewordenen Poems zielt auf die Emotionalisierung der Leserschaft, die angesichts der physischen und psychischen Misere der in Bergwerken und Fabriken arbeitenden Kinder von der Notwendigkeit einer Veränderung der Zustände überzeugt werden soll. In der Sprecherrolle klagen die »weinenden Kinder« unmittelbar selbst an. Dadurch erhält das Gedicht eine emotionale Intensität, der sich die Leser nicht entziehen können, sofern sie die Meinung der kommentierenden Autorin teilen, daß gerade Kinder ein Recht auf Glück haben. Ihre Argumentation beruht auf der in der Eingangsstrophe hergestellten Analogie zur Natur als letzter Instanz der Wahrheit. Gemessen an der als harmonisch vorausgesetzten Natur muß die menschliche Gesellschaft, in der Kinder ausgebeutet werden, als pervertiert erscheinen. Aus der Perspektive des Gedichts ergibt sich zwangsläufig die moralische Verurteilung der Industrialisierung als Entfremdung vom Guten und Schönen.Die Depravation der Natur in Form des Kinderelends wird sich an allen rächen »Glaubt, daß Kinderschluchzen grauenvoller fluchet, / Als des starken Mannes Wut!« gelingt es der moralischen Instanz des Gewissens nicht, den Egoismus, der »nimmersatt nach Gold nur sucht«, zu brechen. Die von E. Barrett mit Verve vertretene philanthropische Position war in den 40er Jahren im Kampf um die Kinderschutzgesetze noch konsensfähig. Entschieden militanter mußte für die Zeitgenossen die Agitationslyrik geklungen haben, die das Recht der Frau auf gesellschaftliche Gleichheit einklagt. Die ersten Wortführerinnen der Frauenemanzipation haben das Schweigen gebrochen und die revolutionäre Rhetorik für die öffentliche Artikulation ihrer Ansprüche eingesetzt. Die um 1848 in Deutschland und Frankreich publizierten Flugblätter und Frauenzeitungen »schmückten« sich mit engagierter Poesie. Die leidenschaftlichen Plädoyers für Gleichheit und Freiheit, für Glück und Republik konnten sich auf die Tradition des politischen Liedes und der Oppositionslyrik berufen, die im 19. Jahrhundert zu Revolutionszeiten immer wieder erneuert wurde. Der Aktualität der politischen Aktion entsprechend, dichtete man Texte, die, bekannten Melodien unterlegt, schnell gesungen oder deklamiert werden konnten. In Paris sangen die Frauen auf den 48er Barrikaden eine »weibliche Marseillaise«, in Deutschland verfaßte Louise Otto das Morgenlied der Freiheit oder verspottete die Revolution als Machwerk der Männer, die nur für die Interessen der einen Hälfte der Menschheit kämpften:
Wo wieder aber ward der Ruf vernommen
»Für alle Freiheit!« klang es fast wie Hohn,
Denn für die Männer nur war er gekommen
Im Wettersturm der Revolution.
(Für Alle, in: Brinker-Gabler, S. 209)
Zur Zeit der Commune schrieb Louise Michel Texte und komponierte Melodien, die in den »Liederschatz« der Arbeiterbewegung eingegangen sind. Sie aktualisierte noch einmal die politische Romantik der ersten Stunde, indem sie für die revolutionäre Poesie z. B. bei Victor Hugo Anleihen machte. Ihr enthusiastisches Engagement für die Revolution verwahrt sich jedoch gegen jede Form des bürgerlich-sozialen Mitleids. Im Gefängnis oder in der Verbannung entstanden, appellieren die Gedichte an die Solidarität der Besiegten und Unterdrückten, denen sie immer wieder ins Gedächtnis ruft: »Ni Dieux ni Maîtres!« (»Weder Götter noch Herren!«). Das bekannteste Lied, Rote Nelken (1871), führt in die »Blumensprache« der popularisierten Romantik ein neues Zeichen ein: die rote Nelke. Sie steht für die rote Fahne und für das von den Communarden im Kampf um die Freiheit vergossene Blut. Keine Träne wird sie weinen, wenn sie nachts auf das Grab der Freiheitskämpfer die rote Nelke legt: ein Hoffnungszeichen, das die Morgenröte der Revolution ankündigt.
Auf der Suche nach neuen literarischen Formen, die das Bewußtsein der frauenrechtlich engagierten Schriftstellerinnen zum Ausdruck bringen konnten, ist die Lyrik in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts ins Hintertreffen geraten. Sie kaprizierte sich auf die traditionelle Rhetorik, verklärte die Opfer (Frauen und Kinder) oder suchte Trost bei der noch unverwüsteten Natur. Selbst Louise Aston, deren Texte sich durch eine für deutsche Verhältnisse erfrischende Respektlosigkeit gegenüber bürgerlichen Ehe- und Moralvorstellungen auszeichnen und die die Leserinnen der Frauenzeitung von Louise Otto epatierten, greift in ihrer sozialen Lyrik auf die Klischees der Armeleutepoesie zurück: Tränen und Trauerweiden. Louise Colet versteckte gar ihre klarsichtige Ideologiekritik in die gerade in Paris längst antiquierte Form der Verserzählung. Der emblematische Titel Die Dienerin (1853) faßt die These des Poems programmatisch zusammen: Die Frau befinde sich noch immer im Zustand der Sklaverei, sie werde durch Gesetzgebung, Kirche und Patriarchat zu einem subalternen Wesen deklassiert. Louise Colet reagiert in ihren Versen auf das Bild der Frau, das ihr nicht zuletzt von den Vertretern der modernen Literatur, die in ihrem Salon verkehrten, vorgehalten wurde und in dem sie sich nicht wiedererkennen konnte. Auch die von ihr entworfenen Gegenbilder bleiben dem Alltäglichen der weiblichen Leidenserfahrung verhaftet. Ausbruchsphantasien enden in Selbstmord oder Wahnsinn.
Die engagierte Lyrik der Dichterinnen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts besetzte noch keine unerwartbaren Mitteilungsstrukturen oder Bildfelder. Ihr Verdienst besteht eher darin, die Sensibilität für veränderte Wahrnehmungsrichtungen und Themenbereiche befördert zu haben, die am Ende des Jahrhunderts noch nicht abgegolten waren.
Sie hätte schreien mögen.
Vor Wut und Elend. Aber sie bezwang sich.
[...]
»So wisse, daß das Weib
Gewachsen ist im neunzehnten Jahrhundert«,
Sprach sie mit großem Aug', und schoß ihn nieder.
(Maria Janitschek, Ein modernes Weib, 1898)