Die Zeit der Achmatowa

Lyrik nach der Oktoberrevolution

Und suchtest im dunklen Gedächtnis, und findest
Handschuhe bis zum Ellenbogen
Und Petersburger Nacht. Und die Logen
Mit süßen, erstickten Gerüchen.

Und Wind weht vom Meer. Und zwischen den
Zeilen
Über den Schmähsprüchen, überm Lob
Lächelt dir Block verächtlich zu,
Tragischer Tenor der Epoche.
(Anna Achmatowa, um 1960)

Gleich nach dem frühen Tod von Alexander Block ist sein Platz in der russischen Poesie Anna Achmatowa zugewiesen worden: mit einer Sicherheit, die vermuten läßt, die Zeitgenossen seien sich einig gewesen, daß nur eine Frau tragen könne, worunter Block zusammengebrochen war. Block starb am 7. August 1921 an Nervenzerrüttung, Skorbut, Herzklappenentzündung, doch tödlich waren die Krankheiten für ihn geworden, weil er sich schon Jahre, nämlich seit seinem Revolutionspoem Die Zwölf (1918), taub fühlte, die »Musik des Weltorchesters« nicht mehr vernahm, keine Gedichte schrieb. Bedurfte es eines anderen Hörens, um da wieder etwas zu vernehmen?
Anna Achmatowa schien freilich zu zögern, den ihr zugewiesenen Platz einzunehmen. Wartet sie ab oder wird sie gehindert? Es sieht so aus, als habe sie erst Anwärter mit älteren Rechten gewähren lassen wollen. Tatsächlich beherrschen in dem neuen Jahrzehnt ganz andere die Szene, von ihr erscheinen von 1922 bis 1940 keine neuen Gedichte im Lande, und noch als Boris Eichenbaum, der 1923 das erste Buch über die Dichterin veröffentlicht hatte, 1933 den neuerlichen Konstellationswechsel in der russischen Poesie beschreibt - vom Verhältnis Majakowski / Jessenin zum Verhältnis Pasternak / Mandelstam - spielt Anna Achmatowa keine Rolle. Doch als auch diese beiden verschwinden - Mandelstam geächtet und verbannt, Pasternak die Rangerhöhung abwehrend, als die letzten großen Symbolisten tot sind - Sologub stirbt 1927, Woloschin 1932, Bely 1934, Kusmin 1936 - als endlich Marina Zwetajewa, aus der Emigration zurück, im Krieg Selbstmord begeht, da wird deutlich, daß Anna Achmatowa den Platz wirklich innehat. Besonders die nach dem Krieg in zwei Leningrader Zeitschriften erscheinenden größeren Auswahlen ihrer Gedichte von 1909 bis 1944 zeigen sie in ihrem Rang, den Boris Eichenbaum nun in zwei Vorträgen am 7. Januar und am 17. März 1946 benennt: »Das ist nicht einfach die russische Frau - das ist das russische Weib. Die Heldin der Lyrik der Achmatowa empfindet man als Frau aus dem Volk und ihr Schicksal als das Schicksal der russischen Frau.«
Vehementer aber als in jeder positiven Beschreibung ist Anna Achmatowa die Geschichtlichkeit ihres Daseins und ihrer Poesie in einer negativen angetragen worden. Am 14. August 1946 faßte das ZK der KPdSU (B) seinen Beschluß Über die Zeitschriften >Swesda< und >Leningrad<, in dem die Dichterin neben Michail Sostschenko als national gefährdend vorkommt: Mit ihrer »Poesie einer wildgewordenen Gnädigen, die zwischen Boudoir und Bethaus pendelt«, falle sie zurück in den »Geschmack der alten Salondichtung, die auf den Positionen des bürgerlich-aristokratischen Ästhetizismus und der Dekadenz stehengeblieben« sei. Shdanow, der zum Beschluß die folgenschweren Reden in Leningrad hielt, variierte zur endgültigen Diskriminierung der Dichterin eine Definition, die Eichenbaum 1923 zur Beschreibung der lyrischen Sprecherin der Achmatowa eingeführt hatte, zu dem Satz: »Halb Nonne, halb Dirne oder besser Dirne und Nonne, Unzucht und Gebet in einem.«
Die Achmatowa selber meinte, die Gedichte seien lediglich ein Vorwand gewesen. Stalins Zorn hätten vielmehr die beiden Besuche erregt, die ihr Sir Isaiah Berlin im November 1945 und im Januar 1946 in ihrer Wohnung an der Fontanka abstattete. Der aus Riga gebürtige englische Philosoph und Historiker gehörte nach dem Kriege, als russisch noch von wenigen gesprochen wurde, einige Monate zur Britischen Botschaft in Moskau. Anna Achmatowa war davon überzeugt, daß Berlins Begegnung mit ihr, die zufällig mit einer Leningrad-Visite von Berlins Studienfreund Randolph Churchill, Journalist, Sohn des ehemaligen britischen Premierministers, Abwehroffizier a. D., zusammenfiel, den Kalten Krieg ausgelöst habe. Zweifellos korrespondieren die absurden Gerüchte über eine ausländische Delegation, die die Achmatowa zum Verlassen der Sowjetunion überreden sollte, ja über das Sonderflugzeug, das Winston Churchill, angeblich ein alter Bewunderer ihrer Poesie, nach Leningrad beordern werde, sowohl mit Stalins Kommentar zu Berlins Besuch: »Also empfängt unsere Nonne jetzt ausländische Spione«, als auch mit Shdanows Argumentation. 1980 sagt Sir Isaiah Berlin von seinen Gesprächen mit Anna Achmatowa im Jahre 1965 in Oxford, wo sie den Ehrendoktor entgegennahm, und mit dem Blick auf das Poem ohne Held (1940-1962) und die umliegenden Gedichte: »Sie sah L sich und mich als weltgeschichtliche Figuren, vom Schicksal erwählt, verhängnisvolle Partien in einem kosmischen Konflikt zu spielen [...]. Das war konstitutiv für ihre gesamte geschichtsphilosophische Vision, der vieles in ihrer Dichtung entsprang.«
Wenn sich das auch niemand hatte träumen lassen - hoch politisch war es von Anfang an zugegangen. Denn wie hatte die Zuweisung ausgesehen?
Sie begann verborgen mit einem Brief von Larissa Reissner, die in Afghanistan verspätet vom Tode Alexander Blocks erfährt: »jetzt, da er nicht mehr da ist«, schreibt sie am 24. November 1921 an Anna Achmatowa, »Ihr gleicher einziger geistiger Bruder, sieht man es deutlicher, daß Sie da sind, atmen, leiden, umhergehen [...] Ihre Kunst ist der Sinn und die Rechtfertigung von allem. Schwarz wird weiß, Wasser springt aus dem Stein, wenn die Poesie lebt.« Dem Brief lag ein kleines Päckchen mit »ein wenig Brot und ein wenig Honig« bei. Öffentlich wird die Zuweisung in einer Prawda-Rezension von Nikolai Ossinski (Obolenski) zu Achmatowas neuem Buch von 1921, Anno Domini» MCMXXI. »Nach dem Tod Alexander Blocks«, heißt es da am 4. Juli 1922, »gehört der erste Platz unter den russischen Dichtern zweifellos Anna Achmatowa. Die Revolution tilgte aus ihren Gedichten alle Damen Manier.« Die alte gesellschaftliche Orientierung sei zwar noch nicht aufgegeben, entscheidend seien aber die »glänzenden Formulierungen bedeutender und charakteristischer Bewegungen der menschlichen Seele« in ihren Gedichten.
Was Ossinski nur andeutete, hat bald darauf Alexandra Kollontai im dritten ihrer Briefe an die werktätige Jugend in der Zeitschrift Molodaja gwardija auf zwölf Seiten ausführlich kommentiert. Im Februar 1923 antwortete sie einer Genossin Mitstreiterin auf die Frage, warum vielen Arbeiterinnen und Studentinnen die Achmatowa mit ihren »drei weißen Büchlein« - Rosenkranz, Weißer Schwarm und Anno Domini - so nahegehe, obwohl sie doch keine Kommunistin sei. Anna Achmatowa sei, so die Kollontai, die erste selbständige Dichterin der Übergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus. Da die Weltauffassung der Revolution die von beiden Geschlechtern geschaffenen geistigen und seelischen Werte aufnehmen müsse, seien die Zeugnisse der Dichterin von den inneren Umbrüchen unentbehrlich. Zwei Motive hebt Alexandra Kollontai hervor - den Konflikt in der Liebe: »Der Mann erkennt das menschliche >Ich< der Frau nicht an«, und den Konflikt in der Seele der Frau: »Sie kann ihre Liebe nicht mit der kreativen Teilnahme am Leben vereinbaren.« Die Poesie der Achmatowa stärke die Selbständigkeit: »Den Platz der >Gefangenschaft in der Liebe< wird der beflügelnde Genuß der Liebe einnehmen, der der gegenseitigen Anerkennung entspringt, der kameradschaftlichen Behutsamkeit, dem vorsichtigen Umgang gleichgestimmter Seelen [...]. Die Kultur der werktätigen Menschheit wird Bedingungen schaffen, unter denen mit der Selbstentwürdigung der Frau auch ein uraltes Problem verschwindet: der Kampf der Geschlechter.«
Frappierend und weit vorausgreifend an dieser Zuweisung war, daß sie die poetische Gestalt der Befreiungsutopie nicht an aktivistische Modelle band. Nichts von der schreibenden Politkommissarin, der »Frau von den Barrikaden«, wie sie in Larissa Reissner geliebt wurde; nichts von der Leiterin des Internationalen Frauensekretariats der Komintern, der ersten Botschafterin der Welt, als die Alexandra Kollontai ihre emanzipatorischen Konzepte lebte und schrieb; und erst recht nichts von dem »Ingenieur«, den Walter Benjamin in der sowjetischen Regisseurin Asja Lacis feierte, die in ihm als Autor die Einbahnstraße, seine berühmte, ihr gewidmete Schrift, »durchgebrochen« habe.
Der Widerspruch gegen diesen kühnen Entwurf ließ auch nicht lange auf sich warten. Majakowski, der schon im Januar 1922 auf der ersten »Reinigung der zeitgenössischen Poesie« Achmatowas Dichtung als bedeutend, aber vergangen verworfen hatte, betonte im Januar 1923 mit seinen Freunden in der ersten Nummer von LEE der Zeitschrift der »Linken Kunstfront«, das Beliebige der Wertung Ossinskis: »Ossinski lobt die Achmatowa, Bucharin Pinkerton.« Das war der Moment, als Bucharin die Revolution nach dem Detektivmuster Nat Pinkerton zu schildern empfahl. Die schärfere Attacke kam von seiten der proletarischen Schriftsteller. Im Herbst 1923 wirft G. Lelewitsch, der führende Kritiker der Zeitschrift Na postu, der Kollontai vor, sie habe sich in den »Netzen des Kom-Feminismus« verfangen und nicht einmal Eichenbaums doch sehr treffendes »Dirne« »Nonne« Oxymoron zur Kenntnis genommen. In Wahrheit sei die Poesie der Achmatowa nichts als ein »kleiner schöner Splitter der Adelskultur« und Kollontais Interpretation gleiche dem Versuch, »Achmatowa mit Clara Zetkin zu verheiraten«. Nimmt man hinzu, daß auch Leo Trotzki 1923 in seinem Buch Literatur und Revolution unter der Überschrift »Literatur außerhalb des Oktober« die Achmatowa sarkastisch abfertigte, dann scheint die große Zuweisung nicht nur gescheitert, sondern im Ansatz verfehlt. Die Literaturenzyklopädie beschreibt sie dann auch 1929 als eine Dichterin des Adels, die schon in der kapitalistischen Gesellschaft keine neue Funktion mehr erhalten, die alten aus der Feudalgesellschaft aber längst verloren hatte. Und eine zeitgenössische Karikatur, die den Baum der sowjetischen Literatur mit über siebzig Schriftstellern reich belaubt zeigt, plaziert sie mit Bely und Woloschin als »Lebenden Leichnam« - unter dem Baum.
Daß es unentscheidbar bleibt, wo Anna Achmatowa aus freien Stücken abwartet und wo gezwungenermaßen zurücktritt, gehört zum Bild der Zuweisung. Entscheidend ist, daß diese Zuweisung in Rußland eine verzweigte Vorgeschichte hat, die genauer zu betrachten wohl lohnte. Es handelt sich um eigentümliche Entwürfe, die gewissermaßen die Achmatowa ankündigen. Um kurz die Richtung anzudeuten, hier Stichworte zu zwei Vorgängen: Sophia-Kult der Symbolisten und Mystifikation durch Cherubina de Gabriac.
Sophia-Kult: Anfang des Jahrhunderts waren unabhängig voneinander Alexander Block in Petersburg und Andrej Bely in Moskau, beide zwanzigjährig, der Sophia-Lehre des Mystikers Wladimir Solowjow gefolgt. Solowjow hatte die Heilige Sophia als Gottes Eben- und Gegenbild gesehen, die Königin der geeinten Vielfalt, die nach dem Akt der Weltschöpfung als ein Schutzengel die Geschöpfe vor dem Sturz ins Chaos bewahrt und sie aus der Mannigfaltigkeit der Welt in ihre ursprüngliche Heimat, die göttliche All-Einheit zurückbringt. In seiner Philosophie der Liebe zeigte Solowjow dann, daß es die Liebe zwischen Mann und Frau ist, die das Werk der Einigung der Menschheit vollbringt. In der körperlich-geistig-seelischen Vereinigung entstehe die göttliche Zweieinigkeit der Androgyne, die die »Desintegration und den Tod« überwinde: »Unsterblich ist nur der ganze Mensch.« Noch bevor Block und Bely sich persönlich kennenlernten, hat der Sophia-Kult nicht nur ihre Dichtung, sondern ihr gesamtes Verhalten geprägt. Blocks Verse von der Schönen Dame meinen im Bild der »Ewig Jungen«, der »Herrscherin des Alls«, der »Geheimnisvollen Jungfrau« immer zugleich die Sophia, den harmonischen, den ganzen Menschen und die Geliebte - Ljubow Dmitrijmna Mendelejewa. Blocks Heirat mit Ljubow erlebten seine Moskauer Freunde als Mysterium der Welterneuerung. Die Stürze waren unvermeidlich und im Verhältnis zwischen Block, Ljubow Dmitrijewna und Bely würden bis zu gegenseitigen Duellforderungen der beiden Männer alle Wendungen zu finden sein. Aber treugeblieben sind sie ihrer Jünglingsvision, und Block hat 1912, in den Tagen, als Anna Achmatowas erstes Gedichtbüchlein erschien, eine Übersetzung von Solowjows Androgyne-Konzept vorgeschlagen, die es auch als eine Ankündigung der Achmatowa lesen läßt. Als nämlich im Mai August Strindberg starb, entwickelte er sein Bild von einer neuen »Geschlechterauslese«, einer neuen Verteilung des »Männlichen« und des »Weiblichen«. Wenn das Männliche zum Männchenhaften werde, entarte Zorn zu Bosheit; wenn das Weibliche zum Weibchenhaften werde, verwandle sich Güte in Gefühlsseligkeit. Zu beobachten sei nun, daß versucht werde, das »Männchenhafte mit dem Weiblichen und das Weibchenhafte mit dem Männlichen zu veredeln«. Strindberg sei einer der ersten gelungenen »Probemenschen« gewesen, und ich halte es für sicher, daß Anna Achmatowa für Block zu den nächstgelungenen »Proben« gehört hat. Sein Gedicht für die Achmatowa vom Dezember 1913 entwirft in ihrer Schönheit das Höchste - das Androgyne, das Zweieinige von Furchtbarkeit und Einfachheit der menschlichen Existenz: nicht so furchtbar zu sein, um einfach zu töten, und nicht so einfach, um nicht zu wissen, wie furchtbar das Leben ist.
Cherubina de Gabriac: Zwei Jahre vor Blocks eigenwilliger Übersetzung von Solowjows Sophia-Lehre hatte sich eine höchst merkwürdige Mystifikation der Petersburger Dichterschaft durch eine Cherubina de Gabriac abgespielt. In der eben gegründeten nachsymbolistischen Zeitschrift Apollon treffen per Post Gedichte von einer Frau ein: Absender ohne Adresse. Am Telefon eine dunkle Stimme. Spanische Aristokratin. Mutter früh verstorben. Jesuit als Beichtvater. Die Verse von feiner Trauer. Eine Entdeckung, die Redaktion Mann für Mann verliebt. Selbst der für untrüglich geltende Stilsinn des Dichters Nikolai Gumiljow versagt, er ist intrigiert und brennt darauf, die Unbekannte zu erobern. Das Geheimnis wird gelüftet, als Gumiljow eines Tages aus heiterem Himmel vom Dichter Maximilian Woloschin geohrfeigt wird und sich mit ihm duelliert. Woloschin, stellt sich heraus, hatte der als Dichterin in Petersburg durchaus bekannten Lehrerin Jelisaweta Dmitrijewa, die Gumiljows Geliebte gewesen war und auf eine Verbindung gehofft hatte, die exotische Biographie und den Stil verschafft und nun die Beleidigung der Frau durch Gumiljow, der noch nichts von der Identität der Gabriac wußte, handgreiflich gerächt. Kurz darauf wurde Gumilow Anna Achmatowas erster Mann. Marina Zwetajewa hat in ihrem Woloschin-Essay darauf bestanden, die Mystifikation als eine Botschaft anzunehmen, die eine Ankündigung der Achmatowa und ihrer selbst umfaßt. Sie sagt vom Vers der Cherubina de Gabriac: »Das Bildliche ist Achmatowa, der Rhythmus meiner, Verse, die vor der Achmatowa geschrieben sind und vor mir - so richtig ist mein Satz, daß alle Verse, früher, jetzt und künfüg, von einer Frau geschrieben sind - einer namenlosen.« Diese verborgenen Vermittlungen sind es aber auch, über die (was nächstens zu berichten wäre) Anna Achmatowa mit den Frauen der russischen Geschichte verbunden ist - mit den Frauen der Dekabristen, mit der Mathematikerin Sofa Kowalewskaja und der Malerin Maria Baschkirzewa, mit den Revolutionärinnen Sofa Perowskaja und Vera Figner und mit ihren persönlichen Vertrauten Olga Glebowa-Sudejkina, Nadeshda Mandelstam und Lidija Tschukowskaja.
Anna Achmatowa hat nie aufgehört, darüber zu staunen, was ihr da zugewiesen worden ist. Keinen Augenblick die Selbstverständlichkeit des Rangs - einer geheimen politischen Gegenregentschaft etwa, wie sie von Leo Tolstoi oder Wladimir Solomjows Rolle her bekannt gewesen und noch von den Symbolisten übernommen worden war. Dafür überscharf das Empfinden einer Unangemessenheit, einer Zumutung fast, einschneidender: einer Vertauschung des Lebens, eines Biographienwechsels. Was sie in der Erinnerung an ihr erstes Büchlein Abend notierte, gilt durch die Jahre: »Diese armen Gedichte eines denkbar unbedeutenden Mädchens werden nun schon zum dreizehnten Mal gedruckt [...]. Das Mädchen selber hatte ihnen (soweit ich mich erinnere) dieses Los nicht zugedacht und versteckte die Zeitschriftenhefte, in denen sie zuerst gedruckt worden waren, unter die Sofakissen: >um sich nicht zu ärgern!< Und vor Ärger, daß der >Abend< erschien, reiste sie sogar nach Italien (1912, Frühjahr), wo sie, in der Straßenbahn die Nachbarn betrachend, dachte: Die Glücklichen - von denen erscheint kein Büchlein.«
Es ist genau diese Art des minutiösen Berichts über die Wahrnehmungen des Augenblicks, der sie wieder etwas vernehmen läßt, wo Block über dem Krachen vom »Zusammenbruch der alten Welt« das Hören vergangen war. Was an ihrer Poesie als leise, als Flüstern (bis zur »Flüstersyntax«!) beschrieben wurde, was sie selber als ihr stilles Wesen verstand und was die wilde Marina Zwetajewa bei der Begegnung im Juni 1940 so enttäuscht, als sie hören muß, daß die geliebte Achmatowa, für die sie sich »auf einem richtigen Scheiterhaufen« hatte verbrennen lassen wollen (1921), in diesen furchtbaren Zeiten einfach vom verspielten Harlekin-Petersburg des Jahres 1913 schreibt - alles das weist auf die Mitte der Existenz und der Poesie der Achmatowa. Noch als das apokalyptische, das revolutionär maximalistische Katastrophendenken der Symbolisten und Futuristen den Ton angibt, hat die Achmatowa am Lebensraum einer neuen Alltäglichkeit und Häuslichkeit, einer entschlossen angenommenen Gegenwart gearbeitet, die nun ihren Namen tragen sollte: nicht wegen der literarischen Führerschaft der Dichterin, sondern wegen der seelischen und geistigen und körperlichen Kraft, mit der sie die Zuweisung annahm und verwandelte, diesen fünfundfünfzig Jahren zwischen 1912 und 1966 ihren Sinn gab, sie zu ihrer Zeit machte.
Wie das geschah, wird den Leser ihrer Gedichte immer neu verwickeln. Er wird auf eine Verschränkung und Spiegelung der Zeiten, Kulturen und Sprachen stoßen, die im ganz Einfachen, im Vertrauten hier und nebenan die Einheit der Welt unerschrocken ausspricht: die Einheit der Welt, in der Solowjows Sehnsucht nach der Androgynie und die Trauer der Cherubina de Gabriac sich spiegeln in den seelischen Nöten der Revolutionäre, deren Linderung Ossinski und die Kollontai 1922 und 1923 der Achmatowa anvertrauten, sich spiegeln in den Leiden der Lager (ihr »Requiem« auf Mann und Sohn) und in den Opfern des Krieges, die Eichenbaum 1946 in Anna Achmatowas Poesie ausgesagt und aufgehoben fand. Er wird einer Poetik der Gedächtnisse begegnen, die noch das Fernste in diesem Augenblick vereint: den Sturm ihrer Liebe zu Isaiah Berlin mit dem Nachkriegsschicksal Europas. Im Poem ohne Held und den umliegenden Gedichten, alles zurückgewendet auf 1913, das Jahr ihres Anfangs, das sie als den eigentlichen Beginn des 20. Jahrhunderts verstand, das Jahr des prophetischen Achmatowa-Gedichts von Block. Man erwarte dabei keine Schlüsselliteratur. Gedächtnis ist für Anna Achmatowa natürlich so verhüllend wie enthüllend: erst im Medium der anderen Sprachen, Gestalten und Vorgänge gewinnt sie die Freiheit und die Befugnis zu sprechen. Ununterscheidbar eigenes und fremdes Wort. Hatte sie Block am Ende als den »Tragischen Tenor der Epoche« gesehen, sie selber war, so im Poem ohne Held, bereit,

»Die Rolle zu übernehmen des
schicksalverkündenden Chors.

Weibliche Autobiographien

Weitverbreitet ist die Ansicht, daß literarische Werke von Frauen autobiographischer seien als die von Männern. Daraus ließe sich folgern, daß die Autobiographie die der Frau eigene Gattung sei. Andererseits fällt auf daß in wissenschaftlichen Untersuchungen über die Autobiographie fast ausschließlich Männerbiographien behandelt werden. Sowohl zahlenmäßig als auch der Bedeutung nach wird ihnen eine wichtigere Rolle beigemessen. Zu fragen wäre, ob das gerechtfertigt ist, und wenn ja, woran das liegt? Wenn nein, dann müssen wir unsere Einstellung ändern. Aber wie? Schreiben Frauen denn wirklich anders?
Diese Fragen sind bisher keineswegs befriedigend beantwortet worden. Eines aber ist gewiß nicht zu bezweifeln: Solche Fragen lassen sich mit dem herkömmlichen literarischen Bewertungskanon kaum hinreichend beantworten. Denn zu viele Einflußfaktoren waren hier im Spiel. Die Gattung Autobiographie steht im engen Zusammenhang mit der Herausbildung des bürgerlichen Selbstbewußtseins. Sie entwickelt sich im Kampf des Individuums um seine bürgerliche Identität. Oft zeigt sich das an dem Stolz des Autobiographen, der nicht verschweigt, sich seine Stellung und Bedeutung in der Gesellschaft selbst erarbeitet zu haben. Die Adligen, so behaupten viele dieser frühen Autobiographen, besäßen ihre gesellschaftlichen Rollen nur zufällig, aufgrund ihrer Herkunft und nicht etwa, weil sie innere Qualitäten besäßen. Durch die Autobiographie beansprucht ein Autor eine gewisse Repräsentanz, die gesellschaftliche Achtung seines Lebens - auch wenn es als negatives Beispiel dargestellt wird. Das ist meistens ein schwer errungener Stolz. Die Geschichte des Kampfes um die Identität oder die gesellschaftliche Stellung bildet zumeist das Kernstück einer Autobiographie. Frauen haben - darauf ist hinlänglich verwiesen worden - einen solchen Kampf niemals kämpfen dürfen. Konnten sie dann - besonders um 1800 - in anerkannten Formen ihr Leben erzählen?
Günter Niggl leitet die moderne Autobiographie aus drei Vorläufern dieser Gattung ab: 1. aus religiösen Bekenntnissen, 2. aus Berufsautobiographien und 3. aus abenteuerlichen Autobiographien. Die moderne Autobiographie (Dichtung und Wahrheit) - so Niggl - ist eine harmonische Integration dieser drei Vorformen. Nach seiner Einteilung konnte nur eine Frau, die gegen viele gesellschaftliche Ansprüche verstoßen hatte, an dieser Frühform der Autobiographie partizipieren. Eine Frau, die den gesellschaftlichen Formen gemäß lebte, konnte höchstens religiöse Bekenntnisse, also keine »wirkliche« Autobiographie schreiben.
Zwar haben Frauen gelegentlich Abenteuer- oder Berufsautobiographien geschrieben. Rose Staal-Delauneys Memoires (1755), Isabella von Wallenrodts Leben (1797), und Regula Engels Schweizerische Amazone (1821/5) beispielsweise weisen zahlreiche abenteuerliche Motive auf. Wie viele der damaligen Intellektuellen versucht Friderica Baldinger 1783 die Geschichte ihrer Vernunft wiederzugeben (gedruckt 1791). Die Autobiographie der englischen Précieusen Margaret Cavendish (1656) gehört gleichfalls in diese Kategorie. Frauen haben ebenfalls Haus- und Familienchroniken geschrieben, eine noch frühere Form autobiographischer Berichte, von der sowohl Berufs- wie Abenteuerautobiographien herstammen. Lady Anne Fanshawe schrieb 1676 eine Familiengeschichte für ihren Sohn, und die niederländische Jüdin Glückel von Hameln verfaßte 1690/91 auch eine Haus- und Geschäftschronik für ihre Familie.
Doch die Tradition, die für Frauen am fruchtbarsten gewesen ist, ist tatsächlich die der religiösen Bekenntnisse. Im 17. und 18.Jahrhundert galt das vor allem für pietistische oder Quäker-Frauen, deren Religion auch die Seelen von Frauen ernst nahmen und ihre weiblichen Mitglieder verpflichteten, ihre Bekenntnisse niederzuschreiben. Ob Frauen außerhalb solcher religiöser Zirkel Autobiographien geschrieben haben, die sich auf das Innere konzentrieren, läßt sich nicht so ohne weiteres feststellen, zumal es diesbezüglich definitorische Unstimmigkeiten in der wissenschaftlichen Diskussion gegeben hat. Seitdem Georg Misch die europäische Autobiographie untersucht hat, neigen deutsche Autobiographieforscher dazu, einen Unterschied zwischen Memoiren und Autobiographien zu machen. Memoiren - meistens von Adligen geschrieben - behandeln eher äußerliche Begebenheiten: z. B. Hof- und Berufsintrigen, Militärgeschichten. Autobiographien meistens von Bürgerlichen geschrieben - behandeln eher innere Begebenheiten: Seelen- und Bildungserlebnisse. Gerade diese Seelengeschichten bestimmen die Gattung. Bernd Neumann meint, wenn ein Autobiograph seine Identität soweit entwickelt hat, daß er eine gesellschaftliche Rolle übernehmen muß, dann schlägt sich eine Autobiographie an dieser Stelle in Memoirenliteratur um. Dadurch entsteht der Gegensatz von
gesellschaftlicher Rolle und Identität. Englische, amerikanische, und französische Forscher haben diesen Unterschied im Wesentlichen übernommen: Roy Pascal, Wayne Schumaker und Georges May.
Doch auch aristokratische Frauen haben Memoiren geschrieben: Die Mémoires de la reine Marguerite (geschrieben 1597/8) von Margaretha von Valois gelten als die erste weltliche Selbstbiographie einer Frau. Die Memoiren von Mme de Motteville, Christina von Schweden, Mlle de Montpensier, Sophie Kurfürstin von Hannover, Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, der Kaiserin Katharina von Rußland sind nur einige der zahlreichen Beispiele dieser Kategorie. Interessanter, wenngleich - streng theoretisch gesprochen - zum Teil problematischer, sind die bürgerlichen Formen der Lebensberichterstattung, die Autobiographien also, welche die Suche nach einer Identität thematisieren.
Wenn die Kategorien Memoiren und Autobiographie stimmen (und das tun sie zum größten Teil), dann haben Frauen eine merkwürdige autobiographische Aufgabe. Ihre geschichtliche und gesellschaftliche Rolle beschränkt sich meistens auf das Gebiet der Liebe und Familie besonders um 1800. Dieser »privaten« Rolle geht andererseits in aller Regel das »öffentliche« Interesse ab. Es ist kein hinreichender Stoff für Autobiographien. Wie sollen Frauen, die sich nicht öffentlich zeigen dürfen, ihr Leben öffentlich erzählen? Bürgerliche Mädchen durften nicht einmal sehr stark ausgeprägte Eigenschaften oder außergewöhnliche Begabungen entwickeln, es sei denn, diese Eigenschaft bestand in einer besonderen Tugendhaftigkeit. Alle anderen Begabungen minderten ihren Heiratswert. Haben Frauen sich überhaupt je eine Unabhängigkeit oder gar Subjektivität leisten können, besonders ökonomisch gesehen, da sie von der Familie meistens finanziell abhängig waren? Was mußte geschehen, bis eine Frau sich eine Identität außerhalb der Familie (ihre gesellschaftliche Rolle) vorstellen konnte? Ist eine Frau, die in einem autobiographischen Text offen und direkt über ihre Nicht-Identität mit dieser Rolle schreibt, nicht ökonomisch gefährdet? Vielleicht verbirgt sie lieber ihre wahren Gefühle hinter einer Romanheldin, damit sie als Autorin keine spezifische Verantwortung dafür trägt. Das ist gewiß der sichere Ort für von gesellschaftlichen Normen abweichende Meinungen. Dann wäre - höchst wahrscheinlich - die Mischung der autobiographischen und romanhaften Formen eher die adäquate Form für weibliches Schreiben.
Dennoch haben einige Frauen es gewagt, in Autobiographien ihre Identität von ihrer gesellschaftlichen Rolle zu trennen. Gerade die Tradition der religiösen Bekenntnisse ist in dieser Hinsicht von großer Bedeutung gewesen. Manche Frauen mußten sich gegen ihre Familien auflehnen, um Mitglieder dieser Sekten zu werden. Nur aufgrund einer religiösen Überzeugung durfte eine Frau ihre Familie verlassen. Nur als Mitglied einer Kirche konnte sie finanzielle Unterstützung für dieses Wagnis finden. Ausschlaggebender hierfür als die Bekenntnisse der Heiligen Teresa, die zusammen mit den Bekenntnissen des Heiligen Augustinus die Form der religiösen Selbstgeschichte gerade geprägt haben, sind die Bekenntnisse der Jeanne de la Motte Guyon (gedruckt 1694/1709). Diese Rührende Figur der quietistischen Mystik begann ihre Bekenntnisse im Gefängnis auf Befehl ihres eigenen geistigen Führers. Ihre Verfolgungen und Leiden in der Gesellschaft und in der Familie, die sie unbeschönigt beschreibt, nimmt sie als Prüfung Gottes hin, was jedoch nicht bedeutet, daß sie sich in dieser Situation aufgibt. Vielmehr betont sie die Zügellosigkeit ihres eigenen Temperaments und, wegen dessen göttlichen Ursprungs, auch die Unabhängigkeit des persönlichen religiösen Lebens von sittlichen Forderungen und von kirchlichen Vermittlungen. Sie behauptet, das souveräne Recht der göttlichen Leidenschaft komme hier zum Durchbruch als Ausdruck der subjektiven gefühlsmäßigen Reaktion auf die inneren Erfahrungen.
Die weltlichen Konsequenzen eines solchen Glaubens sind nicht zu übersehen. Sie erlauben Mme. Guyon, sich von einem ungeliebten Manne und von ihren ehelichen Pflichten zurückzuziehen. Ihre wahren Gefühle und ihr innerstes Selbst gehören Gott. Abstrakter gesehen, ist eine durch Gott bewirkte Anziehung einfach göttlich, da es eine Wahrnehmung Gottes herbeiführt. Ohne solche Attraktionen wäre Gott nicht zu erkennen, denn die Seele ist ganz in ihn übergegangen. Seelenvollem, göttlichem Gefühl darf menschliche Vernunft (auch sittliche Vernünftigkeit) nicht widersprechen. Grenzenlose Nächstenliebe einer egoistischen Seele erweist sich als das natürliche Ausströmen der Überfülle Gottes in der Seele. Selbstliebewird als Gottesliebe gepriesen. Die Gesellschaft bestimmt nicht mehr die Moral. »Ich finde, daß in mir etwas ist, das das Böse verwirft und das wahrhaft Gute billigt. Ebenso ist es mit der Übung der Tugenden: dieser esprit droit unterscheidet ursprünglich die wahre Tugend von der falschen« (Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, S. 752). Es gibt für sie einfach keine vertu raisonnable. Üerhaupt hat das Göttliche nichts mit der Vernunft zu tun. Deswegen behauptet sie von ihrem Schreiben: »Das, was mich am meisten in Staunen setzt, ist, daß es fließt wie aus der Tiefe und geht nicht durch den Kopf« (Georg Misch, S. 752).
Zur gleichen Zeit wie Shaftesbury betont sie die Bedeutung der Gefühle. Durch Madame de Warens wird Rousseau mit ihren Werken bekannt. In Anton Reiser (1786/89) bezeugt Karl Philipp Moritz ihren großen Einfluß auf pietistische Kreise in Deutschland. Schopenhauer nannte die Selbstbekenntnisse dieser »schönen und großen Seele« ein »spezielles, höchst ausführliches Beispiel und faktische Erläuterung der von (ihm) aufgestellten Begriffe« (Georg Misch).
Obwohl Mme. Guyons Bekenntnisse auch resignative Züge aufweisen, zeigt sie auch das Anrecht einer selbstbewußten Seele, gesellschaftlicher Vernunft zu trotzen. Daher hat sie nicht nur die Autobiographie der Elise von der Recke (geschrieben 1793/95, gedruckt 1902) beeinflussen können, sondern auch deren Leben. Gegen Mann, Familie und Gesellschaft behauptet von der Recke das Recht ihrer Person auf Achtung. Während Mme Guyon sich als Mystikerin einfach zurückgezogen hat, läßt Recke ihre Ehe scheiden. Später weigert sie sich, nochmals zu heiraten. Auch Rahel Varnhagen gehörte zu den Bewunderern der Mme Guyon. Auch für sie hatten Liebe und Achtung für die eigene Seele nichts mit einem eng verstandenen Egoismus zu tun. Sie bewies Liebe und Achtung gegenüber allem Lebendigen und Natürlichen, Verständnis für und Sorge um die Eigenartigkeit eines jeden Lebewesens. Auch sie wollte aus vollem Herzen schreiben und wehrte sich gegen allzu enge Vernunftvorschriften und Moralbestimmungen. Der Einfluß Mme Guyons auf Frauenautobiographien reichte bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Noch in Marie von Ebner-Eschenbachs Meine Kinderjahre (1905) lassen sich Spuren ihrer Gedanken erkennen.
Zu Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters fing man an, sich um Beschreibungen der Wirklichkeit zu kümmern. Nach Descartes wurde Wahrheit individualistisch. Daher stammt wohl auch das zunehmende Interesse an privaten Zeugnissen des Lebens: in Autobiographien und vor allem in Briefen. Romane durften plötzlich nicht mehr phantastisch oder unglaubhaft erscheinen. Der Roman näherte sich der Realität, und die Realität war individualistisch. Er näherte sich also der Autobiographie und dem Brief an. Autobiographie und Brief hingegen näherten sich ihrerseits dem Roman, der Fiktion. Im späten 18. Jahrhundert wurden Formmischungen wirksam. Nicht nur der moderne Roman, sondern auch die moderne Autobiographie entstand. Der Brief als Kunstform dagegen ist untergegangen.
Schon im 17. Jahrhundert wurde diese Tendenz zu Formmischungen deutlich. So zeigen Anne Lady Halkett sowie Hortense und Marie Mancini Ansätze autobiographischer Verwendung romanhafter Stilmittel. Später wird der autobiographische Roman, dem Mme d'Epinay den Titel Histoire de Mme de Montbrillant (gedruckt 1818) gegeben hat, als ihre Memoiren ausgegeben. Elisabeth Stägemanns Erinnerungen für edle Frauen (geschrieben 1804, gedruckt 1846) enthalten dagegen viele Wirklichkeitsabänderungen und romanhafte Stilmittel, obwohl der Text von ihr ausdrücklich als Autobiographie designiert wird. Viele Romane um 1800 wurden einfach als Autobiographien gelesen, man denke etwa an de Staels Delphine (1802) und Corinne (1807).
Die Form des Briefs wurde der Frau zugeteilt, als Vehikel ihrer familien- und gesellschaftsbindenden Aufgabe und als Ventil ihrer Subjektivität. Da Frauen zumeist ohne Bildung waren und ohne künstliche Stilmittel schrieben, galt ihr Briefstil als natürlicher und echter, der Seele und der Wahrheit näher. Kein Wunder also, wenn der neue Roman sich durch Briefe entwickelte. Die zahlreichen Briefromane der Zeit nahmen fast ausschließlich Biographien von Frauen zum Thema. So ist es nicht verwunderlich, wenn auch die Frauen selber ihr Leben in der ihnen zugestandenen Form niederschrieben. Tatsächlich scheint die Briefautobiographie (zum Teil mit ausgeprägt romanhaften Zügen) eine den Frauen eigentümliche Form zu sein. Isabella von Wallenrodt (1797) und Elisabeth Stägemann haben sich eine solche Form zu eigen gemacht. Das Gleiche gilt für Mme d'Epinay und viele andere.
Wenn eine bürgerliche Frau heiratete, war es selbstverständlich, daß sie ihrem Mann ihr Selbst schenkte. Ihm gegenüber hatte sie folglich keine persönlichen oder ökonomischen Rechte mehr, weder eine Identität noch eine Subjektivität. In diesem Zusammenhang gewann zu Beginn des 18. Jahrhunderts - zunächst in England - der Brief, als ein Ort zugestandener Subjektivität, für Frauen eine außerordentliche Bedeutung. In Briefen (und Briefromanen) verteidigt eine Frau nicht nur ihre Tugend, sondern in der Tugend ihr Selbst. Einer Frau unaufgefordert einen intimen Brief zu schicken, galt als Nichtachtung ihrer Persönlichkeit.
Wenn Elise von der Recke in den fingierten Briefen ihrer Autobiographie ihr Selbst verteidigt, so schreibt sie genau in dieser Tradition. Sie schreibt, um ihr innerstes Selbst zu schützen. Die Briefe spiegeln die Prüfung wie auch die Behauptung ihres Selbst wider. Wie Mme Roland (1793) bedient sie sich des Beispiels J.J. Rousseaus und erzählt mehr persönliche Details aus ihrem Leben, als es die damalige oder sogar spätere Gesellschaft für gut hielt - also eine Bloßlegung ihres Selbst, während sie dieses Selbst verteidigt. Wie ganz anders dagegen ist die briefliche Offenheit einer Rahel Varnhagen, die ebenfalls geplant hatte, ihr Leben in Briefen herauszugeben. Sie denkt nicht daran, sich in ihren Briefen verteidigen zu müssen. Ihr geht es darum, ihren Charakter mit Hilfe ihres Briefpartners zu entwickeln. Dieses Verständnis des Individuums geht über Schleiermacher auf die Mystik Spinozas zurück.
Ähnliches zeigt das Werk Bettine von Arnims: Um Lesern die Entwicklung ihres Charakters darzustellen, ordnet sie 1853 drei ihrer »Briefromane« in autobiographischer Reihenfolge: Clemens Brentanos Frühlingskranz (1844), Die Günderode (1840), Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835). Dabei entsteht eine Art Autobiographie, die den Forschern völlig entgangen ist. Sie gründet sich nämlich auf einen nicht traditionellen, ganz unbürgerlichen Identitätsbegriff. Bettine von Arnims Selbst wird mit und an diesen Briefpartnern entwickelt. Sie »gehören« zu ihr wie Teile ihres Selbst; sie spiegeln ihr Selbst, und sie spiegelt Teile ihrer Briefpartner. Dieses Ineinanderverwobensein ihres Selbst ist der Form nach in den stark redigierten Briefen wiedergegeben.
Von Arnim braucht diese Menschen, um »zu sich« zu kommen. Sie lernt von Clemens, von Caroline Günderode, von Goethe und entwickelt sich weiter. Durch diese Freundschaften lernt sie allmählich, sich innerhalb der Gesellschaft zu behaupten und nicht deren Vernunftsregeln zu folgen, sondern sich als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft zu betätigen. Sie geht noch einen Schritt weiter, wenn sie denkt, der Gesellschaft helfen zu können und in Liebe und ohne alle Vorurteile zu sich zu kommen.
Bettine von Arnim nimmt aber keine gesellschaftliche Rolle an und entwickelt keine in sich abgeschlossene Identität im traditionellen Verständnis. Nach wissenschaftlichen Kategorien zählen diese Werke auch dem Inhalt nach nicht zur Gattung der »echten« Autobiographien. Weder Abenteuer noch Beruf spielen eine große Rolle. Vielmehr ähneln sie dem alten Typus der religiösen Bekenntnisse, da die Werke die Entwicklung einer Seele wiedergeben. Je mehr Arnim zu sich kommt, desto mehr meint sie, >Gott< näher zu kommen. Indem sie sich entwickelt, entwickelt sie >Gott< und die >Welt<. Auch wenn von Arnim Mme Guyon nicht gelesen hat, so hat sie Spinoza zumindest durch Schleiermacher gekannt.
Merkwürdig bleibt, daß von Arnim die Schwierigkeiten ihrer Ehe nie autobiographisch geschildert hat. Außer Isabella von Wallenrodt, die diese Schwierigkeiten beschreibt und sie dennoch leugnet, haben Frauen, die unglückliche Ehen führten, ihre Autobiographien meistens als Nachlaß überliefert. Zwar ist die Ehefrage um die Mitte des Jahrhunderts vor allem in den Romanen von George Sand, George Eliot und Fanny Lewald wieder aktuell geworden, doch sucht man umsonst nach autobiographischer Behandlung solcher Probleme. Vielmehr ähneln Frauenautobiographien denen der Männer immer mehr. George Sands Histoire de ma vie (1854/55) liefert ein Beispiel für diese Tendenz. Ihr Liebesleben wird kaum erwähnt, während sie eine Fülle von Informationen zu ihrer Geneologie, zur Volkskunde, zur Zeit im allgemeinen bringt. Schließlich befinden wir uns im Zeitalter des Positivismus. Immer mehr Frauen (besonders die zahlreichen unverheirateten und finanziell gefährdeten) finden Berufe, und immer mehr Frauen können aus diesem Grund ihr Leben in männlichen Formen beschreiben, auch wenn sie, wie Fanny Lewald (Meine Lebensgeschichte 1861/62), manche Schwierigkeiten, die sie als Frauen hatten, offiziell unterschätzen. Urteilt man nach diesen Typen, so scheint es, als ob Frauen erst im frühen 19. Jahrhundert »wirkliche« Autobiographien schreiben, d.h. gängigen Definitionen der Forschung nach. Erst jetzt bekleiden einige öffentliche Positionen. Weitere Probleme der Subjektivität werden unterdrückt und rationalisiert, wenn nicht genau so stark, so doch ähnlich wie in Männerautobiographien.
Die berühmte englische Schriftstellerin Harriet Martineau wußte, daß sie eine einflußreiche Person war und ihre Lebensbeschreibung ihrem Publikum schuldete (geschrieben 1855 / gedruckt 1877). Sie erklärt ihre Verantwortung, eine Autobiographie schreiben zu müssen, daher, weil sie sich geweigert hatte, ihre Briefe zu veröffentlichen. Diese seien privat gemeint, und es bedeutete einen Vertrauensbruch, sie der Öffentlichkeit jetzt vorzulegen. Die Rolle des Briefes und der Subjektivität in der Gesellschaft hatten sich inzwischen umgekehrt. Doch darf man daraus nicht schließen, daß sich diese Übersetzerin der Werke von Auguste Comte nicht für ihre Gefühle interessiere. Das Interesse ist lediglich ein anderes, nämlich ein intellektuelles mit didaktischem Ziel. Der Fortschritt der Menschheit beruht auf der Sammlung vieler solcher Geschichten. Martineaus persönliche Entwicklung wird so dargestellt, daß sie die Stufen der menschlichen Entwicklung aus theologischem und metaphysischem Dunkel ins Licht der postivistisehen Aufklärung verdeutlicht.
Martineau erzählt nicht kontinuierlich die Geschichte einer jugendlichen Liebe, vielmehr übergeht sie manche Details, deutet nur versteckt die Geschichte an. Warum sie nicht geheiratet hat, wird mit Vernunft erklärt. Verhältnismäßig schnell - aber nicht ohne subjektive Elemente einzuflechten - berichtet sie über ihre ersten dreißig Jahre, bis sie Schriftstellerin wird. Später werden berühmte Leute, die sie kannte, ausführlich beschrieben, aber auch ihr Engagement und das Aufgehen in ihrer Arbeit. Denn genauso wie eine Frau manchmal innerhalb eines Familienlebens ihrer Persönlichkeit Ausdruck geben kann, so kann sie es auch oft innerhalb eines Berufs. Die Lust, Energie und Befriedigung, die diese Frau durch ihre Arbeit gewinnt, sind unverkennbar. Ob die Behauptung ihrer gesellschaftlichen Rolle einen Zwang für ihre Identität bedeutete, werden wir wohl nie erfahren. Vielleicht bedeutete es für sie weniger Zwang als die vorgeschriebene Rolle einer Hausfrau und Mutter.
Erst um die Mitte und gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts also kann eine Frau ihren Kampf um Beruf oder politisches Engagement beschreiben. Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert beschreiben Frauen, die öffentliche Figuren geworden sind, persönliche und politische Kämpfe. In England erzählen Lady Sydney Morgan (1859), Margaret Oliphant (1899) und Mrs. Humphrey Ward (1918) von ihren Schwierigkeiten, Schriftstellerinnen zu werden. In Deutschland tun das Fanny Lewald (1861/2) und Gabriele Reuter (1921). Frauen, die gegen den Krieg agiert haben, erzählen ihr Leben zu didaktischem Zweck: Bertha von Suttner (1909) und Vera Brittain (1933). Frauen, die sich für Frauenrechte eingesetzt haben, beweisen anhand ihrer Erfahrungen, warum diese Rechte nötig sind: Malwida von Meysenbug (1869/76), Elisabeth Cady Stanton (1898), Helene Lange (1920), Emmeline Pankhurst (1935) und Charlotte Perkins Gilman (1935). Andere erzählen, wie sie dazu gekommen sind, Sozialistinnen zu werden: Lily Braun (1909/11), Beatrice Webb (1926), Emma Goldman (1931). In Deutschland erscheint, eingeleitet durch Adelheid Popps Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin (1909), eine Reihe Autobiographien von Arbeiterfrauen: Doris Viersbeck (1910), Maria Wegrainer (1914), Ottilie Baader (1921).
Das Persönliche entschwindet keineswegs aus diesen Autobiographien. Viele behandeln Schwierigkeiten mit Eltern, die nicht verstehen, daß eine Frau sich auch öffentlich betätigen möchte. Auffällig dagegen ist, daß nur wenige Differenzen mit ihren Männern eingestehen, obwohl man es manchmal ahnt. Ende des Jahrhunderts scheint das immer noch ein heikles Thema zu sein. Viele verschleiern die Schwierigkeiten, die sie hatten, von der Öffentlichkeit ernstgenommen zu werden. Manches wird verschwiegen - wie in Männerautobiographien - aber oft auf eine Weise, die Spuren einer anderen Geschichte ahnen lassen. Patricia Meyer Spacks hat das für viele englische und amerikanische Frauen im neunzehnten Jahrhundert festgestellt. Solche »Widersprüche« im Text lassen Zweifel an der Authentizität der Erzählung zu. Denn diese andere »Wahrheit« hat keine Erzählstimme im Text. Es wird meistens aus einer Erzählposition erzählt. Ein »Ich« versucht, sein Leben objektiv niederzuschreiben. Die Spannungen, die entstehen, lassen erkennen, daß diese Frauen sich nicht ohne Zwang integriert haben.
Dennoch experimentieren einige mit neuen Erzählweisen. Lu Märtens Torso (1909) wird in erlebter Rede erzählt. In Meine Kinderjahre (1905) erzählt Marie von Ebner-Eschenbach nicht chronologisch, sondern assoziativ. Der Einfluß der psychoanalytischen Bewegung läßt sich, allem Anschein nach, erst nach dem zweiten Weltkrieg erkennen: zum Beispiel bei Anais Nin und Marie Cardinal.
Zwischen den Kriegen wird weiter bewußt experimentiert. Mary Austin (1932) mischt »Ich«-, »Du«- und »sie«-Erzähler. Lou Andreas-Salomés Begriff vom Selbst als Individuum (1931/2) ähnelt dem der Bettine von Arnim. Sie erzählt lose verschiedene Begegnungen mit Menschen, durch die sie ihrem Selbst näher gekommen ist. Die Art von mystischem Urerlebnis mit dem Weltall kann man biographisch auf Spinozas Schriften zurückführen. Aber Salomé erzählt nicht, wie Arnim, in Briefen, die diesen Individualitätsbegriff Form gegeben hat. So radikal in der Form wie Arnim, ist vielleicht sonst nur Gertrude Stein gewesen.
1933 schreibt Gertrude Stein die Autobiographie ihrer Gefährtin Alice B. Toklas. Der Gefährtin erzählt sie, sie wolle Toklas' Autobiographie schreiben, »so einfach wie Defoe die Autobiographie von Robinson Crusoe erzählt hat« James E. Breslin: Gertrude Stein und the Problems of Autobiography, S. 152). Die veräußerte Erzählperspektive läßt wenig Psychologisches erscheinen. Stein interessiert sich, wie Picasso, für Flächen. Auch läßt die Erzählweise keinen Begriff für bürgerliche Identität aufkommen, da man oft nicht weiß, wer was meint. Der Stil ähnelt gelegentlich dem der Toklas, gelegentlich dem der Stein. Ein Kritiker hat behauptet, beide hätten daran gearbeitet (Richard Brigdman: Gertrude Stein in Pieces, S. 209-37). Ähnlich hat das lesbische Paar Anita Augspurg und Lida Gustava Heyman seine Autobiographie gemeinsam geschrieben (1941). Bei Stein wird auf eine Weise erzählt, daß von einer linearen Handlungsführung nicht die Rede sein kann. Gertrude Stein erscheint als Seiende.
In den Vereinigten Staaten läßt sich seit den 1960er Jahren ein Phänomen erkennen, das sich mit einer Erscheinung aus dem späten 19. Jahrhundert vergleichen läßt. Schwarze Frauen, die öffentliche Rollen spielen, beginnen ihre Autobiographien zu schreiben. Es gibt zwar schon im 19. Jahrhundert »Slave narratives«, und bereits 1942 veröffentlicht die Schriftstellerin Zora Neale Hurston ihre Autobiographie. Doch erst seit der Bürgerrechtsbewegung können wir von einer beträchtlichen Anzahl sprechen: die der Aktivistin Anne Moody (1968), der Sängerin Pearl Bailey (1968), der Dichterin Maya Angelou (1969, 1974), der Autorin Lorraine Hansberry (1969), der Politikerin Shirley Chishoim (1970), der Lyrikerin Nikki Giovanni (1971), der Lyrikerin Gwendolyn Brooks (1972), der Aktivistin Angela Davis (1974). Auch die Prostituierte Delle Brehan (1969), die »Mutter« Ossie Guffy (1971) und die Sekretärin Helen Jackson Lee (1978) schrieben Autobiographien. Ähnlich wie europäische Frauen am Ende des vorigen Jahrhunderts, die öffentliche Positionen errungen hatten, sehen sich diese Autorinnen nicht ausschließlich als Außenseiter - weder als Frau noch als Schwarze. Meistens schreiben sie auf eine Weise, die das bürgerliche Ideal der Identität nicht in Frage stellt. Sie erzählen chronologisch aus der Perspektive eines sich erinnernden Ich, das aber auch oft eine andere Wahrheit erkennen läßt.
Die Probleme, die die Gattung Autobiographie für schreibende Frauen aufwirft, sind in der theoretischen Diskussion bisher noch kaum berücksichtigt worden. So viel steht fest: Solange Frauen nicht in der Gesellschaft völlig integriert sind, werden sie immer mit subversiven und widersprüchigen Stimmen schreiben müssen. Es muß anders gedacht werden. Feststellen läßt sich allenfalls: Frauen schreiben nicht alle gleich, auch wenn sie gemeinsam eine ähnliche gesellschaftliche Position teilen, die dann doch oft eine andere Wahrheit als die herrschende erkennen läßt.