Der Kriminalroman ist eine angelsächsische Domäne, in die nur wenige Autoren bzw. Autorinnen anderer Länder eindringen konnten. Von den älteren deutschen Kriminalromanschriftstellerinnen sind beispielsweise kaum mehr als die Namen bekannt: Auguste Groner, Gabriele v. Schlippenbach, Therese Wallner-Thurm, Elise Fajkmajer, Felicitas v. Reznicek - Verschollene! - Wir wollen hier einen Überblick gewähren; daß die Auswahl bei weitem nicht alle Autorinnen umfassen kann, versteht sich von selbst.
Die erste Schriftstellerin, die sich im jungen Kriminalgenre einen Namen machte, war die Amerikanerin Anna Katharine Green, 1846 als Tochter eines Strafverteidigers in Brooklyn geboren. Weitgehend vergessen ist Seeley Regester (Ps. von Metta Victoria Fuller Victor), die nach Ansicht von Enthusiasten der Geschichte des Genres 1867 mit The Dead Letter den ersten Kriminalroman von einer Autorin vorlegte. Greens Roman The Leavenworth Case (1878) jedoch, wurde zu einem der berühmtesten Kriminalromane überhaupt. Zahlreiche Elemente des Buches sollten später zu Stereotypen des Genres werden: Mord in der Bibliothek, als das vermögende Opfer gerade ein neues Testament unterzeichnen will, ein würdevoller Butler, ein fester Kreis von Verdächtigen usw. Den Mord untersucht der Polizeibeamte Ebenezer Gryce, der noch in zwölf weiteren Romanen der Autorin auftreten wird. In einigen davon findet er Unterstützung durch eine gewisse Miss Amelia Butterworth, einer Vorfahrin der berühmten Miss Marple und die erste der sogenannten »Spinster«-Figuren im Kriminalroman: eine ältere Dame, ledig, aus der Oberschicht, und nicht in der Lage, sich aus den Angelegenheiten anderer herauszuhalten. Als 1887 mit Sherlock Holmes eine neue Epoche anbrach, fand Conan Doyle auch bei seinen Schriftstellerkolleginnen Epigonen und Konkurrentinnen. Die meisten Namen sind heute vergessen. Herausragend aus der Zahl der Produktionen vor dem Ersten Weltkrieg ist Marie Belloc Lowndes' Roman The Lodger (1913), der auf originelle Weise die Jack the Ripper-Geschichte behandelt. Interessant für die Entwicklung des Genres ist auch das Werk der Baronin Orczy, die, berühmt geworden mit ihren Geschichten über Scarlet Pimpernel, al. Sir Percy Blakeney, auch einen der ersten »armchair-detectives« populär machte. Die Kurzgeschichten um The Old Man in the Corner (ab 1901) präsentieren einen Helden, der die ihm geschilderten Kriminalfälle, ohne irgendeine Aktion ergreifen zu müssen, allein durch seinen scharfen Intellekt lösen konnte. Ab 1910 schrieb die gebürtige Ungarin, die als junges Mädchen mit ihrer Familie nach London gekommen war, Geschichten um Miss Molly von Scotland Yard, einer energischen und geheimnisvollen Detektivin. Leider mußte der Leser bald erfahren, daß Miss Molly ihre gefahrvolle Arbeit nur leistet, um die Unschuld ihres Ehemannes zu beweisen. Der nämlich schmachtet im Gefängnis. Mit dem Erreichen ihres Zieles endet auch ihre Laufbahn als Detektivin. Häufiger fanden Kriminalistinnenkarrieren freilich ihr unrühmliches, aber sicher rührendes Ende vor dem Traualtar.
Nach der Jahrhundertwende tritt in der Kriminalromanliteratur ein Phänomen auf, das von vielen Kritikern - ziemlich undifferenziert - als »typisch weibliche« Schreibweise bezeichnet wird. Es handelt sich um ein trivialromantisches Wiederaufleben der Gothic-Novels des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts: Geschichten um schöne Heldinnen, die in Gefahren geraten, vor denen sie ausdrücklich gewarnt wurden und aus denen sie erst in letzter Sekunde von einem Mann (häufig ihrem Liebhaber) gerettet werden. Diese oft mit sehr blutrünstigen Details angereicherte Richtung wurde spöttisch als »Had-I-But-Known-School« bezeichnet: »Hätt' ich damals gewußt, was ich jetzt weiß, dann wären alle diese schrecklichen Morde nicht passiert.« Erster Beitrag zu dieser »Schule« war The Circular Staircase (1908) von Mary Roberts Rinehart, die 1932 die Gestalt der Krankenschwester-Detektivin Hilda Adams, genannt Miss Pinkerton, einführte: eine Idee, die etwa zugleich auch Mignon G. Eberhart mit ihrer Spinster-Krankenschwester Sarah Keate hatte. Eine junge, attraktive Amateurdetektivin hatte M.G. Eberhart 1934 erfunden: Die Kriminalromanautorin Susan Dare. Deren Vorgängerin wiederum war die junge Französin Solange Fontaine aus den Geschichten von E Tennyson Jesse (193 1). An ein jugendliches Publikum wandte sich Carolyn Keenes (Ps. von Harriet S.Adams; Tochter von Edward L. Stratemeyer) Serie über die Teenager-Detektivin Nancy Drew.
Legt man die Kriterien Popularität und Auflagenstärke zugrunde, so dürfte Agatha Christie, geb. Miller, die meisten ihrer männlichen und weiblichen Schriftstellerkollegen in den Schatten stellen.
Agatha Christie wuchs in einer gutbürgerlichen Familie in der Nähe von Torquay in einer schönen Villa mit Holzfensterläden und angebautem Wintergarten auf. Ihre Kindheit war, zumindest bis zum Tode ihres Vaters, ausgesprochen glücklich und idyllisch. Agatha Christie zeigte sowohl musische Interessen (Klavierspiel) wie mathematische Begabung. Letztere beeinflusste sicher die Gestaltung ihres Detektivhelden Hercule Poirot, der eine außerordentliche Freude an geometrischen Figuren, an Symmetrie und Ordnung bis ins kleinste Detail besitzt: so lobt er in höchsten Tönen die exakten Formen der ägyptischen Pyramiden, rät seinem Freund, Captain Hastings, einen streng symmetrischen Mittelscheitel zu tragen, während er sich andererseits negativ über die Unregelmäßigkeit von Frühstückseiern und Dattelpalmen ausläßt.
In Paris studierte die Autorin Gesang und Klavier. 1914 heiratete sie den Fliegeroberst Archibald Christie. Während des Ersten Weltkrieges arbeitete sie in Torquay als Krankenschwester, eine Tätigkeit, die ihr Spaß machte. In ihrer freien Zeit begann sie zu schreiben, und sie beschrieb, was sie kannte: das ländliche England, das Milieu der Uppermiddle-class. Ihr Kriminalroman-Erstling The Mysterious Affair at Styles (1920) markiert zusammen mit Freeman Wills Crofts' im selben Jahr erschienenen Roman The Cask den Ausgangspunkt des sogenannten Golden Age der englischen Detektivliteratur.
Das Golden Age bildete den klassischen, hermeneutischen Detektivroman heraus, dessen zentrale Forderung es ist, den Leser bei der Lösung des Falles nicht zu übervorteilen, ihm vielmehr die gleichen »clues« (Schlüssel; Hinweise), die auch dem Detektiv unterkommen, an die Hand zu geben. Über die Einhaltung dieser »fair-play«-Forderung wachte ein extra gegründeter »detection club« der Autoren. Es wurden detaillierte Regeln formuliert, die klarstellten, was beim Schreiben eines Detektivromans zu beachten bzw. zu unterlassen sei. Agatha Christie verfährt mit dem Regelkanon spielerisch; einerseits liebt sie es, verschiedenste Varianten innerhalb vorgesteckter Grenzen auszuprobieren, andererseits dehnt sie die Grenzen oft bis zum Extrem, bis zu deren Umkehrung aus. Ihre Romane sind immer konstruierte, durch und durch künstliche, auf Verblüffung und Irritation des Lesers angelegte Gebilde. Häufig fungieren »nursery rhymes«, englische Kinderreime, als Handlungsgerüst; so etwa in Ten Little Niggers (1939).
Hier wird eine Gruppe von Menschen der Reihe nach ermordert, wobei ihre Todesart jeweils einem Vers des gleichnamigen »nursery rhyme« entspricht. In The Murder of Roger Ickroyd (1926) spielt Christie auf originelle Weise mit der »fairplay«- Vorgabe. Der Ich-Erzähler des Werkes, der ganz in der Erzähltradition des fiktiven Sherlock-Holmes-Biographen, Dr. Watson, stehende Landarzt Dr. Sheppard ist, wie sich am Ende des Buches herausstellt, der Mörder! Sheppard schildert den Mord und die Morduntersuchungen so, daß es unmöglich ist, ihm auf die Schliche zu kommen. Andererseits ist ihm im Nachhinein keine einzige unwahre Aussage nachzuweisen. Durch geschickte Auslassungen bzw. zweideutige Umschreibungen schafft Sheppard unmarkierte Unbestimmtheitsstellen in seiner Erzählung, die wie unsichtbar gesetzte drei Pünktchen zwischen den Sätzen, zwischen den Erzähleinheiten wirken, Leerstellen, die unter anderem den Mord selbst umfassen: »Zwanzig Minuten vor neun hatte er den Brief erhalten. Zehn Minuten vor neun verließ ich ihn, ohne daß er den Brief gelesen hatte.« Übrigens verbindet Margaret Millar in Beast In Fiew ähnliche Manipulationen auf der Erzähl-Ebene mit der psychologischen Darstellung einer pathologischen Mörderin.
Der erste Detektivheld Christies war Hercule Poirot. Nicht mehr mit den bohémehaften, dekadenten Detektiven à la C. Auguste Dupin oder Sherlock Holmes vergleichbar, ist er auf wenige Marotten und Skurrilitäten reduziert; mit seinem eiförmigen Kopf, seinem pomadisierten Haar und dem enormen Schnurrbart wirkt er eher wie die Karikatur eines Detektivs. Poirot verkörpert alle Vorurteile des Durchschnittsengländers über den verweichlichten Franzosen. Er interessiert sich nur für Verbrechen, die ihn reizen, seine grundsätzliche Geisteshaltung ist die der intellektuellen Langeweile; am liebsten löst er seine Fälle ganz in der Mentalität des »armchairdetective«. Neben individualistischen Eigenschaften zeigt er auch typisch kleinbürgerliche Wesenszüge, die insbesondere seine engen Moralvorstellungen, seine prüde Werteskala betreffen. Bei Poirot hält sich Nonnierung und Ausbrechen aus der Norm die Waage.
Agatha Christies Leben pendelte im gewissen Sinne ebenfalls zwischen Unterwerfung unter gesellschaftliche Zwänge und verzweifelten Ausbruchsversuchen. Verwiesen sei hier nur auf die mysteriöse Geschichte ihres »Verschwindens« im Dezember 1926. Unter falschem Namen, mit verändertem Äußeren lebte sie einige Tage in einem kleinen Hotel in Harrogate, derweil die Polizei eine großangelegte Suchaktion nach ihr startete, die Daily News eine Belohnung von hundert engl. Pfund für Informationen über ihren Verbleib aussetzte - eine Situation, wie sie in einem ihrer Romane hätte vorkommen können! Tatsächlich floh Agatha Christie vor der Misere ihres Lebens, die durch den Tod ihrer Mutter und das Geständnis ihres Mannes, sich in eine andere verliebt zu haben, ausgelöst wurde. Colonel Archibald Christie versuchte dann im Nachhinein, die ganze Geschichte als Nervenzusammenbruch, als Amnesie-Krise Agathas hinzustellen.
Agatha Christie war es andererseits häufig selbst, die sich den Normen unterordnete. Selbst als überaus erfolgreiche Autorin in den 30er Jahren, inzwischen in zweiter Ehe mit Max Mallowen, einem Archäologen verheiratet, gab sie auf offiziellen Formularen niemals »writer« (Schriftstellerin) als Berufsbezeichnung an, sondern stets »married woman« (verheiratete Frau). Mit Vorliebe wählt Christie als Schauplätze für ihre Romane ländliche Idyllen. Diese Idyllen sind nur scheinbar »sehr friedlich, nett und glücklich«, denn »auf phantastische und unerwartete Weise« werden in ihnen Menschen vergiftet, erdrosselt, erdolcht. Miss Marple, die altjüngferliche Amateurdetektivin aus St. Mary Mead, ist die bevorzugte Heldin dieser ländlich-idyllischen Szenerien. Sie tauchte erstmals 1930 in Murder at the Vicarage auf, ein Titel wie ein Programm! Miss Marple repräsentiert die gute alte Zeit des großbürgerlichen Edwardian Englands, eine Welt der festen Moralvorstellungen, der gesunden Skepsis gegen alles Fremde, von außen Kommende. Miss Marple nimmt aktiv am Dorfklatsch teil, nutzt ihn als Quelle zur Mordaufklärung. Ihre Lebenserfahrung ist ganz auf den dörflichen Kontext reduziert; ausgehend von der Theorie, daß die menschliche Natur unwandelbar sei, gibt es für sie kein Problem, das nicht sein Äquivalent in St. Mary Mead hätte.
Altjüngferliche Detektivinnen erfreuen sich im angelsächsischen Kriminalroman sowohl bei weiblichen wie männlichen Autoren einiger Beliebtheit. Miss Maud Silver von Patricia Wentworth (Pseudonym von Dora Amy Elles Dillon Turnbull) wurde 1928 eingeführt; sie ist - wie Stuart Palmers Hildegarde Withers - eine ehemalige Lehrerin, die professionelle Detektivin geworden ist. Eine ironische Brechung des »Spinster-detective«-Motivs bieten Gladys Mitchells Romane über Mrs Bradley, eine ältere, extravagante, mehrfach verwitwete Psychoanalytikerin und Detektivin, deren alligatorgleiches Lächeln ihr den Spitznamen »Mrs. Croc« eintrug.
»Spinster«-Unterstützung gleich von einer ganzen Riege alter Damen, geführt von der energischen Miss Climpson, nimmt gelegentlich auch einer der berühmtesten Detektive des »Golden Age« in Anspruch: Dorothy L. Sayers' Lord Peter Wimsey, der 1923 in Whose Body debütiert, Sayers' erstem Kriminalroman. Neben dem Sammeln alter Bücher, eine Vorliebe für gute Spirituosen und Klaviermusik, ist Wimseys liebstes Hobby die Kriminologie. Eine Leidenschaft, die bei seiner hochnoblen Familie doch mitunter auf Mißfallen stößt. Tatkräftige Unterstützung erhält er dafür von seinem Butler Bunter, und gerade in den Dialogen zwischen Bunter und Lord Peter steigert sich die ohnehin schon reichlich flapsige und unstandesgemäße Sprache des exzentrischen Aristokraten bis ins Absurde. Ein Vorbild für dieses Zweiergespann ist sicherlich in den Figuren des Bertram Wooster und seines Butlers Jeeves aus den humoristischen Romanen von P. G. Wodehouse zu finden. Wimsey ist eine Klischeefigur, aber eine äußerst unterhaltsame. Tatsächlich ist seine Autorin einem so weltmännischen und blaublütigen Menschen niemals begegnet. Den größten Teil ihrer Kindheit hatte Dorothy Sayers im elterlichen Pfarrhaus in Bluntisham, Linconshire verbracht. Als einziges Kind von Reverend Henry Sayers und Helen Leigh Sayers war sie der Mittelpunkt des Haushaltes. Sie wurde fast ausschließlich zu Hause unterrichtet (u. a. in Deutsch, Französisch und Latein). Der Schulbesuch in Salisbury blieb wegen einer langwierigen Erkrankung nur ein kurzes Intermezzo. 1912 geht sie mit einem Stipendium für das Somerville College nach Oxford und fühlt sich zum ersten Male nicht isoliert und von ihrem ständigen Zwang zur Selbstbeobachtung bedrückt. Nach erfolgreichem Abschluß des Studiums nimmt sie verschiedene Anstellungen an, vorwiegend als Lehrerin, ein Beruf, den sie jedoch haßte. Sie kleidet sich extravagant, liest Barbey d'Aurevilly, Maurice Leblanc und Penny Dreadfuls. Der Erfolg ihres ersten Romans macht sie zum ersten Mal wirklich finanziell unabhängig von ihrem Vater. 1924 bringt Dorothy Sayers, die jetzt eine Anstellung bei einer Werbeagentur gefunden hat, einen Sohn zur Welt. Das uneheliche Kind wird ihren Eltern verschwiegen. Sie gibt es zu ihrer Kusine, und der Junge soll erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren, wer seine wirkliche Mutter ist.
Clouds of Witness, Unnatural Death und The Unpleasantness at the Bellona Club sind einige weitere Wimsey-Romane, die in den nächsten Jahren erscheinen. Dorothy Sayers legt in ihren Romanen großen Wert auf wirklichkeitsgetreue Darstellung der Schauplätze. Alle ihre Romane spielen an Orten, die ihr vertraut waren. Sayers heiratet einen der Familie vorzeigbaren Mann, den 12 Jahre älteren Captain Oswald A. Fleming, den einige Interpreten in dem Ehemann in The Documents in the Case (1930) wiedererkannt haben wollen. The Documents in the Case beschreibt in Briefen und Berichten Beteiligter die Vorgeschichte des Todes eines ungeliebten Ehemannes und die Aufklärung des vermeintlichen Unglücksfalles als Mord durch ein synthetisches Gift. Lord Peter tritt in diesem Roman nicht auf. Die wissenschaftliche Fachkenntnis zu dieser Geschichte steuerte Robert Eustace (= Dr. Eustace Robert Barton) bei, der früher bereits mit der Schriftstellerin L.T. Meade (Pseudonym für Elizabeth Thomasina Meade Smith) im Kriminalgenre Erfahrungen gesammelt hatte.
Mit ihrer Heirat hatte Dorothy Sayers das Rebellische ihrer Jugend wohl endgültig abgelegt, aber auch Lord Peter sollte nicht der unbekümmerte Spaßvogel der ersten Romane bleiben. In Strong Poison (1930) lernt er Harriet Vane, eine Kriminalschriftstellerin, die des Mordes an ihrem Liebhaber angeklagt ist, kennen und lieben. Natürlich kann er ihre Unschuld beweisen, doch ihr Ja-Wort erhält er erst nach einigen weiteren Romanen, in denen zum Teil Harriet Vane die tragende Rolle übernimmt. In Have His Carcase stolpert sie bei einem Erholungsurlaub über einen geheimnisvollen Toten, und vor allem Gaudy Night (1936) stellt sie in den Vordergrund. In diesem voluminösen Roman, den man dem Subgenre der Oxford-Krimis (Krimis, die im Universitätsmilieu spielen) zuordnen kann, geht Harriet ominösen Drohungen nach, die die Dozentinnen ihres alten College verschrecken. Doch weite Teile des von der Kritik sehr zwiespältig aufgenommenen Romans widmen sich anderen Dingen: der Funktion der Wissenschaft in der Gesellschaft und als Mittel zur Emanzipation, der Rolle der Frau als Akademikerin, dem Schreiben von Kriminalromanen und, stellenweise recht schwülstig, der Partnerschaft von Mann und Frau. Schließlich wartet der Leser ja immer noch auf das Happyend zwischen Harriet und Lord Peter, dem übrigens hier, wie auch in Have His Carcase, die Lösung des Kriminalfalles vorbehalten bleibt. Glücklich vereint zeigen sich Peter und Harriet in Busman's Honeymoon (1937) mit dem deutlichen Untertitel »a love story with detective interruptions«. Mit der Kurzgeschichte Tallboys (1942) endet Dorothy Sayers' Karriere als Kriminalschriftstellerin.
Ihr Wunsch war es immer gewesen, »cross word puzzle« und »novel of manners« zu vereinen, und sie berief sich gerne auf Le Fanu und Wilkie Collins. Dorothy Sayers wandte sich der Theologie und der Übersetzung der Göttlichen Komödie zu, eine Arbeit, deren Vollendung ihr plötzlicher Tod im Dezember 1957 verhinderte.
In 110 Bottle Street, Picadilly, also in der Nachbarschaft von Lord Peter, der 110a Picadilly residierte, wohnte ein weiterer berühmter, aristokratischer Detektiv: Albert Campion, Protagonist zahlreicher Kriminalromane von Margery Allingham. Margery Allingham stammte aus einer Familie, in der das Schreiben als einzige ernstzunehmende Tätigkeit verstanden wurde; beide Elternteile schrieben für diverse Zeitschriften, der Vater war Herausgeber des Christian Globe und des London Journal. 1917 siedelte die Familie von ihrem Landhaus in Essex nach London um, wo Margery Allingham eine Zeitlang eine Schauspielschule besuchte, die sie aber bald auf Anraten ihres Freundes und späteren Ehemannes Pip Youngman Carter wieder verließ. Zum Broterwerb schrieb sie u.a. Zeitschriftenstories nach der Vorlage von beliebten Stummfilmen. Von ihrer Generation, über die sie auch einen umfangreichen, psychologischen Roman schrieb, der allerdings nicht veröffentlicht wurde, sagte Allingham: »Diejenigen von uns, die im Teenageralter waren, als der Krieg endete, kamen in eine desillusionierte Welt, in der alles, einschließlich Gott, als höchst suspekt erschien.« Nun, Albert Campion ist auch noch keine dreißig Jahre alt, als er mit The Crime at Black Dudley (1929) zum erstenmal auftritt. Vorausgegangen als Debut im Kriminalgenre war 1927 The White Cottage Mystery, eine ziemlich durchschnittliche Geschichte mit Landhausmord und Happy-end zwischen dem Sohn des Inspektors und einer Verdächtigten.
Campion bleibt in den folgenden Kriminalromanen äußerst sparsam beschrieben. Eigentlich erfährt man nur etwas über sein Äußeres: eine schlanke Figur, blondes Haar, eine dicke Hornbrille. Er hat ein blasses Gesicht und ist sehr zurückhaltend, seine wahre Herkunft, wohl aus nobelster Familie, bleibt geheimnisvoll. Sein Butler ist der unnachahmliche Magersfontain Lugg, ein ehemaliger Einbrecher, der bisweilen doch einige Mühe hat, seinen neuen Beruf als Butler ohne allzugroße Fauxpas durchzustehen.
Die Romane vor dem Zweiten Weltkrieg sind in ironischem Stil gehalten - Unterhaltungsliteratur, die, wie auch Dorothy Sayers' Romane, einen interessanten Einblick in das Londoner Leben der 20er Jahre gewährt, etwa in einen Verlagsbetrieb in Flowers of the Judge (1936) oder in Künstlerkreise in Death of a Ghost (1934). Mit Campions Schwester Val Ferris und seiner späteren Frau Armanda stellt Margery Allingham zwei selbstbewußte und moderne Frauen an Campions Seite. Während des Zweiten Weltkriegs verfaßte M. Allingham keine Kriminalromane, und die Krimis nach dem Krieg beschreiben eine andere Welt als das beschauliche London der 20er und 30er Jahre. In dem agilen Polizeiinspektor Charles Luke findet der reservierte Campion einen glaubwürdigen Partner. The Tiger in the Smoke (1952), die Geschichte einer Menschenjagd in London, gilt vielen Kritikern nicht nur als bester Allingham-Roman, sondern als einer der bemerkenswertesten Kriminalromane überhaupt. In The Mind Readers (1965) erfahren der verblüffte Campion und sein Freund Luke die Auflösung einer verwirrenden Geschichte um eine technische Erfindung zur Gedankenübertragung via Fernsehschirm. Margery Allingham starb 1966 während ihrer Arbeit an Cargo of Eagles. Der Roman wurde von ihrem Ehemann vollendet.
Den Ansporn, einen Kriminalroman zu schreiben, ergab sich für die in Christchurch geborene Neuseeländerin Ngaio Marsh aus der Langeweile eines verregneten Sonntagnachmittags. Um sich die Langeweile zu vertreiben, besorgte sie sich aus der örtlichen Leihbibliothek einen Krimi und war zunächst nicht sonderlich beeindruckt; hinterher wußte sie nicht einmal mehr, ob es ein »Christie« oder »Sayers« gewesen war. Dennoch wurde in ihr die Lust geweckt, etwas ähnliches zu versuchen. Noch am selben Tag begann sie, in schlichte »sixpenny-exercise-books« ihren ersten eigenen Kriminalroman zu schreiben: A Man Lay Dead, der 1934 veröffentlicht wurde.
Roderick Alleyn ist der Titelheld aller Marsh-Romane. Dieser Scotland-Yard-Detektiv ist als normaler, fast alltäglicher Mensch bewußt in Abgrenzung zu Exzentrikern wie Holmes oder Poirot konzipiert. Wie in Lord Peter Wimseys Adern fließt auch in den seinen blaues Blut. Er ist der jüngere, in Eton erzogene Sohn einer begüterten Familie mit aristokratischem Hintergrund. Äußerlich ähnelt er einem »spanischen Grande«, bzw. einem »Grande, der Mönch geworden ist«, denn der gutaussehende Alleyn, dem alle Frauenherzen zufliegen, ist alles andere als ein Weiberheld. Ähnlich wie Wimsey, lernt er jedoch eine Frau kennen und lieben, die in einen Mordfall verwickelt ist: Agatha Troy, eine hochtalentierte Malerin, in Artists in Crime (1938). Das Pendant zu Wimseys Butler-Freund Bunter ist Alleyns älterer Untergebener Inspektor Fox; zwischen beiden besteht eine intime Männerfreundschaft. Alleyn ist ein Supeman der menschlichen Kategorie; ein humorvoller, zivilisierter und niemals aufdringlicher Charakter.
Marsh, die als Einzelkind aufwuchs und zeitlebens unverheiratet blieb, empfand Alleyn wie einen guten alten Freund, der sie durchs Leben begleitete. Von sich selbst behauptete Marsh, sie sei »eine dieser einsamen Kreaturen, die nicht fürs Heiraten taugen.« Marshs Fälle sind weniger konstruiert und überdreht als die meisten von Agatha Christie, sie legt großen Wert auf das »fair-play« und spielt ihre »clues« offen aus. Neben Theater und Kunstwelt, in der sie sich gut auskannte (für ihre Verdienste um das neuseeländische Theaterleben wurde ihr 1966 der Titel der »Dame« der britischen Krone verliehen), bevorzugt Marsh - darin wiederum Christie ähnelnd - das dörfliche England als Schauplatz für ihre Romane. Sie lernte es ab 1928 aus eigener Anschauung kennen.
Die Ausführung des erst nach ausführlicher Milieuschilderung stattfindenden Mordes, hat oft groteske Züge; Marsh liebt es, regelrechte Mordmaschinerien zu erfinden. Ein normalerweise harmlos ablaufender Vorgang wird vom Mörder so manipuliert, daß seine Auslösung durch einen unbeteiligten Dritten eine Katastrophe heraufbeschwört. In Vintage Murder (1937) soll eine Magnum-Champagnerflasche sanft an einem Seil von der Decke herabschweben. Weil jemand die Gegengewichte ausgetauscht hat, saust die Flasche als tödliches Geschoß herab und erschlägt einen Menschen. In Artists in Crime (1938) soll ein junges Aktmodell eine liegende Pose auf einem mit einer Drapierung verdeckten Sockel einnehmen. Das Mädchen, als launisch und widerspenstig bekannt, wird von einer der Malerinnen auf die straff-gespannte Drapierung niedergedrückt. Unter der Drapierung wurde ein Dolch installiert, der das nackte Mädchen regelrecht aufspießt! In Overture to Death (1939) stirbt eine Pianistin bei den ersten Tönen einer Rachmaninoff-Prelude. In dem Klavier wurde ein Revolver versteckt, dessen Abzug mit dem Klavierpedal verbunden ist. Vor aller Augen, etwa im Theater auf offener Bühne (Light Thickens, 1982) oder bei einem dörflichen Schwerttanz-Spiel (Off with His Head, 1956) geschehen diese Morde, die von Alleyn sowohl mit viel polizeilicher Routine, als auch mit Kreativität gelöst werden. Die Verhaftung von Tätern bereitet ihm oft Schwierigkeiten. Er zählt sich zu den wenigen Polizisten, die gegen die Todesstrafe eingestellt sind. In Overture to Death bekommen wir einen Einblick in die Gefühle, die Alleyn bei einer Verhaftung bewegen:
- Die Verhaftung stand wie eine Glaswand zwischen ihm und der kleinen Gruppe, die sich um Jocelyn (der Täterin) bemühte. Er wußte, daß die meisten seiner Kollegen diesen Moment der Isolation akzeptierten. Vielleicht waren sie sich seiner kaum bewußt. Er selbst jedoch kam sich immer vor wie eine Art Mephisto, der sein Werk betrachtet. Er mochte dieses Gefühl nicht. Es war dies immer ein Moment, wo es ihm nicht gelang, sich abzugrenzen.
Die gepflegte Aristokratie, für die Alleyn (aber auch Lord Peter und Campion) steht, wird von einer Gestalt wie Arthur Crook, einem rotgesichtigen, Cockney-sprechenden Rechtsanwalt-Detektiv, der laut und angeberisch auftritt, bewußt ironisiert. Er ist der Held aller Romane von Anthony Gilbert (Pseudonym von Lucy Beatrice Malleson). Alleyns urbane Normalität spiegelt sich in zahlreichen weiteren Polizei-Inspektoren wider; zu nennen wären etwa die bevorzugten Helden von Christianna Brand (Ps. von Mary Christianna (Milne) Lewis) und vor allem Patricia Moyes'Inspektor Tibbett (ab 1959). Weibliche Polizisten kommen übrigens ebenfalls vor: 1968 erfand Dorothy Uhnak die in Nm York tätige Polizistin Christie Opara. Sie verarbeitete in ihren Romanen langjährige eigene Berufserfahrungen*. (*Die ersten Frauen im Polizeidienst waren bereits 1905 von der Londoner Metropolitan Police eingestellt worden.) Männliche Großstadtpolizisten beschreibt Elizabeth Linington (Ps. Dell Shannon; Lesley Egan) in ihren Werken.
Im Fahrwasser der großen Damen des klassischen Detektiv-Romans Christie, Sayers, Allingham, Marsh - tummeln sich viele andere, handwerklich solide arbeitende Autorinnen. Zu nennen wären etwa die folgenden Amerikanerinnen: Helen Reilly (ihre Töchter Ursula Curtiss und Mary McMullen machten sich ebenfalls einen Namen als Krimiautorinnen), Craig Rice (Ps. von Georgiana Ann Randolph), Phoebe Atwood Taylor (sie schuf 1931 die Gestalt des Ex-Seemanns und Amateurdetektives Asey Mayo), Emma Lathen (Ps. von Mary J. Latsis und Martha Hennissart), deren Romane in der Geschäfts- und Finanzwelt der Wall Street angesiedelt sind. Kontinuität versprechen auch Engländerinnen wie Josephine Bell (Ps. von Doris Bell Collier Ball), Catherine Aird (Ps. von Kinn Hamilton McIntosh), Sara Woods und P.D. James. Das sich in P.D. James' Roman The Skull Beneath the Skin (1982) anbahnende romantische Liebesverhältnis zwischen ihrem Helden Inspektor Adam Dalgliesh und der Privatdetektivin Cordelia Gray deutet im übrigen ganz auf eine Liason nach Vorbild des Golden Age hin. Da ist die Liebesgeschichte, die in dem Roman Laura (1943) der Amerikanerin Vera Caspary beschrieben wird, doch von ganz anderem Schlage. Ein New Yorker Polizeidetektiv verliebt sich in das Opfer des Mordfalles, auf den er, zunächst äußerst widerwillig und gelangweilt, angesetzt wird - in den Menschen, der die Tote einst gewesen ist! Je tiefer der Detektiv in den Fall eindringt, je mehr sich die Konturen der Toten hervorkristallisieren, desto stärker ist er fasziniert von dieser ungewöhnlichen Frau namens Laura. Der Roman erinnert atmosphärisch an die Werke Raymond Chandlers; Otto Preminger schuf 1944 eine sehr stimmige Verfilmung im Stil der »schwarzen Serie«.
Josephine Tey schrieb nur acht Kriminalromane, doch verschafften diese ihr, auch unter ihren Schriftstellerkolleginnen, eine große Zahl von Anhängerinnen. Sie wurde als Elizabeth MacKintosh in Inverness in Schottland geboren, arbeitete einigejahre in England als Lehrerin, kehrte aber, als ihre Mutter erkrankte und bald darauf starb, nach Inverness zurück und blieb dort den Rest ihres Lebens. Ihr erster Kriminalroman The Man in the Queue (1929) erzählt eine Mordgeschichte, in der Inspektor Alan Grant seinen Verdächtigen von London bis nach Schottland hetzt. Grant ist ein attraktiver Junggeselle, von dem gleich zu Beginn klargestellt wird, daß ihn die Mörderjagd im Grunde langweilt und er mehr an den psychologischen Aspekten seiner Arbeit interessiert ist. Grant glaubt so fest an seine Gabe, aus den Gesichtszügen seines Gegenübers dessen Charakter entschlüsseln zu können, daß er sich in The Daughter of Time (1951) daran macht, die Unschuld Richard III. zu beweisen. Denn von diesem hatte man dem nach einem »Betriebsunfall« bettlägerigen Inspektor ein Portrait gezeigt, und er kann nicht glauben, daß der Abgebildete den ihm vorgeworfenen Mord an seinem Neffen begangen hat. Also macht er sich an das Studium historischer Quellen. Eine ungewöhnliche Idee für einen Kriminalroman, der aber dennoch spannend zu lesen ist. Historische Themen lagen Josephine Tey, die sich unter dem Pseudonym Gordon Daviot einen Namen als Bühnenautorin mit Stücken wie Richard of Bordeaux oder Queen of Scots machte. Josephine Tey fand Leser auch unter Leuten, welche die Lektüre von Kriminalromanen sonst als unter ihrer Würde erachteten, und hatte in dieser Hinsicht denselben Erfolg wie Highsmith und Millar.
Die in Deutschland wohl bekannteste der Autorinnen, die sich vom traditionellen Kriminalroman mit der Frage nach dem »Wie« des Mordes und dem Täterrätsel abgewandt haben, ist Patricia Highsmith, 1921 in Fort Worth, Texas geboren. Die Schauplätze ihrer Romane, in deren Vordergrund der Täter, seine seelische Verfaßtheit und seine Umwelt stehen, sind so vielfältig wie Patricia Highsmiths Wohnsitze: Mexiko, Italien, England und Frankreich. Ihr erster Roman Strangers on a Train (1949), 1951 von Hitchcock verfilmt, gehört bereits zu den Klassikern des Genres. In The Talented Mr. Ripley (1955) führt sie - ohne moralischen Zeigefinger - einen smarten Mörder als Helden ein, und noch in drei weiteren Ripley Romanen darf man mit dem Helden hoffen, daß die Nachstellungen von Polizei oder auch der Mafia ins Leere greifen.
Alltägliche Menschen und ihre Neurosen stehen im Mittelpunkt der Romane von Margaret Millar. Die gebürtige Kanadierin studierte in Toronto und lebt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit ihrem Mann Kenneth in Kalifornien, Schauplatz der meisten ihrer Romane. Kenneth Millar wurde unter dem Pseudonym Ross McDonald als Kriminalautor in der Tradition der »hard-boiled«-Schule bekannt. Protagonist der ersten Kriminalgeschichten von Margaret Millar ist ein Psychiater; der oben bereits erwähnte Roman The Beast In Fiew (1955) schildert einen Fall von Bewußtseinsspaltung, und in The Murder of Miranda wird die Mordverdächtige Miranda Shaw nur deshalb nicht befreit, weil der einzige, der ihre Unschuld beweisen könnte, eine - wie zwei Drittel der Akteure - völlig neurotische und groteske Figur ist und sich mit der Empfangsdame des Staatsanwaltes nicht über seinen richtigen Namen einigen kann. Denn er ist leidenschaftlicher Verfasser von anonymen Briefen, und ihm stehen eine ganze Reihe von Namen zur Verfügung. Es ist eine absurde Welt, voller fadenscheiniger Illusionen und gescheiterter Träume, in der Gerechtigkeit nur noch Sache des Zufalls ist. »Deadlier than the male« - tödlicher als die Männer?
Auf jeden Fall sind die Kriminalroman-Autorinnen, egal ob man die Kriterien Popularität bzw. Auflagenstärke, handwerkliches Können oder innovatorische Entwicklung zugrundelegt, genauso bedeutend und vielseitig wie ihre männlichen Kollegen.