Die Französische Revolution hat die »égalité« / Gleichheit und die »liberté« / Freiheit auf ihre Fahne geschrieben, doch schon die dritte Farbe der Tricolore, die »fraternité« / Brüderlichkeit, verweist darauf, daß den Frauen nicht die gleiche Würde wie den Männern zukommt, infolgedessen auch nicht die gleichen Rechte. Die Bürgerinnen haben zwar aktiv für die Freiheit gekämpft, werden aber sowohl vom aktiven als auch passivem Wahlrecht in der Nationalversammlung ausgeschlossen. Olympe de Gouges, Autorin der berühmten Déclaration des droits de la Femme vom September 1791, fordert im Artikel 10 dieser Erklärung: »Die Frau hat das Recht, auf das Schafott zu steigen, sie soll gleichermaßen dasjenige haben, auf die Rednerbühne zu steigen.« Robespierre rechnet die kämpferischen Frauen zu seinen Gegnern, löst am 20. Oktober 1793 die von der Schauspielerin Claire Lacombe geführte Société des Femmes Républicaines Révolutionnaires auf, nimmt den Frauen das Recht auf Versammlungsfreiheit. Während sich die Frauen nach der Französischen Revolution in ihrer Hoffnung auf politische Gleichberechtigung schmerzlich enttäuscht sahen, wurden ihnen im privatrechtlichen Bereich Zugeständnisse gemacht. Die Benachteiligungen in der Erbfolge wurden aufgehoben, das Recht auf Zeugenschaft wurde ihnen zugestanden (8. und 15. Aug. 1791), die Ehescheidung bei wechselseitigem Einverständnis oder auf begründetem Verlangen eines Ehepartners wurde möglich (20. Sept. 1792). Während der Code Civil an dem Scheidungsrecht festhielt, jedoch die Durchführung erschwerte, wurde es mit der Restauration nach einem knappen Vierteljahrhundert wieder abgeschafft und erst mit dem Gesetz vom 27.Juli 1884 wieder eingeführt. - Die Frage des Scheidungsrechts ist gerade für die Entfaltungsmöglichkeit der Frau insofern von Bedeutung, als die Ehe dem Mann in fast allen wichtigen Fragen alleiniges Entscheidungsrecht zugestand. Trotz der proklamierten Gleichheit aller Bürger zielen die Gesetze des Code Ci»vil darauf ab, die patriarchalische Herrschaft des Mannes als Vater und Ehemann in der Familie zu sichern. Die Frau wechselt mit der Heirat nur den Herrn, an die Stelle des pater familias tritt der Ehemann, der nun seinerseits über die Lebensführung der Frau wacht, ihren Wohnsitz bestimmt, ihre Korrespondenz überwachen darf, die Alleinverwaltung ihrer Güter übernimmt etc. Der Grand Dictionnaire Universel von Pierre Larousse (1865-1876) feiert zwar die von der Französischen Revolution proklamierte Gleichheit der Geschlechter, die im Code Civil festgelegten rechtlichen Errungenschaften der Frau, er konstatiert jedoch auch - ohne einen Anflug von Irritation ob des Widerspruchs zum Gleichheitsprinzip - daß diese Gleichheit in der Ehe aufhöre. Der für die Frau günstigste Familienstand - vor allem nach dem Jahr 1816, das die Scheidung verbot - wäre der Witwenstand, da er die Frau sowohl von der Autorität des Vaters als auch von der des Ehemannes befreite, er ihr grundsätzlich eine Lebensführung nach eigener Wahl erlauben würde. Daß Witwenschaft und Ehelosigkeit dennoch nicht unbedingt als die große Befreiung von den meisten Frauen betrachtet wird, liegt nur in geringem Maße an einer emotionalen Bindung, an einer Liebe für den einen Einzigen, sondern an den patriarchalischen ökonomischen Verhältnissen. Da das Bürgertum, das sich im Zuge der Industrialisierung ökonomische und später politische Macht erkämpft hat, die bürgerliche Frau vom Produktionsprozeß, d.h. von der Macht ausschließt, da nur der Mann ihr ökonomische Sicherheit bieten kann, muß die Frau an der Ehe als an einem Tauschgeschäft interessiert sein. Der Preis für die in der Ehe vertraglich zugesicherte materielle Versorgung ist die Unterwerfung unter ein männliches Tugendideal: das der »züchtigen Hausfrau«, die »drinnen« im beschränkten Umkreis des häuslichen Herdes - abgeschnitten vom öffentlichen Leben - »waltet«, legale Kinder gebiert und aufzieht. Eheliche Treue gehört zur Vertragspflicht der Frau, da nur sie die legale Nachkommenschaft garantiert. Anders als der Mann muß die Frau mit ihrer Sexualität rationell umgehen, darf sie sie nur als Gegenwert für das Eheversprechen einsetzen, andernfalls verlöre sie an Kaufkraft, an Anreiz zur Ehe. Die aristokratische Konvenienzehe unterscheidet sich von der bürgerlichen hauptsächlich darin, daß in ihr die Sexualität kaum eine Rolle spielt, sie vor allem der Verbindung gleichrangiger Namen und natürlich auch einer reinen Erbfolge dient. - Sowohl Bürgertum als auch Aristokratie verhindern schon durch eine entsprechende Ausbildung und Erziehung, daß die Frau den Weg finanzieller Unabhängigkeit durch einen Beruf anstrebt. Zwar verbietet nicht das Gesetz der Frau das Erlernen eines Berufes, jedoch die Familienehre. Und obwohl die Manufakturarbeiterin im 19.Jahrhundert schon eine weit verbreitete Erscheinung ist, konstatiert auch hier der Larousse in seinem Artikel »Ouvrier« / Arbeiter von 1874, daß die Manufakturarbeit der Frau »eine ungesunde Konkurrenz zwischen Gattin und Gatten schaffe«, »Moral und Hygiene gegen die Beschäftigung von Frauen in den Werkstätten spreche«, hält er gegen die Argumente der »Philanthropen« daran fest, daß die »Frau als Mutter und Tochter zu Hause arbeiten solle«. Offensichtlich verfehlt die Frau, die aus Not oder Neigung im beruflichen Leben integriert ist, ihre Bestimmung als Frau. Den eingeschränkten Bildungs- und Berufsmöglichkeiten der Frau entspricht eine Moral, die die Frau - anders als den Mann - auch in ihrer erotischen Sinnlichkeit, Körperlichkeit unterdrückt. Das 19.Jahrhundert hat in seinem Verlauf eine immer rigidere Sexualmoral für die Frau, eine Doppelmoral für den Mann entwickelt. Da nun gerade die weibliche Sexualität innerhalb der patriarchalisch organisierten Gesellschaft in die gewöhnlich lustfeindliche Institution der Konvenienzehe verbannt wird, hat die Opposition der Frauen um die Jahrhundertwende gegen diese rigide Sexualmoral auch einen emanzipatorischen Impetus. Daß andererseits erotische Libertinage noch keine geglückte Emanzipation verbürgt, sie auch andere Formen der Unfreiheit bergen kann, ist evident.
Als ein Beispiel für die komplexe Problematik weiblicher Emanzipation stellen sich die Biographie und das Werk der Franziska zu Reventlow dar, der lebenshungrigen, sinnlich-erotischen Gräfin, die eine strenge, ja diktatorische Erziehung genießt, nur heimlich die damals modernen Autoren wie Lassalle, Bebel, Ibsen, Zola etc. lesen kann und deren Wunsch, unter fachlicher Anleitung gründliche Malereistudien zu betreiben, auf den erbitterten Widerstand der Eltern stößt. Nur um der Enge des Elternhauses zu entkommen und um finanziell unabhängig zu werden, setzt sie es durch, ein Lehrerinnenseminar zu besuchen. Lehrerin, Gouvernante, Pflegerin, so sieht im Allgemeinen das Spektrum der beruflichen Möglichkeiten der »gebildeten Schicht« aus. Franziska zu Reventlow hat keinen pädagogischen Eros, sieht in dem Lehrerinnenberuf nur einen Weg, der familiären Tyrannei und der drohenden Konvenienzehe zu entkommen. Was ihre Romanfigur Ellen Olestjerne aus dem gleichnamigen autobiographischen Roman (1903) äußert, als sie auf viele Bälle geschickt wird, um vielleicht »doch mal jemand zum Heiraten zu finden«, entspricht ihrem eigenen Verhalten: »Momentan ist hier das ganze Haus voll von Offizieren zur Jagd. Ich halte ihnen Reden über Ibsen und moderne Ideen [...] Die werden sich schwer hüten, mich zu heiraten. Überhaupt macht es mir furchtbaren Spaß, die Leute vor den Kopf zu stoßen, besonders diese aristokratische Bande« (S. 85). Am Tag ihrer Mündigkeit, dem 18. Mai 1892, flieht die Reventlow nach Wandsbeck zu einer befreundeten Familie des »Ibsen-Clubs«, eines intellektuellen Zirkels, der u. a. auch Ideen weiblicher Emanzipation diskutiert. Ihre Familie wird ihr diesen Schritt nie verzeihen, versagt ihr auch in der Notjede Hilfe, verweigert sogar den Abschied vom sterbenden Vater. An der psychischen und ökonomischen Strafe läßt sich das Ausmaß der Provokation ablesen, die eben der Ausbruch aus dem Paradigma weiblicher LebensgestAung - im Sinne des Patriarchats - bedeutet. Im Ibsen-Club lernt sie den Gerichtsassessor Walter Lübke kennen, der viel Verständnis für ihre künstlerischen Ambitionen zeigt, sich mit ihr verlobt, ohne daß sie konkreter an eine Ehe mit ihren Implikationen dächte. In München - Lübke finanziert den einjährigen Aufenthalt - nutzt die Reventlow nicht nur ihre Chance, unter fachlicher Anleitung intensiv ihre Kunststudien zu betreiben, sie genießt in vollen Zügen die neue Freiheit, ist hingerissen von dem unkonventionellen Leben der Künstlerbohéme Diskussionen bis zum frühen Morgen, improvisierte Imbisse, turbulente Maskenbälle, ungeplante nächtliche Escapaden etc. und dann wieder das aufreibende Mühen, in der Kunst weiterzukommen. Die Gräfin, deren Lebensweise sowohl den Verhaltensnonnen der eigenen aristokratischen Kaste als auch den Erwartungen der »guten Gesellschaft« überhaupt widerspricht, vergoldet in ihren autobiographischen Schriften und Romanen keineswegs ihre Erfahrungen: dem Rausch der Feste, der augenblickserfüllten Impromtus folgt die nervende Suche nach ein bißchen Geld für eine Mahlzeit, die rückständige Miete, Malutensilien. Freiheit ist ihre Devise, und das bedeutet für sie, der Spontaneität ihrer Einfälle und Wünsche - ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Normen, Vernunftgründe, moralische Vorstellungen - zu folgen, ihre Sinnlichkeit auszuleben, ihren Leidenschaften sich hinzugeben - auch auf Kosten der Gesundheit, des guten Rufes, friedlicher Geborgenheit. Als Neunzehnjährige schreibt sie an ihren Freund: »[...] von jungen Mädchen findet man's entsetzlich, wenn sie ein Selbst sein wollen, sie dürfen überhaupt nichts sein, im besten Fall eine Wohnstubendekoration oder ein brauchbares Haustier, von tausend lächerlichen Vorurteilen eingeengt. Die geistige Ausbildung wird vollständig vernachlässigt, schändlich ist's, daß man in ihrer Erziehung und Iebensweise immer versucht, ihre Sinnlichkeit zu reizen, um sie zu verheiraten, >damit sie ihren Beruf erfüllen< - und dann vollständig im Haushalt und dergleichen versumpfen. [...] Ich will und muß einmal frei sein, es liegt nun einmal tief in meiner Natur, dies maßlose Sehnen und Streben nach Freiheit. Die kleinste Fessel, die andere gar nicht als solche ansehen, drückt mich unerträglich, unaushaltbar muß ich mich nicht freimachen, muß ich mein Selbst nicht retten - ich weiß, daß ich sonst daran zugrunde gehe«.
Eine besondere Wertschätzung der Ehe spricht nicht aus diesen Zeilen; dennoch heiratet sie 1894 Walter Lühke, ist ihm ein ganzes Jahr lang eine gute Lebensgefährtin in Hamburg, geht dann wieder nach München, um ihre Malereistudien weiterzuffihren und genießt aufs Neue das turbulente Leben der Künstler-Boh~me. Sie liebt ihren Mann, aber sie fühlt sich zugleich von den erotischen Reizen verschiedener Männer angesprochen; und da sie moralische Bedenken nicht kennt / anerkennt, kostet sie den Sinnenrausch einer Episode wie die Fieberkurven einer Leidenschaft aus. Ihre Protagonistin Ellen Olestjerne erfährt die Liebe als eine »blinde, wütende Sturinflut, die alle Dämme niederbrach, und da gab es kein Fragen mehr, kein Überlegen, was mit fortgerissen und was gerettet werden konnte« (S. 172). Auch Franziska zu Reventlow fragt nicht nach den Konsequenzen, wenn sie sich der »Sturmflut« ihrer erotischen Begierden überläßt, sie wägt nicht das Für und Wider ab, teilt ihre Gunst nicht nach sicheren Zukunftsperspektiven aus, sondern sie empfindet den Eros als Selbstzweck, der Mann und Frau das lustvolle Gefühl ihrer Körperlichkeit beschert. Und darin liegt auch das emanzipatorische Moment ihrer libertinen Lebenskonzeption: sie bejaht die Sexualität der Frau, und das heißt zu ihrer Zeit, sie fordert gegenüber einer repressiven Gesellschaft, die die Frau einerseits zum niedrigen Lustobjekt degradiert, sie andererseits zur hehren Gattin und Mutter stilisiert, die rein ist von der Verderbnis sexueller Wollust, das Recht auf ein undiskriminiertes Sexualleben der Frau. Das Oeuwe ihres literarischen Zeitgenossen Arthur Schnitzler, das immer wieder kritisch die männliche Doppelmoral ausstellt, die das »gefallene Mädchen«, die Frau mit sexueller »Vergangenheit« diffamiert, gleichzeitig die zahlreichen sexuellen Erfahrungen des Mannes als »fesch«, weltmännischsouverain taxiert, demonstriert die Brisanz dieses Postulats. Die Gräfin liebt die flüchtigen Amouren ebenso wie die grande Passion, sie kennt kein Nacheinander, empfindet mehrere Lieben auf einmal, und nimmt en passant noch erotische Aventuren mit. In ihrem Tagebuch (16. Okt. 1905) notiert sie: »Fühle mich ganz als ich selbst, wenn alles durcheinandergleitet, Wehmut, tiefe Liebe und frivole Oberflächlichkeiten.« In ihrem erotischen Briefroman Von Paul zu Pedro - Amouresken (1912), in dem sie eine Galerie verschiedener Liebhabertypen ironisch witzig portraitiert, schöpft sie aus ihrem eigenen reichen Erfahrungsschatz. Stärker als in ihrem Erstling Ellen Olestjerne entfaltet sie hier ihr Talent zur Satire und distanzierter Beobachtungsgabe. Das gilt auch für den ein Jahr später erschienenen Schwabingroman Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, in dem sie wiederum ihre eigenen Erlebnisse in dem Kreis um Klages, Wolfskehl, George geistreich aufs Korn nimmt. So erfrischend ihr Freimut ist, ihre sexuellen Abenteuer nicht mit der Aura hehrer Empfindung moralisch zu polieren, so problematisch bleibt doch ihr Versuch, das schrankenlose Ausleben der Sexualität schon als geglückte weibliche Emanzipation darzustellen. Obwohl ihr von Finanznöten bestimmtes Leben das aristokratische Privileg luxuriösen Müßiggangs keineswegs kennt, sie die eigene Klasse als »Aristokratenbande« verachtet, entwickelt sie doch aristokratische Vorstellungen einer erstrebenswerten weiblichen Existenzform. In ihrem programmatischen Aufsatz Viragines oder Hetären (1899), der sich polemisch gegen die Ziele der damaligen Feministinnen / Viragines richtet, definiert sie die Frau als »Luxusobjekt in des Wortes schönster Bedeutung, das Schutz, Pflege und günstige Lebensbedingungen braucht«, für den Kampf ums Dasein nicht geschaffen ist und das seine Zeit damit ausfüllen soll, »Männer zu lieben, Kinder zu bauen und an allen erfreulichen Dingen der Welt teilzunehmen«. Und folgerichtig fordert sie eine Frauenbewegung, die »die Frau als Geschlechtswesen befreit«, »die uns das Hetärentum wiederbringt« (Autobiographisches, S. 478). Das Postulat freier Liebe teilt sie mit Ida Hofmann-Oedenkoven, die zu den Monte-Verità-Bewohnern gehört, einer Gruppe, die eine alternative Lebenskultur proklamiert, eine gesunde, mehr vegetarische Ernährung, körperfreundliebe Kleidung bzw. nacktes Sonnenbaden, Freiluftarbeit, Freilufttanz etc., kurz ein Leben im Einklang mit der inneren und äußeren Natur, das eine nicht institutionalisierte Sexualpraxis einschließt. Während Ida Hofmann in ihren Schriften Monte Verità Wahrheit ohne Dichtung (1906) außer der freien Liebe jedoch auch Chancengleichheit der Bildung, Berufstätigkeit der Frau fordert - ähnlich wie Sibilla Aleramo in ihrem autobiographischem Roman Una donna von 1906 - ein politisches Konzept sozialen Zusammenlebens entwickelt, bleibt Franziska zu Reventlows Emanzipationsentwurf in mancher Hinsicht traditionellen Denkmustern verhaftet. Sie fordert zwar die »freie Verfügung über seinen Körper« (Autobiographisches, S. 479), freie Sexualität, teilt aber letztlich der Frau eine Drohnenexistenz zu, die diese weiterhin vom politischen und öffentlichen Leben, von Selbstbestimmung, im umfassenden Sinne von Eigenverantwortung, freier Berufswahl, ökonomischer Unabhängigkeit ausschließt. Im Grunde reproduziert sie die Denkmuster über eine Geschlechterpolarität, die dem Mann Aktivität, Aggressivität, Genialität, der Frau dagegen Passivität, Hingabefähigkeit, einen künstlerischen Sinn, der nur im »Sichhineinleben, Nachempfinden« besteht (S. 477), zuschreiben. Obwohl sie selbst für sich und ihren Sohn, dessen Vater sie - wie manche Feministinnen heute - nur die Erzeugerrolle zuweist, mühsam durch Ubersetzungen vor allem den Lebensunterhalt verdient, sie als Schriftstellerin die künstlerische Produktivität der Frau beweist, feiert sie das fragile Luxusgeschöpf mit erotischer Begabung als Frauenideal. Ihre Ehe, die ihr materielle Sicherheit gegeben hätte, wird nach einem Jahr geschieden, da Lübke die erotische Libertinage der Gräfin nicht erträgt. Zwar träumt die Reventlow immer wieder von einem charmanten Mann, der sie finanziert und ihr alle sexuellen Freiheiten läßt, zwar geht sie mehrere solcher Liaisons mit >Finanzhintergrund< ein, aber ihr Unabhängigkeitsdrang ist größer als ihr Wunsch, umhegtes »Luxusobjekt« eines Mannes zu sein.
Der Widerspruch, der das Leben der Franziska zu Reventlow prägt, ein Unabhängigkeitsstreben, das die Fesseln der Ehe scheut, und ein Sehnen nach Geborgenheit und finanzieller Sorglosigkeit, ist symptomatisch für eine ganze Reihe von Schriftstellerinnen um die Jahrhundertwende. Colette hat diesen Konflikt in ihrem Roman La Vagabonde von 1910 thematisiert, in dem sie u.a. ihre eigenen Erfahrungen mit ihrem ersten Mann Willy verarbeitet, sie die Anfechtungen ihrer nach der Scheidung allein lebenden Protagonistin Renée, einer Schauspielerin, durch die Werbung eines liebenswürdigen und finanziell potenten Mannes darstellt. Renée entscheidet sich trotz mancher Katerstimmung, die das Alleinsein, die ständige Sorge um die Existenz, das Leben aus dem Koffer auf Tourneen etc. mit sich bringt, gegen eine neue Ehe, auch gegen eine emotionale Bindung, die sie neuen Demütigungen, einer neuen Abhängigkeit aussetzen könnte. Obwohl Colette selbst sich dreimal verheiratete, setzt sie sich in ihrem Werk immer wieder kritisch mit den patriarchalischen Strukturen der damaligen Ehe auseinander, die vor allem die unerfahrene junge Frau - ohne eigene Existenzgrundlage - zu entmündigen sucht. Auch ihr Roman Claudine s’en va / Claudine geht von 1901 beschreibt aus der Perspektive der zunächst naiv gefügigen Annie, die demütig den Weisungen ihres unantastbaren Mentors und Ehemanns Alain folgt, den Selbstfindungsprozeß der Protagonistin, der mit wachsender Kritik an dem unfehlbaren Idol Alain einhergeht und mit der Flucht aus diesem goldenen Ehekäfig endet. Daß Colette mehrfach das Risiko Ehe eingeht, liegt wohl einerseits an ihrer ökonomischen Unabhängigkeit, die sie sich durch ihre Schauspielkunst, aber vor allem durch ihre literarische Produktion geschaffen hat, andererseits zeigt sich darin auch ihr Wunsch nach emotionaler Geborgenheit.
Während die Reventlow entgegen ihrem Ideal meistens mehr schlecht als recht ihr Leben und das ihres vaterlosen Wunschkindes selbst finanziert, gehen andere Schriftstellerinnen entgegen ihrem Ideal von Gleichberechtigung und Unabhängigkeit eine Konvenienzehe ein, die sie nicht nur finanziell wieder von ihrem Mann abhängig werden läßt. Liest man den Lebensrückblick (aus dem Nachlaß 1951) der Lou Andreas-Salomé, die Mémoires (1928) der Elisabeth de Gramont, verheiratete Clermont-Tonnerre, Le Livre de ma vie (1932) der Anna de Noailles, so fällt auf daß diese Autorinnen, die sich kritisch über die Institution Ehe äußern, ihre Heirat in den Autobiographien gleichsam nur im Nebensatz erwähnen. Die eine Generation später geborene Anais Nin trieb in ihrem umfangreichen Tagebuchwerk, das minutiöse Portraits der Freunde Miller, Artaud etc. zeichnet, psychoanalytische Sitzungen bei Allendy und Rank notiert, ihre Verschwiegenheit so weit, daß sie den Gatten verbal aus dem Leben streicht. Nin, die aufgrund einer edelpornographischen Auftragsarbeit Delta of Venus/ Das Delta der Venus den Ruf einer erotischen Schriftstellerin genießt, spart in ihren Tagebüchern die eigene Sexualität so gründlich aus, daß man ihre Schwangerschaft als Werk des Heiligen Geistes und nicht als das ihres Mannes betrachten muß. Einige Kritiker hielten dann irrigerweise, aber verständlich - ihren Vater für den Erzeuger des Kindes.
Befremdlich und unerwartet erscheint die Heirat der Lou Andreas-Salomé, die schon als junges Mädchen einen ausgeprägten Unabhängigkeitssinn entwickelt und ohne Zögern die Heiratsanträge von ihr geliebter / geschätzter Männer wie Henrik Gillot, Paul Rée und Nietzsche ablehnt, dann überraschend EC. Andreas, Professor für Iranistik, heiratet. Im Gegensatz zu der Libertine F zu Reventlow setzt die Salomé einen äußerst unkonventionellen freien Lebensstil durch, der erotisch sexuelle Beziehungen gerade ausschließt. Als sie 1882 in Rom bei Malwida von Meysenbug, einer engagierten Republikanerin, deren Memoiren einer Idealistin zu der Zeit in dritter Auflage erscheinen, den Philosophen und späteren Arzt Paul Rée kennenlernt, weist sie zwar seinen Heiratsantrag zurück, will aber dem schönen Beisammensein mit ihm durch eine Art Wohngemeinschaft Dauer verleihen. Auch Nietzsche, dessen Bekanntschaft Rée vermittelt, wird in den Plan einbezogen, verliebt sich programmwidrig in Lou und läßt ihr durch Rée einen Heiratsantrag übermitteln.
Sorgenvoll überlegten wir, wie das am besten beizulegen sei, ohne unsere Dreieinigkeit zu gefährden. Es wurde beschlossen, Nietzsche vor allem meine grundsätzliche Abneigung gegen alle Ehe überhaupt klarzulegen, außerdem aber auch den Umstand, daß ich nur von der Generalpension meiner Mutter lebe und überdies durch Verheiratung meiner eigenen kleinen Pension verlustig gehe, die einzigen Töchtern des russischen Adels bewilligt war. (S.80)
So erstaunlich es ist, Lou Andreas Salome verwirklicht ihren »den geltenden gesellschaftlichen Sitten von damals hohnsprechenden Plan« (S. 76) weitgehend. Zwar scheitert die Gemeinschaft der »Dreieinigkeit« letztlich wohl vor allem an Nietzsches Eifersucht, doch Lous »fast fünfjähriges Beisammenleben« mit Rée wurde »geradezu verblüffend« einem »Traumbilde« gleich, das sie eines nachts hatte:
Da erblickte ich nämlich eine angenehme Arbeitsstube voller Bücher und Blumen, flankiert von zwei Schlafstuben und, zwischen uns hin und her gehend, Arbeitskameraden, zu heiterem und ernsten Kreis geschlossen. (S.76)
Lou Andreas Salomé, die schon als junges Mädchen bei Gillot, dem damals angesehensten protestantisch-unorthodoxen Kanzelredner Petersburgs, religionswissenschaftliche und philosophische Studien betrieb, 1894 ein Buch über Nietzsches Philosophie, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, veröffentlichte, entspricht in ihrem »total entriegeltem Freiheitsdrang« (S. 76) keineswegs dem Hetärenideal der Reventlow, sie scheint in sexueller Hinsicht ein weitgehend asketisches Leben geführt zu haben, sucht vor allem die Freundschaft und das intellektuelle Gespräch der Männer. Ihre Beziehung zu FC. Andreas bildet da keine Ausnahme, sie kennzeichnet Ernst Pfeiffer, der Herausgeber des Lebensrückblicks und Freund, in seinem Kommentar als eine »das Leibliche ausschließende Vermählung« (S. 290). Die Motive dieser Heirat, die sie in einem Nachtrag zum Lebensrückblick Was am »Grundrriß« fehlt (1933) - in einer behutsamen Sprache, die plakative Begriffe meidet, sich tastend dem Komplizierten nähert, andeutet, diese Motive erschließen sich nur einer nuancierten literatur-psychologischen Analyse.
Es ist charakteristisch für Lou Andreas Salome, die später bei Freud studierte, daß ihr Lebensrückblick immer auf das Bedeutende zielt, auf das Symptomatische, das von zufälliger Individualerfahrung absieht. Ihre Biographie stellt nicht ein Potpourri von Erlebnissen, Eindrücken, Ansichten dar, sie selektiert stark, reflektiert Schlüsselerlebnisse, den plötzlichen Verlust ihres vorher selbstverständlichen Gottesglaubens, das erste »Liebeserleben« mit Henrik Gillot, dem wahlverwandten Freund und Lehrer, der gleichsam an die Stelle des verständnisvollen Vatergottes tritt und dessen Heiratswunsch sie erschrocken als unerwarteten Anspruch an ihre Existenz ablehnt. Sie schildert die Prägung durch die Familie, durch die fünf älteren Brüder, die ihre vertrauensvolle, freundliche Grundeinstellung zu den Männern mitbedingt, durch Rußland, das sie als Heimat empfindet, obwohl sie Deutsch als Muttersprache betrachtet. Wenn sie von Persönlichkeiten allgemeinen Interesses wie Rée, Nietzsche, Rilke oder Freud spricht, meidet sie jede intime Plauderei, rückt sich nicht in den Vordergrund, sondern sucht vielmehr, die Person in ihrer Komplexität vorzustellen. Auch das Portrait ihres Mannes zeigt mehr das Bild einer genialischen Forscherpersönlichkeit, die zwischen akribischem Wissenschaftsanspruch und intuitiver Erkenntnis nicht zu vermitteln vermag, es spart Einblicke in die private Beziehung weitgehend aus. Ähnlich verfährt Lous Andreas Salomé auch in ihren Rilke-Kapiteln, die wiederum stärker die Problematik der dichterischen Selbstfindung Rilkes analysieren, als daß sie die emotional individuellen Erfahrungen der Autorin mit dem Geliebten beschreiben.
Daß die mehr an Freundschaft und Gedankenaustausch interessierte Salomé mit Rilke die Liebe auch sinnlich-erotisch erlebt hat, er ihr »das erstmalig Wirkliche gewesen«, »Leib und Mensch ununterscheidbar eins, unbezweifelhafter Tatbestand des Lebens selbst« (S. 138), ist insofern von Bedeutung, als ihr nach den »vorausgegangenen Kämpfe[n] und Krämpfe[nj« »dann die Liebe unter einer großen Stille und Selbstverständlichkeit begegnete«. »Nicht nur ohne Trotz- oder gar Schuldgefühle, sondern so, wie Gesegnetes begegnet, durch das die Welt vollkommen wird« (S. 211). In dieser Selbstverständlichkeit des Gefühls, das konventionelle Moralvorstellungen hinter sich läßt, zeigt sich die Freiheit eines Lebensentwurfs, der alle fremden Maßstäbe von sich weist. So wie ihre Wohngemeinschaft mit Paul Rée, ihre Reisen mit Freunden einen Affront gegen die herrschende Norm darstellen, ohne daß Salomé diesen Affront beabsichtigt, verletzt auch die Liebesbeziehung zu Rilke, mit dem sie u. a. viele Wochen in Rußland verbringt, die Vorstellungen von ehelicher Treue, weiblichem »Anstand«; doch in der Weise, wie sie diese Liebesbeziehung lebt - ohne Heuchelei und ohne Demonstration - beweist Salomé gerade die Treue zu sich selbst, ihre in sich ruhende Persönlichkeit. Die erotische Emanzipation vollzieht sich bei ihr - anders als bei der Reventlow - ohne Eklat, ist einer libertinen Lebenskonzeption gerade konträr.
In ihrem fiktionalen literarischen Werk, das ebenso wie ihre Studien bzw. Portraits über Nietzsche, Rilke, Ibsen, Freud von nuanciertem psychologischen Verständnis zeugt, verarbeitet sie ihre eigenen Erfahrungen, löst sie sich jedoch zugleich von ihrem biographischen Vorwurf. So fließen z.B. in ihre Erzählungen Im Zwischenland. Fünf Geschichten aus dem Seelenleben halbwüchsiger Mädchen (1902), Die Stunde ohne Gott und andere Kindergeschichten (1922) eigene Kindheitserlebnisse ein, die durch die poetische Komposition eine starke Stilisierung erfahren. Wie sehr die Salomé sich von einer autobiographischen Schreibweise entfernt, zeigt die Erzählung Fenitschka (1898): Protagonistin ist zwar die weibliche Titelfigur Fenitschka, eine Moskoviterin, die in der Schweiz Geisteswissenschaften studiert und auch promoviert, doch erzählt wird aus der männlichen Perspektive des promovierten Psychologen Max Werner, der zunächst von der selbstverständlichen, offenen Haltung der russischen Intellektuellen irritiert ist, ihre Geistigkeit und stilisierte Einfachheit als keusche Maske deutet, hinter der sich Sinnenglut, ja Frivolität verbirgt. Daß Fenitschka, die Werner zufällig nachmitternächtlich bei einem Besuch des Pariser Hallenviertels im Bekanntenkreis kennenlernt, arglos seinen Vorschlag annimmt, in seiner Pension den von ihr begehrten Kaffe zu trinken, interpretiert er - fälschlicherweise - als verbrämte Avance. Sein erotischer Überfall stößt auf Befremden, auf ein Bedauern zunächst, da das spontane Einverständnis im Gespräch nun gestört ist, auf Verachtung, als ihre dezente Abwehr bei ihm sexuelle Aggression hervorruft. Man trennt sich schließlich im wechselseitigen Eingeständnis der Schuld. Werners Anklage seiner »wahnsinnigen Dummheit«, seiner Bitte um Verzeihung begegnet Fenitschka mit der Selbstkritik ihrer Naivität. Fenitschka verkörpert eine unverkrampft emanzipierte Frau, der das Studium nicht nur »Wissen, sondern ein Stück Leben voll von Gemütsbewegungen«, Freiheit erobert hat, die sich nicht um die Vorurteile und Konventionen der Gesellschaft kümmert und die im Mann zunächst nicht das Geschlechtswesen, sondern eine Art Bruder sieht. Indem Salomé sie in ihrer Wirkung auf den z.T. in Weiblichkeitsclichés befangenen Werner darstellt, verdeutlicht sie die Besonderheit Fenitschkas, ihren femininen Avantgardismus, der Mißverständnisse hervorruft. Als Werner ein Jahr später Fenitschka in Rußland wiedertrifft, ihre Freundschaft gewinnt, hat sich nun in ihm das Bild der keuschen, vergeistigten Frau gefestigt, und er muß entdecken, daß sie einen Geliebten hat. Kritisch reflektiert er seine grobe Fixierung ihres Wesens, die schematisierende Sicht, die Schwierigkeit, »die Frauen in ihrer rein menschlichen Mannigfaltigkeit aufzufassen und nicht immer nur von der Geschlechtsnatur aus« (S. 36). Fenitschka, für die Liebe »Frieden« bedeutet, die darunter leidet, daß sie ihre Liebe aus Rücksicht auf die Verwandten verheimlichen muß, die sich empört, daß den Frauen die Heimlichkeit einfach aufgezwungen wird, trägt viele Züge der Autorin, wird zum Sprachrohr ihrer Auffassungen über Studium, Liebe, Ehe, Konventionen, dennoch ist ihre Geschichte nicht die der Autorin. Als der Geliebte, dem die kurzen Treffen nicht genügen, der alle Stunden in »anregender und geistig fördernder Weise« mit ihr verbringen will, ihr einen Heiratsantrag macht, ist sie darüber - wiederum zur großen Irritation Werners - entsetzt, sieht in dem Antrag einen Angriff auf ihre Freiheit, auf ihr Ziel, ein eigenverantwortliches Berufsleben zu führen. Die Vorstellung von »Heim, Familie, Hausfrau, Kinder« ist ist absolut fremd. »Liebe und Ehe ist eben nicht dasselbe« (S. 56). Ohne daß der Geliebte es weiß, ist ihr Abschied von ihm ein endgültiger. Es ist selten, daß Autorinnen eine männliche Erzählperspektive wählen, hier zeugt sie nicht nur von der Fähigkeit der psychologisch geschulten Salomé, sich in fremde Bewußtseinshorizonte einzufühlen, sie hat auch die Funktion, die immer neuen Irritationen bewußt zu machen, die dieser freie weibliche Existenzentwurf auch bei einem intellektuellen Mann hervorruft. Daß eine Frau die Ehe nicht als Hort der Geborgenheit, sondern als Fessel betrachten könnte, die sie in ihren intellektuellen und beruflichen Möglichkeiten einschränkt, verletzt nicht nur das männliche Selbstgefühl des Protagonisten. Auch Adine, die Protagonistin der Erzählung Eine Ausschweifung (1898), entscheidet sich für ihre Künstlerlaufbahn gegen die Heirat mit dem vertrauten, sie liebenden Mann. Sowohl Salomé als auch Colette thematisieren in ihren Werken immer wieder den Konflikt, in den eine Heirat die wissenschaftlich oder künstlerisch engagierte Frau stürzen wird. Deutlich läßt sich daran die Rigidität eines geschlechtsspezifisch begründeten Rollendualismus ablesen, der auch in aufgeklärten Kreisen noch um die Jahrhundertwende der verheirateten Frau die häusliche Domäne zuteilt.
Ähnlich wie Lou Andreas Salomé versteht sich auch Elisabeth de Gramont als gleichrangige intellektuelle Partnerin der Männer, sucht sie vor allem das anregende Gespräch - sie war mit Proust und dem Comte de Montesquiou befreundet, und in ihrem Salon verkehrten bedeutende Schriftsteller und Künstler. In ihren Mémoires - Au temps des équipages, Les marronniers en fleurs, Clair de lune et taxi-auto, La Troizième heure bezeichnet sie sich als »bildungshungrige junge Frau«, die sich lieber mit Literatur, Malerei und Sprachstudien beschäftigt, als die Heiratsbörse der Bälle, Pflichtveranstaltungen für junge Damen aus gutem Hause, zu besuchen. Kritisch beschreibt sie in den Memoiren, deren einzelne Kapitel wie bei der Salomé - thematisch geordnet sind, die beschränkten Lebensmöglichkeiten höherer Töchter, ihre Erziehung zur Unselbständigkeit bzw. zur Abhängigkeit vom künfügen Ehemann, den im Normalfall die Familie / der Vater ihnen zudachte; mit polemischem Witz skizziert sie das steife Ritual der Bälle, die faden Unterhaltungen - stupide Theaterstücke, alberne Melodien - die widerliche »Graue Maus«-Mode, kurz, die tristen Verhältnisse, denen aristokratische Mädchen ausgesetzt waren. Das »Leben dieser jungen Mädchen war so wenig angenehm, daß sie alle zur Heirat drängten wie eine Schafherde zur Stalltür, wenn man sie morgens halb öffnet« (Mémoires 1, S. 147). Daß sie mit der Heirat vom Regen in die Traufe kommen, der Ehemann in der Regel einen »mehr oder weniger grausamen Gefängniswächter« darstellt, daran läßt Elisabeth de Gramont keinen Zweifel. »In der damaligen Zeit«, klagt sie an, »war die französische Frau auf eine unwahrscheinliche Weise ihrem Mann unterworfen, hatte sie doch weder das Recht, über ihre Zeit zu verfügen, noch über ihre Meinungen, noch über ihr Geld« (1, S. 147). Einige der Anekdoten, welche die Duchesse anführt, veranschaulichen die Misere der Frau: Als eine Gattin ihren Gatten respektvoll um Briefmarken bat, antwortet dieser: »Ich habe dir doch schon gestern welche gegeben.« Als ihre Cousine de Gramont d'Aster von ihren Eltern einmal in die Oper eingeladen wurde, wandte sie sich, obwohl bereits in Ehren ergraut, zu ihrem Gatten: »Erlauben Sie es mir, Antoine?« Als Resultat dieser Unterdrückung konstatiert Elisabeth »eine völlige Unfähigkeit, sich mit den Realitäten des Lebens zu beschäftigen.« Selbst im Fahrplan nachzuschauen, war Männersache. Da die Männer meistens nur auf Druck der Familie heirateten, waren sie höchst »mittelmäßige Gatten«. Ein Beispiel: »M. de C. läßt seinen Sohn kommen und sagt ihm: Die Weltreise oder die Heirat mit Mlle Z ... Er heiratet sie, sie wird während der Hochzeitsnacht ohnmächtig, er klingelt: Pflegen sie Mme la vicomtesse. Er hatte ihr ein Kind gemacht und kümmerte sich nie wieder um sie« (1, S. 148). Anders als die »jeunes filles du monde / die Mädchen von Rang« in ihrem bewußt reizlos gehaltenen Äußeren hatten die Demi-Mondaines, die »nicht derselben menschlichen Rasse anzugehören schienen«, keinerlei Mühe, die »brünstigen Männchen« zu verzaubern. Als einen dieser Stars nennt Elisabeth die Courtisane und Schriftstellerin Liane de Pougy die im Olympia und in den Folies Bergères auftritt, eine gefeierte Schönheit der Belle Epoque ist, Maitresse im großen Stil, die mit ihren galanten Gönnern luxuriöse Tage in den Nobel- und Weltstädten Europas verbringt, jedoch auch dem Sapphismus huldigt. Ihre leidenschaftliche Liaison mit der amerikanischen Amazone in Paris, Natalie Cliffort Barney, eine Freundin der Männer und ausgesprochene Liebhaberin schöner, gebildeter Frauen, findet ihren literarischen Niederschlag in der Idylle Sapphique (190 1), ein Buch, das vom Gil Blas gefeiert wird und große Resonanz findet. Ein Jahr zuvor hatte Natalie Barney ihre Portraits de femme en sonnets veröffentlicht, eine Gedichtsammlung, die unter mythologischer Verkleidung einer Diana oder Salammbô der femininen erotischen Liebeskunst gewidmet ist. Im selben Jahr wie die Sapphische Idylle erscheint auch der erste Gedichtband Ètudes et Préludes der Renée Vivien / Pauline Tarn, deren großes Thema wiederum die lesbische Liebe ist und die eine passionierte Liebe an Natalie Barney bindet. Während einerseits die Frauen versuchen, sich aus ehelichen Bindungen zu lösen bzw. trotz dieser eine selbständige freie Existenz zu führen, sie in ihren autobiographischen und fiktionalen Werken diese Emanzipationsbestrebungen thematisieren, zeigt sich andererseits um die Jahrhundertwende die Tendenz, lesbische Beziehungen offen zu leben und literarisch zu verarbeiten.
Elisabeth de Gramont lernt die Amazone Natalie Barney, als die Rémy de Gourmont sie verehrt hat, erst 1910 kennen, als deren Èparpillements erscheinen, Aphorismen, die sich geistvoll mit der Liebe, der Kunst, dem Lebensgenuß beschäftigen. Seit dieser Zeit verkehrt sie im Freundschaftstempel der passionierten Anhängerin des Sapphismus, und sie öffnet ihr Haus in der rue Raynouard, einem der vornehmsten, elitärsten Salons von Paris, der Amazone. Daß Elisabeth, die in ihren Memoiren die Institution Ehe als Unterdrückungsinstrument anprangert, aber 1896 den Duc de Clermont-Tonnerre heiratet, ist kein Widerspruch, bestätigt nur die mißliche Situation der jungen unerfahrenen Frau, die sich in romantischer Verklärung von der Heirat Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Person verspricht. Bezeichnend für den kritischen Blick der Duchesse, ihr distanziert ironischer Kommentar zu den Gründen dieser Eheschließung: eine hübsche Figur des Duc, sein akazienfarbender Bart, sein Entschwinden ins geheimnisvolle, den Mädchen verschlossene Maxim's, kurz, seine malerische Erscheinung im italienischen Geschmack und seine Eleganz. »Bedarf es noch mehr« fragt sie rhetorisch suffisant - »um ein kleines Mädchen, das Gemälde liebt, zu verführen, um so mehr, als er ihr versprach, sie in einer wilden Fahrt quer durch das Universum zu führen?« (1, S. 162). Daß der Duc keineswegs dem romantischen Traumbild entsprach, daß er von den geltenden Rechten eines Ehemanns auch Gebrauch machte, davon zeugt ein Detail, das die Duchesse anführt: Sein »Geiz«, den er mit den meisten Männern des »gratin«, der oberen Zehntausend, teilt, verbot alle Ausgaben, die eine elegante Toilette ermöglichten (1, S. 164). Im Jahr 1920 läßt sie sich schließlich von Philibert de Clermont-Tonnere scheiden, führt aber auch schon zuvor aufgrund ihrer literarischen Bildung, ihrer aristokratischen Privilegien - das kulturell animierte Leben einer Salondame, die sich über die Normen institutionalisierter Wohlanständigkeit hinwegsetzt.
Die Duchesse, die Sympathien für den Kommunismus hegt und an Demonstrationen der Volksfront teilnimmt, bleibt in ihrem Lebensstil die anspruchsvolle Aristokratin, die an Dienerschaft gewöhnt ist, Antiquitäten sammelt und die sich um Broterwerb nicht zu kümmern braucht. Dieses Privileg teilt sie mit ihrer Freundin Natalie Cliffort Barney, die aus einer reichen amerikanischen Industriellenfamilie stammt und nach dem Tod ihres Vaters aus dem Trust der Barney Railroad Car Fondry »einen monatlichen Dollarregen« - so ihr Biograph Jean Chalon (S. 152) - erhält, der es ihr gestattet, ihren »Abenteuern des Geistes« und ihren erotischen Aventuren in Muße nachzugehen. Schreiben bedeutet für beide Autorinnen reflektierte Rückschau, Verdichtung eigener Lebenserfahrungen; die literarische Fiktion spielt in ihrem Werk nur eine geringe Rolle. Die Memoiren der Elisabeth de Gramont, neben ihrem Buch über Robert de Montesquiou et Marcel Proust (1925), den Comte d'Orsay, ihr Hauptwerk, stellen eine Art Kulturgeschichte ihrer Zeit dar; im privaten Detail - sei es aus der Familiengeschichte, der eigenen Erziehung, aus Begegnungen, Freundschaften - veranschaulicht sie zugleich etwas Symptomatisches. Es fällt auf daß die Autorinnen um die Jahrhundertwende, deren Werk zum großen Teil autobiographisch orientiert ist, auf ausführliche Erlebnisschilderungen verzichten, daß sie mehr als beobachtende, reflektierende Zeitgenossinnen ihre vita vorstellen, denn als emotional beteiligte Subjekte. Diese Selbstdistanz und nuancierte Beobachtungsgabe machen sie auch zu guten Portraitisten: einfühlsam und charmant sind die Frauenportraits der Duchesse in ihren Memoiren, von psychologischer Delikatesse ihre Portraits von Proust und Montesquiou. Auch Nathalie Barney skizziert in ihren Aventures de lesprit (1929) ihre literarischen Freunde und Freundinnen, u.a. Pierre Louys, Anatole France, Rémy de Gounnont, Max Jacob, Paul Valéry, Colette, Lucie Delarue-Mardrus, Elisabeth de Gramont, Djuna Barnes, Gertrude Stein, Renée Vivien, pointierte - temperamentvolle Collagen aus Impressionen, Briefen und Zitaten aus den Werken. - Lucie Delarue-Mardrus, die als Sechzigjährige bilanziert, daß sie mehr als sechzig Romane und Gedichtbände publiziert hat, entwirft in ihren Mémoires (1936) von Natalie Barney das Bild einer femininen Schönheit von pariserischer Eleganz, die »wie eine verschüchterte Novizin zu erröten« vermochte. Der erste Eindruck dieser Frau mit dem »pastellfarbenen Teint«, dem »feenblonden Haar« täusche »über den stählernen Blick der Augen« hinweg, »die alles in Sekundenschnelle sehen und begreifen«. Die faszinierende, geistreiche und schreckliche Natalie, die einen sehr unorthodoxen Treuebegriff hat und wie die Reventlow neben der großen Passion durchaus kleine Aventuren genießen kann, taucht immer wieder sowohl in den Memoiren als auch in den fiktionalen Werken verschiedenster Schriftstellerinnen der damaligen Zeit auf Sie inspirierte Renée Vivien nicht nur zu ihrem ersten Gedichtband: die Amazone, die in ihrer libertinen Lebenseinstellung das sublime Liebesideal der vergeistigten Freundin verletzt, bleibt die ambivalente Muse, die - wider Willen - zum Schicksal der Lyrikerin geworden ist. In dem autobiographischen Roman Une femme m'apparut (1904), in dem Natalie als Lorely Vally auftritt, wird sie als jungfräuliche Priesterin eines wiederauferstandenen Kults (S. 77), als »perverse Madonna weltlicher Kapellen« (S. 94), angesprochen. Ihr »mondfarbenes wallendes Haar«, ihre »Augen, von kälterem Blau als die Winternebel«, ihr »Blick voller Wollust und Sehnsucht« (S. 43) haben die schwärmerische junge Dichterin völlig in ihren Bann gezogen. Sie liebt die Amazone »d'un amour absolu«, »mit blinder Leidenschaft« (S. 104f). Die vitale, sinnenfreudige Natalie Barney, die ohne Schuldgefühl ihre lesbischen Neigungen auslebt, bildet den Gegenpol zu der melancholischen, in sich gespaltenen Renée Vivien, die die »frissons ailés des seins / die geflügelten Schauer der Brüste«, die Wollust und die schmachtende Sehnsucht des Körpers evoziert und zugleich einen spirituellen Selbstentwurf pflegt, der den lesbischen Sinnesgenüssen selbstquälerisch Reue und Scham beimischt. In ihren Aventures de lesprit charakterisiert Natalie Barney die Autorin, die sich als Heidin bezeichnet, im Gegenteil als unbewußte Christin, die die Liebe und das Leiden suche, in jedem Gefühl einen Vorwand für ihren Schmerz aufspüre. Das Christentum habe durch das Versprechen eines ewigen Himmels die einfachen Freuden des Augenblicks verdorben, und sie zitiert als Beispiel für diese letztlich lebensfeindliche, morbide Sicht einige Verse des Gedichts Prophétie von Renée Vivien (Cendres et Poussières, S. 50), die diese in ihrer glücklichen Phase mit Natalie, in voller Jugend, schrieb: »Mais la vision des ans me déchire, / Et, prophétiquement, je pleure ta beauté! / Puisque telle est la loi lamentable et stupide, / Tu te flétriras un jour, ah! mon Lys! / Et le deshonneur hideux de la ride / Marquera ton front de ce mot: Jadis!« (S. 202). Die Vision der Vergänglichkeit und des Alterns, die die Falte auf der jungen Stirn voraussieht, zeugt von der melancholischen Grundstimmung der Autorin, die in ihren Gedichten immer wieder den Tod erinnert und deren Boudoir mit Kerzen und weißen Lilien einer Totenkapelle ähnelt. Zugleich verweist der Ausdruck »der häßliche Schimpf der Falte« auf die Selbststilisierung des Ich zurück, das sich als makellos geistige Form, als körperloses Wesen sehen möchte. Bezeichnend das Bild der Lilie, die Jungfräulichkeit symbolisiert, aber auch in ihrer Weiße und künstlich wirkenden Gestalt zur Totenblume geworden ist. Die Geliebte als Lilie - damit wird Sexualität, vitale Sinnlichkeit abgewehrt. Andererseits dämonisiert Renée Vivien in ihren Gedichten die Geliebte, mit der sie die fleischlichen Lüste der Sexualität erlebt, zu einer bezaubernden Schlange, gibt ihr vampiristische Züge (Ressemblance, S. 56) - »Tes lèves ont humé le sang d'une blessure« - evoziert sie z. B. in dem Gedicht Désir aus Cendres et poussières (S. 51) eine Sinnlichkeit voll »wilder Glut«, Schluchzer exstatischer Wollust wie in den »Augenblicken der Agonie«. Die zwei Strebungen im Menschen, von denen Baudelaire in Mon coeur mis à nu spricht, die zu Gott bzw. zur Spiritualität und die zu Satan bzw. zur Animalität, prägen in ihrer Widersprüchlichkeit die erotische Lyrik der Renée Vivien, eine Lyrik, die in ihrer morbiden stilisierten Bildlichkeit den Präraffaeliten verwandt ist. Interessant und erhellend für die damalige Zeit ist, daß gerade Renée Vivien in ihrem komplizierten Verhältnis zur Sexualität eine der bedeutenden Lyrikerinnen der lesbischen Liebe wurde, sie sich offen zum Sapphismus bekannte. Sie, die 1903 eine freie Nachdichtung der sapphischen Gesänge veröffentlichte, schuf in ihren Gedichten voller Sensualität und Mystizismus geradezu einen Kult des Sapphismus. Während männliche Homosexualität auch literarisch weitgehend tabuisiert bleibt bzw. kritisch bewertet wird - so Proust in der Recherche du temps perdu, thematisieren Autorinnen wie Liane de Pougy, Natalie Barney, Renée Vivien, Lucie Delarue-Mardrus, Colette oder Radcliffe Hall weibliche Homosexualität, liefert diese oft den Anstoß literarischer Produktion. Pointiert läßt sich sagen, der Sapphismus ist in der Belle Epoque à la mode. Auch wenn Autorinnen wie Renée Vivien oder Radcliffe Hall, die in ihrem Roman Le puits de la Solitude / Quell der Einsamkeit (1928) wiederum Natalie Barney zum Vorbild ihrer libertinen Protagonistin Valérie Seymour nimmt, kein ungebrochen freies Verhältnis zu ihrer Sexualität haben, so werden sie doch zum Sprachrohr der »Gomorrha-Welt« in ihren verschiedenen psychischen und sozialen Aspekten.
Die Muse des Sapphismus, die ungebrochen selbstverständlich ihren erotischen Neigungen folgt, Natalie Clifford Barney, geht ein weiteres Mal in die Literatur ein, und zwar als Laurette Wells in Lucie Delarue-Mardrus' Roman L’Ange et les pervers, der sie einerseits als wahre Rebellin schildert, als Schönheit mit dem berühmten Feenhaar und den »wie Schwertklingen blitzenden Augen«, sie jedoch als »pervers, ausschweifend, egoistisch« (S. 63) kritisiert, die Autorin selbst übernimmt die Rolle der edlen, belesenen Marion Hervin, die bei den komplizierten erotischen Freundschaftsverhältnissen der Laurette zu vermitteln sucht, selbst aber ihre »Reinheit« bewahrt. Sie kommentiert in ihren Memoiren: »Ich habe in Der Engel und die Perversen ausführlich sowohl Natalie als auch das Leben, in das sie mich einweihte, analysiert, beschrieben, ein Leben, in dem ich erst sehr viel später schließlich nicht mehr die asexuelle Rolle des Engels spielte« (S. 144). Auch Elisabeth de Gramont nähert sich erst später der Gomorrha Welt, und Colette entzieht sich trotz ihrer drei Ehen dennoch nicht den Verführungen von Lesbos; ihre Erfahrungen verarbeitet sie u. a. in dem Claudine-Zyklus (1900-1903), mit dem sie ihre literarische Karriere begann und den sie noch unter der Redaktion bzw. Mitarbeit ihres ersten Mannes Willy schrieb. Ihre vielen, in nuancierten Farben entworfenen Mädchen- und Frauengestalten, impressionistische Portraits verschiedenster Individualitäten, zeugen sowohl von Colettes ästhetischer Sensibilität für weibliche Physiognomien und Coquetterien, weiblichem Charme als auch von ihrer psychologischen Kennerschaft. Daß ihr männlicher Protagonist der Claudine-Romane, Renaud, der viele Züge Willys aufweist, Claudines erotisches Verhältnis zu der schönen Rézi mit lächelndem Interesse verfolgt, sie dann jedoch selbst mit Rézi betrügt, ist wohl auch symptomatisch für die Haltung der damaligen Männerwelt dem Sapphismus gegenüber: er hat die Aura des Pikanten, das Männerphantasien anregt, nicht den Ruch des Verfemten, der der männlichen Homosexualität anhaftet.
Die Autorinnen um den Freundschaftstempel der Natalie Barney - zu nennen wären auch Rachilde, Marthe Bibesco und die Engländerin Mina Loy - entsprechen in ihrer Lebensführung keineswegs dem damals gängigen Frauenbild der gefügigen Gattin und Hausfrau, sie bewegen sich frei, ohne die damals noch obligatorische Anstandsdame durch die Welt, sie durchbrechen die rigide Sexualmoral und beweisen durch ihre literarische Produktion, die ihrerseits die patriarchalische Gesellschaft infragestellt, ihren prinzipiellen Anspruch auf Gleichberechtigung. Diese Autorinnen, die weibliche Sexualität vom Zwang ehelicher »Pflichterfüllung« befreit sehen wollen, sind dennoch nicht unbedingt engagierte Feministinnen, die sich für die soziale und ökonomische Gleichstellung der Frau einsetzen, für gleiche Berufschancen, gleiche Ausbildungsmöglichkeiten etc.; Natalie Barney beruft zwar im Kriegsjahr 1917 in ihrem Freundschaftstempel einen Frauenkongress für den Frieden ein, an dem auch militante Feministinnen wie Valentine Thompson, Aurel, Anna Wickam, Marie Leneru, Sévrine etc. teilnehmen, doch sie selbst wie auch ihre Freundinnen, u. a. Liane de Pougy Renée Vivien, Elisabeth de Gramont, die Prinzessin Marthe Bibesco haben es auf Grund ihrer privilegierten Herkunft, ihres mehr oder minder großen Vermögens nicht nötig, einen Beruf auszuüben bzw. von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit zu leben.
Das gilt auch für Anna de Noailles, Tochter eines rumänischen Prinzen, Gattin des Comte de Noailles, deren Salon zu den angesehensten von Paris zählte und die schon früh durch ihre Gedichtbände vor allem großes literarisches Ansehen erringt, in Proust und Barrès u.a. glühende Bewunderer findet. Ähnlich wie bei Renée Vivien spielt das Motiv der fliehenden Zeit, die die Schönheit bedroht, schon in ihren frühen Gedichtbänden - Un coeur innombrable (1901), L'Ombre des jours (1902), Les Eblouissements (1907) - eine große Rolle! Anna de Noailles feiert immer wieder die Liebe als Daseinsgrund, als große Passion, deren Verlust die Existenz selbst bedroht. In ihrem Gedicht Je vis, je bois l'azur aus Les vivants et les morts (1913) antizipiert das lyrische Ich den Tod des Geliebten und klagt: »Mon amour, je me hais, je méprise mon âme, / Ce détestable orgueil qu'ont les filles des rois, / Puisqueje ne peux pas être un rempart de flamme / Entre la triste mort et toi!« Stolz spricht zugleich aus diesen Zeilen, die die Ohnmacht der Königstöchter vor dem Tod beklagen, damit jedoch das lyrische Ich zu einem außerordentlichen Wesen stilisieren, das im Grunde den Geliebten mit dem Flammenwall von Liebe und Ruhm vor dem Tod schützen müßte. Anna de Noailles suchte und genoß den Ruhm, die Verehrung, die ihrer exotischen Schönheit, ihrem literarischen Genie, ihrer graziösen Selbstinszenierung im Übermaß zuteil wurde. Diese in luxuriösen Schlössern und zauberhaften Parks aufgewachsene Prinzessin, deren musikalisch begabte Mutter ihre musischen Anlagen förderte, führt die Existenz eines fragilen Luxusgeschöpfes, dem Bewunderung selbstverständlich ist und das sich seinen Empfindungen und Stimmungen in Muße hingeben kann. Das Werk der Anna de Noailles, die wie die Colette in die Académie royale de Belgique aufgenommen wurde (1922), eine außergewöhnliche Ehre, ist nicht das Produkt kalkulierter Fronarbeit, sondern eher unmittelbarer Ausdruck eines Lebensgefühls, das in die Liebe verliebt ist, Sensationen der Seele und des Leibes sucht und sich permanent vom Tod bedroht sieht. Cocteau kritisiert in seinem Erinnerungsbuch La comtesse de Noailles Oui et Non die mangelnde Selbstkontrolle der Autorin, die »sich die Ohren verschloß vor allem, was nicht Fanfare war« (S. 21), ihre Eloquenz, die schon Verlaine aus der Lyrik verbannt hat, die Zufälligkeit ästhetischen Gelingens; zugleich jedoch gesteht er ihr eine poetische Naturgabe zu, die ästhetische »Schätze« hervorgebracht hat, die sie allerdings »mit dem Trödel eines orientalischen Bazar mischte«. Die mangelnde ästhetische Selbstreflexion, die auch Gide moniert, mag einen Grund in dem frühen Ruhm haben, dessen Charme die Prinzessin erlag; doch auch der verfeinerte aristokratische Lebensstil, der sie von den Widrigkeiten des Alltags abschirmte, förderte mehr den Kult der eigenen Sensibilität, u.a. den Genuß schöner Natur, die Hingabe an die Liebe, als daß er zu selbstkritischer, handwerklicher Feinarbeit aufforderte.
Es sind vor allem Aristokratinnen, Geldaristokratinnen, jedenfalls finanziell abgesicherte Frauen, die sich von patriarchalischen Lebensformen lösen, einen freien Lebensstil propagieren und pflegen. Nur Franziska zu Reventlow, deren Ideal jedoch das umhegte Luxusgeschöpf bleibt, Colette und Lucie Delarue-Mardrus, die sich 1913 in Freundschaft von ihrem Mann trennt (Mémoires, S. 200), verdienen sich durch ihre schriftstellerische Tätigkeit auch ihren Lebensunterhalt. Lucie Delarue, die lange, abenteuerliche Reisen u. a. durch Ägypten, Syrien, Palästina, Rumänien, Ungarn und Griechenland unternimmt, hält Vorträge über ihre Reisen, schreibt Reportagen, verfaßt während des Krieges als Lazarettschwester Artikel über das Rote Kreuz, belgische Rekruten etc., kurz, sie führt nach ihrer Scheidung eine ökonomisch unabhängige Existenz und sucht auch keine neue eheliche Bindung. Ihr Sapphismus, der auch in dem von der Comédie Francaise angenommenen, jedoch plötzlich wieder abgesetzten Stück Sappho desespérie thematisch wird, wird diese Haltung unterstützt haben. Dennoch gehört auch sie nicht zu den engagierten Feministinnen, die sich aktiv für die allgemeine Gleichberechtigung der Frau einsetzen, für gleiche Bildungs- und Berufschancen, jedoch entwirft sie in ihren Romanen immer wieder so in Ex-Voto (1922), Anatole (1930) - Mädchengestalten, die sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien suchen. Das gilt auch für Colette, die zwar der Frauenbewegung fernsteht, in ihrem Werk aber Frauengestalten zeichnet, die ihre Unabhängigkeit verteidigen. Die Autorinnen, die einen aristokratischen Lebensstil pflegen und die sich um finanzielle Probleme nicht zu kümmern brauchen, sind keine kämpferischen Naturen, sie verwirklichen individuell für sich selbst ihre Vorstellungen femininer Selbstfindung, suchen ihre erotisch-emanzipatorischen Entwürfe zu leben, doch die soziale und politische Dimension der Frauenemanzipation interessiert sie nur in geringem Maße, insofern können sie auch nur bedingt heutigen Frauen ein Beispiel geglückter Emanzipation sein. Während innerhalb der deutschen Frauenbewegung ein radikaler Flügel um Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann 1902 den »Verband für Frauenstimmrecht« gründet, Hedwig Dohm sich vehement für gleiche politische Rechte der Frau einsetzt, Clara Zetkin die ökonomische Unabhängigkeit der Frau als Basis ihrer Emanzipation in einer veränderten, sozialistischen Gesellschaft postuliert, vertreten die französischen Autorinnen und die Reventlow, die die erotisch sexuelle Befreiung der Frau für sich durchsetzen, weniger egalitäre Ideen.
Die zwei divergierenden feministischen Grundpositionen, die die heutige Diskussion bestimmen, zeichnen sich schon um die Jahrhundertwende ab: einerseits die egalitäre Richtung, die es ablehnt, aus dem biologischen Unterschied unterschiedliche intellektuelle und emotionale Unterschiede abzuleiten und die für die völlige Gleichstellung der Frau kämpft, andererseits die Richtung der »neuen Weiblichkeit«, die aus den Hüllen geschichtlicher Prägungen ihre weibliche Urnatur zu entdecken sucht, spezifisch weibliche Lebensformen propagiert. Die erotisch-emanzipatorischen Entwürfe der hier vorgestellten Autorinnen entsprechen in ihrer Grundtendenz mehr dem Konzept einer weiblichen Kosmogonie. Der Kult des Sapphismus in der Belle Epoque ist auch als ein möglicher Ausdruck dieser Tendenz zu verstehen.