Impulse aus den USA und Frankreich
Der neue Feminismus begann 1967/68 in den Vereinigten Staaten als ein Befreiungsversuch in einem weltweiten Zusammenhang, und gerade als politische Bewegung gab der amerikanische Feminismus den Anstoß für das Aufkommen von Frauenbewegungen in West- und Mitteleuropa und später in vielen anderen Ländern der Welt. Diese Frauenbewegungen lieferten dann den Feministinnen vielerlei Ansatzpunkte: Aneignung von früheren Theorien über Frauenunterdrückung; Ausarbeitung neuer Theorien; Entwicklung neuer Modelle für das Verständnis von Texten, die von Frauen verfaßt wurden; eine Vielfalt von feministischer Literatur. Ich möchte versuchen, diese Geschichte des Feminismus aufzuzeigen, wobei ich besonders die Entwicklungen innerhalb des amerikanischen Feminismus berücksichtige, der immer noch die hauptsächliche Quelle fremden Einflusses auf die Frauenbewegung in Deutschland und in anderen Ländern darstellt. Aber ich will auch auf einige der Probleme und Ambivalenzen des gegenwärtigen Feminismus eingehen. Ich stelle in diesem Zusammenhang die Behauptung auf, daß die Anschauungen, die den Feminismus in den siebziger Jahren am stärksten beeinflußten, die Frauenbewegung in eine Sackgasse führten, so daß der Feminismus in der Mitte der achtziger Jahre ohne feministische Antworten auf viele der dringendsten Fragen im Leben von Frauen dasteht.
Wenn ich die Entwicklungen innerhalb des Feminismus während der letzten achtzehn Jahre kritisch überblicke, dann scheint mir, daß die politischen Probleme, mit denen sich die Frauenbewegung heute konfrontiert sieht, von Anfang an im Keim vorhanden waren und möglicherweise auf die zwiespältige Situation von vorwiegend weißen Frauen aus der Mittelschicht, die der Frauenbewegung beitraten, zurückgeführt werden können. Zum einen erwuchs die Women's Liberation Movement (Frauenbefreiungsbewegung) aus den anti-imperialistischen, anti-kapitalistischen Bewegungen der sechziger Jahre, übernahm die Analysen der Neuen Linken in ihren weitesten Ausmaßen und stellte sich ursprünglich auch die Ziele der neuen Frauenbewegung radikal und revolutionär vor. Zum anderen jedoch floß in den Vereinigten Staaten und auch in anderen Ländern ein weiterer Aspekt in die Frauenbewegung mit ein: die Diskrepanz zwischen dem wachsenden Anteil von werktätigen Frauen einerseits, die hauptsächlich niedrig bezahlte und schlecht angesehene Positionen innehatten, und einer Ideologie von Weiblichkeit andererseits, die sie davon zu überzeugen versuchte, daß der eigentliche Platz für eine Frau das Haus sei. Die begabten, gebildeten und politisierten Frauen der Neuen Linken (ebenso wie die Frauen, die später in den siebziger Jahren zum Feminismus stießen) erkannten, daß man ihnen ungerechterweise die Möglichkeiten verweigerte, die den Männern ihrer sozialen Schicht und Rasse offenstanden, und sie kämpften deshalb für gleichen Zugang zu diesen Vorrechten. So bestand also von Anfang an eine Spannung innerhalb des Feminismus, die sich in einer zwiespältigen Strategie äußerte: einerseits bezweckte der Feminismus einen Strukturwandel in der ganzen Gesellschaft, andererseits hatte er die Verbesserung der Situation von relativ privilegierten Frauen zum Ziel, ohne dabei andere soziale Strukturen in Frage zu stellen. Diese Ambivalenz des Feminismus nahm im Lauf der siebziger Jahre seltsame Formen an. Mit dem Rückgang von anderen Protestbewegungen in dieser Zeit formulierte die Frauenbewegung unter Beibehaltung ihrer radikalen Linie ihre Fragen mehr und mehr so, daß die mit sozialer Schicht und Rasse verbundenen Privilegien feministischer Frauen nicht in Frage gestellt wurden. Der Kampf um gleiche Rechte, der im Falle eines Erfolgs Frauen aller sozialen Schichten und Rassen zugute gekommen wäre, wurde oft etwas verächtlich als reformistisch abgetan, und die radikalsten Feministinnen zogen sich aus der politischen Arena zurück, um den Bereich der Frauenkultur zu erforschen; sie verstanden nicht, daß nur sie die Möglichkeit hatten, einen Freiraum nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, da sie nicht gezwungen waren, sich mit den fundamentalen Notwendigkeiten des Lebens zu befassen. Aber der wachsende Konservatismus der achtziger Jahre hat den Feministinnen die Erkenntnis aufgezwungen, daß die in den siebziger Jahren entwickelten theoretischen Standpunkte keine Strategien anbieten, um den nationalen und internationalen Entwicklungen zu begegnen, die sie mit wachsendem Schrecken sehen. Im folgenden werde ich untersuchen, welchen Lauf der Feminismus während der siebziger Jahre in Theorie und Praxis genommen und was ihn in diesen Engpass geführt hat. Ich werde meine Ausführungen mit Fragen über die Richtungen schließen, in die sich der Feminismus in seinem Bemühen, als Bewegung zu überleben, möglicherweise entwickeln wird.
Der amerikanische Feminismus entstand 1967/68 aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Neuen Linken. Da die Frauen jetzt im öffentlichen Protest erfahren waren, waren sie nun bereit, gegen Unterdrückung im eigenen Leben zu kämpfen und für die eigene Sache auf die Straße zu gehen. Im Herbst 1967 begannen Frauen der Neuen Linken in einer Stadt nach der anderen »Frauenbefreiungsgruppen« zu gründen, Vorläufer von Selbsterfahrungsgruppen, wo sie feststellten, daß sie in ihren Beschwerden gegen die Männer nicht allein waren. Themen waren Diskriminierung, sexuelle Ausbeutung und Abtreibungsbeschränkungen, gegen welche die neue Frauenbefreiungsbewegung protestierte: 1968 organisierten Feministinnen z.B. eine von den Medien viel beachtete Demonstration gegen die Miss-Amerika Wahl, bei der sie Symbole für Frauenunterdrückung in einen »Freiheits-Mülleimer« warfen, und 1969 klagten dreihundert Frauen gegen den Bundesstaat New York wegen seiner restriktiven Abtreibungsgesetzgebung und erreichten deren Aufhebung. Neuigkeiten aus der neuen Bewegung fanden in Europa schnell Widerhall. In Großbritannien entstanden 1969 feministische Gruppen, und als 1970 fünfhundert Teilnehmer auf einer Konferenz zur Frauenbefreiung in Oxford erschienen, wußten britische Frauen, daß ihre Bewegung begonnen hatte. Sheila Rowbotham beschreibt in Dreams and Dilemmas diesen Vorgang. Der Beginn der französischen feministischen Bewegung läßt sich auf eine Demonstration am Arc de Triomphe am 26. August 1970 (in Solidarität mit einem Tagesstreik von US-Frauen) zurückführen, auf der neun französische Frauen ein Transparent mit der Aufschrift trugen: »Unbekannter als der unbekannte Soldat: seine Frau«. E. Marks und J. de Courtivron dokumentieren in New French Feminism dieses Ereignis. Im April 1971 sammelte und veröffentlichte das neu organisierte Mouvement de Liberation des Femmes in Le nouvel Observateur die Unterschriften von 343 französischen Frauen, die bereit waren, Gefängnisstrafen zu riskieren, indem sie sich zu einer illegalen Abtreibung bekannten. Alice Schwarzer, damals Korrespondentin in Paris und aktiv im MLF tätig, initiierte die gleiche Aktion in Deutschland, und am 6. Juni 1971 erklärten 374 deutsche Frauen im Stern: »Wir haben abgetrieben«. In den nächsten Monaten engagierten sich deutsche Frauen (auch linke Frauen, die anfangs den Kampf für das Recht auf Abtreibung als »bürgerlich« angesehen hatten) mehr und mehr in der Kampagne für die Abschaffung von Paragraph 218. Als im März 1972 450 Frauen aus über vierzig Frauengruppen bei einem Bundesfrauenkongreß erschienen, wußten die Frauen der Bundesrepublik, daß auch sie eine Frauenbewegung hatten.
Der Feminismus in Europa begann also, als Frauen für ihre Rechte in der Öffentlichkeit kämpften. Natürlich ließ der öffentliche Protest nie völlig nach, und die Frauen verdanken ihm viele beachtliche Erfolge in den siebziger Jahren, aber öffentlicher Protest war nicht eigentlich der Kurs, den der Feminismus als eine Bewegung nehmen sollte. Trotz der vielen Unterschiede in nationalen feministischen Bewegungen (abhängig, unter anderem, von der Existenz und Stärke der linken Parteien der jeweiligen Länder) entwickelten sich die Frauenbewegungen in den USA und Europa während der Dekade in ziemlich gleicher Richtung. Man kann dies anhand von Texten zu feministischer Theorie verfolgen, die international als wichtig angesehen wurden und aus denen sich die Veränderungen der feministischen Politik, die sich während der siebziger Jahre vollzogen, ablesen lassen.
Die neuen Feministinnen suchten Texte, die ihnen helfen konnten, ihre Situation gründlicher zu erfassen. In einigen Werken, die sie vorfanden, waren in mancher Hinsicht Ansätze zu Positionen schon formuliert, die die Bewegung später ausarbeiten sollte. Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht, erschienen 1949 (deutsch 1952) und vermutlich öfter gepriesen als gelesen, wurde zum Modell für feministische Untersuchungen über die Bedingungen, unter denen Frauen zu allen Zeiten und an allen Orten lebten und leben. De Beauvoir kam zu zwei für den Feminismus grundlegenden Schlußfolgerungen: erstens, daß in dieser patriarchalischen Gesellschaft die Frau als »das Andere« definiert wird, während der Mann das Maß aller Dinge ist, an dem Frauen gemessen werden; zweitens aber, daß Weiblichkeit keine angeborene menschliche Eigenschaft, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion ist: Eine Frau wird nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht. De Beauvoir bestand darauf, daß die Unterordnung der Frauen ein struktureller Bestandteil der Gesellschaft sei und daß das Los der Frauen nur durch kollektive Aktionen geändert werden könne. Der gegenwärtige Feminismus geht zwar in vielen Aspekten über die Aussagen von Das andere Geschlecht hinaus: de Beauvoir erkennt z.B. den Beitrag von Frauen zur Geschichte nicht an; ihre Behandlung des Lesbentums und der weiblichen Erotik ist unzureichend; und die Schwäche ihres Buches liegt vor allem im dualistischen existentialistischen Modell, das sie auf die Situation der Frauen überträgt, d.h. in ihrer Behauptung, daß die Lösung der Frauenfrage darin läge, die »Immanenz der Frau«, ihr Verhaftetsein in biologischen Funktionen zu überwinden, um »Transzendenz«, die aktive Kreativität des Mannes, zu erreichen. Dennoch besteht die besondere Bedeutung von Das andere Geschlecht darin, daß Simone de Beauvoir schon vor der Wiedergeburt des Feminismus die Situation von Frauen als ein Problem erkannte, das ebenso ernsthafte philosophische Untersuchungen verdiente wie die Probleme der Männer.
Wenn Das andere Geschlecht den einen Pol feministischer Standpunkte darstellt, indem es behauptet, daß die Welt verändert werden und der Kapitalismus abgeschafft werden müsse, damit Frauen frei sein könnten, dann vertrat Betty Friedans Der Weiblichkeitswahn, erschienen 1963 (deutsch 1966), den Gegenpol. Obwohl Friedan durch de Beauvoir beeinflußt war, definierte sie ihren Gegenstand weniger ehrgeizig; sie beschränkte ihre Studie auf das Nachkriegs-Amerika und erforschte die Mittel (die Medien, den Konsumzwang, die Gesellschaftswissenschaften), mit denen Frauen unterdrückt werden. Sie versuchte nicht, die sozialen Strukturen zu erfassen, durch die Frauen in untergeordneten Positionen gehalten werden. Die gebildeten Hausfrauen der Mittelschicht, über die sie vor allem schrieb, seien Opfer des Problems, für das es »keinen Namen« gibt, nämlich einer bestimmten Ideologie von Weiblichkeit. Auch ihre Lösung lag im Bereich des Bewußtseins, sehr bürgerlich und sehr amerikanisch: ändere dein Leben, nicht deine (Um-)welt. In ihrem neuen Buch Der zweite Schritt (1981; deutsch 1982) kommt Friedans mangelnde Bereitschaft, die amerikanische Gesellschaft gründlich zu hinterfragen, noch deutlicher zum Ausdruck. Dennoch machte Der Weiblichkeitswahn, ein Bestseller in Amerika und vielfach übersetzt, Tausenden von Frauen, die nur schwer mit de Beauvoirs schwierigem Text zurecht gekommen wären, ihre Situation bewußt und gab ihnen ein verständliches Modell feministischer Ideologiekritik an die Hand. Sie rief die Anfänge der Frauenbewegung im neunzehnten Jahrhundert ins Bewußtsein und betonte, daß die Frauen jetzt die Macht hätten, ihr Leben selbst zu gestalten. Friedan gelang es, die Erkenntnisse von Das andere Geschlecht zu vereinfachen, populär zu machen, zu amerikanisieren und in vieler Hinsicht zu entradikalisieren. Vielleicht war es auch zum Teil deshalb ihr Buch, nicht das von de Beauvoir, das, wie Juliet Mitchell schon früh in Frauenbewegung - Frauenbefreiung (1971; deutsch 1978) bemerkte, zur wichtigsten Textquelle wurde, welche die aufkommende Frauenbefreiungsbewegung beeinflußte.
Mitchells eigener Artikel, Frauen: die längste Revolution, ist die dritte wichtige vorfeministische Einflußquelle für die internationale Frauenbewegung, und mit ihm begann die Diskussion marxistisch-feministischer Positionen zur Frauenunterdrückung. Mitchells Artikel erschien 1966 in der britischen Zeitschrift New Left Review (deutsch 1971) und wurde von Frauen der Neuen Linken stark diskutiert. Er betonte die Geschichtlichkeit der Frauenunterdrückung sowie die besonderen Funktionen von Frauen im Kapitalismus und untersuchte gleichzeitig Bereiche im Frauenleben, die in herkömmlichen marxistischen Analysen vernachlässigt wurden: Reproduktion, Sexualität sowie die Sozialisierung von Kindern. Die Einzelheiten von Mitchells Analyse sind unter anderem durch ihre eigenen Werke Frauenbewegung - Frauenbefreiung sowie Psychoanalysis and Feminism (1974; nicht übersetzt) überholt worden. Der Artikel ist dennoch wichtig wegen seines Bemühens, die Nützlichkeit des Marxismus für den Feminismus aufzuzeigen und eine spezifisch linke Strategie herauszuarbeiten, welche die Befreiung der Frauen vorantreiben sollte.
Mit dem Aufkommen des Feminismus erschien eine Flut von Büchern zur Frauenbefreiungsbewegung, besonders in englischer Sprache. Die frühsten Werke feministischer Theorie setzten de Beauvoirs und Friedans Untersuchungen fort, waren jetzt jedoch noch ehrgeiziger in ihren analytischen Forderungen: männliche Vorherrschaft oder auch Patriarchat wurde jetzt oft als die grundlegendste Form menschlicher Unterdrückung angesehen, aus der sich alle anderen Unterdrückungsformen ableiten ließen. Feministinnen gebrauchten den Begriff »Sexismus«, der offensichtlich 1968 in einem Artikel mit dem Titel Freedom for Movement Girls Now geprägt wurde, um die verschiedenen Formen von Machtausübung von Männern gegenüber Frauen zu beschreiben. In Sexus und Herrschaft (1970; deutsch 1971) erarbeitete Kate Millett eine Theorie der Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen während der zwei vergangenen Jahrhunderte und zeigte anhand der Darstellung von sexuellen Beziehungen in Werken von D. H. Lawrence, Henry Miller, Norman Mailer und Jean Genet, wie verächtlich Männer Frauen gezeichnet hatten, vor allem in sexueller Hinsicht. Shulamith Firestones brillantes und exzentrisches Buch Frauenbefreiung und sexuelle Revolution (1970; deutsch 1975), de Beauvoir gewidmet, versuchte, einen dialektischen Materialismus zu formulieren, der eher auf Geschlecht als auf sozialer Klasse beruht; sie trat für die feministische Revolution ein und vertrat die Ansicht, daß die Befreiung der Frau nur dann geschehen könne, wenn die Technologie die Frauen von der Bürde des Gebärens befreite. Phyllis Chesler setzte in ihrem Buch Frauen das verrückte Geschlecht? (1972; deutsch 1974) Milletts und Firestones Kritik an der herkömmlichen Psychologie fort, indem sie im einzelnen untersucht, was als Geistesgestörtheit bei Frauen gilt, warum sie geistesgestört werden und wie Institutionen sowie männliche Therapeuten gestörte Frauen behandeln. Diese sehr wichtigen Studien, inzwischen Klassiker des frühen Feminismus, wirkten als Anregung für viele ähnliche Untersuchungen. Sie inspirierten unter anderem Marielouise Janssen-Jurreits umfassendes Werk Sexismus / über die Abtreibung der Frauenfrage (1976), das 1982 ins Englische übersetzt wurde.
In der feministischen Bewegung waren jedoch auch schon früh Zeichen einer Entwicklung von alternativen Tendenzen erkennbar, die die feministische Aufmerksamkeit vom Kampf für die Rechte der Frau in einer sexistischen Gesellschaft ablenkte. Einige frühe Studien zur Sexualität der Frau betonten nicht nur das Ausmaß, in dem heterosexuelle Beziehungen sich an der Befriedigung des Mannes orientiert hatten, sondern begannen auch, die Verschiedenheit im Erleben weiblicher Sexualität zu erforschen. Ann Koedts einflußreicher Aufsatz The Myth of the Vaginal Orgasm (1970) stellte die These auf, daß die sexuelle Befriedigung der Frau nicht aus heterosexuellem Geschlechtsverkehr resultiere, während Mary Jane Sherfeys Buch The Nature and Evolution of female Sexuality (1974) die Fähigkeit der Frauen zum vielfachen Orgasmus und die Unfähigkeit der Männer, sie zu befriedigen, hervorhob. 1976 sammelte Shere Hite in ihrem Hite-Report (deutsch 1977) die Aussagen von 3000 Frauen, um Quellen sexueller Unzufriedenheit von Frauen im einzelnen aufzuschlüsseln. Alice Schwarzers Buch Der kleine Unterschied und seine großen Folgen (1975) gehört teilweise zu dieser Gattung von Untersuchungen; es betont das Ausmaß, in dem die Zwangsheterosexualität einen Bereich weiblicher Unterdrückung darstellt und legt nahe, daß sexuelle Solidarität und Befriedigung eher unter Frauen zu finden sei.
Amerikanische Lesben hatten sich anfangs von der neuen Frauenbewegung ferngehalten, da sie diese als Versuch heterosexueller Frauen ansahen, ihre Probleme mit Männern zu bewältigen, aber nach 1970 begannen Lesben, die politischen Implikationen der neuen femininistischen Position zur Sexualität herauszuarbeiten. 1970 behauptete das Manifest der Radicalesbians, The Woman-Identified Woman, daß Lesbentum das Wesen des Feminismus sei, die Wut aller Frauen, die sich bis zur Explosion aufgestaut habe. Die Beweggründe für das Lesbentum sollten eher politische als sexuelle sein, d. h. eher das Ergebnis einer freien Entscheidung als Veranlagung: daraus folgte, daß Lesbentum für Feministinnen die einzig politisch richtige Verhaltensweise sein konnte, während gleichzeitig die Liebe zwischen Frauen enterotisiert wurde, indem sie durch Frauengemeinschaft und nicht durch Sexualität definiert wurde. Jill Johnstons Buch Lesben Nation (1973; deutsch 1976) hatte als Untertitel »die feministische Lösung«, und sie behauptete, »alle Frauen sind lesbisch, außer denen, die es noch nicht wissen«. Ti-Grace Atkinson verkündete provozierend in ihrem Buch Amazonen Odyssee (1974; deutsch 1978), daß Lesbentum für den Feminismus das bedeute, was die kommunistische Partei für die Gewerkschaftsbewegung bedeutet habe. In ihrem erschreckenden Bericht über männliche Gewalt gegen Frauen Gegen unseren Willen (1975; deutsch 1978) zeigte Susan Brownmiller die Kehrseite dieser Behauptungen auf: daß Vergewaltigung ein Verbrechen sei, zu dem Männer aufgrund ihrer Anatomie neigten. Unter Berücksichtigung der Studien in feministischer Psychologie, die die Bedeutung der vorödipalen Mutter-Tochter Beziehung bei der Konstituierung der weiblichen Identität betonten, gelang es Adrienne Rieb in ihrem 1980 erschienenen Artikel, Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence, diese Position exakt, wenn auch etwas extrem, zu formulieren: Frauen würden nur deswegen heterosexuell, weil sie mit physischer und psychischer Gewalt bedroht würden, und jede Form von weiblicher Bindung, erotisch oder nicht erotisch, habe Anteil am Lesbentum.
Auf internationaler Ebene präsentierten sozialistische Feministinnen in den siebziger Jahren ganz andere Streitfragen; sie versuchten, oft nicht sehr erfolgreich, ihr wachsendes Verständnis von Frauenunterdrückung in eine marxistische Analyse des Kapitalismus zu integrieren - die unglückliche Ehe von Marxismus und Feminismus, wie eine sozialistische Feministin es ausdrückte. Vielleicht gelang es am besten der Engländerin Sheila Rowbotham in einer Serie früher Texte (Women, Resistance and Revolution, 1972; Woman's Consciousness, Man's World, 1973, nicht übersetzt; Im Dunkel der Geschichte, 1973, deutsch 1980), die Verbindung zwischen der feministischen Betonung persönlicher Lebensbedingungen und einer sozialistischen Analyse herzustellen. In Nach dem Scherbengericht (1979; deutsch 1981) argumentierte sie, daß das Versagen der Linken, feministische Einsichten anzuerkennen, auch deren Fähigkeit, sich wirkungsvoll zu organisieren, beeinträchtigt habe. Oft konzentrierten sich sozialistische Feministinnen auf die materielle Situation der Frauen und besonders auf die bezahlte und unbezahlte Arbeit der Frauen im Kapitalismus. Die Italienerin Mariarosa Dalla Costa und die Engländerin Selmajames waren die wichtigsten Theoretikerinnen der Kampagne für bezahlte Hausarbeit in der Mitte der siebziger Jahre. In ihrem Buch Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft (1973) forderten sie, daß Hausarbeit wie andere Formen produktiver Arbeit in Geld aufgewogen werden sollte, da unbezahlte Hausarbeit die spezifisch kapitalistische Form von Frauenunterdrückung darstelle und zudem notwendig für die Reproduktion des Kapitalismus sei. Das Interesse an der Arbeit von Frauen innerhalb der Familie ermöglichte es den Feministinnen, die Bedürfnisse auch jener Frauen anzusprechen, die nicht willens oder in der Lage waren, einer feministischen Bewegung beizutreten, die auf der Trennung von Männern bestand, und die Kampagne erregte deswegen Mitte der siebziger Jahre viel Aufmerksamkeit in Deutschland und auch anderswo. Die Kampagne mißlang jedoch letztlich, einerseits wegen ihrer unrealistischen Forderungen zur Zeit einer wirtschaftlichen Rezession und andererseits, weil die Forderung nach Hausarbeitslohn die Frauen in der Rolle der Hausfrau zu fesseln und nicht daraus zu befreien schien. Die Fragen, die ein Großteil der sozialistisch-feministischen Theorie ansprach, schienen oft die am wenigsten phantasievollen Dimensionen von Marxismus und Feminismus zu verbinden. Obwohl viele akademische feministische Texte weiterhin von einer marxistischen Analyse beeinflußt waren - marxistisch-feministische Historikerinnen brachten besonders ergiebige Studien in den siebziger Jahren hervor - schien der sozialistische Feminismus im allgemeinen immer weniger einfallsreich und kreativ, und die Bedeutung der sozialistisch-feministischen Theorie für die feministische Bewegung nahm im Lauf der siebziger Jahre ständig ab.
Mit dem Bedeutungsschwund des sozialistischen Feminismus und der Linken im allgemeinen betonten die feministischen Theoretikerinnen immer weniger die historische Besonderheit und die materielle Basis der Frauenunterdrückung. Obwohl sie nicht weniger vernichtend in ihrer Kritik der patriarchalen Gesellschaft schienen, ging es den Feministinnen in der Praxis doch weniger um einen Angriff auf gesellschaftliche Strukturen, als vielmehr um die Veränderung ihres eigenen Lebens. Der feministische Slogan »Das Persönliche ist politisch« wollte ursprünglich ausdrücken, daß sich sogar in den intimsten Bereichen unseres Lebens soziale Unterdrückung bemerkbar macht; im Laufe der siebziger Jahre kehrte sich diese Aussage ins Gegenteil um, und viele Feministinnen glaubten jetzt, daß Selbstveränderung ein politischer Akt sei. In dieser Zeit veränderte der Feminismus auch seinen Standpunkt zur Bedeutung des Geschlechts. Während frühere radikale Feministinnen »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« noch als gesellschaftlich konstruierte Kategorien verstanden hatten, die abgeschafft werden sollten, bestanden spätere radikale oder die das genuin Weibliche betonende Feministinnen darauf, daß Frauen von Männern verschieden (und ihnen vielleicht sogar überlegen) sind und daß Geschlechtsunterschiede gewahrt und ausgearbeitet und nicht in Frage gestellt werden sollten. Feministinnen der späteren siebziger Jahre versuchten, eine schon existierende weibliche Gegenkultur in der Vergangenheit wieder zu entdecken und in der Gegenwart zu entwickeln. Kultur wurde so zum geeigneten Feld für politische Aktivität, und die eigentliche politische Praxis wurde von den Feministinnen mehr und mehr nicht als Herausforderung der männlichen Dominanz in der politischen Arena gesehen, sondern als die Schaffung von autonomen oder sogar separatistischen feministischen Institutionen. Die Ergebnisse dieser Veränderung feministischer politischer Standpunkte waren ziemlich paradox. Dieser »kulturelle« Feminismus, wie man diese Richtung in den USA nennt - löste eine enorme Vitalität und Kreativität aus: Die Errungenschaften von Frauen in der Vergangenheit wurden wiederentdeckt und gefeiert, und der jetzige Feminismus schuf eine Vielzahl neuer feministischer Institutionen: Frauenhäuser für mißhandelte Frauen, Hilfe für vergewaltigte Frauen, Frauenzentren, Frauenbuchläden, Frauenkneipen, Frauenzeitschriften, Frauenverlage, Frauenrockgruppen. Diese sichtbaren feministischen Bemühungen lenkten sicherlich Aufmerksamkeit auf die Probleme aller Frauen und schufen eine Atmosphäre, in der wenigstens im ideologischen Bereich die schlimmsten Formen von Sexismus abnahmen. Aber die Tendenz der Feministinnen, sich auf einen eigenen Bereich zurückzuziehen, bedeutete gleichzeitig, daß die radikalsten Aktivitäten von Feministinnen in den späteren siebziger Jahren sich in Bereichen vollzogen, die den meisten Frauen der Welt verschlossen und für ihr Leben unwichtig waren.
Die feministische Theorie der späten siebziger Jahre spiegelte verstärkt die Standpunkte des am ursprünglich Weiblichen orientierten Feminismus wider, und feministische Wissenschaftlerinnen machten sich auf die Suche nach frauenspezifischen Merkmalen. Ein Beitrag zu feministischen Texten war die Entdeckung bislang nicht anerkannter kultureller Erfolge von Frauen - oft in Bereichen, die schon immer als »weiblich« galten und in denen der Unterschied zwischen Frauen und Männern besonders deutlich zum Ausdruck kam (wie z. B. Adrienne Richs Buch Von Frauen geboren Mutterschaft als Erfahrung und Institution 1976; deutsch 1979). Das feministische Interesse an einer Neubetrachtung der Psychoanalyse, die durch Juliet Mitchells Feminism and Psychoanalysis angeregt wurde, überschnitt sich mit der Theorie der französischen Gruppe »Psychanalyse et Politique« (vgl. hier S.417 ff.). »Psych et Po« behauptete, daß Frauen durch die phallogozentrische Ordnung verdrängt, nicht durch materielle Bedingungen unterdrückt würden; folglich sei es die Aufgabe des Feminismus, jene Ordnung zu dekonstruieren, damit die weibliche Differenz sich ausdrücken könne. Obwohl die französische psychoanalytische feministische Theorie wahrscheinlich weniger biologistisch ist, als es vielen Feministinnen außerhalb Frankreichs erschien, so betont sie doch, ebenso wie der »kulturelle« Feminismus, das weibliche Anderssein und lehnt den politischen Kampf in der Öffentlichkeit zugunsten der Schaffung eines separaten Bereichs für Frauen allein ab. Das Musterbeispiel für diesen »kulturellen« Feminismus in den späten siebziger Jahren ist Mary Dalys Buch Gyn/Ökologie (1978; deutsch 1981). Daly listet die Verbrechen der Männer im einzelnen auf und führt sie auf ein nekrophiles Prinzip zurück, das sich manchmal aus der männlichen Anatomie abzuleiten scheint; in einer Serie brillanter Wortspiele versucht sie, ursprüngliche feministische Bedeutungen wiederzufinden, die in einer von Männern abgewerteten Sprache verloren gegangen waren. Daly sieht es als die Aufgabe der Feministinnen an, durch einen Willensakt ihre Identifikation mit der männlichen Kultur abzulehnen, sich vom Patriarchat zu distanzieren und sich für die Reise zu einer Gemeinschaft freier Lesben, der »spinnenden Häxen«, zusammenzuschließen.
Die feministische Literaturwissenschaft wurde durch diese weitreichenden Tendenzen in feministischer Theorie und Praxis stark beeinflußt. Viele der frühesten Werke feministischer Literaturkritik untersuchten in der Tradition von de Beauvoir und Millett die Bilder von Frauen in Texten männlicher Autoren. Obwohl die frühesten feministischen Kritikerinnen in ihren Analysen hauptsächlich entrüstet den Sexismus männlicher Autoren herausfilterten, erarbeiteten spätere Studien dieser Art sehr subtile Untersuchungen der symbolischen Darstellung von Weiblichkeit und deren ideologische Funktion innerhalb verschiedener nationaler Traditionen zu verschiedenen historischen Zeiten. Die Aufmerksamkeit der Feministinnen richtete sich jedoch schnell auf die Untersuchung von Werken weiblicher Autoren und versuchte, oft unter dem uneingestandenen Einfluß von Silvia Bovenschens Artikel Gibt es eine weibliche Ästhetik?, die Besonderheit weiblicher literarischer Produktion zu bestimmen. In der Mitte der siebziger Jahre glaubten angloamerikanische feministische Wissenschaftlerinnen (am auffallendsten Elaine Showalter and Ellen Moers), eine separate und verborgene weibliche Subkultur und literarische Tradition entdeckt zu haben, auf die ältere Autorinnen zurückgegriffen hatten und welche eine Rezeption aus feministischer Perspektive erlaubte. Später fragten sich feministische Literaturwissenschaftlerinnen, nachdem sie erkannt hatten, daß Schreiben sich immer innerhalb eines gegebenen kulturellen Rahmens vollzieht, ob eine authentische Darstellung weiblicher Erfahrung überhaupt möglich sei; beeinflußt von Poststrukturalismus begannen sie, die textlichen Strategien zu untersuchen, welche Autorinnen angewendet hatten, um Dimensionen weiblicher Erfahrung darzustellen, die für das Patriarchat unannehmbar waren. Für feministische Literaturwissenschaftlerinnen, die durch diese aus Frankreich kommende neue Textbetrachtungsweise beeinflußt waren, verbanden sich Textlichkeit und Sexualität aufs engste, und sie begannen, die Avantgarde-Texte am höchsten zu schätzen, in denen der verdrängte weibliche Körper zu sprechen schien. Solche Texte, behaupteten sie, könnten die symbolischen Strukturen des Patriarchats aufbrechen und zum Entstehen eines neuen weiblichen Subjekts sowie einer neuen feministischen Kultur beitragen. Das besondere Gewicht, das Texten von Frauen beigemessen wurde und die politische Bedeutung, die sie annahmen (im Gegensatz z.B. zu Untersuchungen von politischen Aktivitäten oder Organisationen von Frauen in der Vergangenheit), können also deutlich im Zusammenhang mit einer größeren Entwicklung in feministischer Theorie und Praxis gesehen werden: mit der Aufgabe des Feminismus, einen Raum und eine Kultur für Frauen außerhalb des Patriarchats zu schaffen.
Trotz der komplexen und subtilen Methodologien, die von feministischen Literaturwissenschaftlerinnen in den siebziger Jahren entwickelt worden sind, ist es nicht ganz klar, ob feministische Leserinnen Frauenliteratur aus denselben Gründen lasen und aus ihr lernten, aus denen jene Literaturwissenschaftlerinnen es gerne gesehen hätten. Es ist auch nicht klar, ob feministische Leserinnen und feministische Literaturwissenschaft überhaupt dieselben Texte als wichtig ansahen. Was feministische Leserinnen in der Frauenliteratur suchten, war die Benennung und Beschreibung ihrer eigenen Situation, entweder in der Form eines Berichts über Klagen von Frauen im Hinblick auf Männer oder die Darstellung ihres Kampfes um die Entwicklung eines neuen Selbstbewußtseins. Die Frauenbewegung schuf die Gelegenheit für eine Neubetrachtung von Texten bekannter Autorinnen der Vergangenheit (Bronte, Eliot, Sand) sowie weniger bekannter (Chopin, Perkins Gilman, Smedley) aus einer neuen politischen Sicht. Aus dem Textangebot von Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts kristallisierten sich schnell Virginia Woolfs Essays, besonders ihre Abhandlung Ein Zimmer für sich allein (1929; deutsch 1978) sowie ihr Buch Drei Guineen (1938; deutsch 1978) als besonders wichtig für das Verstehen der Hindernisse heraus, denen sich kreative Frauen ausgesetzt sahen, während ihre Romane als Erforschungen der weiblichen Subjektivität gelesen wurden. Die Glasglocke (1963; deutsch 1968) von Sylvia Plath, einer weiteren Autorin, die Selbstmord beging, beschreibt im Detail die Entfremdung einer jungen Frau, die sich nicht an das Weiblichkeitsmodell der amerikanischen Fünfziger Jahre anpassen konnte. Feministinnen haben mit Begeisterung Doris Lessings Romane, besonders Das goldene Notizbuch (1962; deutsch 1978) gelesen, weil sie darin das Bemühen erkannten, eine Struktur zu schaffen, die in die ungleichartigen Bereiche im Leben einer modernen, unabhängigen Frau Sinn hineinbringt. Margaret Atwoods komplexes Buch Der lange Traum (1972; deutsch 1979) betont die Kolonisierung der Kultur ihrer Protagonistin, verbindet deren Machtlosigkeit mit der Kontrolle der Amerikaner über ihre geliebte kanadische Wildnis und zeigt die Heldin auf der Suche nach einer neuen Identität in größerem Einklang mit der Natur. Marilyn Frenchs Buch Frauen (1977; deutsch 1978), ein außergewöhnlicher Erfolg, beschreibt im Detail die Freuden und Probleme einer traditionellen Hausfrau und folgt ihr dann auf ihrer einsamen Reise in eine feministische Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu diesen meist realistischen Texten stellt Monique Wittigs Buch Les Guerillières (1969; deutsch 1980) auch literarische Strukturen in Frage: in einer Serie von üppigen, exotischen Fragmenten verfolgt sie das Bemühen von Frauen, ihre eigene Kultur und Sexualität vom Patriarchat zurückzufordern; ihr Buch hat eine Art Kultstatus bei vielen feministischen Leserinnen erlangt. In Adrienne Richs Gedichtsammlung Der Traum einer gemeinsamen Sprache (1978; deutsch 1982) entdeckten Feministinnen den lyrischen Ausdruck ihrer Erlebnisse im Patriarchat.
Doch trotz dieser beachtenswerten Werke feministischer Autorinnen entwickelte sich die große Mehrheit von Texten, die von Frauen in den siebziger Jahren verfaßt wurden, nicht in solch enger Verbindung mit der Frauenbewegung, und sie veranschaulichten auch nicht immer so deutlich feministische Prinzipien (auch wenn sie trotzdem als feministisch angesehen wurden, wie im Fall der herausragenden Romane von afro-amerikanisehen Autorinnen). Zweifellos änderte die internationale Frauenbewegung das Bewußtsein der meisten Frauen im Westen, also auch der Schriftstellerinnen, schuf ein neues Bewußtsein von der Bedeutung des Geschlechts als Kategorie, und die neue Aufmerksamkeit, die Frauenfragen gewidmet wurde, erleichterte es weiblichen Autorinnen sehr, einen Verleger zu finden. Trotz dieser Tatsache, bemerkte Elaine Showalter vor kurzem etwas entrüstet in einem Essay Women who write are women in der New York Times vom 16. Dez. 1984, sei es erschreckend festzustellen, wie viele moderne Autorinnen die Zuordnung ihrer Werke zur Kategorie »Frauenliteratur« ebenso wie die Behauptung, daß ihre Werke sich vorrangig mit Frauenproblemen beschäftigen, ablehnen. Unter den englisch schreibenden sind dies besonders Doris Lessing, Joan Didion, Cynthia Ozick, Margaret Drabble, Iris Murdoch, Joyce Carol Oates und Nadine Gordimer. Sicherlich ist eine solche Antwort zum Teil durch Karrieredenken, Opportunismus, fehlende Solidarität oder sogar Selbsthaß verursacht. Aber es könnte auch sein, daß diese Autorinnen etwas verstanden haben, was viele Feministinnen noch nicht begriffen haben. Vielleicht wollen diese Autorinnen, daß Frauen nicht als eine qualitativ andere Art von Kreatur betrachtet werden, sondern als eine geschlechtliche Variante der Gattung Mensch, mit vielseitigen Interessen, von denen sie einige mit Männern und nicht alle mit allen Frauen teilen. Vielleicht ist es auch so, wie die weiße südafrikanische Autorin Nadine Gordimer behauptet, daß die Probleme der weißen Frauen nicht die wichtigsten in der heutigen Welt sind. Ein Ghetto ist ein Ghetto, unabhängig davon, wie schön es ausgeschmückt ist; wenn Frauenliteratur das ist, als was sie viele feministische Literaturwissenschaftlerinnen definiert haben, dann liegt vielleicht darin ein Grund, warum viele Autorinnen daran keinen Anteil haben wollen.
Diese offene Frage ist die Zukunft des Feminismus in den achtziger Jahren. Nicht nur Schriftstellerinnen, meine ich, haben entschieden, daß heute andere Fragen dringender sind als die Schaffung eines separaten feministischen Bereichs oder das Streben nach Privilegien für eine begrenzte Schicht von Frauen. Der Kurs, den der Feminismus in den siebziger Jahren verfolgte, führte dazu, daß den Feministinnen in den achtziger Jahren die politische Praxis fehlt. Viele Feministinnen scheinen zu fühlen, daß den Feminismus international eine Krankheit befallen hat, deren Ursache sie nicht verstehen. Außerdem haben sich viele Feministinnen entweder ganz aus der feministischen Politik zurückgezogen oder sind in eine andere Arena politischer Aktivität übergewechselt, ohne deswegen die Prinzipien aufzugeben, welche sie zuerst zur Frauenbewegung gebracht hatten. Vielleicht waren die siebziger Jahre notwendig, um Kraft und Vertrauen zu gewinnen, und vielleicht ist der Übergang in eine politische Koalition jetzt das Richtige. In den USA hat sich eine Reihe weißer Frauen den Wahlkampagnen der »Rainbow Coalition« angeschlossen, die vom schwarzen Präsidentschaftskandidaten Jesse Jackson angeführt wurde, und die radikalen feministischen Frauen vom Greenham Common Friedenscamp in England haben sich mit den streikenden britischen Bergarbeitern bei den Streikposten zusammengetan, um gegen die Politik der Regierung Thatcher zu protestieren. Vielleicht wird der Anstoß zu einem erneuerten Feminismus auch von Frauen der Dritten Welt kommen, die, angeregt vom Feminismus westlicher Prägung, glauben, daß in der Mobilmachung der Frauen ihrer Länder der Schlüssel zur Bekämpfung von Kapitalismus, Imperialismus und Frauenelend liegt; eine Veränderung könnte auch von Frauen der Gewerkschaften ausgehen, die zwar behaupten, »Ich bin keine Feministin, aber...«, doch zäh für die Gleichsetzung ihrer Arbeit mit der der Männer kämpfen; und vielleicht wird sich der Feminismus auch aus der großen Anzahl der Frauen an der Basis der Frauenbewegung regenerieren, die sich nie viel mit den Veränderungen der feministischen Theorie beschäftigt haben, sondern in Frauenhäusern und Frauenzentren weiter hart für die Gerechtigkeit für Frauen gearbeitet haben. Der Feminismus der siebziger Jahre ist dann erfolgreich gewesen, wenn er Frauen hervorgebracht hat, die es ablehnen, sich mit der Welt, wie sie ist, abzufinden und die fortfahren, auch in den achtziger Jahren für eine soziale Ordnung zu kämpfen, welche die Bedürfnisse aller Frauen befriedigt.
Weiblichkeit im Spiel der Sprache
Über das Verhältnis von Psychoanalyse und »écriture féminine«
Mitte der siebziger Jahre setzt in der Bundesrepublik eine Phase der Reflexion über die Ziele, Methoden und theoretischen Grundlagen der Frauenbewegung ein. Im Rahmen dieser Reflexion vollzieht sich unmerklich eine Richtungsänderung bezüglich der Vorbilder. Hatte man sich bis dahin vornehmlich an der anglo-amerikanischen Frauenbewegung orientiert, so richtet sich nun der Blick auf die Entwicklungen auf theoretischem Gebiet in Frankreich. Hier liegen Texte vor, in denen sich drei unterschiedliche diskursive Strategien überschneiden: Die Psychoanalyse, die Literatur und der Feminismus. Die Texte der französischen feministischen Avantgarde werden unter dem Nenner »écriture féminine« zusammengefaßt. In der Bundesrepublik nimmt man die Texte der französischen Theoretikerinnen nur zögernd auf Trotz der Faszination, die man den Texten nicht abspricht, ist für viele ein Nutzen bezüglich der deutschen Frauenbewegung nicht ersichtlich. Auf theoretischem Gebiet jedoch haben diese Theorien auf unterschiedliche Weise Eingang gefunden. Neben teilweiser Ablehnung (Heide Göttner-Abendroth) zeigt sich eine Strömung mimetischer Aneignung, sowohl stilistisch als auch inhaltlich (Friederike Hassauer, Eva Meyer), die meist isolierte Einarbeitung in andere Diskurse (Ricarda Schmidt, Sonja Hilzinger), der Gebrauch der französischen Theorie als Äußerung utopischer Forderungen (Sigrid Weigel, die Zeitschrift Die Schwarze Botin) oder - ganz selten - die Übertragung als theoretischer Apparat bei Literaturanalysen (Irene Guy). Die Schwierigkeit, die sich offensichtlich stellt, ist die Verknüpfung von Unterdrückungs- und Patriarchatsdiskurs mit dem Diskurs der »écriture féminine«. Meines Erachtens kann letzterer jedoch für die deutsche feministische Diskussion produktiv gemacht werden. Dies gelingt nicht durch das Kopieren des Stils, sondern dadurch, daß man die Theoreme auf die eigene Psychohistorie überträgt. Dabei sollte sich eine feministische Theorie nach französischem Vorbild an den eigenen sozial-historischen, kulturellen, psychischen und literarischen Traditionen orientieren und sich mit ihnen auseinandersetzen.
Ich möchte im folgenden ansatzweise an einer Auswahl von Texten die Arbeitsweise und die Entwicklung von Theorien in der französischen »Schule« zeigen. Zuerst gebe ich eine kurze Übersicht über den Hintergrund, vor dem sich die Texte der »écriture féminine« entwickelt haben. Danach beschreibe ich die wichtigsten allgemeinen Merkmale dieser Gruppe und gehe dann exemplarisch auf Texte einzelner Theoretikerinnen/Schriftstellerinnen näher ein. Ich möchte hier die Diversität und die Übereinstimmungen der »écriture féminine« darstellen. In dieser Hinsicht erscheinen mir die Texte von Luce Irigaray, Julia Kristeva und Héléne Cixous in ihren Verschiedenheit repräsentativ. Trotz des einleitenden Charakters meiner Ausführungen hoffe ich zeigen zu können, wie wichtig die Theorien der »écriture féminine« für die (theoretische) Weiterentwicklung des Feminismus sein können oder sind.
Hintergründe
Im Mai 68, Paris: In den Straßen werden Barrikaden aufgeworfen, überall brennen Autos, es wird allgemein protestiert, Arbeiter und Studenten kämpfen Seite an Seite. Der Protest konzentriert sich auf die etablierten Autoritäten der Wissenschaft und Politik. Eines der Protestzentren ist die Universität von Vincennes, in der auf theoretischem Niveau das herrschende Denken schon lange kritisiert wird. Man konzentriert sich in dieser Kritik auf das herrschende Symbolsystem, also auf die Gesetzmäßigkeiten im Denken und in der Sprache, die für unsere Gesellschaft grundlegend sind.
Ich will hier einige »Stars« nennen, welche die Gemüter erregt haben. Allen voran der »grand-pére« des Strukturalismus, der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der entdeckte, daß Gesellschaftsstrukturen und die Sprache nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten strukturiert sind. Der zweite, sehr streitbare Philosoph ist Michel Foucault, der unter anderem durch seine Wissenschaftskritik hervortrat und sich hauptsächlich gegen die Dominanz der Rationalität, des Logos im Wissenschaftsdiskurs wandte. Der dritte Theoretiker ist Jacques Derrida, der das metaphysische Element im Wissenschaftsdiskurs kritisiert und darauf hinweist, daß unser Denken und Sprechen unausgesprochen die Vorstellung birgt, hinter jeder zufälligen Erscheinungsform stehe eine Art Eigentlichkeit. Dieses Denken hat eine lange Tradition, die auf Plato zurückgeht. Der vierte Theoretiker ist der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der die Psychoanalyse kritisiert und dessen Losung lautet: »Relire Freud!« Lacan bespricht in seiner Kritik die Borniertheit und unangemessene Gradlinigkeit der »herrschenden« psychoanalytischen Praxis und versucht, Freuds Theorie als eine Art Symboltheorie zu lesen. Das Wichtigste ist die Radikalisierung des Subjektbegriffs. Die französischen Feministinnen entwickeln vor diesem theoretischen
Hintergrund eine Theorie der Frauenunterdrückung, die drei »Fallgruben« feministischer Analyse vermeidet, zum Beispiel: Die Reduktionstheorie, das heißt, feministische Analyse der Frauenunterdrückung ausschließlich im Hinblick auf Frauen, weil dies, wie manche behaupten, ein »Frauenproblem« sei. Frauen werden hier als eine Minorität betrachtet. Eine Minorität hat jedoch immer eine kulturelle Identität und ist auch zahlenmäßig unterlegen. Beides trifft auf Frauen nicht zu. Eine zweite Fallgrube stellt die Ergänzungstheorie dar; hier argumentiert man wie im folgenden: Es gibt Männer und es gibt Frauen; Frauen sind anders, sie sind in ihrem Anderssein völlig gleichwertig, aber sie sollen auch anders bleiben, weil Männer und Frauen sich in ihrem Anderssein sehr harmonisch ergänzen. In dieser Theorie verfällt man schnell in eine Art Biologismus, indem man sich auf die Essenz des Weiblichen in der Frau beruft. Aber wo finden wir diese innerhalb der kulturellen Einschreibung? Eine dritte Fallgrube eröffnet sich in Form der so verlockenden Gleichheitstheorie: »Alle Menschen werden Brüder« ist das Ideal in der neunten Symphonie von Beethoven. Das spricht für sich. Aber auch wenn alle Menschen Schwestern würden, ginge diese Theorie meiner Meinung nach immer noch von einer großen Nivellierungswut aus, die Vielfältigkeit und Abweichung ausschließt. In der heutigen Gesellschaft würde diese Gleichheitstheorie immer auf eine Art Emanzipationsbewegmng hinauslaufen, in der Frauen genauso viel dürfen wie Männer, der Maßstab jeder Handlung jedoch immer noch der männliche Parameter wäre. Dieses Problem reflektiert Silvia Bovenschen in ihrer Untersuchung Die imaginierte Weiblichkeit. In Vincennes ist man innerhalb der »écriture féminine« sehr vorsichtig in Bezug auf diese Fallgruben. Dort formiert sich eine radikal feministische Avantgarde, die aus der aktionistisch orientierten MLF (Mouvement de Libération de Femmes) hervorging, sich jedoch vornehmlich auf dem Gebiet der Theorieentwicklung und der Schreibpraxis profilierte.
Allgemeine Merkmale der »écriture féminine«
Wie die meisten Gruppen, so besteht auch die sogenannte »écriture féminine« nicht aus einem Klub gleichgesinnter Frauen, die eine Art Schulideologie verbreiten wollen. Der Name wurde ihnen eher von anderen gegeben, in der Absicht, eine bunte Gesellschaft sehr verschiedener Denkerinnen/ Schriftstellerinnen zu benennen und einzuordnen. Ordnung muß sein... Die bekanntesten dieser Gruppe sind die bereits oben genannten Luce Irigaray, Héléne Cixous, Julia Kristeva, außerdem Chantal Chawaf, Annie Leclerc, Sarah Kofman und Monique Wittig. Diese heterogene Gruppe ist durchaus nicht immer einer Meinung. Unter dem wachsamen Auge eines schadenfrohen Publikums werden zwischen diesen Frauen oft tiefgreifende Kontroversen ausgetragen, wie zum Beispiel zwischen Héléne Cixous und Monique Wittig, deren Identitätsbegriff und Konzept ästhetischer Strukturen Héléne Vivienne Wenzel in ihrer Studie An Appreciation of Monique Wittigs Writings in Context vorstellt (S. 265-283). Es geht hier um unterschiedliche Ansichten über politische Kampfstrategien, Schreibpraxis und den Umgang mit Begriffen wie Feminismus, Lesbianismus, Weiblichkeit. Aufgrund ihrer Textpraxis kann man die obigen Autorinnen jedoch unter dem Sammelnamen »écriture féminine« auf einen Nenner bringen.
Die gemeinschaftliche Grundlage der »écriture féminine« formiert sich in einer Kritik an den stillschweigenden Konventionen im Denken und in der Theorieentwicklung der abendländischen Kultur. Man versucht zu beweisen, daß und wo eine Konsolidierung im Denken stattfindet, wodurch andere Denkarten außer den herrschenden aus dem Denksystem ausgeschlossen werden. In diesem Feld der Ausschließung wird auch das »Weibliche« lokalisiert, das in engem Zusammenhang mit der realen Frau steht.
Die Kritik der »écriture féminine« konzentriert sich innerhalb der Philosophie und Wissenschaftstheorie auf die Dominanz des Logozentrismus. In diesem Denken in Ein-heiten führt Heléne Cixous in Schreiben, Feminität, Veränderung aus (S. 134-149) - ist kein Platz für das Denken in Zweiheiten, die nicht in Hierarchien geordnet sind, wodurch das nicht-dominante »Weibliche« aus dem Denken extrapoliert wird. Die Theoretikerinnen zeigen dieses Einheitsdenken auch in der Psychoanalyse auf und werfen ihr vor, auch sie handhabe das Gesetz des »Einen«, indem sie die Konstruktion der Männlichkeit (Freud), bzw. das Gesetz des Phallus (Lacan) zum einzigen Maßstab jeder Subjektentwicklung macht. Die »écriture féminine« kritisiert schließlich auch eine Textpraxis, die den Text als eine Einheit betrachtet, als ein Ganzes, das nach größtmöglicher Eindeutigkeit strebt. Dadurch werden Faktoren wie Klang, Emotion, Rhythmus, Doppeldeutigkeiten und Spiel so weit wie möglich ausgeschlossen, was, wie Heléne Cixous im Gespräch mit Rina Van der Haegen so treffend sagt, auf eine Textpraxis mit einer »erstarrten Sprache« hinausläuft. Die oft schwer lesbaren Texte der »écriture féminine« signalieren in einer Art Spurensicherung Risse in dem so hermetischen Denksystem, die auf die An- oder Abwesenheit eines kulturellen Elementes hinweisen, das man »weiblich« nennen könnte, ohne daß es mit der biologischen Frau, die kulturell nach patriarchalen Maßstäben geformt wurde, identisch zu sein braucht. Es geht nicht darum - wie Cixous in The Laugh of the Medusa (S. 875-893) feststellt - die Rolle der biologischen Frau aufs neue zu definieren; dies würde nämlich bedeuten, daß die bestehende Zweiteilung in Männer und Frauen entweder festgeschrieben oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert würde. Die Suche der »écriture féminine« zielt eher auf eine Dekonstruktion bestehender Eindeutigkeiten. Es soll wieder ein frischer Wind durch die staubigen Paläste der Repräsentationsapparate wehen.
Das Streitinstrument der Damen ist die Sprache. Ihre Losung ist »Prendre la parole«. »La parole« ist von alters her hauptsächlich eine Männerdomäne, und in einer Kultur, in der Macht so sehr mit der Sprache liiert ist, entspricht die Eroberung der Sprache fast einem Griff nach der Macht. Schreiben zielt in den Augen der »écriture féminine« jedoch nicht auf das Besetzen traditioneller Repräsentationsapparate, sondern wird nach Cixous als subversive Praxis par excellence gesehen (ebd., S. 879).
Die Frage bleibt jedoch: Wie kann die Frau die Sprache in die Hand bekommen, ohne nur den patriarchalen Sprachgebrauch zu imitieren? Was ist das Weibliche und wo ist es geblieben? Was ist »das Weibliche« der Frau? Existiert die Frau überhaupt, oder müssen wir uns in den herrschenden Symbolsystemen doch mit dem Platz begnügen, den Lacan uns zuwies, als er sagte: »LA femme n'existe pas«? Sind wir dazu verdammt, das ewig Negative zu bleiben? Fragen über Fragen. Es wird nicht leicht sein, sie zu beantworten. Ich werde anhand einiger Texte von Irigaray, Kristeva und Cixous einer Spur folgen, die ein wenig vom rechten Weg abweicht. Ich konzentriere mich dabei auf den Zusammenhang, den sie zwischen der Psychoanalyse, der Textpraxis bzw. der »écriture« und der Frau sehen. Vielleicht begegnen wir irgendwo in diesem Tableau der »Weiblichkeit« als solcher.
Luce Irigarays Angriff gegen den Phallokratismus
Zunächst zu den theoretischen und literarischen Arbeiten Luce Irigarays. Irigaray hat lange in Vincennes gearbeitet und wurde dort mit ihrer Studie Speculum de l'autre femme promoviert. Ihre Zusammenarbeit mit Lacan führte letztlich zu einer heftigen Kontroverse über Wissenschaftsarbeit. Lacan, der immer behauptete, »DIE« Frau existiere nicht, empfand Irigaray als Person so bedrohlich, daß sie das Institut verlassen mußte.
Was die Psychoanalyse betrifft, so greift Irigaray auch in ihrem Artikel Rückkehr zur psychoanalytischen Theorie (S. 33-109) besonders die Weiblichkeitstheorie an, die sie phallozentristisch nennt. Sie weist darauf hin, daß Freud das Männliche dem Menschlichen gleichstellt. Diese menschliche Männlichkeit erhebe für sich den Anspruch auf Werte wie Eigentum, Produktion, Ordnung, Form, Einheit und Sichtbarkeit, kurz auf den ganzen Kulturapparat. Für die Frau bliebe nicht viel übrig. Sichtbar wird nach Irigaray diese annexierende Haltung auch in Lacans Theorie des Phallus, der hier nicht als männliches Geschlechtsorgan interpretiert wird, sondern als Symbol des Männlichen als einer Repräsentationsinstanz. Bei Lacan hat der Phallus keinen eindeutigen biologischen Bezug mehr, sondern ist eine Metapher für kulturelle Ordnungen. Das phallische Modell orientiert sich darum nicht ausschließlich an der Sexualität, sondern ist auch auf die Sexualität anwendbar. Bei dieser erdrückenden Anwesenheit des Männlichen schneidet die Frau schlecht ab. Sie wird nach Freud von Penisneid und männlichen Phasen geplagt, so daß der normalen Frau nur die Passivität, der Narzißmus und der Masochismus bleiben. Die Frau wird nach Lacan in der phallischen Ordnung als das Negative, das Andere definiert. Nach Irigaray gibt es eigentlich nur ein Geschlecht, das männliche, an dem alles gemessen wird. Zudem erstarren bei Freud die psychischen Mechanismen zu menschlichen Universalien. Freud hat nicht bemerkt, daß seine Analysen des psychischen Apparates auf den soziologischen Daten von Männern und Frauen der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts basierten. Irigarays Freudanalyse stieß auf heftige Kritik, wie man Sarah Kofmanns Studie L'enigma de la femme entnehmen kann. Wahrscheinlich hat Irigaray Übersetzungen von Freuds Texten gelesen, wodurch die Nuancierungen seiner Formulierungen teilweise verlorengegangen sind. Freud formulierte seine Theorie sehr vorsichtig, da er sich dessen bewußt war, daß seine Aussagen bezüglich der Weiblichkeit auf Vermutungen und Hypothesen beruhten. Sein selbstkritischer Stil verschwindet oft in Übersetzungen, wodurch der Eindruck entsteht, Freud äußere sich sehr dezidiert über die Wahrheit der Weiblichkeit. Meines Erachtens ist dieser Eindruck eher seinen Epigonen zuzuschreiben als ihm selbst.
Irigaray siedelt Freuds Theorie in einem größeren Rahmen an, in dem des abendländischen Denkens. In Speculum de l'autre femme zeigt sie, daß das Denken in Einheiten nicht von Freuds persönlicher Kurzsichtigkeit herrührt, sondern eine lange Tradition hat: Freuds Theorie paßt nach Irigaray in eine Denkweise, die sich um Begriffe wie Gleichheit und Identität zentriert, was in Freuds Ich-Begrfff seinen Niederschlag findet.
Meiner Meinung nach läßt die Freudlektüre eine derartige Interpretation zu. Man denke an die Ausarbeitung einer Egopsychologie in Amerika. Diese Sehweise erfaßt jedoch nicht die wichtigen Arbeiten Freuds über die Traumarbeit, in der der Subjektbegriff eher dekonstruiert wird.
Irigaray reiht Freud in das philosophische Denken seit Plato ein, das alles zu Einheiten zu reduzieren versucht. Irigaray verbindet mit der Psychoanalyse eine Kritik am Logozentrismus. In Speculum de l'autre femme schreibt Irigaray die Geschichte der philosophischen Frauenfeindlichkeit. Die Frau hat bei allen Philosophen ein Manko, den Mangel an Mannsein, den Mangel an Abstraktionsverrnögen, an Kreativität, was sich mit einer Auswahl von Zitaten von Aristoteles bis Lacan beweisen läßt. Die Frau symbolisiert den Mangel, den Verlust und das Defizit.
Vor diesem umfassenden Hintergrund wird es schwierig, über Weiblichkeit ohne die patriarchalen Definitionen zu sprechen und nicht schnurstracks im Irrenhaus zu landen. Irigaray schlägt vor, den herrschenden Diskurs mit der ironischen Dekonstruktion zu untergraben. Damit wählt sie eine Strategie, die Jacques Derridas Symbolkritik in seiner Schrift La différance (S. 6-38) entspricht. Derrida behauptet, es gebe keinen Bereich jenseits der Kultur, sondern man müsse die Metaphysik im Innern des Denkens selbst bekämpfen, indem man die logisch-kausal erscheinenden Behauptungen mit ihren eigenen Prämissen kritisch konfrontiert und ihnen so die Grenzen ihrer Wahrheitskonstruktionen zeigt.
Dekonstruktionsversuche in der »écriture«
Irigaray kämpft mit der Feder gegen das logo- und phallozentrische Denken. Sie konzentriert sich auf die Dekonstruktion der »écriture«, auf eine Textpraxis, die für Gesellschafts- und Denksysteme grundlegend ist. Meiner Meinung nach hat sie dabei den Sophisten über die Schulter geschaut, denn sie benutzt viele Techniken, die in der klassischen Philosophie unter anderem wegen ihrer Doppeldeutigkeit und »Unzulänglichkeit« - verworfen wurden. Dem Denken mußten die Flügel gestutzt werden, um den Flug in die definitorischen Abstraktionen beginnen zu können.
Um den patriarchalen Apparat zu dekonstruieren, konzentriert sich Irigaray auf zwei Möglichkeiten der Subversion: Das Sich-Äußern der konkreten Frau und eine spezifische Form der Textpraxis. Ich gehe anhand eines Textbeispiels erst näher auf die erste Möglichkeit und danach ausführlicher auf die Textpraxis ein.
Irigaray sagt in Wenn unsere Lippen sich sprechen (S. 25-41), daß Frauen reden/schreiben, kurz, sich äußern sollten. Sie erkennt die Gefahr einer Vereinnahmung in den patriarchalen Diskurs, dennoch drängt sie darauf, daß Frauen nicht länger schweigen oder, wie die berühmten Hysterikerinnen, mit ihrem Körper sprechen sollten. Cathérine Clément gibt in ihrem Beitrag Hexe und Hysterikerin der Hysterikerin eine eigene Funktion, weil diese die Grenzen des Diskurses angibt. Da sie sich und ihren Protest jedoch nicht zugänglich machen kann, wird sie aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und im Haus oder einer Anstalt eingesperrt (S. 149-154). Irigaray ist sich dessen bewußt, daß der Prozeß des Frau-Sprechens langsam in Gang kommt, daß eine Menge Leid, Trauer und Verzweiflung damit verbunden ist, aber sie sieht in einer solidarischen Haltung zwischen Frauen eine Möglichkeit, Frauen ganz langsam zum Sprechen zu bringen. Außer der Ermutigung zum Sprechen behandelt Irigaray eingehend eine andere Möglichkeit, wie Frauen patriarchale Normen bekämpfen oder sich ihnen entziehen können. Irigaray benutzt in der Macht des Diskurses den Begriff der »Mimesis«. Sie spielt mit den Doppeldeutigkeiten dieses Begriffs, wobei ihrer Meinung nach »Mimen« das Widerspiegeln männlicher Normen und so eine der Möglichkeiten ist, das herrschende Spiel lächerlich zu machen. Außerdem ist die Frau, wenn sie mimt, nicht der »Phallus«, sondern tut nur so. Sie entzieht sich der männlichen Repräsentation, um an einem anderen Ort zu sein, unbemerkt. Diese Bewegung weist auf die zweite Möglichkeit der Mimesis für die Frau hin: Sie widersetzt sich einer spiegelnden Eindeutigkeit und befindet sich dagegen in dem Bereich, der von der definitorischen Arbeit der Repräsentation nicht genannt oder sogar ausgeschlossen wurde. Wir können uns das wie eine Widerstandsbewegung vorstellen, die eng verwandt ist mit Kristevas Begriff der Negativität, der soviel wie »das, was Veränderung ermöglicht« bedeutet. Die Negativität ist eine Modalität, die etablierte Strukturen untergräbt und erneuert, jedoch nicht individuell nachweisbar ist. Außer diesem mehr politisch ausgerichteten Subversionsversuch konkretisiert Irigaray in ihren Texten die Dekonstruktionsarbeiten auf stilistischer Ebene. Im folgenden werde ich einige Stilmittel nennen: Irigaray versucht, Definitionen »explodieren« zu lassen. Sie zeigt den metaphorischen Charakter von Definitionen, die immer eindeutig sein wollen. Sie zeigt die Überdetermination, die Mehrdeutigkeit der Definitionen und beweist, daß die Eindeutigkeit von Definitionen eher eine »Kopfgeburt« als eine Tatsache ist. Irigaray bewegt sich hier in einem Diskurs, der seit Nietzsches Kritik des Wahrheitsbegriffs eine lange Tradition kennt. Irigaray arbeitet mit Metaphern und zeigt ihre materiellen, vielschichtigen Konnotationen. Aus der Vielzahl der Bedeutungen entsteht ein Spiel, das sich der eindeutigen Lesart und also auch der Wahrheitsfindung entzieht. Das Paradox des Plurals »Wahrheiten« schafft Raum für bisher wegzensierte Bedeutungslinien.
Irigaray gebraucht neben dieser Technik das Mittel der Persiflage. Sie nimmt bestehende Theorien und dreht sie um, wie z. B. Freuds Persönlichkeitstheorie (vgl. Le sexe qui n'estpas un, S. 7-17). Ich werde mich in einem Beispiel noch ausführlicher damit beschäftigen. Durch die Umdrehung bekommt die persiflierte Theorie einen naiven Beigeschmack und reizt zum Lachen. Und was schadet der Glaubwürdigkeit eines ernsthaften Wissenschaftlers und seinen theoretischen Konstruktionen mehr, als daß man darüber lacht und ihnen dadurch Achtung abspricht? Das ist übrigens eine Technik, die Irigaray der Praxis männlicher Wissenschaftler abgeguckt haben könnte und die sie jetzt gegen sie gebraucht, denn viele Wissenschaftlerinnen kennen das tödliche Lächeln ihrer männlichen Kollegen, wenn sie ihr Denken erläutern wollen und auf eine Mauer lächelnder Gesichter stoßen, wodurch eine ernsthafte Konfrontation mit anderen Ideen grundsätzlich unmöglich gemacht wird.
Eine dritte Technik, die Irigaray in ihren Texten anwendet, ist die Vermengung verschiedener Sprech- und Schreibarten; so verbindet sie z.B. eine lyrische Form mit der polemischen Form eines politischen Manifests, läßt diese beiden Formen daraufhin auf eine bestehende wissenschaftliche Analyse los, die sie damit kritisiert. Dadurch entsteht ein unbeschreibliches Durcheinander in der Interpretation. Aufschlußreich sind hierzu die verschiedenen Kritiken und Interpretationen ihrer »Theorie« der Schamlippen als Gegenstück zu Freuds Phallustheorie. Denn gerade, wenn man die Bedeutung ihres Textes begriffen zu hoben glaubt, verwandelt sich die langersehnte Sicherheit schon bald wieder in die Frage, auf welchem Diskursniveau sich die Aussage befindet, also was das Gesagte bedeutet. Das verursacht auch die vielen phantastischen und zum Teil lächerlichen Interpretationen von Irigarays Texten, die allerlei Arten von Wahrheiten in diese hineininterpretieren, so die Interpretationen von Beverly Brown und Parveen Adams in The feminine Body and Feminin Politics. Gerade wenn man denkt, eine Textpassage handle von der realen Frau, wird man mit der Frau als Metapher konfrontiert. Gerade wenn man denkt, man wird über das Weibliche als textuelle Komponente belehrt, fängt man an zu zweifeln, ob hier nicht doch sozialhistorische Aspekte hinsichtlich der realen Frau beschrieben werden. Irigarays Textpraxis bewirkt auf diese Weise außer einer heilsamen Verwirrung auch, daß man über die Verbindungslinien zwischen Sprache, Philosophie, Text, Weiblichkeit und der Frau im sozialhistorischen Sinn nachdenkt. Der Leser produziert so seine eigene(n) Bedeutung(en), wofür der gelesene Text u. a. die Verantwortung trägt. Ich sage »unter anderem«, weil Irigarays Text selbst auch immer auf weitere Texte trifft, die sich bereits im Kopf des Lesers befinden. Irigaray nimmt diese polylogische Konstellation in ihrer Textpraxis wörtlich und schreibt ihre eigenen - unterschiedlichen - Diskurspraxen ineinander. Der Leser darf mit ihren Texten seinem eigenen Spiel und seiner eigenen Verzweiflung begegnen.
Das vierte Element, das man immer wieder in Irigarays Texten antrifft, ist die Formulierung in der Frageform (S. 110-124). In Die Mechanik des Flüssigen reflektiert sie das »Fließende« des Diskurses. Sie sagt nicht thetisch »so ist das«, sondern formuliert es als Frage: »ist es so, daß?« - »könnte es nicht so sein, daß?« oder: »wenn ich dies sehe, warum behauptet man immer das?«. Irigaray betont durch diesen stilistischen Trick, daß wir uns einer Sache eigentlich nur nähern können, ohne je das Zentrum, die Wahrheit, die Eindeutigkeit zu erreichen. Denn sobald man im Zentrum des zu benennenden Feldes steht, entdeckt man, daß auch diese Wahrheit nur auf andere Wahrheiten verweist, oder wie Lacan sagt: jedes Signifikat sei in Wirklichkeit nur oder immer wieder ein Signifikant.
Für Irigaray ist das sehr wichtig, weil sie auf diese Art Erklärungsmodellen zuvorkommt und Befreiungskonstruktionen vermeidet. Das ist als Strategie ganz bestimmt auch für den Feminismus wichtig, weil man in dieser Annäherungshaltung die Beweglichkeit des Feminismus sicherstellt und ihn nicht mit Phantasien von heute die reaktionäre Utopie von von morgen werden läßt.
Schließlich bringt Irigaray auch im Schriftbild zum Ausdruck, daß es keine Eindeutigkeiten gibt. Sie macht oft Gebrauch von einer Stilfigur, bei der zwei Pronomina mit einem Querstrich verbunden werden, wie »je/tu« (vgl. Wenn unsere Lippen sich sprechen). Irigaray betont damit die Gespaltenheit des Subjekts, wobei soziale und individuelle, bewußte und unbewußte Komponenten miteinander verbunden werden. Gleichzeitig wird durch diese Stilfigur auch eine eindeutige Textinterpretation unmöglich, weil es immer mindestens zwei Lesarten gibt.
Wieviel komplizierter wird eine Interpretation jedoch, wenn die gespaltenen Pronomina sich in einem Satz wiederholen! Ein Beispiel zur Illustration: In Irigarays Text Quand nos lèvres se parlent finden wir den folgenden Satz: »Tu te/me gardes autant que tu te/me répands« (S. 69). Durch die doppelte Spaltung bekommen wir nicht nur zwei Lesarten, sondern genau genommen, unerhört viele, die miteinander verbunden sind und eine Bedeutungsvielfalt konstituieren. Da mehrere Dinge gleichzeitig gesagt werden, bleibt die Sprache in Bewegung: Der Satzinhalt zirkuliert zwischen den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten. Um einige Lesarten zu zeigen, spalte ich den Satz in eindeutige Sequenzen: - »Tu te - tu me«: Wörtlich: »Du hältst dich fest, insofern, als du mich erweiterst«. Was soviel bedeutet wie: »Du bist dir identisch und wirst größer, insofern, als du die zunehmenden Erwartungen deiner Umgebung inkorporieren kannst«. Diese Version verweist meines Erachtens auf eine Interpretation, in der das Subjekt von einem anderen konstituiert wird.
- »Tu te - tu te«: Wörtlich: »Du hältst dich fest, insofern, als du dich erweiterst«. Was soviel bedeutet wie: »Du bist stark, wenn du deinen Einfluß vergrößerst«. Ich lese aus dieser Version, daß hier auf eine Identität verwiesen wird, die ihre Qualität durch Expansion bekommt. Dieser imperialistischen Haltung begegnet man oft in hierarchischen Beziehungen. Es ist die Ideologie des Eroberns, der Vereinnahmung und schließlich der Zueignung. Dabei wird das Andere in dem Einen inkorporiert. Es könnte soviel bedeuten wie: Wenn du dich stärker manifestierst, wirst du authentischer. Ich lese daraus, daß Frauen an Profil gewinnen würden, wenn sie (gesellschaftlich) mehr Raum einnehmen würden.
- »Tu me - tu me«: Wörtlich: »Du hältst mich fest, insofern, als du mich erweiterst«. Was soviel bedeutet wie: »Du bist stark, wenn du mir Raum geben kannst, mich zu entfalten«. In dieser Version wird meines Erachtens eine Beziehung angedeutet, bei der Eigentumsinteressen und Besitzansprüehe keine Rolle spielen.
Irigaray sagt hier mehrere Dinge gleichzeitig, als Ausdruck dessen, daß die Wirklichkeit sich auch nicht gradlinig zeigt, sondern aus zahllosen, oft miteinander in Widerspruch stehenden Aussagen besteht. Diese Spannung wird schon mit den Verben angedeutet: »aufnehmen/auffangen« und »strömen/festhalten« sind Gegensätze. Auch die Pronomina »du« und »ich« umfassen den größtmöglichen - scheinbaren - Abstand zwischen dem »Ich« und dem »Anderen«. Außerdem macht der Text absolut nicht deutlich, wie man das »Ich« und das »Du« interpretieren soll. Variationen bieten sich an: Der (weibliche) Körper, die Freundin und/oder der Freund oder andere Personen, das Unbewußte, Frauen in der Vergangenheit usw. Wenn man diese Variationen im Spiel vom »du/ich« konkretisiert, erhält man noch zahllose andere Interpretationsmöglichkeiten. Gleichzeitig ist es interessant, die Position der verschiedenen Lesarten in ihrer Beziehung zueinander in Verbindung zu bringen.
Ein anderes Beispiel für die Produktion einer Polylogik ist der Titel des Textes Quand nos lèvres se parlent. In diesem Satz liegt der Akzent auf dem Sprechen (»lèvres«, »parler«). Als erstes fällt mir der produktive Charakter dieses Satzbruchteils auf. Etwas zum Sprechen bringen, die Satz- (oder Sinn-)produktion initiieren. Außerdem lese ich: »Wenn unsere Lippen über etwas (uns?) sprechen«: Die Objektbeschreibung und -konstitution bleibt leer. Der subjektive Aspekt dagegen steckt in der Version: »Wenn unsere Lippen miteinander sprechen«.
Die Metapher der Lippen verweist auf die Zahl zwei. Lippen bestehen aus zwei Teilen. Außerdem wird nicht deutlich gemacht, ob der Mund oder die Schamlippen gemeint sind. Irigarays Credo der Annäherung wird auf diese Weise mit der Metapher der Lippen optimal umschrieben. Die Lippen verweisen sowohl auf Mechanik des Redens, zum Diskurs, als auch zum Körper, der Erotik. Wir sehen anhand dieses Beispiels, daß Irigarays Auffassung vom Diskurs und seiner Überdetermination nicht nur eine wissenschaftliche Konstatierung ist. Irigaray realisiert die Doppeldeutigkeit in ihrer eigenen Textpraxis.
Der Text Wenn unsere Lippen sich sprechen trägt auf der inhaltlichen Ebene Züge einer Wissenschaftskritik. Wenn wir uns Freuds Subjekttheorie vor Augen halten, so fällt auf, daß der Mensch bzw. der Mann als Konzept dient, um die Kulturproduktion zu erklären. Der Frau bleibt nur der Mangel an allem, was nach Freud den Menschen zum Kulturproduzenten macht. Irigaray sträubt sich gegen diese Beschreibung, indem sie eine Parodie auf Freuds biologistische Auffassung schreibt. Sie entwirft eine Körperlichkeit der Frau, die nicht vom Mangel ausgeht. Von der biologischen Konstitution der Frau leitet sie eine Erotik ab, die primär autoerotisch ist und den Mann als Eindringling und unnötiges Anhängsel beschreibt. Sie tut im Prinzip genau dasselbe wie Freud, nur nimmt sie den weiblichen Körper zum Ausgangspunkt ihrer Beschreibung. Aus den Protesten, die gegen einen solchen Text erhoben wurden, kann man ersehen, wie lächerlich eine solche Theorie ist, wäre sie ernst gemeint. Wenn man jedoch weiterdenkt und sich das Vorbild für eine solche Beschreibung vor Augen hält, wird eine Kritik an Freud entwickelt. Irigaray polemisiert hier mit der Persiflage auf elegante Weise gegen die Selbstverständlichkeit des Mannes als einziges Maß aller Dinge. Sie nennt den Meister nicht und verfällt auch nicht in vorwurfsvolle Schimpfkanonaden. Dieses Spiel setzt jedoch voraus, daß der Leser die Vorlage der Persiflage kennt. Wenn das nicht der Fall ist, wird diese subtile Kritik leicht mißverstanden und führt zu Kritik an Irigaray selbst in der Form eines Angriffs auf ihre scheinbar biologistische Haltung.
Julia Kristeva
In der Diskussion über Psychoanalyse, Textproduktion und Feminismus nimmt die bulgarische Theoretikerin Julia Kristeva einen wichtigen Platz ein. Kristeva bekam 1966 durch ein Stipendium die Möglichkeit, nach Paris zu ziehen und dort ihre Studien fortzusetzen. In kürzester Zeit stieg sie zu einer der führenden Theoretikerinnen der avantgardistischen Theorieentwicklung auf. Sie war Redaktionsmitglied der berühmten Zeitschrift Tel Quel. Ihr Denken wurde sowohl vom Strukturalismus als auch von der Psychoanalyse beeinflußt.
Im Mittelpunkt ihrer Forschung steht die Linguistik, wobei sie sich auf den Produktionsprozeß der Zeichen konzentriert. Sie schreibt über »das sprechende Subjekt« und nicht über fertige »Sprachsysteme oder -strukturen« (vgl. The System and the Speaking Subjekt). Kristeva führt den Begriff »sémanalyse« ein, als eine Kritik der Zeichen und ihrer Gesetze. Das Ergebnis ihrer Forschung auf diesem Gebiet findet sich u. a. in der Dissertation La révolution du language poétique, in der sie u. a. Texte von Lautréamont und Mallarmé mit einer Methode kritisiert, die in größerem Umfang von der Psychoanalyse Gebrauch macht. Sie gibt jedoch keine psychologische Erklärung der Textinhalte, sondern interessiert sich für die Entstehung von Strukturen in der Sprache, die den Texten ihre spezifische Überdetermination an (Un-)Sinn geben.
Semiotisch-symbolische Vermengung bei Kristeva
Kristeva macht in ihrer Texttheorie Gebrauch von Lacans Theorie über das gespaltene Subjekt. Nach Kristeva kann man in der Sprache zwei Komponenten finden, die in mehr oder weniger großem Ausmaß immer gleichzeitig existieren. Die eine Komponente nennt sie »das Semiotische« und die andere »das Symbolische«. Sie verbindet den Term semiotisch manchmal auch mit »dem Weiblichen«, dem sie analog zur psychoanalytischen Einteilung »das Symbolische«, »das Männliche« gegenüberstellt. Kristeva weist darauf hin, daß das Kind vor seinem Eintritt in die symbolische Sprachordnung bereits Erfahrungen mit Klang, Farbe, Rhythmus und Körper gemacht hat. Diese Elemente sind noch weitgehend unstrukturiert und werden erst beim Eintritt in die symbolische Ordnung (ödipale Phase) mit den Gesetzmäßigkeiten der Grammatik, der Syntax und der gesellschaftlichen Regeln in Zusammenhang gebracht.
In jedem Sprachausdruck gibt es nach Kristeva beide Elemente, das semiotische und das symbolische. Das wird vor allem in der Poesie deutlich, in der Klang, Rhythmus und Wortspiele einen Großteil des poetischen Charakters des Textes bestimmen. Mallarmé sagt über diesen Vorgang: »Es kommt Musik in die Buchstaben«. Das semiotische Element ist zwar in der Sprache nachweisbar, hat aber keine eigene Form und benötigt immer das Symbolische, um sich äußern zu können.
Kristeva versteht nun unter dem produktiven, dem bedeutunggebenden Prozeß des sprechenden Subjekts das Spiel der semiotischen und der symbolischen Sprachkomponenten. Der kreative Prozeß wird ihrer Meinung nach durch das Zulassen semiotischer Elemente ausgelöst (sie nennt das in Polylogue »Sich inzestuös mit der Sprache auseinandersetzen«), die durch die Gestaltung in der symbolischen Sprache eingeholt und festgelegt werden.
Kristeva lokalisiert das sprechende Subjekt auf dem Schnittpunkt verschiedener Determinanten: Der Achse der biologisch-physiologischen Komponente, der Achse des Effekts des Unbewußten und der Achse des Einflusses der historisch-sozialen Umgebung. All diese Elemente haben ihren Einfluß auf die Sprachproduktion. Daher ist es evident, daß jedes Zeichen eine Überdetermination in sich trägt. Eine Textanalyse konstituiert sich demnach auch als ein so breit wie möglich konstruiertes Suchraster, dessen Grundlage nicht nur lexikographisch feststehende Bedeutungen sind. Die Fiktion der Texteindeutigkeit wird immer von den unbewußten Überdeterminationen untergraben (wenn man sie bei sich zuläßt).
Kann man dann überhaupt noch etwas aussagen, wenn keine Eindeutigkeit mehr möglich ist? Eine Antwort könnte sein: Wenn man den Bedeutungslinien wie in der Psychoanalyse nachgeht und ihre Paradoxien nicht zudeckt, könnte man eine Textbeschreibung entwickeln, die der Polylogik eines Textes mehr entspricht als eine erzwungene Eindeutigkeit. Ein schönes Beispiel hierfür ist Kristevas Aufsatz Polylogue. Die vielen Bedeutungen unterhalten Beziehungen zueinander und initiieren das Spiel der Sinngebung. Nach Kristeva ist dies einer der Aspekte der »jouissance«. Dieses Wort, das sie der Theorie Lacans entnimmt, ist an sich bereits überdeterminiert, denn wenn man die Laute zu anderen symbolischen Formen ordnet: »J'ouis sens« - »Ich hörte Bedeutung«, dann erklärt der Begriff hier seine eigenen Spielregeln. Kristeva versteht unter »jouissance« die Gesamtheit sexueller, geistiger, körperlicher und konzeptueller Spannung und Ekstase. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Entdeckung der Bedeutungsvielfalt eines Zeichens.
Kristeva über die literarische Produktion von Frauen
Was die literarische Produktion von Frauen betrifft, so bezweifelt Kristeva in ihrem Interview mit Rossum-Guyon, daß es Texte gibt, die nur von Frauen geschrieben werden könnten. Ihr Erklärungsmodell findet sie in der Psychoanalyse: »Wenn es wahr ist, daß das Unbewußte die Negation und die Zeit ignoriert, (...) dann würde ich sagen, daß die Schreibweise das Geschlecht ignoriert« (ebd.). Nach Kristeva haben das männliche und das weibliche Unbewußte keine unterschiedliche Struktur. Sie ist der Meinung, die künstlerische Produktion beruhe auf dem Spiel der libidinösen Pole des Semiotischen und des Symbolischen; sie nennt das die sexuelle Differentiation, im Gegensatz zum Unterschied zwischen den biologischen Geschlechtern, der sexuellen Differenz (vgl. Produktivität der Frau, S. 171).
Kristeva äußert sich ziemlich kritisch, besser gesagt negativ, über bestehende Texte von Frauen. Im Allgemeinen sind Frauen ihrer Meinung nach zwei Gefahren ausgesetzt: Auf der einen Seite nennt sie die drohende Regression ins Präödipale. Das resultiert nach Kristeva in einem Schreibstil ohne Struktur und ohne Logik (ebd). Auf der anderen Seite sieht sie einen weiblichen Schreibstil, der sich mit der phallischen Macht indentifiziert. Hierunter versteht sie das Schreiben aus einer männlichen Optik und die Aufgabe des Widerstands gegen phallische Repräsentation. Kristeva wirft Frauen in ihrem Interview außerdem vor, sie neigten zu künstlerischen Sprachspielen, die in literarischen »Kreuzworträtseln« enden, oder zum Schreiben von Texten, in denen die Signifikanten zu einer fiktiven Einheit reduziert werden (S. 81). Kristeva gibt leider keine Beispiele für die von ihr kritisierten Texte, und so bleibt ihre Kritik vage und unbefriedigend in Anbetracht der zahlreichen faszinierenden Texte, die sicher nicht unter dieser kritischen Guillotine zu fallen brauchen. Man denke an Texte von Emily Dickinsen, Djuna Barnes, Jean Rhys, Virginia Woolf, Héléne Cixous, Sylvia Plath, Christa Wolf, Ingeborg Bachmann und vielen anderen.
Kristeva beschäftigt sich in Produktivität der Frau auch mit der Frage, warum Frauen bisher so wenig Texte produziert haben (S. 171 f). Ihrer Meinung nach ist der wichtigste Grund der des Objektwechsels, den eine Frau vollziehen muß, um zu einer künstlerischen Produktion zu gelangen. Eine Frau zieht nach Freud (und Kristeva) in der ödipalen Phase den Vater der Mutter gegenüber vor. Im kreativen Prozeß muß die Frau sich wieder zum »Mütterlichen«, in diesem Fall dem Semiotischen, wenden. Dadurch besteht nach Kristeva bei Frauen die Gefahr, in die Depression zu verfallen und psychotisch zu werden. Als Beispiel nennt sie Virginia Woolf die nach jedem fertigen Text Wahnsinnsanfälle bekam. Nach Kristeva besteht diese Gefahr bei Männern nicht, weil bei ihnen die Frau Muse, Mutter oder Geliebte ist und sie so in der Frau (und im Semiotischen) ein Gegenüber bilden können. Kristeva beruft sich hier deutlich auf psychoanalytische Erklärungsmodelle und erkennt den gesellschaftlichen Druck nicht, unter dem schreibende Frauen zu leiden haben, wenn sie sich nicht an ihre Rolle der Reproduktionsinstanz (Muse, Mutter) halten. Auch Kristevas Erklärung, warum Frauen dennoch schreiben, ist der Psychoanalyse entnommen: Weibliche Kreativität wird als Aufstand gegen die Mutter interpretiert. Die daraus hervorgehende Aggression sei ein wichtiger Motor weiblicher Kreativität. Im Gegensatz zu Kristevas Theorie des sprechenden Subjekts und der darauf folgenden Textproduktion, erscheinen ihre Aussagen über die Frau als sprechendes Subjekt ziemlich eindimensional, wie ihre Aussagen über Mutterschaft und lesbische Identität in Polylogue zeigen (S. 159-210).
Für Kristeva gelten eigentlich als subversive Textäußerungen von Frauen nur diejenigen Texte, die in den sogenannten »Avantgarde«-Stil passen, weil nur dieser ihrer Meinung nach eingeschliffene Denkmuster und gesellschaftliche Kodierungen problematisiert. Meiner Ansicht nach springt Kristeva etwas zu rigoros mit Texten von Frauen um, welche die Position der Frau in unserer Gesellschaft ohne Textexperimente problematisieren. Diese Texte sind aus der Sicht traditioneller Literaturkritik vielleicht nicht von hoher Qualität, haben aber einen wichtigen Beitrag geleistet, um Frauen zu ermuntern, Texte zu schreiben und das Schweigen zu brechen. Charakteristisch ist die Diskussion über schreibende Frauen, die nach der Veröffentlichung von Texten wie Meulenbelts Die Scham ist vorbei oder V. Stefans Häutungen in Gang kam.
Hélène Cixous
...ist meines Erachtens in der »écriture féminine« die literarischste Schriftstellerin, wie ihre Texte L'exil de Joyce ou l'art de remplacement, Le Prénom de Dieu (1967), La jeune née (1975), Portrait de Dora (1975), La (1976), Angst (1977) belegen. Sie hat ungefähr zwanzig Texte von mehr oder weniger großem Umfang geschrieben. In ihren Texten kommt ihre Kenntnis der Psychoanalyse und moderner Texttheorien zum Tragen. Cixous promovierte übrigens über James Joyce. Außerdem ist sie eine engagierte Feministin, was in vielen ihrer Texte zum Ausdruck kommt.
Cixous spricht in phantastischen Metaphern, wenn sie zu erklären versucht, wie sie schreibt. Sie spricht von ihrem kreativen Prozeß wie von einer »Höllenfahrt« oder einem »Eintauchen unter die Wasseroberfläche«, wobei man von Zeit zu Zeit kurz an die Oberfläche kommen muß, um Atem zu schöpfen. Cixous' ganze Produktion wird zum Großteil vom Spiel mit dem Unbewußten bestimmt.Cixous postuliert in The Laugh of the Medusa, daß das weibliche Unbewußte auf jeden Fall von der Kultur beeinflußt wird. Das beschreibt sie mit einem Begriff des Militärjargons. Frauen unterlägen einem »pacyfying proces« (S. 877), womit beim Militär angedeutet wird, daß der Machthaber die kulturelle Identität des kolonialisierten Volkes zerstört. Cixous sieht in unserer Kultur eine solche Bewegung Frauen gegenüber: Frauen müssen lernen, still zu sein und ihren Körper und ihre Sexualität zu verleugnen. Sie haben lernen müssen, passiv und unproduktiv zu werden. Cixous behauptet polemisch, Frauen hätten die Kastrationsangst »lernen« müssen, denn Frauen kennzeichneten sich durch den »Mangel am Mangel«. Vom Mann würden sie dann »zur Ordnung gerufen« (vgl. Die unendliche Zirlulation, S. 25). Cixous spielt hier mit einer Analogie zwischen der psychoanalytischen Beschreibung der weiblichen Psyche und dem Platz des Weiblichen in der Sprache bzw. der symbolischen Ordnung. Cixous meint, der Ordnungsprozeß sei nicht ganz abgeschlossen und daher umkehrbar. In diesem Rahmen wird auch ihr Ausspruch begreiflich, daß weibliche Ökonomie (das Unbewußte, das Semiotische) nicht kolonialisierbar ist, sondern nur von der herrschenden patriarchalen Kultur unterdrückt werden kann.Cixous plädiert nicht für eine neue weibliche Sprache, eine Art »esperanto féminine«. Sie will die weibliche libidinöse Ökonomie im Text verarbeiten. Diese Schreibweise ist mit Freuds Theorie der Traumproduktion vergleichbar. Freud sagt, nicht die Trauminhalte seien wichtig, sondern das Wesentliche am Traum sei die Traumarbeit, das heißt, die Transformationen und Verschiebungen, die Assoziationsketten, die das Unbewußte bedeuten. Der Traum sei im Grunde nichts anderes als eine besondere Form des Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustands ermöglicht werde. Die Traumarbeit sei es, die diese Form herstellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit (Traumarbeit, S. 486). Cixous sträubt sich darum gegen das Beschreiben von Situationen. Sie will nicht über etwas schreiben, eine Geschichte erzählen, sondern im Gegenteil Bewegung in die Metaphern selbst bringen. Eines ihrer großen Vorbilder ist die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector, von der sie sagt, Lispector lasse einen eine Rose riechen, während Rilke nur über die Rose schreiben könne (Weiblichkeit in der Schrift, S. 9). Mit einer solchen assoziativen Schreibpraxis, die man stilistisch zur Avantgarde rechnen könnte, zerfällt die Einheit der Ich-Repräsentanz, sowohl was die Relevanz des Autors als der Erzählinstanz im Text betrifft. Cixous sieht ihre Texte nicht als Abspiegelung nur eines Subjekts, eines Autors oder einer Optik. Sie bilden ein Konglomerat bewußter und unbewußter Elemente, die einander gestalten und zerstören. Cixous' Texte haben wie Träume eine nichtlineare Erzählstruktur. Die Texte sind daher auch nicht final, sie haben kein »Ende«, sie brechen irgendwo ab, sind nicht fertig, treffen auf assoziative Interpretationssuchraster des Lesers. Sie ähneln in gewisser Weise barocken Assoziationsketten, Textklitterungen.In eine solche Textpraxis paßt Cixous' Ausspruch über das Schreiben von Frauen. Da Frauen keine manifeste Geschichte haben (auch nicht in der literarischen Praxis), müssen oder können sie sich fliegend/stehlend (frz. »voler«) durch die Kultur fortbewegen (vgl. Schreiben, Feminität, Veränderung, S. 146ff.). Das heißt, daß Frauen nicht erst eine Vergangenheit zu (re-)konstruieren brauchen, um jetzt Aussagen machen zu können. Auf der anderen Seite bedeutet es auch, daß Frauen sich aus einer kulturellen Produktion, die nicht die ihre ist/war, Teile aneignen können, die ihnen begehrenswert erscheinen. Cixous demonstriert das in ihrer Textpraxis, indem sie quer durch die bestehenden Diskurstypen schreibt. Sie mengt Elemente von Poesie, Träumen, politischen Manifesten, Rezepten, literarischen Zitaten mit eigenen Interpretationen von Mythen und Metaphern.Cixous lehnt sich mit dem programmatischen fliegenden/stehlenden Schreiben gegen eine literarische Tradition von Frauen auf, die sie »liegend« nennt (Die unendliche Zirkulation, S. 38 f). Cixous reagiert hier auf sogenannte »Leidenstexte« von Frauen. Diese Texte werden bereitwillig in den traditionellen Literaturbetrieb aufgenommen, weil sie sozusagen die liegende Haltung von Frauen reproduzieren und instandhalten. Cixous sagt listig, die akzeptierte Haltung von Frauen sei immer die liegende gewesen, nämlich als Ehefrau, Hure und Hysterikerin. Gleichzeitig weist das Epitheton »liegend« auf einen lineraren Diskurs hin, den Cixous ablehnt. Wenn sie aufs neue das Märchen Rotkäppchen und der böse Wolf liest, lobt Cixous Rotkäppchen für ihre Ausflüge und Abenteuer, die sie vom rechten Wege abführen. Cixous sieht diese Abschweifungen als Entdeckungsreisen, die sie mit Elementen Bekanntschaft machen lassen, die nicht in die Repräsentation aufgenommen wurden (sprachlich und gesellschaftlich). Diese Abschweifungen seien in Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung außerordentlich subversiv. Aufschlußreich auch, wie sie (vgl. Weiblichkeit in der Schrift, S. 7-22) Alice in Wonderland liest.
Cixous' weibliches Schreiben
Cixous sieht das Element des »Weiblichen« im Unbewßten. In der Schreibpraxis verbindet sie das Weibliche an eine Produktionsweise, die Freuds Traumarbeit ähnelt. Sie produziert Assoziationsketten aus verschiedenen Textfragmenten und Textarten, wobei sie das Element der Temporalisation so weit wie möglich ausschließt.Den zweiten Aspekt des weiblichen Schreibens sehe ich bei Cixous in ihrer eindeutigen Stellungnahme zugunsten eines »women identified« Subjekts, wie z.B. in Portrait de Dora, der hysterischen Dora aus Freuds Analyse. Bei der Verbindung der weiblichen Hauptperson mit einer träumerischen Textpraxis entsteht ein »Sinn«, der darauf hinweist, daß Frauen gesellschaftlich gesehen wie die Hysterikerin immer auf der Seite des Ausgeschlossenseins standen/stehen (Brügmann, S. 67-88). Gleichzeitig aktiviert dieses »Privilegium« Cixous' Heldin Dora, die symbolische Sprache systematischer zu dekonstruieren und mehr Sinn aufzudecken, als gesellschaftlich bisher annehmbar war. Cixous bewegt sich mit dieser Haltung auf der gleichen Linie wie Kristeva mit ihrer Positionsbestimmung der Frau als der (gesellschaftlichen) Negativität, das heißt als störendes und gleichzeitig erneuerndes Element. Vielleicht übersieht Cixous bei ihren Ermutigungsversuchen, daß die Frau nicht nur Subjekt, sondern leider allzu oft Objekt der Zerstörung ist.
Schluß
Ich möchte noch einmal die gemeinschaftlichen Merkmale der »écriture féminine« in Bezug auf die Psychoanalyse zusammenfassen: Für mich ist die Beziehung der »écriture féminine« mit der Psychoanalyse eine LPJ (= Living Apart Together)-Beziehung. Die Schriftstellerinnen kritisieren die Art, wie Frauen in der psychoanalytischen Theorie beschrieben werden. Freud wird aufgrund seiner biologistischen und ontologisierenden Weiblichkeitstheorie kritisiert. Lacan findet wegen seiner Theorie, die den Phallus als einzigen Signifikanten darstellt, keine Billigung. Sein berüchtigter Ausspruch: »LA femme n'existe pas« hat ihm in feministischen Kreisen keine Sympathien eingebracht. Auf der anderen Seite machen die französischen Feministinnen Gebrauch von den Erkenntnissen über das Unbewußte, das von der Psychoanalyse systematisch beschrieben wurde. Freuds Theorie der Traumarbeit wird in ihren literarischen Texten oft angewandt. Auch Lacans Erkenntnisse von der Sprache und den prinzipiellen Übereinstimmungen zwischen Mechanismen in primären und sekundären Prozessen werden wirkungsvoll in eine Textpraxis umgesetzt. Die »écriture féminine« macht von der Überdetermination des Signifikanten Gebrauch, um Bedeutungen immer wieder zu modifizieren.Die »écriture féminine« stellt in ihrem subversiven Kampf die Sprache in den Mittelpunkt. Der Akzent liegt dabei auf der Bewußtmachung und der Verarbeitung des semiotischen Elementes in der Textpraxis. Sprache und Körper werden nicht als zwei verschiedene Entitäten gesehen. Um die Mehrdeutigkeit, den Klang und den Rhythmus in der Sprache zum Ausdruck kommen zu lassen, steht der Sprachprozeß im Vordergrund. Die Mehrdeutigkeit kommt oft erst während der Verbindung von Klang und Rhythmus ans Licht. Der Slogan »prendre la parole« hat außer dem literarischen auch einen politischen Aspekt. In der (Psycho-)Analyse nahmen Frauen nie das Wort, sie gaben es dem Analytiker, so daß er ihnen erklären konnte, welche Bedeutungen ihre Worte hatten. So blieben sie in einem Kreis patriarchaler Bilder, mit denen ihre Assoziationen interpretiert wurden. Cixous sträubt sich, wie oben anläßlich Doras beschrieben wurde, ausdrücklich dagegen. Sie zeigt neben dem Drama der patriarchalen Einverleibung von Frauen Möglichkeiten des Widerstands auf.Die »écriture féminine« hat noch einen anderen Berührungspunkt mit der Psychoanalyse: Die Verflechtung verschiedener Genres. Freud selbst sagte, bei erneutem Lesen ähnelten seine Analysen einem Roman. Er benutzte bewußt Gesetze der literarischen und mythologischen Produktion, um die Aussagen seiner Patienten dekodieren zu können.Die Schriftstellerinnen der »écriture féminine« vermengen bewußt verschiedene Elemente des poetischen und wissenschaftlichen Diskurses. Die Poesie verführt dabei die Wissenschaft dazu, ihre Eindeutigkeit abzulegen und ihren metaphysischen Charakter einzugestehen. Die Dekonstruktion der Wissenschaft als Metapher eines Ordnungsmythos ebnet den Weg zu einer Polylogik, die den Eintritt des Weiblichen in der Form der Subversion bestehender Kodierungen ermöglicht.Schließlich taucht in der Verstrickung von »écriture« und Psychoanalyse die Frau als biologische und historische Person auf Die »ecriture feminine« versucht immer wieder, die Diskussion »vom Kopf auf die Füße« zu verlagern, wie z. B. bei Irigaray und Cixous. Sie läuft dabei Gefahr, biologistisch genannt zu werden. Die Schriftstellerinnen versuchen jedoch, nicht die weibliche Psyche aufs neue zu definieren und zu systematisieren. Sie sehen keine einfache Analogie zwischen der realen Frau und dem Weiblichen in der Kultur. Eine eindeutige Zweierbeziehung würde einem linearen Diskurs in die Hände arbeiten. Wenn ich die Beziehung zwischen der realen Frau und dem Weiblichen beschreiben sollte, so wie sie meiner Meinung nach in den Texten der »écriture féminine« zum Ausdruck kommen, würde ich sagen, das Weibliche sei ein Amalgam aus Negativitäten, das die ganze Kultur (subversiv) durchzieht, also auch die reale Frau. Diese ist jedoch in der abendländischen Kultur zur Metapher für das Chtonische und das Chaos hochstilisiert worden, so daß es danach aussieht, als wäre sie die manifeste und exklusive Verkörperung des Weiblichen. Diese Mythe ist es nun gerade, die Frauen im patriarchalischen Netzwerk erstickt, weil sie Frauen daran hindert, in den Prozeß der gesellschaftlichen Gestaltung einzutreten. Die »écriture féminine« möchte zweigleisig arbeiten: Sie versucht, Frauen aus ihrer Einengung zu befreien, indem sie den Ort des Weiblichen in der Kultur beschreibt. Hiermit ist immer ein befreiendes, utopisches Element der Kritik und Subversion der bestehenden Ordnungen verbunden, wodurch »Weiblichkeit« einen dynamisch-revolutionären Charakter erhält. Der ermutigende Appell an Frauen, der in den Texten der »écriture féminine« steckt, bedarf kaum einer Erläuterung. Die Schriftstellerinnen schreiben als Frauen über die Frau und das Weibliche (in der Frau). Sie verkörpern damit eine fast utopische Kombination: Eine Frau, die das ihr auferlegte »eigene« Bild zerstört. Und das muß auch so sein, denn Cixous ruft uns in The Laugh of the Medusa provozierend, ermutigend zu: »Die Zukunft darf nicht länger von der Vergangenheit bestimmt werden. Ich bestreite nicht, daß die Effekte der Vergangenheit uns noch immer beeinflussen. Aber ich weigere mich, sie zu stärken, indem ich sie wiederhole, um ihnen einen Ewigkeitswert zuzusprechen als Äquivalent des Schicksals, um das Biologische und Kulturelle zu verwirren. Antizipieren ist ein Imperativ!« (S. 875).
Neue Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland,
in Österreich und in der Schweiz
Der jahrhundertealte Status der Frau, Objekt und nicht Subjekt, Anhängsel oder Untergebene und nicht Eigenständige und Gleiche zu sein, ist seit etwa zwei Jahrzehnten zumindest in vielen westlichen Ländern ins Wanken geraten. Nicht nur, daß Frauen die ihnen realiter oder fiktiv aufgestülpte Rolle einer bloß Konsumierenden, die je nach Bedarf auch einmal in eine Männerrolle schlüpfen darf von sich weisen und selbstbewußt auf sich als Produzierende verweisen, deren Leistungen: berufliche Arbeit, Gebären, Kindererziehen und Haushaltsführung zu achten und anzuerkennen seien, sie stellen darüber hinaus eine patriarchalische Männergesellschaft infrage, deren Ziel die grenzenlose Beherrschung der Natur war und ist.
Noch nie hatten hierzulande so viele Frauen über so viele Jahre hinweg die Möglichkeit, zu selbstbestimmten Subjekten zu werden, wie in der jüngsten Zeit. Obgleich von faktischer Gleichberechtigung in politischen, sozialen, ökonomischen und Bildungsbereichen nicht die Rede sein kann, nutzen viele Frauen doch auf phantasievolle Weise ihre, gemessen an früheren Zeiten, relativ große Freiheit, um Einfluß auszuüben und Gegenwelten gegen die destruktiven Tendenzen des Patriarchats aufzubauen.
Der kulturelle Bereich, und hier vor allem der literarische, bietet in breit gefächerter Weise die Möglichkeit der historischen Rückbesinnung, der (Neu-)Orientierung, der Bewußtwerdung des eigenen Selbst und neuer Wahrnehmungsweisen, die zur Selbstfindung und zu selbstbestimmtem Handeln führen könnten. Allerdings mußte auch die Domäne der Literatur erst erobert werden. Nicht nur das wissenschaftliche und journalistische Schrifttum, auch die Feuilletons waren fest in Männerhand. Von den 1979 von der Wochenzeitung Die Zeit vorgestellten »100 Büchern der Weltliteratur, die man lesen sollte« stammten 99 Bücher von Männern und nur ein einziges von einer Frau - von Anna Seghers, deren Protagonisten zumeist Männer sind, mit denen sich die sechsköpfige Männerjury also identifizieren konnte. Ulrich Bräker und Albert Camus: Ja. Nicht aber zum Beispiel: Rahel Varnhagen und Virginia Woolf Diese Nichtbeachtung weiblicher Kreativität beruht auf einer jahrhundertealten patriarchalischen Tradition, in der Dichterinnen verkannt, übersehen, vergessen wurden. Allenfalls wurden sie als Ausnahmeerscheinungen ihres Geschlechts wahrgenommen, um als solche betulich unter patriarchalische Schirmherrschaft genommen zu werden. Das ging so weit, daß eine ganze Reihe von ihnen mit dem Vornamen in die Literaturgeschichte einging - als seien sie keine eigenständigen Persönlichkeiten - etwa wenn von Goethes »Bettine« die Rede ist, von Rolland und »Malwida« oder von Briefen Kafkas an »Milena«.
Hilfe aus dieser desolaten Situation der Bevormundung konnte - wie immer in Zeiten weiblicher Aufbrüche - nur von Frauen selber kommen. Und zwar von Frauen, die nicht durch die totale Entmündigung des Dritten Reiches geprägt waren, die also auch nicht kritiklos dem Wirtschaftswunderdeutschland der Restaurationszeit mit seinem konservativen Frauenbild, seiner Kälte und seinem Wachstumsfetischismus anhingen oder ihm hilf- und sprachlos gegenüberstanden, Im Zuge der Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre, an der sich viele junge Frauen aktiv beteiligten, wurde in krasser Weise deutlich, daß bei dem Versuch, gesamtgesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen aufzuzeigen, frauenspezifische Probleme auch von jungen, sich als revolutionär verstehenden Männern vom Tisch gefegt wurden. Frauen hatten das satt. Die sich aus dem Protest gegen männliche Mißachtung konstituierende Frauenbewegung, die Anfang der siebziger Jahre einem Lauffeuer gleich um sich griff, war die Initialzündung für eine noch nie dagewesene Fülle von Frauenkultur. In einer Zeit, da das Kursbuch den Tod der Literatur ausrief der Kritiker Fritz Raddatz in der »modernen deutschen Literatur« (für ihn identisch mit Männerliteratur) nur noch eine »Bestandsaufnahme der Beziehungslosigkeit« entdeckte, das Emporkommen einer »neuen Subjektivität« den meist wehleidigen und nicht selten egoistisch motivierten Rückzug vom schwieriger gewordenen gesellschaftlichen Engagement signalisierte, entstand eine wachsende Zahl von Büchern weiblicher Autoren, die nicht Leere und lähmenden Überdruß bekundeten, sondern den Wunsch, mit Lust zu leben, zu arbeiten, zu lieben, ohne daß dabei die Verzweiflung über die Schwierigkeiten unterdrückt wurde, die sich dem in den Weg stellten.
Anders als bedeutende Schriftstellerinnen der älteren Generation, anders als beispielsweise Marieluise Fleißer, deren Protagonistin Cilly Ostermeier in der autobiographischen Erzählung Avantgarde von einem Mann »ganz stark gebrochen« wird, oder deren weibliche Hauptfigur Frieda Geier in dem Roman Eine Zierde für den Verein sich danach sehnt, daß ihr Geliebter ihr »Herr« wird mit der »Fähigkeit, ihren Widerstand aufzuzehren«, anders als etwa Marie Luise Kaschnitz, die die »Liebesbeteuerung und die »Liebesklage« als »vornehmlichsten Gegenstand der weiblichen Dichtung« bezeichnete, anders auch als Gabriele Wohmann, die nicht in einer Frau, sondern in einem Mann - dem Schriftsteller Robert Plath in dem Roman Schönes Gehege - ihr Ich zu verbildlichen sucht, schreiben sich viele von dem stürmischen Aufbruch nicht unberührt gebliebene Frauen aus ihrer geschlechtsspezifischen Asylierung heraus, indem sie sehr offen von ihren Problemen, ihrem Zorn, aber auch ihren Sehnsüchten, ihren vielfältigen Wünschen und utopischen Hoffnungen sprechen. Sie schufen eine ganze Palette von Identifikations- und Solidarisierungsmöglichkeiten. Kaum eine Autorin, die wie Dichterinnen früherer Zeiten ihre Geschlechtszugehörigkeit beklagte: »Warum ward ich kein Mann!« (Karoline v. Günderode), »Wär ich ein Mann doch mindestens nur« (Annette v. Droste-Hülshoff; die sich Männerkleidung oder ein männliches Pseudonym zulegte, um ihrem als minderwertig geltenden Status als Frau zu entkommen. Frauen der siebziger Jahre brachten eine Literatur hervor, in der die Autorinnen größtenteils von sich als von autonomen weiblichen Menschen sprachen. Die Stärke dieser Literatur liegt in der Verbindung von Emotionalität und Rationalität; ihre positiven Merkmale sind Authentizität, Betroffenheit, Engagement, Mut zu Offenheit, Phantasie und Menschlichkeit.
Einst waffen- und sprachlos, benutzen viele Schriftstellerinnen heute Dichtung als Waffe, nicht, um zu vernichten, sondern um Männern die Waffen aus der Hand zu schlagen. Vielen von ihnen geht es um die Beendigung des von Männern initiierten und seitjahrtausenden währenden Krieges zwischen den Geschlechtern. Es geht um die Vermenschlichung der Gesellschaft. Daß ein Zustand des Friedens nicht auf friedliche Weise erreicht werden kann, haben viele Frauen begriffen. Aber diese Erkenntnis flihrt nicht dazu, ihrerseits nun auf männliche, vernichtende Weise zu kämpfen, sondern die einzig mögliche Alternative zu ergreifen: den Gegner f waffenlos zu machen. Daß es auch Sackgassen gibt, soll nicht verschwiegen werden: Bücher, in denen der Rückzug auf die große Mutter Natur, ein intuitives, theorieloses Wissen, die Fixierung aufs Biologische und damit das Ausspielen des Körpers gegen den Geist beschworen werden. Derlei führt nur dazu, daß Frauen sich selber entmündigen, indem sie Dinge zum höchsten Maßstab machen, die in der Geschichte immer wieder als Legitimation der Rechte des Stärkeren dienten. Genauso wenig wie zum Beispiel Luise Otto Peters, Malwida v. Meysenbug, Hedwig Dohm - alle drei entschiedene und tatkräftige Verfechterinnen der Frauenemanzipation des 19.Jahrhunderts - es schafften, aus den Protagonistinnen ihrer Romane der Zeit voranschreitende, kühne Gestalten zu machen, genauso wenig gibt es in der heutigen Literatur von Frauen kämpferische, sieghafte Romanheldinnen (ausgenommen Irmtraud Morgners temperament- und tatenvolle Heroinen Trobadora Beatriz und Laura Amanda Salman).
Das ist nicht verwunderlich. Immer und immer wieder wurden Ansätze emanzipativer Bestrebungen in Zeiten der Restauration zunichte gemacht. Eine kontinuierliche Tradition in der weiblichen Literatur gab es nicht. tierliefert wurde allenfalls Fragmentarisches, Stückwerk. Üffierkommenes gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nur auf dem konservativen Sektor: die Gedichte der Nationalsozialistinnen Ina Seidel und Agnes Miegel fanden sich zuhauf in bundesrepublikanischen Lesebüchern. 1959 waren bereits dreizehn Oberschulen nach Miegel benannt, die Hitlers »Wahn« mit »schweigend ehrfürchtigem Staunen« erlebte und diesen Machtbesessenen und Mörder »tief und glühend ergriffen« grüßte, erfüllt von »demütigem Dank«, daß sie ihm »dienen« durfte. Vergeblich sucht man in Lesebüchern für höhere Mädchenschulen aus jener Zeit Gedichte von Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, die von den Nationalsozialisten ermordet oder vertrieben wurden.
Zahlreiche Scham, Trauer und Bestürzung auslösende authentische Berichte von Augenzeuginnen - unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aus der unverblaßten Erinnerung geschrieben - waren rasch vergriffen, wurden nie wieder aufgelegt und sind in kaum einer Bibliothek vorhanden. Es gab aber auch Frauen, die erst nach Jahrzehnten in der Lage waren, über die Schrecken und das Entsetzen, die sie unter dem Terror der Nationalsozialisten erdulden mußten, zu berichten - zum Beispiel Hanna Lévy-Hass: Vielleicht war das alles erst der Anfang (1977) oder Ingeborg Hecht: Als unsichtbare Mauern wuchsen (1984). Ihre Bücher sind Leuchttürme über einer finsteren Vergangenheit.
Aber nicht nur autobiographische Darstellungen waren kaum präsent, auch die fiktive Literatur aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten fehlte weitgehend auf dem bundesrepublikanischen Büchermarkt. Es ist das Verdienst heutiger Schriftstellerinnen, alte Dichterinnen dem Vergessen entrissen zu haben, indem sie bei Verlagen unbeirrbar und zäh eine Neuauflage ihrer Werke erkämpften und einfühlsam, mit schwesterlichem Blick ihr Bild vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund erstehen ließen. Zu diesen Büchern gehören z. B. Ingeborg Drewitz' Bettina v. Arnim-Biographie; Gisela Brinker-Gablers Präsentation deutscher Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Gisela v. Wysockis Essays über Marieluise Fleißer, Unica Zürn oder Virginia Woolf, Sibylle Knauss' leidvolle Geschichte von Elise Lensing, der Geliebten Friedrich Hebbels; Karin Reschkes Findebuch der Henriette Vogel, eine poetische Beschwörung der gesichtslos gebliebenen Selbsttötungsgefährtin Heinrich v. Kleists; Gerlind Reinshagens Theaterstück Leben und Tod der Marilyn Monroe, die Lebensgeschichte einer zum Superstar zurechtgetrimmten Frau, die jeglicher Möglichkeit beraubt wurde, Selbstidentität zu gewinnen.
Dieser Trend zeugt von schwesterlicher Treue, von dem Bedürfnis, in Werk und Leben der Vorgängerinnen die eigene Geschichte zu entdecken, aber auch von dem Bestreben, publik zu machen, was in einer patriarchalisch bestimmten Literatur nicht zur Kenntnis genommen oder rasch beiseite geschoben wurde. Die Fülle der neu entdeckten Literatur ist überraschend groß, staunenswert ist aber auch die Ernsthaftigkeit und Lauterkeit, mit der Frauen ihre eigene Lebensgeschichte eingewoben in den Teppich des Zeitgeschehens darzustellen suchen, ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre zaghaften und leidenschaftlichen Versuche, die Flügel auszubreiten, um zu fliegen - um dann doch erkennen zu müssen, daß sie mit Stricken an die Erde gefesselt oder in Käfigen gefangen waren. Ein dunkler Spiegel, in den Frauen da blicken, der - je näher sie herantreten - desto schwärzer wird.
Es wäre verwunderlich, wenn es bei dieser Annäherung nicht auch Mißgriffe gäbe. Beispiele dafür sind Christine Brückners oberlehrerhafte Zurechtweisung Malwida v. Meysenbugs (Hören Sie zu, Malwida) oder Elfi Hartensteins kolportagehafte, leerlaufende Annäherung an Else Lasker-Schüler (Wenn meine Paläste zerfallen sind - Else Lasker-Schüler 19091 1910). Derlei Versuche werfen ein trübes Licht auf das Innenleben der Autorinnen; sie sind wenig dazu angetan, Leben, Werk und den politisch-sozialen Umkreis der von ihnen behandelten Dichterinnen zu erhellen.
Zwei Strömungen sind es vor allem, die sich in der erzählenden, zum Teil auch der lyrischen und dramatischen Dichtung von Frauen während der letzten ein bis zwei Jahrzehnte unterscheiden lassen. Zum einen die Suche nach der eigenen Identität und nach Selbstverwirklichung, die eine Abgrenzung gegen Männer in zuweilen krasser Form nach sich zog; zum anderen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die eine Kritik an den verfestigten autoritären Strukturen des Patriarchalismus und eine Parteinahme für seine Opfer, besonders die Frauen, einschloß. Die Fülle der Literatur zu diesen Themenbereichen gestattet es nicht, alle Autorinnen bzw. die Titel ihrer Bücher auch nur zu benennen. Wenn ich mich im folgenden auf einzelne Schriftstellerinnen und das, was sie schrieben, beziehe, so mögen ihre Bücher exemplarisch für zahlreiche andere stehen.
Die Suche nach dem eigenen Ich ließ eine ganze Reihe von mehr oder weniger autobiographischen Texten entstehen. Da werden zahlreiche Kindheiten von Frauen lebendig, die während des Zweiten Weltkriegs oder in den Jahren davor oder danach geboren wurden. Düstere Familiengeschichten in finsteren Zeiten werden erzählt, in denen Eltern für ihre Kinder kaum ein Hort des Vertrauens, der Stärke, der Liebe waren, wohl auch nicht sein konnten. Im Gegenteil: In Helga Novaks 1979 erschienenem Roman Die Eisheiligen läßt die wahrhaft frostige Adoptivmutter »Kaltesophie« die Tochter für alle Entbehrungen und Versagungen büßen, die sie einst selber erdulden mußte. »Sauberkeit« und »Anstand« werden der wißbegierigen Tochter eingeprügelt, die auf diese Zumutungen und Verletzungen mit Ratlosigkeit, Fluchtversuchen, Wutausbrüchen, innerlicher Vereisung reagiert. Es ist eine Erziehung, die den vorwärts drängenden Teil eines kleinen Mädchens immer wieder zurückstößt. Der Konflikt zwischen Mutter und Tochter wird durch den nationalsozialistischen Alltag, durch Fliegerangriffe, Evakuierung aufs Land und Rückkehr in die zerbombte Stadt, durch Übergriffe sowjetischer Soldaten, durch Hunger und Not noch verstärkt. Sie bekämpfen sich schließlich auf männliche Weise: »wie zwei feindliche Soldaten«. Hier wird mit rückhaltloser Subjektivität erzählt. Die deprimierende, individuelle Geschichte des heranwachsenden Mädchens wird eng mit der Zeitgeschichte, die ein solches Schicksal möglich macht, verknüpft. Das Buch ist auf einem stilistisch hohen Niveau geschrieben, »beängstigend gut«, wie ein männlicher Kritiker meinte. Dennoch fehlt dem Buch das ganz Eigene, Spezifische, das es anders als Dokumentarliteratur zu einem Werk der Kunst machte, die »durch nichts anderes als ihre Gestalt dem Weltlauf« widersteht, »der dem Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt« (Theodor Adorno, Engagement). Die Gefahr aller autobiographisch-authentischen Literatur - eine Gattung, die von Frauen verständlicherweise aufgrund ihres Identitätsmangels bevorzugt wird - besteht darin, bloße Verdoppelung einer wie immer gearteten, zumeist schlechten Realität zu sein.
Ähnliches läßt sich für den literarisch weniger brillanten, von der Kritik viel gelobten, 1976 publizierten, autobiographischen Roman Mitteilung an den Adel von Elisabeth Plessen sagen. Dort rechnet die Autorin - Tochter aus adeligem Haus und überzeugte Vertreterin der APO-Generation - nicht nur mit ihrem konservativen Vater ab, sondern setzt sich darüber hinaus mit der vom Nationalsozialismus geprägten Vätergeneration überhaupt auseinander. Es ist der episch gestaltete Versuch, sich von der eigenen Herkunft freizuschreiben, um das eigene Ich zu entdecken. Am dichtesten wirkt das Romangeschehen da, wo Elisabeth Plessen auf authentisches Material, ihre Kindheitserinnerungen z.B., zurückgreift. Eine Autorin, die bei ihrem ersten Buch auf eine fünfunddreißigjährige Erfahrung zurückgreifen kann, hat es beim Schreiben eines neuen Buches schwer, wenn sie sich nicht einem festumrissenen Thema zuwendet oder selber nicht genug Phantasie zum Dichten, zum Erdichten besitzt. Exemplarisch dafür ist Plessens 1984 erschienener autobiographischer Roman Stella Polare, in dem von der glanz- und glutlosen Liebe einer Frau Mitte dreißig in einer teils gestelzten, teils saloppen, in beiden Fällen ungelenken Sprache die Rede ist. Je mehr sich die Protagonistin des Romans ihrem Freund unterordnet, dem sie mit einer »Affenliebe« ergeben ist, je passiver und anpassungsbereiter sie ist, je mehr sie zu einem fremdbestimmten Objekt wird, desto weniger ist sie natürlich das, was sie sein möchte: anregende, aufmunternde, reizvolle, schöne Muse - nicht etwa: eine selbstbestimmte, tatkräftige, eigenständige Frau. Die peinigend triste Realität dieser Beziehungskistengeschichte wird weder von außen erhellt noch von innen her in ihrer Unerträglichkeit gezeigt. Stella Polare erscheint wie die verhaltene Heroisierung eines farblosen Alltags, in dem gesellschaftskritische und feministische Träume ausgeträumt sind.
Ein in inhaltlicher und formaler Hinsicht gleichermaßen gelungenes Bei spiel für die Recherche nach dem eigenen Ich ist Katja Behrens 1983 erschienener Roman Die dreizehnte Fee. Er ist nicht, wie die meisten autobiographischen Texte sonst, in der ersten Person geschrieben und geht weit über das individuelle Schicksal eines - wie die Autorin - im Zweiten Weltkrieg geborenen Mädchens hinaus. So ist es auch unverständlich, wenn ein Kritiker »das offene, das in den Text deutlich integrierte Eingeständnis« vermißt, »daß man es bei diesem Buch mit dem autobiographischen Roman einer Kindheit zu tun« habe, und bemängelt, daß Behrens ihre »autobiographische Fixierung« nicht »thematisiert« habe. Der Roman Die dreizehnte Fee ist nicht nach den Maßstäben dokumentarisch-autobiographischer Literatur zu beurteilen, sondern nach denen eines Kunstwerks, das seine eigenen objektiven Gestaltungs-Anforderungen an die Künstlerin stellt, denen sie sich zu beugen hat.
»Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Daseins das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden« (Walter Benjamin, Der Erzähler). In dieser Tradition steht Behrens' erster Roman, in dessen Mittelpunkt drei weibliche Figuren - Großmutter Marie, Mutter Hanna und Tochter Anna stehen, die zwar einerseits das Leben bewältigen, d. h. darin nicht untergehen, andererseits auf Zumutungen und Schicksalsschläge hilflos reagieren. Es ist, als seien sie ungepanzert und waffenlos in einen Kampf geschickt worden, den sie nie gewollt hatten. Anna sucht die Kränkungen zu ergründen, die ihrer Mutter, ihrer Großmutter und deren Mutter zugefügt wurden und von denen noch sie, die späte Nachfahrin, heimgesucht wird. Ist Marie die Verkörperung der Ohnmacht - betrogen von ihrem Mann, verfolgt im Dritten Reich - Hanna die der Verängstigung und eines nie fruchtbar gemachten, sondern nur unterdrückten Zorns, so Anna die des Ausbruchs aus einer Welt des Stillehaltens und der Unselbständigkeit, in der sie Männer nur aus den Erzählungen der Großmutter und Mutter als »Sagengestalten« kennenlernt, die einem alles geben und alles nehmen können. Das Schicksal der drei Frauen ist filigranartig eingewoben in den historischen Kontext der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Auf eine fast untergründige Weise - mit wenigen Strichen konturiert - zeichnet Katja Behrens die Schrecken und die Nöte des politischen Alltags der Weimarer Republik, des Dritten Reichs und der Nachkriegszeit, Zeiten, in denen die drei Protagonistinnen des Romans jeweils jung waren. Die erfindungsreiche Alltäglichkeit der Sprache transportiert die Schocks des Alltags und verwehrt dem Leser ein kontemplatives Rezipieren des Erzählten, macht ihn vielmehr zu einem Betroffenen und Komplizen.
Die Versuche von Frauen, sich schreibend selber zu finden, indem sie die Kindheit heraufbeschwören, münden vielfach in bittere Auseinandersetzungen mit den Eltern, zum Beispiel in Jutta Heinrichs Roman Das Geschlecht der Gedanken, in dem die Sexualität der Eltern ein Quell der Schrecken, Brutalitäten und Demütigungen ist; vor allem aber mit den Vätern, die nun, vom Erwachsenenstandpunkt aus, nicht nur als strenge autoritäre Patriarchen, sondern auch als soziale Rollenträger gesehen werden, die für die konservative Ausrichtung der fünfziger Jahre mitverantwortlich waren, zum Beispiel in Brigitte Schwaigers autobiographischem Bericht Lange Abwesenheit, in Ruth Rehmanns Roman Der Mann auf der Kanzel, in Jutta Schuttings Erzählung Der Vater oder Katrine v. Huttens Erzählung Im Luftschloß meines Vaters - alle zwischen 1979 und 1983 erschienen. Kälte, Schweigen, Abwesenheit, Kontaktlosigkeit - das sind die Eigenschaften, die charakteristisch für die Väter in ihren Beziehungen zu ihren Töchtern sind. Ulla Berkéwiez' nicht autobiographische Erzählung Josef stirbt ist da eine Ausnahme. Hier geht es nämlich nicht so sehr um eine Auseinandersetzung mit dem Vater, sondern um die mit dem als sinnlos und furchtbar geschilderten Prozeß des Sterbens.
Wie in der Realität, spielen auch in der Literatur die Mütter eine nachgeordnete Rolle. Noch böser, aber auch erbärmlicher als in Novaks Kaltesophie tritt die Figur der Mutter uns aus Elfriede Jelineks sinistrem Roman Die Klavierspielerin entgegen, als »Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person«. Als ein Hort potentieller Fürsorge und Wärme erscheint die Mutter bei Behrens, als gute und als böse Fee in Rahel Hutmachers 48 kurze Prosatexte umfassendem Buch Tochter, in dem der Abschied zwischen dem symbiotischen Paar Mutter-Tochter geprobt wird.
Die Suche nach dem eigenen Ich findet ihren literarischen Niederschlag aber nicht nur in der Beschreibung von Auseinandersetzungen zwischen den Generationen, sondern auch in der Beschreibung von Verhältnissen zwischen Menschen, die in einer liebenden, freundschaftlichen, ehelichen oder partnerschaftlichen Beziehung zueinander stehen. Einer der kunstvollsten und schönsten Romane, Rita Münster von Brigitte Kronauer, thematisiert die Frage »wer bin ich?« auf ausgreifende und zugleich drängende Weise. Zwar machen sich im ersten Teil des Buches viele Gestalten breit, die das Ich unten halten, doch tritt es schließlich auf Seite 72, sich selbst behauptend, hervor: »nun aber ich selbst«, und auf Seite 153 erfahren wir zum erstenmal seinen vollständigen Namen. »Ich, Rita Münster«, ein sich seiner selbst bewußtes Ich kommuniziert nun mit den ihm Nächsten: dem Vater, dem Freund und dem Geliebten. Schließlich erscheint es im dritten und letzten Teil als ein Ich, das mit sich identisch ist und in Raum und Zeit ausschweifen kann. Es kann sich in Selbstgewißheit bewegen und läuft nicht mehr Gefahr, sich zu verlieren.
Ein so starkes Ich - wie empfindsam und zerbrechlich es auch letzten Endes ist - tritt uns aus nur wenigen anderen zeitgenössischen Büchern entgegen. Unverzagt und bewußt tritt es auch in Ursula Krechels bilderreichem und eindringlich schönem Gedichtzyklus Rohschnitt auf. In sechzig Sequenzen versucht ein weibliches Ich den Aufbruch in dreifacher Gestalt: als Kluge, als Schöne, als Mutter. Nicht das Ziel, sondern, was das Ich über sich und die Welt erfährt und was es aus dieser für sich gewinnt, ist das Thema der Autorin. Was bei der Lektüre all jener Bücher, die sich mit den Beziehungen eines weiblichen Ich zu seiner Umgebung und zu anderen Menschen befassen, klar wird, ist, daß Frauen von nichts und niemandem Hilfe erwarten können als von sich selbst.
Die Lösung aus Bindungen, die das eigene Ich verkümmern lassen oder quälen, kann zur Selbstfindung und damit zu relativer Unabhängigkeit, Freiheit, Autonomie und Lust und Mut zu eigenen Aktivitäten führen. In dem Roman Wie kommt das Salz ins Meer schildert Brigitte Schwaiger die lange schmerzliche Trennung ihrer Protagonistin von einem hochmütig-patriarchalischen Ehemann, für den sie ein leeres Blatt und auswechselbar ist und der nicht das geringste Interesse hat, sie selber als eigenständigen Menschen kennenzulernen. Erscheint die Eheschließung als beklemmendes Ereignis, so die Scheidung als Happy End. In einer Reihe zeitgenössischer Romane, welche die Beziehungsschwierigkeiten zwischen den Geschlechtern thematisieren, werden weibliche Figuren vorgeführt, die auf wehleidige, beklemmende oder mitleiderregende Weise Opfer sind, die sich aus eigener Kraft nicht befreien können: Luise in Plessens bereits erwähntem Roman Stella Polare; Erika in Elfriede Jelineks bössatirischem Roman Die Klavierspielerin; Doris, Klytemnestra, Thea in Christa Reinigs Roman Entmannung. Nicht der Protagonist, der Chirurg Kyra, bleibt auf der Strecke, sondern die ihn umgebenden Frauen: »Irrenhaus, Krankenhaus, Zuchthaus. Das ist der Dreisatz der Weiber-Weltformel. Lehnst du dich auf, kommst du ins Zuchthaus, lehnst du dich nicht auf, drehst du durch und mußt ins Irrenhaus und beneidest die Weiber, die zum Beil gegriffen haben. Unterwirfst du dich mit Lust, kommst du mit deinem kaputtgerammelten Unterleib ins Krankenhaus.« Obgleich diese Zeilen Reinigs (wie ja auch der Titel »Entmannung«) nahelegen, die Speerspitze der Autorin richte sich allgemein gegen Männer, wird bei der Lektüre doch deutlich, daß sie den Männlichkeitswahn meint, den in dieser männerdurchwalteten und -beherrschten Gesellschaft auch Frauen verinnerlicht haben. Der Mann Kyra, der sich zum Schluß des Romans in eine Frau verwandelt, steht symbolisch für die einstige Christa (Reinig). So bekannte sie Ende der siebziger Jahre: »Ich bin ein zweifacher Renegat. Als Frau geboren, habe ich mich für die Sache der Männer stark gemacht und viele Jahre die Welt nur aus dem Blickwinkel der Männer betrachtet und nach dem Nutzen der Männer bewertet, ohne mich um einen Aspekt der Weiblichkeit zu bemühen, d.h. gegen mich selbst gehandelt. Dann in einem plötzlichen Entschluß bin ich auf die Seite der Frauen übergegangen.«
Dieser abrupte Sprung von einer männerorientierten Einstellung zu einer frauensolidarischen Haltung beruht auch auf der Erkenntnis, daß sie die werden muß, die sie ist - also eine Frau - weil sie nur als solche frei sein kann und zwar nur im Verein mit anderen Frauen: »Die weibliche Liebe ist unteilbar, so unteilbar wie die Freiheit der Frauen. Wir alle werden frei sein oder keine.«
Diese weiblicher Erfahrung entsprungene Einsicht formulierte Christa Reinig im Hinblick auf die autobiographischen Aufzeichnungen Verena Stefans, die 1975 unter dem Titel Häutungen erschienen und rasch zu einem Kultbuch der neuen Frauenbewegung wurden. Das in seinem Ansatz richtige und auch mutige Buch thematisiert zweierlei: erstens die Dürftigkeit heterosexueller Liebesbeziehungen, denen es an Zärtlichkeit, Wärme und Gefühlsintensität mangelt und deren Ziel ein routinierter Koitus ist. Stefan kommt zu der Erkenntnis, daß sie einen Mann nur darum »brauchte«, weil sie sich selber »nicht hatte«. In dem Maße jedoch, in dem sie sich ihrer selbst bewußt wird, wendet sie sich von Männern ab und Frauen zu: »ich erfahre etwas über mich selber wenn ich mit einer anderen frau zusammen bin, mit einem mann erfahre ich nur, daß ich anders hin.« Die positive Identifikation mit einer rein weiblichen Welt hat ein provozierendes Moment. Literatur ist nicht dazu da, Leser(innen) in Sicherheit zu wiegen, sondern zu beunruhigen, aufzustören. Über die Kritik an der Grobheit heterosexueller Beziehungen hinaus prangert Verena Stefan die Armut einer Sprache an, in der sich weibliches Bewußtsein und weibliche Empfindungen nicht artikulieren können. »als ich über empfindungen, erlebnisse, erotik unter frauen schreiben wollte, wurde ich vollends sprachlos.«
So berechtigt der Ausgangspunkt ihrer Kritik ist, der von ihr eingeschlagene Weg ist eine Sackgasse. Die sprachlichen Neuschöpfungen (statt »löwenmäulchen« heißt es nun »schamlippler«) grenzen an Kitsch. Es ist schlechterdings unmöglich, aus dem Nichts eine weibliche Sprache zu schöpfen. Was möglich ist, ist die Umformung einer männergerechten Sprache in eine menschliche Sprache: zäh, unbeirrbar, mit hellem, kritischem Geist.
Verheerender noch als die zuweilen peinlichen Neuschöpfungen ist aber der regressive Rückzug auf die große Mutter Natur, das Sich-Entziehen in eine mythische, archaische Welt des Matriarchats, als sei damit auch nur ein einziger Schachzug gegen die Kälte einer zivilisierten und technokratischen Welt gewonnen. In welch dumpfe Ecken eine unreflektierte Apotheose von Mütterlichkeit führen kann, zeigt Karin Strucks Roman Die Mutter. Die Protagonistin Nora bekennt, es sei ihre »größte Sehnsucht (...), eine Große erotische Mutter zu sein«. Wie wenig sich der Traum von der großen mythischen Gebärerin verwirklichen läßt, zeigt drastisch der nächste Roman Lieben, in dem die Protagonistin Lotte trotz heftiger Gewissensbisse ihr drittes Kind abtreiben läßt. Die Struckschen Romane, in denen die Gefahr der Selbststilisierung immer virulent ist, bleiben im allzu Privaten stecken. Das gilt auch für das 1980 erschienene Buch Der Tod des Märchenprinzen von Svende Merian, das im Umgang mit dem Erotischen wie dem Gesellschaftlichen wenig souverän ist. Das Reich der Natur, der Mütterlichkeit, der Empfindungen und Liebesbeziehungen, in das sich Verena Stefan und Karin Struck flüchten, war Frauen immer unbenommen. Erst der Ausbruch aus diesem ihnen immer schon zugewiesenen Reservat wurde mit harten Strafen geahndet. Erinnert sei nur an jene Frauen, die sich ein hohes Maß an eigenständigem Wissen im medizinischen und gynäkologischen Bereich erworben hatten und die zu Tausenden und Abertausenden über Jahrhunderte hinweg als »Hexen« verbrannt, zu Tode gefoltert oder auf andere Weise ausgerottet wurden. Der fatale Rückzug in eine rein weibliche Welt, wie ihn Verena Stefan propagiert, käme einer Kapitulation gleich. Es gilt aber, das Verlorene zurückzugewinnen und das noch nicht Zerstörte zu erhalten und fruchtbar zu machen. Dazu kann Sprache dienen, was sie bei den erwähnten Autorinnen aber nicht tut.
Die Suche nach dem eigenen Ich, die sich bei so vielen Schriftstellerinnen in Abgrenzungen gegenüber Eltern und Partnern manifestiert, endet kaum je mit einem Sieg. Im Gegenteil, schmerzliche Erfahrungen und Verletzungen sind die Regel. Krankheitsberichte erzählen von Hilflosigkeiten, Kränkungen und Einsamkeiten, die sich zu einer »Hölle mitten in einer Welt des Wohlstands, der Liebe und Fürsorge« verdichten und den Tod als Erlösung erscheinen lassen. In ihrem Tagebuch einer Krankheit, das 1970 unter dem Titel Depression erschien, schreibt Caroline Muhr (Pseudonym): »Das Schlimmste ist vielleicht, daß bei aller seelischen Verarmung und Verzerrung der Verstand klar bleibt und die Vorgänge sondiert, ohne sie mildern, zurechtbiegen oder aufheben zu können.« Bei hellem Verstand erlebte auch Maria Erlenberger (Pseudonym) ihren desillusionierenden Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, in die sie nach einem Versuch der Selbsttötung durch Verhungern eingeliefert worden war. In ihrem 1977 erschienenen Bericht Der Hunger nach Wahnsinn sagt sie: »Ich weiß es, der Selbstmord ist eine verzweifelte letzte Herausforderung an das Leben. Eine letzte Möglichkeit des Lebens.« Weil der Kältestrom des Lebens Depressionen, Verweigerungen und Selbstverstümmelungen gebiert, weil er das Ich auf unerträgliche Weise spaltet, wird der Tod als eine Instanz herbeigewünscht, die zur ersehnten Ich-Identität führen könnte. Krankheit, wie immer sie verläuft, ob an ihrem Ende der genesene Mensch oder der Tod steht, zeugt von dem Bedürfnis, zu kommunizieren; sie ist eine Entäußerung, ein Versuch, etwas mitzuteilen, das in Worten nicht mehr ausgedrückt werden kann. »Es gibt keine Krankheit«, so Ingeborg Bachmann in ihrem Essay Georg Groddeck, »die nicht vom Kranken produziert wird (...) Es ist eine Produktion, wie eine künstlerische, und die Krankheit bedeutet etwas. Sie will etwas sagen, sie sagt es durch eine bestimmte Art zu erscheinen, zu verlaufen und zu vergehen oder tödlich zu enden.« Es ist der Versuch, sich selbst mitzuteilen, die eigene Identität herzustellen, ernst genommen zu werden.
Auf Ingeborg Bachmann gehe ich hier nicht näher ein, weil sie ihre Bücher bereits in den fünfziger und sechziger Jahren schrieb. Ihr Werk gehört zum Avanciertesten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. In den postum erschienenen Romanfragmenten Der Fall Franza und Requiem für Fanny und dem 1971 erschienenen Roman Malina werden die weibliche Identitätsproblematik, das ungleiche Aufeinanderprallen von weiblicher Liebesfähigkeit und männlicher Vernunft auf eine so vielschichtige und formal und sprachlich großartig eigenwillige Weise dargestellt wie kaum irgendwo sonst. Auch Bachmanns theoretische Reflexionen zu Problemen zeitgenössischer Dichtung aus dem Jahre 1959 sind uneingeholt modern. Vielleicht wurden sie deshalb kaum diskutiert, weil die Dichterin nicht auf den geschlechtsspezifischen Charakter von Sprache einging. Doch müßte ein Satz wie der folgende aus ihrem Vortrag Literatur als Utopie (der fünften ihrer Frankfurter Vorlesungen) wegweisend für Frauen sein: »Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert und die wir nachahmen.«
Die meisten der von mir angeführten mehr oder weniger autobiographischen Darstellungen, die für die Autorinnen und potentiell auch für ihre Leser(innen) möglicherweise therapeutische, jedenfalls befreiende und identitätsstiftende Funktion hatten, gehen über das Private hinaus. Das Scheitern der Eltern, mangelnde Zuwendung, geiziges, scheibchenweises Zuteilen von Liebe, der eisige Umgang von Menschen untereinander sind der Niederschlag öffentlich herrschender menschenfeindlicher Reglementierungen, die zu feiger Anpassung und uneingestandener Unzufriedenheit führen. Insofern sind gerade die rückhaltlos subjektiven Berichte Manifestationen objektiver Realität mit vielfach sozialkritischem Charakter.
War in den Texten der Identitätssuche, insbesondere in der bekenntnishaften, durch keine literarischen Distanzierungs- oder Verdichtungsmittel geprägten Selbsterfahrungsliteratur mehr oder weniger latent die Gefahr der Überhöhung der eigenen Schwierigkeiten vorhanden, die Gefahr, sich im Leben als Opfer einzurichten, so fehlt diese weitgehend in einer Literatur, die indirekt oder unmittelbar Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen übt. Charakteristisch für sie ist eine scharfe Beobachtungsgabe, Mut zu Offenheit, ein nicht vergessen und verdrängen wollendes Gedächtnis sowie eine subversive Energie, die geeignet ist, jene männliche Ordnung zu unterlaufen, die ihr humanes Zentrum verloren hat.
Nun kann man selbstverständlich keinen Strich ziehen: hier die Literatur der Identitätssuche, dort die gesellschaftskritische Literatur. Brigitte Kronauer, Helga Novak oder Ursula Krechel, um nur drei der oben erwähnten Schriftstellerinnen zu nennen, sind beiden Bereichen zuzurechnen. Doch wird bei der Lektüre vieler von Frauen geschriebener Bücher deutlich, daß ihrem Schreiben vorrangig sozialkritische Motive zugrundeliegen.
Man könnte die gesellschaftskritische Literatur in drei große Gruppen unterteilen. Zum einen Erlebnisberichte und dokumentarische Texte, wie sie zahlreich zur Zeit nach der Studenten- und Lehrlingsrevolte erschienen. Eines der eindringlichsten und bestgeschriebenen Bücher waren Marianne Herzogs Aufzeichnungen über Frauenakkordarbeit, die 1976 unter dem Titel Von der Hand in den Mund erschienen. In ihrer klaren Prosa beschreibt sie die stupiden, kurzzyklischen, gegen den menschlichen Rhythmus gerichteten, monotonen, oft schmutzigen und lauten Tätigkeiten von Frauen. Das, was weibliche Arbeit auszeichnet - Fingerfertigkeit etwa, Ausdauer und Gewissenhaftigkeit wird nach Marianne Herzogs Analyse nicht nur nicht finanziell honoriert, sondern erst gar nicht als qualitatives Plus wahrgenommen. Die Autorin zeichnet den Teufelskreis nach, der da heißt: Doppel- und Dreifachbelastung, im Schnitt 30 Prozent weniger Lohn als Männer, Erhöhung von Stückzahlen und Bandgeschwindigkeit, Massenentlassungen von Arbeiterinnen. Herzog bleibt mit ihrer Beschreibung dicht am Geschehen; ihre Sprache ist präzise und anschaulich:
- Ein Arbeitsvorgang von ihr (Frau Heinrich) dauert 9 Sekunden: einen Fuß nehmen, eine Strebe mit der Pinzette greifen, die Strebe an den Fuß schweißen. Den gleichen Vorgang mit der zweiten Strebe und anschließend den fertigen Fuß in den Kasten legen. Um das auszuhalten, hat Frau Heinrich sich im Laufe der Akkordjahre ihre Bewegungen innerhalb der Möglichkeiten des Akkords ausgedehnt. Sie hat ein paar Bewegungen dazu erfunden und schafft trotzdem den Akkord. Mit den Händen nimmt sie nicht nur das Material auf und schweißt es unter der Elektrode zusammen, sondern wenn man ihr zuguckt, sieht das so aus: Frau Heinrich breitet die Arme aus wie im Flug, dann zieht sie sie wieder ein und nimmt dabei, als käme sie rein zufällig daran vorbei, das zu schweißende Material in beide Hände und wippt während sie es aufnimmt mit dem Körper nach und tritt mit dem Fuß drei- bis viermal auf das Fußpedal und schweißt erst dann das erste Teil an. Dann wieder Ausbreiten der Arme (...)
Die nicht-dokumentarische Literatur umfaßt zwei Strömungen, zum einen jene Schriftstellerinnen, die die defizitäre Situation von Frauen zum Mittelpunkt machen oder zumindest mit einbeziehen; zum anderen jene, die die Dürftigkeit des bundesrepublikanischen Alltags sezierend aber ohne geschlechtsspezifischen Blick schildern. Zu dieser Gruppe gehören so unterschiedliche Schriftstellerinnen wie Gabriele Wohmann und Gisela Elsner.
Gabriele Wohmann, die laut Diktum des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki zu den »besten Erzählern« gehört, läßt in der Erzählung Violas Vorbilder (die keine Frauen, sondern ausschließlich Männer sind) nicht etwa einen Mann die »fixe Idee von der biologischen Verdammnis der Frauen: zu geringerer Geistesleistung, zu defekter Schöpferkraft« haben, sondern eine Frau. Zweifellos ist es so, daß das, was Männer jahrhundertelang predigten, von Frauen verinnerlicht wurde. Merkwürdig aber ist, daß der Mann, der nicht an die »geringe Geistesleistung« und »defekte Schöpferkraft« von Frauen glaubt, seine Frau schätzt, während diese für ihr Geschlecht und damit sich selber eine ausgesprochene Verachtung zeigt - und daß der Mann in dieser Geschichte als der Illusionist dasteht. Auch Gisela Elsner geht es um die alltäglichen Schrecken und Schäbigkeiten kleinbürgerlicher und mittelständischer Schichten. In ihren erbarmungslos sezierenden, frostig distanzierten Satiren sucht sie die Deformationen und dumpfen Zeremonien bürgerlicher Pseudohelden zu entlarven. Was der Dessousfabrikant Norbert Mechtel in dem Roman Punktsieg auch anfaßt, alles gerät ihm verkrampft und fade, bleibt auf dem Niveau von Geschäftstüchtigkeit, Imagepflege, altkluger Selbstbestätigung stecken. Die Gefahr einer so überspitzten Darstellung, die ausschließlich die Deformiertheiten von Angehörigen mittelständischer Kreise zeigt, liegt darin, daß die potentielle Veränderbarkeit einer tristen Realität erst gar nicht in den Blick kommt. Elsners Sprache ist nicht kunstvoll genug, die satirischen Elemente nicht scharf und bissig, nicht energiegeladen und witzig genug, um der Entlarvung gesellschaftlicher Verlogenheiten, menschlicher Schwächen und Torheiten eine befreiende, aufklärerische Wirkung zu geben. Zu sehr ist das, was die Autorin schildert, die Verdoppelung eines tristen Alltags. Wenn sie in dem Roman Die Zähmung von einem Ehepaar als Giggenbacher und Bettina spricht, ohne die jahrhundertealte Entmündigung, die hinter der Nennung der Frau bei ihrem Vornamen steckt, auf sarkastische oder ironische Art zu verfremden, so dominiert die Verlängerung eines alten patriarchalischen Unterdrückungsmechanismus. Die dritte Gruppe von Schriftstellerinnen - es ist die größte - schreibt eine fiktionale Literatur, die unter Einbeziehung weiblicher Realitätserfahrung mehr oder weniger explizit Kritik an den autoritären Strukturen des Patriarchalismus übt. Diese Literatur - wie indirekt sich ihre Kritik auch äußert - hält der Gesellschaft den Spiegel vor, in dem das erscheint, was sie gern verdrängt: Entfremdung, Angst, Unterdrücktes, Unbefreites. Literatur soll aufstören, bewußt machen, erschüttern. Sie will Sehnsucht wecken, aber eine Sehnsucht, die nicht die Realität überspringt, sondern diese mitzieht. Es geht nicht darum, eine patriarchalische Welt in eine matriarchalische zu verwandeln, sondern in eine menschliche. Es geht um die Brechung des Objektstatus der Frau und um eine Revolutionierung der gesamten Gesellschaftsstruktur. Dazu bedarf es ichstarker Subjekte, die einen aktiven Umgang mit gesellschaftlichen Dingen haben. In dem Maße, in dem ein Subjekt aus den jeweiligen Gegebenheiten das Äußerste herausholt, kommt es selber zum Vorschein: zwar erschüttert, voller Widersprüche, doch an seinen Anstrengungen erstarkend. In dem Roman Gestern war heute - Hundert Jahre Gegenwart schildert Ingeborg Drewitz die persönliche und politische Emanzipation einer Frau, der nichts in den Schoß fällt, die sich alles selber erringen muß. Stark geprägt von Mutter und Großmutter, widerständig zur Zeit des Nationalsozialismus, kritisch in den 50er Jahren, wird Gabriele M. zu einer Frau, die inmitten der Inanspruchnahme von allen Seiten selbstbestimmt zu handeln sucht. Sie will alles: Beruf, Mann, Kinder und muß auf schmerzliche Weise erfahren, wie ihr vieles zerbricht. Wie ausweglos ihre Lage auch oft erscheint, ihr Mut und ihre moralische Integrität lassen sie nicht verzweifeln. Die männlichen Figuren werden von Drewitz als Personen ohne Einfühlungsvermögen, ohne Empfindsamkeit gezeichnet; sie sind zugleich selbstherrlich fordernd und bedürftig.
Die kritische Einbeziehung der sozialen Wirklichkeit in eine Literatur, in der Frauen Hauptrollen spielen, finden wir auch bei Angelika Mechtel, die jene kleinbürgerlichen Verhältnisse anprangert, die zwischenmenschliche Beziehungen erstarren lassen und insbesondere Frauen zu einem kümmerlichen, bedrückenden Dasein verdammen; bei Birgit Pausch, die in ihrem Roman Die Verweigerungen der Johanna Glauflügel den Ausbruch einer jungen Frau aus dem saturierten Wirtschaftswunderdeutschland darstellt und die immer wieder Leben und politisches Handeln in ihren Protagonistinnen zu vereinigen sucht; bei Barbara Frischmuth, die in vielen Erzählungen das Zerbrechen von Frauen in einer gefühlsarmen und gedankenlosen, männerbestimmten Welt schildert und die in ihren Romanen die Welt der Kinder und Mythen entdeckt und für den Alltag fruchtbar zu machen sucht (es zeichnet sich übrigens ein wachsender Trend ab, mythische, biblische und märchenhafte Elemente einzubeziehen, z.B. bei Rahel Hutmacher, Gertrud Leutenegger, Irmtraud Morgner); bei Sigrid Brunk, die realistisch das Gefangen- und Verstricktsein von Frauen in der alltäglichen Wirklichkeit darstellt; bei Hannelies Taschau, die auf kühl distanzierte Art aus der Perspektive ohnmächtiger Opfer berichtet und in dem Roman Landfriede den Ausbruch ihrer Protagonistin Anne aus der Provinz und aus einer Liebesbeziehung erzählt; bei Ilse Braatz; Eva Demski; Christine Nöstlinger; Karin Reschke; Luise Rinser; Herrad Schenk, um nur einige wenige von einer Vielzahl von Schriftstellerinnen zu nennen.
Nun gibt es eine ganze Reihe von Dichterinnen, die sich keiner der von mir genannten Strömungen zuordnen lassen - Ilse Aichinger beispielsweise, deren 1948 erschienener, autobiographisch gefärbter, bewegender Roman über die Verfolgung jüdischer Kinder im Dritten Reich Die größere Hoffnung von einer im Wiederaufbau begriffenen, die nationalsozialistische Terrorherrschaft verdrängenden Bevölkerung nicht zur Kenntnis genommen wurde; die sich als Lyrikerin und Erzählerin immer wieder mit einer furchtbaren Wirklichkeit auseinandersetzt, nicht um diese zu erklären, gar um Gewißheiten zu vermitteln, sondern um der Geheimnisse bergenden Welt des zwar Erahnten, aber Ungewußten näher zu rücken.
Oder Rose Ausländer, die aus Czernowitz stammende große Lyrikerin deutscher Sprache, in deren Gedichten die schönen, uralten Wörter der Poesie - Stern, Rose, Atem, Traum, Hügel, Äther - gehäuft vorkommen, in den frühen strahlend, gleichsam die Augen aufschlagend, in den späteren wie mit einer Blutspur überzogen, gezeichnet von bitterer Erfahrung, Verfolgung und Ausgestoßensein, getränkt von Trauer. Das Romantische in den Bildern, Metaphern, Visionen ihrer Dichtungen, einst von Leidenschaft und zuversichtlicher Hoffnung getragen, hat später nichts Bergendes, nichts Beruhigendes mehr. Es zeugt vielmehr vom Unversöhnten im versöhnlichen Ton der Gedichte.
Oder Friederike Mayröcker, von deren »Handwerk« Gisela Lindemann sagt, daß es die Jagd »auf das Flüchtige« sei, »das nicht erlegt, sondern sozusagen lebendig gefangen werden soll«. Die avantgardistische Wiener Dichterin versucht immer wieder »in den Sog jenes Rhythmus zu kommen, der einem«, wie sie sagt, »wunderbarerweise das Schreiben zum Leben macht und das Leben zum Schreiben«; sie lebe »ganz bewußt in einem Poesie-Reservat«. So wenig diese drei singulären Dichterinnen durch die formale oder inhaltliche Gleichartigkeit ihrer Texte miteinander verbunden sind, so sehr ist ihnen doch ein radikaler, kompromißlos strenger Umgang mit Sprache gemeinsam und der Versuch, durch Fragen und paradoxe Aussagen einer bedrohlichen und inhumanen Welt widerstehend standzuhalten. Sie und andere stehen einer ganzen Reihe von Schreiberinnen gegenüber, die unterstützt von trendsetzenden und auf die jeweilige Mode spekulierenden Verlagen - jede zu Papier gebrachte Erfahrung, wie töricht und naiv auch immer, um jeden Preis gedruckt der Öffentlichkeit zu präsentieren wünschen. Daß nicht nur die Literatur vom Leben lernt, sondern umgekehrt, daß Leben von der Kunst lernen kann und soll, bleibt dabei auf der Strecke. »Kunst achtet die Massen«, so hat es Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie ausgedrückt, »indem sie ihnen gegenübertritt als dem, was sie sein könnten, anstatt ihnen in ihrer entwürdigten Gestalt sich anzupassen.«
Doch ist es andererseits der kollektive Unterstrom, aus dem sich individuelle Produktion speist. Und möglicherweise sind es in der heutigen von Nachrichten überschwemmten Zeit Bücher, die jene Erfahrungen vermitteln, die einst von Mund zu Mund gingen und aus denen die großen Erzähler schöpften. Fest steht jedenfalls, daß es - relativ und absolut gesehen niemals zuvor eine solche Fülle von weiblichen Autoren und eine so reiche, von Frauen geschriebene Literatur gab wie in den beiden letzten Jahrzehnten. Es wäre verwunderlich, wenn es nach Jahrtausenden der Entmündigung keine Irrtümer und Fehlleistungen gäbe. Auch daß sich bei der Lektüre nicht der Eindruck einer spezifisch weiblichen Ästhetik einstellt, kann kaum verwundern. Die wenigen eigenwilligen und avancierten unter den Autorinnen lassen sich, was Sprache und ästhetische Form betrifft, nicht absondern von eigenwilliger und avancierter Literatur überhaupt, die charakterisiert ist durch gebrochene, unwiederholbare Formen und eine Sprache jenseits der Alternative von hohem Stil und Alltagssprache.
Frauen erobern sich einen neuen Artikulationsort: den Film
Was wir gewollt hatten:
Die Kamera nicht ständig in Augenhöhe,
den Herrscherblick auf die
Welt einnehmend, mit dem
Dinge und Menschen in organisierte
und meistens hierarchische
Raumbeziehungen gebracht werden.
Der Alltagsblick ist gleichzeitig
präziser und flüchtiger als die
Erzählblicke des Kinos, sein
Gesichtsfeld ist immer weiter,
seine Konzentration auf Details oft
strenger, der Blick ordnet den Raum
subjektiv, seine Entfernungen
sind nicht die geometrischen.
(Jutta Brückner)
Als am 28. 2. 1962 in dem inzwischen legendär gewordenen Oberhausener Manifest dem herrschenden Kino der Krieg erklärt und der Anspruch erhoben wurde, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen, war unter den 26 zornigen jungen Filmemachern nicht eine einzige Frau. Als 11 Jahre später eine erste Publikation (Barbara Bronnen/Corinna Brocher: Die Filmemacher Der neue deutsche Film nach Oberhausen, München 1973) über die neuen Repräsentanten des bundesrepublikanischen Films erschien, wurde auch darin keine einzige Frau genannt. Als vor einem Jahr, 1984, der Verband der Filmarbeiterinnen erstmals eine Dokumentation aller in der Bundesrepublik und Westberlin tätigen Filmemacherinnen vorlegte, konnten circa 400 Namen zusammengetragen werden.
Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Welches waren die Voraussetzungen für das, was im Ausland nicht selten als »das kleine Wunder des deutschen Frauenfilms« bezeichnet wird und bewirkt hat, daß die Werke von Filmemacherinnen inzwischen zu den beliebtesten kulturellen Exportgütern gehören und nicht nur in Städten Europas und der USA, sondern ebenfalls in Buenos Aires, Caracas und Rio, in Bombay, Adelaide und Addis Abeba ein breites Publikum gefunden haben? Wie ist es zu erklären, daß eine derartige Repräsentanz von Frauen insbesondere auf dem Filmsektor zu beobachten ist, nicht jedoch auf dem des Theaters? Denn Theaterregisseurinnen führen weiterhin eher ein Schattendasein in der Bundesrepublik, und über den Intendantenposten eines Stadt- oder Staatstheaters verfügt hierzulande keine Frau.
Für eine solche Erklärung sind mehrere Faktoren von Bedeutung gewesen. Daß ganz entscheidende Impulse von der neuen Frauenbewegung ausgegangen sind, kann nicht nachdrücklich genug betont werden. Zu fragen bleibt allerdings, warum sich diese Impulse besonders auf das neue Medium Film und weniger auf die alten Medien ausgewirkt haben. Gewiß ist - und das gilt nicht nur für Deutschland - daß das Artikulationsmedium der autonomen Frauengruppen weder die Gutenbergliteratur noch das Theater, sondern in erster Linie der Film war. Das hatte ideologische wie auch filmimmanente Gründe.
Wie alle sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts hat auch die Frauenbewegung die Wirkungsmächtigkeit des neuen Mediums, seine Reproduzierbarkeit und kollektive Rezeption instrumentell für ihre Zwecke genutzt. Andererseits boten die Weiblichkeitsbilder, wie sie der Film immer noch vermittelt, stärkere Angriffsflächen als die des Theaters oder der Literatur. Bedingt durch die genormte Ikonographie, die das Verstehen von Filmen in der Frühgeschichte des Kinos überhaupt erst ermöglichte, waren weibliche Stereotypen bis zur Perfektion ausgebildet und auch im weiteren Verlauf der Filmgeschichte - anders als die männlichen Klischees, die sehr schnell berufliche Differenzierungen erfuhren - hartnäckig konserviert worden. Die Ziele der ersten Frauenfilmkollektive sind folglich doppelter Natur: einmal sollen die Forderungen der Bewegung publik gemacht werden und zum anderen die Männerphantasien entthront, d.h. Bilder von Frauen geschaffen werden, die nicht mehr der männlichen Blickrichtung entstammen, sondern authentische Erfahrungen von Frauen vermitteln. Gefordert also wird ein zweifacher Blickwechsel. So ist der Frauenfilm in seiner ersten Phase, zu Beginn der 70er Jahre, überwiegend provokativ und militant. Im Vordergrund stehen Themen wie Frauen im Arbeitskampf, Rollenverhalten und Sexualität, Frauen und der Paragraph 218 oder die Darstellung der Frauen in den Medien. Dazu gehören Filme wie Kinder sind keine Rinder, 1971; Eine Prämie für Irene, 1971; Macht die Pille frei?, 1972, von Helke Sander; Für Frauen - 1. Kapitel 1972, von Cristina Perincioli; Kinder für dieses System, 1973, von Gardi Deppe und Ingrid Oppermann; Es kommt drauf an, sie zu verändern, 1973, von Claudia v. Allemann; Lohn und Liebe, 1973, von Marianne Lüdcke und Ingo Kratisch; Das schwache Geschlecht wird stark, 1974, von Claudia Schilinski oder § 218 und was wir dagegen haben, 1976, von Sabine Eckard. Für alle diese Filme gilt die Devise von Dokumentation und Parteilichkeit. Die Filmemacherinnen sind weniger durch ästhetisches Interesse als vielmehr durch soziales Engagement motiviert. Ihre Arbeiten sind Demonstrationen gegen eine patriarchalische Monokultur, die Frauen aus ihren politischen und gesellschaftlichen Institutionen heraushält und Frauenthemen als Marginalie abtut.
Mit der Ausnahme von Lohn und Liebe - als ARD-Ausstrahlung zu sehen und als bestes Fernsehspiel des Monats Februar 1974 bewertet hatten die genannten Filme alle keine große Öffentlichkeitswirkung. Sie wurden in Frauengruppen, bei Frauenfilmseminaren und auf den ersten Frauenfilmfestivals gezeigt. Doch das Entscheidende war, daß sich Frauen durch solche Veranstaltungen, bei denen gemeinsame Diskussionen breitesten Raum einnahmen, ein erstes Forum zur Organisation ihrer filmischen Erfahrungen geschaffen hatten. Denn das war im Verlaufe der Kulturgeschichte von jeher das Dilemma der künstlerisch tätigen Frau gewesen: Eingebettet in die patriarchalische Familiengemeinde, ausgegrenzt von jeder Öffentlichkeit, fehlte ihr das, was Männern in Künstlerbünden, literarischen Gesellschaften und Vereinen, in Cafés und Clubs so ausgiebig möglich war: der gegenseitige Interessenaustausch mit dem eigenen Geschlecht. Die Frau war Einzelkämpferin geblieben. Daran waren auch die Diskussionen über weibliche Theaterregisseure und die Herausbildung einer Dramatikerinnengeneration immer wieder gescheitert. Insofern ist die Koflektivität, die sich die Filmemacherinnen zu Beginn der 70er Jahre so mühselig und hartnäckig erarbeitet haben, nicht hoch genug einzuschätzen. Sie ist die Grundbedingung für das, was heute allgemein als das Phänomen des Frauenfilms bezeichnet wird.
Das war durchaus keine deutsche Sonderentwicklung. In den meisten westlichen Ländern haben sich die neuen Frauengruppen des Films bedient, um ihre Interessen publik zu machen. Erste zahlreiche Frauengruppenprojekte kamen aus Großbritannien. Hier ist der Tufnell Park Women's Liberation Workshop zu nennen, der bereits seit 1970 eine Reihe von Dokumentarfilmen zu dem Thema Women - are you satisfied with your life? fertiggestellt hat, in denen es um den Stellenwert von Hausfrauenarbeit und ihrer Darstellung in den Medien geht, die Abortion Law Reform Association (About Abortion, 1970), die Nottinghill Women's Liberation Group (Women against the Bill, 1971), die Londoner Women's Film Group (Betteshanger, 1972), ein Film über die Streikunterstützung von Bergarbeiterfrauen, oder die Sheffield Film Co-Operative (A Woman like you, 1976). Weitere Beispiele sind die Boston Women's Film Cooperative (Abortion, 1971), die Newsreel Women (Herstory, 1971), das Berkely Lesbian Feminist Collective (Coming out, 1973) sowie die französische Kooperative ISKRA (Scènes de grève en Vendée, 1974), das Rote-Schwestern-Kollektiv aus Dänemark (Ta'det som en mand frue/Nehmen Sie es wie ein Mann, Madame, 1974), das internationale Women's Film Project aus den USA (The double Day, 1976), das Kartemquin-Kollektiv (The Chicago Maternity Centre, 1976), die australischen Filmemacherinnen der Sydney Women's Film Group (Film for Discussion, 1974) oder das Collettivo Feminista di Cinema aus Rom (La lotta continua, 1973), um nur einige der bekanntesten anzuführen.
Festzuhalten ist, daß sich die Filmemacherinnen in dieser Anfangsphase als ein Teil der politischen Linken begreifen, die ihre Veränderungskampagnen auf die Gleichstellung der Frau konzentrieren. Erst in der Folgezeit werden Stimmen laut, welche die Bestrebungen nach formaler Gleichberechtigung und Angleichung an das männliche Prinzip als falsche Maßnahmen zurückweisen. Gefordert wird nun - im Gegenteil - die Betonung der Andersartigkeit der Frau und, damit verbunden, die Herausbildung einer spezifisch weiblichen Kunst. Die Frage nach der weiblichen Ästhetik kommt auf und die Bemühungen um die Entwicklung einer genuin weiblichen Bildersprache setzen ein.
Als Marksteine auf dem Weg zu dieser Entwicklung sind die zahlreichen Frauenfilmfestspiele zu nennen, deren Auftakt 1972 das »First International Festival of Women's Films« bildete und dem noch im selben Jahr die Veranstaltungen »Women's Cinema« in London und »Women's Film Festival« in Edinburgh nachfolgten. Seitdem gehören solche Frauenfilmfeste zum jährlichen Erfahrungsaustausch für Filmemacherinnen. Filmfestivals in Boston (1973), Toronto (1973), Berlin (1973), in Ann Arbor (1974), Chicago (1974), Philadelphia (1974), Paris (1974), in San Francisco (1975), ein zweites Mal in New York (1976), in Sceaux bei Paris (1978), in Hamburg (1981), in Köln (1984) und als jüngstes Beispiel das von Hannah Fischer groß angelegte und - ebenso wie das in Sceaux bzw. inzwischen in Creteil - als feste Institution geplante Frauenfilmfestival in Toronto (1984) sind die Orte, an denen der weibliche Filmblick auf die Welt zu sehen ist und diskutiert wird.
Im Zusammenhang damit entstehen erste theoretische Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Frauen und Film. Ein frühes Beispiel ist die 1972 erschienene amerikanische Zeitschrift Women & Film. Ausdrücklich stellen sich die Herausgeberinnen als Teil der Frauenbewegung vor (»The women in this magazine, as part of the women's movement, are aware of the political and economic oppression of women«) und geben als besondere Probleme für Frauen im Filmbereich die folgenden an: »1. Eine hermetisch abgeschlossene und sexistische Industrie, deren Überlebenschancen geradezu auf Diskriminierung basieren. 2. Das hartnäckig konservierte >falsche< Frauenbild auf der Leinwand, gleichgültig wie >liberal< Ali McGraw in der Love Story auch immer aussieht. 3. Die ungebrochene Impertinenz, mit der Frauen von den Werbeagenturen weiterhin als Lustobjekte, Opfer von Motorradgangs und in Sträflingskolonien sowie als Vampire in Horrorgeschichten verkauft werden. 4. Die Tatsache, daß sich die Autorentheorie auf allen Ebenen als eine männliche Theorie entpuppt hat (...). 5. Schließlich das System >Kino< selbst in seiner ganzen hierarchischen Inhumanität und 6. Die Vorurteile, die auch die Filmfachbereiche der Universitäten und die Filminstitute Frauen gegenüber haben « (Women & Film, Nr. 1, S. 5f). Die amerikanischen Filmtheoretikerinnen hatten sich zunächst mit dem übermächtigen Hollywoodkino auseinanderzusetzen, mit dem Ergebnis, daß den Auftakt ihrer Untersuchungen die Analyse der Frauenbilder der Großmeister der Traumfabrik - insbesondere John Fords und Howard Hawks' bildete. Damit wurde die Sexismus-Debatte eröffnet, die für die folgenden Jahre, und zwar nicht nur in den USA, wegweisend für die feministische Filmtheorie werden sollte. Auch die von Helke Sander 1974 in Deutschland gegründete Filmzeitschrift frauen und film nennt als eins ihrer Hauptanliegen, die unterschiedlichen Formen des Sexismus in Film und Fernsehen zu beschreiben. So findet sich gleich in der ersten Nummer eine Grundsatzdiskussion zum Thema Sexismus, in der die These aufgestellt wird, daß die besonderen Schwierigkeiten, die Frauen haben, sich auf dem Filmsektor durchzusetzen, die Folge eines offenen oder versteckten Sexismus sind. Ähnliche Überlegungen werden in französischen Filmzeitschriften angestellt, in denen sich feministische Theoretikerinnen hin und wieder ein Schreibeckchen erobern konnten. In ihrem Aufsatz Der gewöhnliche Sexismus oder die Phallokratie im französischen Film weisen die Verfasser darauf hin, daß auch die neue Generation von Filmemachern fleißig an der Stereotypisierung der Frau weiterarbeitet und daß dreiviertel aller Filme der Nouvelle Vague ausgesprochen sexistisch sind (Monique und Guy Hennebelle: Ecran 74, Nr. 28, S. 7). Während die amerikanische Women & Film ihr Erscheinen bereits nach wenigen Nummern wieder einstellen muß, kann ihre deutsche Schwester - als einzige, regelmäßig erscheinende feministische Filmzeitschrift Europas - inzwischen auf eine elfjährige Kontinuität zurückblicken. Ihr kommt ein entscheidender Platz in der Diskussion um den Frauenfilm zu. Berlin entwickelt sich fortan zum Zentrum feministischer Filmarbeit in Deutschland. In der Folgezeit verlegen nicht wenige Filmemacherinnen darunter Ula Stöckl, Erika Runge, Helma Sanders-Brahms und Jutta Brückner - ihren Wohnsitz nach Berlin, das zu einem Ort intensiven weiblichen Erfahrungsaustauschs wird. So gründen 1977 Ulrike Herdin und Christiane Kaltenbach zusammen mit anderen Frauen die »Initiative Frauen im Kino e.V.«. Damit sollte filminteressierten Frauen ermöglicht werden, im Erfahrungsaustausch mit anderen Frauen weibliche Filmarbeit kennenzulernen und eigene Ansprüche an das Kino zu artikulieren. Andere Städte übernehmen solche Impulse.
Läßt sich bis etwa in die Mitte der 70er Jahre - ohne allzusehr zu pauschalieren - von einer international ähnlich verlaufenden Filmentwicklung innerhalb des Frauenfilms sprechen, so ändert sich dies in der zweiten Hälfte. Schon aufgrund der Tatsache, daß sich ein Großteil der Filmemacherinnen aus dem Kollektiv lösen und vom Dokumentarfilm zum Spielfilm überwechseln, beginnt die Kategorie »Subjektivität« zunehmend an Raum zu gewinnen und die Palette der Themen auffällig breiter zu werden. Auch die Bindung an die Frauenbewegung wird komplizierter und vielschichtiger, oftmals lockerer. Allerdings lassen sich weiterhin Schwerpunktthemen finden, wie z.B. die Auseinandersetzung mit den eigenen Müttern. Damit gewinnt eine Figurenkonstellation an Bedeutung, die bei der Gestaltung dramatischer Konflikte zumeist in Randzonen abgedrängt war. Das Hauptterrain bestritten in aller Regel die Väter und Söhne. Der Generationskonflikt wurde im Spiegel des Vater-Sohn-Konflikts vorgeführt. Den Filmemacherinnen geht es jedoch nicht bloß um die Verlagerung dieser Problematik auf das weibliche Geschlecht. Es sind andere Fragestellungen, die sie interessieren. Auf der Suche nach einem historisch kontinuierlichen Begriff von sich selbst, wollen sie - mißtrauisch gegenüber der herrschenden Geschichtsschreibung, die ihrer Ansicht nach allemal durch den patriarchalischen Filter gelaufen ist - über die noch unmittelbar erinnerte Vergangenheit über die Rekonstruktion der Mutter-Tochter-Beziehung Genaueres und Verläßlicheres über die eigene Bedingtheit erfahren. Damit wiederholt sich etwas, was ebenso in der Literatur zu beobachten war. Auch dort hatten Schriftstellerinnen, bei den Bemühungen um ein weibliches Schreiben, die Rück-Besinnung auf die Mütter gefordert. »Denn wir denken durch unsere Mütter zurück, wenn wir Frauen sind« hatte schon Virginia Woolf betont und gemeint, daß es »zwecklos« sei, bei den großen männlichen Schriftstellern Hilfe zu suchen, »so gerne man das auch zum Vergnügen tun mag« (Ein Zimmer für sich allein, S. 85).
Aus solchen Impulsen heraus entstanden Filme wie Legacy (Das Vermächtnis), USA 1975, von Karen Arthur; Riddles of the Sphinx, England 1977, von Laura Mulvey und Peter Wollen; Portrait of my Mother, USA 1974, von Bonnie Kreps; Daughter Rite (Tochterritus), USA 1979, von Michelle Citron; Tue recht und scheue niemand, BRD 1975, und Hungerjahre, BRD 1980, von Jutta Brückner; Deutschland, bleiche Mutter, BRD 1980, von Helma Sanders-Brahms; Malou, BRD 1980, von Jeanine Meerapfel; Entre nous (Unter uns), Frankreich 1983, von Diane Kurys; Ma Chérie, Frankreich 1980, von Charlotte Dubreuil; Les bons débarras, Kanada 1981, von Francis Mankiewicz oder Mamma, Schweden 1983, von Suzanne Osten. Die Herangehensweisen und Akzentsetzungen sind jeweils sehr unterschiedlich. Präzise Rekonstruktionen der mütterlichen Vita in Kreps Portrait of my Mother und Brückners Tue recht und scheue niemand, Zorn und Wut in der Darstellung der Mutter-Tochter-Beziehung in Arthurs Vermächtnis und Citrons Tochterritus (»ich hasse meine Mutter und somit mich selbst«), Abrechnungen mit den traditionellen Müttern als Behinderungsfaktoren für Töchter in Brückners Hungerjahre, aber auch Mütter als Musen in dem sehr vielschichtigen und gleichzeitig als eine Art ästhetische Querele angelegten Film Mamma von Osten oder die sehr differenzierte Beziehung zwischen einer ledigen Mutter aus dem Arbeitermilieu und ihrer heranwachsenden Tochter in Le bons débarras von Mankiewicz, der es mit diesem Film gelingt, »das traditionelle Mutterbild vom Sockel zu reißen und eine neue komplexe Frauenfigur zu entwerfen, die von dem Typus der sich aufopfernden Mutter oder der berufsmäßigen Verführerin gleich weit entfernt ist« (Louise Carrière: Femmes et cinéma québécois, S. 129).
Während es in den meisten Ländern von Ausnahmeerscheinungen wie Liliana Cavani und Lina Wertmüller in Italien oder Agnés Varda in Frankreich (deren filmische Arbeiten nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Frauenbewegung stehen) einmal abgesehen - den Filmemacherinnen langfristig kaum möglich war, die kommerziellen Mittel zur Weiterentwicklung ihrer Filmarbeit zu erhalten und den Sprung von kleineren Arbeiten zum abendfüllenden Spielfilm zu machen, sieht das in Deutschland anders aus. In diesem Zusammenhang muß auf das bundesrepublikanische Filmförderungsgesetz verwiesen werden, dem ein nicht unbeträchtlicher Anteil bei der Herausbildung »des kleinen Wunders des deutschen Frauenfilms« zukommt. Die Tatsache, daß der neue deutsche Film, als Subventionsfilm, weitgehend von wirtschaftlichen Verwertungszwängen befreit ist (mit mehr als 80 Millionen DM wird die Filmproduktion jährlich gefördert), bildet die ökonomische Voraussetzung dafür, daß Frauen überhaupt an der Filmproduktion partizipieren können. Es ist schließlich kein Zufall, daß das einzige Land, in dem Filmemacherinnen ähnlich repräsentativ vertreten sind wie in der Bundesrepublik, nämlich Kanada, gleichfalls über ein relativ gut entwickeltes staatliches Förderungssystem verfügt.
Insbesondere die 2. Novellierung des Filmförderungsgesetzes von 1974, bei der erstmals eine Projektförderung institutionalisiert wird, d.h. Filmemacher auch für ihre Vorhaben in den Genuß von Förderungsgeldern kommen können, wirkte sich günstig für die auf dem Filmsektor arbeitenden Frauen aus. Denn damit wurde das Referenzfilmprinzip des ersten Filmförderungsgesetzes von 1968, nach dem Subventionen überhaupt erst nach vorzeigbaren Verleiheinnahmen bewilligt wurden (ein Film mußte innerhalb von zwei Jahren mehr als 500 000 DM Bruttoverleiheinnahmen erbringen, im Fall einer Prädikatisierung 300 000 DM), unterlaufen. Diese Novellierung kam vor allem den rebellischen jungen Filmemacherinnen aus der Frauenbewegung zugute, die nicht damit rechnen konnten, mit ihren neuen, die Gesellschaft an der Wurzel angreifenden, wenig auf die herkömmliche Unterhaltung hinzielenden Filmen ein breites Publikum zu erreichen. Von ähnlich weit reichender Bedeutung für die kontinuierliche Arbeit der Filmemacherinnen war das ebenfalls 1974 abgeschlossene Film-/Fernsehabkommen. Die praktizierte Gemeinschaftsproduktion von Film und Fernsehen kam vor allem solchen Filmen zugute, die auf dem freien Filmmarkt - und das galt für die große Mehrzahl der von Frauen gemachten Filme - kaum Erfolgschancen gehabt hätten. Doch auch schon vorher haben die Sendeanstalten bei der Entwicklung und Verbreitung des Frauenfilms eine entscheidende Pionierfunktion innegehabt. Claudia v. Alemann, Jutta Brückner, Rebecca Horn, Marianne Lüdeke, Maximiliane Mainka, Elf Mikesch, Cristina Perincioli, Uschi Reich, Helga Reidemeister, Erika Runge, Helke Sander, Helma Sanders-Brahms, Ula Stöckl, Gisela Tuchtenhagen, um hier nur ein paar Namen zu nennen, sie alle hätten in den 70er Jahren ohne die Unterstützung der Fernsehspielredaktionen - das muß ausdrücklich betont werden - kaum Produktionsmöglichkeiten gehabt. Gewiß, ohne die Zähigkeit einer wortführenden, frauenpolitisch engagierten Gruppe von Filmemacherinnen hätten auch die Sendeanstalten kaum die Weichen für den Einzug des Frauenfilms gestellt. Das Terrain mußte vorbereitet werden. Doch läßt sich nicht übersehen, daß dergleichen filmemanzipatorische Arbeit schließlich auch von Frauengruppen in anderen Ländern geleistet wurde - man denke an die zahlreichen Frauenfilmgruppen und Filmtheoretikerinnen in Großbritannien - die dennoch nicht zu einer ähnlichen Partizipation an der Filmproduktion wie in der Bundesrepublik geführt hat. Auf der Suche nach Erklärungen dafür, wie es zu dem Phänomen des deutschen Frauenfilms gekommen ist, reicht die monokausale Herleitung aus der Frauenbewegung offenbar nicht aus. Die wirtschaftspolitischen Voraussetzungen müssen bei einem Gegenstandsbereich wie dem Film, der so sehr im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz steht, ebenfalls gegeben sein. Das deutsche Subventionsprinzip - im Gegensatz zu dem privatwirtschaftliehen Rentabilitätsprinzip, das in den meisten Ländern die Filmwirtschaft charakterisiert - ermöglicht den Filmemacherinnen die Partizipation an der Filmproduktion. Das muß klar gesehen und gesagt werden. Auch wenn weiterhin viele Projekte von Frauen nicht realisiert werden können, dürfen - insbesondere in Anbetracht einer sich anbahnenden Tendenzwende auf dem Filmsektor und der 1986 bevorstehenden Novellierung des Filmförderungsgesetzes - die Vorteile der (noch) herrschenden Subventionspolitik nicht aus dem Blickfeld geraten. Ohne sie gäbe es den deutschen Frauenfilm nicht. Das sehen auch die Filmemacherinnen der benachbarten Länder, von denen so manche versuchen, über Gruppenprojekte in den Genuß der deutschen Filmförderung zu kommen, wie das Beispiel der deutsch-französischen Gemeinschaftsarbeit Die Erbtöchter (1983) zeigt (ein Film über die verwickelten Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich von Marie-Christine Qesterbert, Viviane Berthommier, Danièle Dubroux, Ula Stöckl, Helma Sanders-Brahms und Jutta Brückner), der als Studioprogramm der Redaktion des kleinen Fernsehspiels gesendet wurde. So weit, so ökonomisch.
Wie aber entwickelt sich der Frauenfilm nach seiner ersten militanten Phase weiter? Kann er die Forderung nach einer neuen Bildersprache erfüllen und tatsächlich zum »Gegenfilm« werden, wie Claire Johnston das in ihren Überlegungen zum Frauenfilm verlangt hatte? (Notes on Women's Cinema, S. 24). Wenn sich die folgende Darlegung am deutschen Beispiel orientiert, so deshalb, weil die Filme von Frauen in der Bundesrepublik keine Randerscheinung mehr bilden, sondern zum festen Bestandteil der Kinolandschaft gehören. Das Stichjahr ist hier 1978. Eine Reihe von Frauenfilmen, alle mit Förderungsgeldern produziert, geraten plötzlich ins Blickfeld der Öffentlichkeit, gehören zu den meistdiskutierten Festivalbeiträgen, gewinnen Preise im Inland und Beachtung im Ausland. Sie werden von Kritikern und vom Publikum als etwas Besonderes, in der herrschenden Kinolandschaft Neues, empfunden. Zu solchen Filmen gehören Helke Sanders Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redapers (1978), Elf Mikesch' Ich denke oft an Hawai (1978), Margarethe v. Trottas Das 2. Erwachen der Christa Klages (1978), Helga Reidemeisters Von wegen Schicksal (1978), Cristina Perineiolis Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen (1978), Ulrike Ottingers Madame X (1977) oder Jutta Brückners Tue recht und scheue niemand (1975) und Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen (1977).
Trotz aller Unterschiedlichkeit gibt es in diesen Filmen etwas, das sie verbindet, nämlich das Bemühen der Regisseurinnen, authentische Alltagserfahrungen von Frauen zu verarbeiten, so genau wie möglich den weiblichen Lebenszusammenhang darzustellen, weibliche Arbeit in all ihren Widersprüchen zum Gegenstand ihrer Geschichten zu machen und die Männerschicksale erst einmal auszublenden. Es sind Lebensgeschichten von Frauen, die hier erzählt werden, von Frauen aus Arbeiterkreisen (Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen), aus kleinbürgerlichem Milieu (Tue recht und scheue niemand, Ein ganz und gar verwahrlostes Mädchen), aus dem Bürgertum (Das 2 Erwachen der Christa Klages, Redupers) und aus dem Reich der Frauenphantasien (Madame X). Doch das allein wäre noch nichts Besonderes. Schließlich waren Frauengeschichten von jeher die Lieblingsgeschichten des Kinos, ja der Kunst überhaupt. Es ist die zögernde, unhierarchische Erzählweise, die auffällt, der Alltagsblick auf die Menschen und Dinge, der Verzicht auf die »Augenhöhen-Dramaturgie« und die den Körper fragmentierende Großaufnahme. Die Räumlichkeiten von Frauen wirken anders geordnet, genauer beobachtet, weniger kulissenhaft. Es sind die Spannungsbögen, die anders verlaufen, weniger spektakulär, dafür präziser gesetzt, im Alltag verankert, das Detail nicht aussparend. Es sind Bilder von Frauen, die sich ihren Alltag selbst organisieren und nicht mehr nur das männliche Eroberungsfeld ordnen. »Mit dem lakonisch dargebotenen Motiv der Arbeitswelt wird der Frauenfilm einer modernen Ästhetik der nicht-mehr-schönen Künste eher gerecht als die verspielten Kunstfilme von Herzog bis Achternbusch«, konstatiert Hannelore Schlaffer und kommt zu dem gar nicht so abwegigen Schluß, daß Frauen »in der Kunst (...) den Alltag als ihre eigentliche Domäne eher erobert haben als in der Wirklichkeit« (Renate Möhrmann: Die Frau mit der Kamera, S. 90 f). Ungewohnt ist ebenso die Perspektive, aus der das Thema »Mütterlichkeit« in diesen Filmen vorgeführt wird. Nicht mehr die überlieferte, heile Feierabendstimmung suggerierende Symbiose von Mutter und Kind ist zu sehen, sondern brüchige, aggressive, die Belastung und Überlastung der Mütter nicht aussparende Alltagsbilder werden gezeigt. Sequenzen wie die, in denen sich die berufstätige Edda Chiemnyjewski allmorgendlich von ihrer Tochter verabschieden muß, die grausamen Abschiedsrituale, die tagtäglich von Frauen zu bewältigen sind (Redupers), Szenen, wie sie sich in der engen Wohnküche von Addi zwischen Mutter und Kind abspielen (Die Macht der Männer) oder solche, wie sie Helga Reidemeister als Signale für eine nicht mehr funktionierende Mutter-Kind-Beziehung setzt, das sind Bilder, wie sie im Männerkino (und damit ist nicht nur Hollywood, sondern ebenso der neue deutsche Film gemeint) bisher noch nicht zu sehen waren. Daß ein Teil der männlichen Kritik auf diese Bilder negativ reagierte und von »Demontage der Mütterlichkeit« sprach, bestätigt ihren innovativen Gehalt.
Auch auf der Produktionsebene probieren viele Filmemacherinnen neue Arbeitsweisen aus und versuchen, den von der Frauenbewegung postulierten Anspruch nach unhierarchischer Produktivität wenigstens teilweise in die Praxis umzusetzen. Das führt in vielen Fällen zu verlängerten Drehzeiten und dem Einsatz der Videokamera. So entscheidet sich Cristina Perincioli dafür, bei Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen - einem Spielfilm, in dem sie ganz gezielt die Geschichte einer mißhandelten und später in einem Frauenhaus Zuflucht nehmenden Ehefrau nicht bloß als eine individuelle, sondern als eine exemplarische darstellen will - schon Monate vor dem eigentlichen Drehbeginn mit den Darstellerinnen Videoarbeit zu machen und Szenen zu proben, damit jede ihre eigene Spielweise beobachten und beurteilen kann. Auf diese Weise kann die Filmemacherin das übliche Autoritätsverhältnis beim Filmen entschärfen.
Noch einen Schritt weiter geht Helga Reidemeister in ihrem Dokumentarfilm Von wegen Schicksal, ein Film über die 48jährige Irene Rakowitz, die sich nach zwanzig Ehejahren von ihrem Mann scheiden läßt, um sich nicht mehr beständig rechtfertigen zu müssen und ihren eigenen Bedürfnissen leben zu können. Nicht nur, daß hier ein Stück Privatheit mit einer Schonungslosigkeit aufgedeckt wird, wie das bisher in den Medien nicht üblich war, hat Verstörung im Publikum ausgelöst. Auch die Tatsache, daß Reidemeister sich nicht an die klassischen Regeln dokumentarischer Filmarbeit hält und selber im nachhinein ordnend in das Material eingreift, bringt ihr Schelte von den Puristen ein. Dabei wurde übersehen, daß solche Eingriffe (die Filmemacherin hatte tatsächlich verschiedene Sequenzen nachspielen lassen und manche Akzente post festum anders gesetzt) auf den ausdrücklichen Wunsch der Protagonistin hin unternommen wurden. Indem Reidemeister - zuweilen sogar gegen ihr ursprüngliches Konzept ihre Hauptdarstellerin ernst nimmt und an Schnittentscheidungen teilhaben läßt, sie nicht lediglich als Demonstrationsfigur benutzt, sondern in ein - wie undeutlich das auch sein mag - dialogisches Verhältnis zu ihr tritt, verändert sie die Blickrichtung des Films: nicht ein Film über Irene Rakowicz ist auf diese Weise entstanden, sondern ein Film mit ihr. Ein weiteres Anliegen von Filmemacherinnen ist es, den Weiblichkeitsdiffamierungen teils als Ausklammerung des weiblichen Körpers, teils als Vereinnahmung der Frau als »obskures Objekt der Begierde« auf der Leinwand zu beobachten - entgegenzuwirken. Sehr zu Recht haben Jutta Brückner, Ula Stöckl und Helke Sander nachdrücklich darauf hingewiesen, daß weibliche Sexualität zumeist in verstümmelter, entschlackter, verharmloster, auf jeden Fall in reduzierter Form zur Darstellung findet und ganze Bereiche der weiblichen Lebensrealität wie Menstruation, Schwangerschaft, Gebären, Wochenbett, Abtreibung und Wechseljahre im Film überhaupt nicht vorhanden sind. »Man kann in einem Film 7 Morde zeigen, man kann zeigen, wie jemand zerstückelt wird, bloß bitte zeige nicht eine Menstruationsbinde, dann fühlen sich alle Leute peinlich berührt, das wird nicht zur Kenntnis genommen, das wird weggeschoben«, hatte sich Brückner beschwert, als während der Dreharbeiten der Hungerjahre der Kameramann sich bis zuletzt geweigert hatte, die Szene mit der Monatsbinde zu filmen (Ästhetik und Kommunikation, Okt. 1979, S. 117). Und Helke Sander berichtet, wie sie fast fünf Jahre lang keinen Film hat machen können, weil ihre Drehbuchentwürfe, die solche ausgeklammerten Lebensbereiche von Frauen behandelten, von den Sendeanstalten als für die Allgemeinheit nicht interessant genug zurückgewiesen wurden.
Hier wirken sich offenbar immer noch die kulturellen Tabus, die oktroyierten Scham- und Peinlichkeitsschwellen aus, die dazu geführt haben, daß ein Teil des weiblichen Körpers jahrhundertelang fest hinter Schloß und Riegel gehalten wurde. Andererseits hat eine solche kulturelle Diskretion eine durchaus dynamische Wirkung gehabt. »Es fällt auf, daß feministisch bewußte Künstlerinnen gerade dort, wo die Frau am meisten von tradierten Mythen und Schönheitsvorstellungen manipuliert wird, im Bereich ihrer Körperästhetik, durch Selbstdarstellungen im Medium von Aktionen, video- oder live-performances, Fotosequenzen usw. einen neuen Anfang suchen« (Peter Gorsen: Konstruktion der Weiblichen Kultur, S. 39). Entscheidende Impulse gingen von den bildenden Künstlerinnen aus. Sie wehrten sich vor allem gegen die herkömmliche Darstellung des weiblichen Aktes, gegen die Zurichtung der Frau auf Mund, Busen und Beine, gegen die aseptische Darbietung ihres Leibes, die Aussparung der Vagina als bedrohlichem Geschlechtsorgan, weil sie Blut, Schmerzen und Arbeit suggeriert und der unbedenklicheren Lust der Brüste die dunklere Kehrseite entgegenhält. Aus Protest gegen eine solche Verstümmelung begann Judy Chicago zusammen mit 400 anderen Frauen - 1974 mit ihrer Neuschaffung des Abendmahls, denen gewidmet, die es gekocht haben. 39 Gedecke - reich verzierte Teller mit immer neuen Vaginamotiven - für Frauen, die im Verlauf der Kulturgeschichte für andere Frauen Bedeutendes geleistet haben und von der offiziellen Geschichtsschreibung vergessen wurden. Phantasievolle Gegenbilder einer weiblichen Körperästhetik, die Frauen dazu anregen sollen, in einer männlichen Kunsttradition eigene Ausdrucksformen zu finden. Denn darin lag das Problem. Die Aufkündigung der patriarchalischen Bevormundung, die Destruktion der männlichen Frauenbilder und die ideologische Verweigerungshaltung waren noch verhältnismäßig einfach durchzuführen. Die Schwierigkeiten begannen bei der Imaginierung neuer Frauenbilder. Hier haben experimentelle Künstlerinnen wie Susanne Santoro, Doris Chase, Ursula Reuter-Christiansen, Birgit Hein, Ulrike Ottinger, Ulrike Rosenbach, Annegret Soltau, Valie Export, Judy Chicago oder Friederike Pezold wichtige Anregungen gegeben. »Die Geschichte der Unterdrückung der Frau war immer die Geschichte der Unterdrückung ihres Körpers, ihrer Leibeigenschaft«, betont Friederike Pezold. »Da ich die Leidensgeschichte der Leibeigenschaft des weiblichen Körpers in Bildern und Texten hinreichend kritisiert habe, wollte ich endlich die Alternative bringen. Mich hat gereizt, ein Gleichnis zur Schöpfung zu setzen, eine Frau, die sich neu erschafft. Nach ihrem Bild und Gleichnis« (9. internationales forum).
Das Ergebnis solcher Bemühungen ist Pezolds Kehrtwende zum Film. Nach fast zweijähriger Arbeitszeit kann sie 1979 ihren ersten abendfüllenden Videofilm Toilette vorführen. Eine Frau macht vor dem Monitor Toilette. Langsam und liebevoll wird der Körper Stück für Stück, vom Scheitel bis zur Sohle, in Augenschein genommen und abgetastet. Kein Voyeurismus ist dabei im Spiel, keine ablenkende Musik zu hören. Nur die konkreten Geräusche, die entstehen, wenn der Kamm durch das Haar fährt oder die Finger eine Creme zerreiben, unterbrechen die intensive Stille. Nie vorher im Kino ist weibliche Körperlichkeit so sinnlich erfahrbar gemacht worden wie bei Pezold. Es ist der Versuch einer Neuschaffung des weiblichen Menschen, ein Film über eine Frau, die sich darum bemüht, mittels Videokamera und Bildschirm das Verhältnis von Abbild und Wirklichkeit zu klären um ihre eigene Identität zu finden und über den genauen Blick auf das Einzelne ein besseres Verständnis für das Ganze zu gewinnen. Es ist ein ruhiger Film, der zum Sehen einlädt, in dem die Bewegungen nicht durch die Fahrten der Kamera, nicht als Oktroy der Technik, sondern durch die Bewegungen des Körpers geschaffen werden: die Frau im Besitz einer optischen Verfügungsgewalt ihrer eigenen Gestalt. Die Filmemacherin will beweisen, daß sie »auch mit dem äußersten Minimum ein Maximum an Spannung erreichen kann« und daß die Bewegung ihres »Bauchnabels um nur ein paar Milli-Milli-Meter spannender ist als jeder Krimi« (9. internationales forum).
Damit fällt ein wichtiges Stichwort: Spannung. Das scheinbar so leicht zu fällende Urteil, ob eine Sache spannend sei oder langweilig, erweist sich bei gründlicherer Betrachtung als das höchst komplexe Ergebnis einer langen ästhetischen Sozialisation. Im Kino hat sich der Spannungsbegriff im Zusammenhang mit den beiden ältesten Filmgenres herausgebildet, mit dem Western und dem Krimi. Einer der ersten, der darüber nachgedacht hat, wie und wodurch ein Film spannend wird, war der amerikanische Filmregisseur David Wark Griffith. Seine Antwort lautete: durch die Parallelmontage, d. h. durch die Ankündigung und die gleichzeitige Hinauszögerung von Gefahr, durch die Rettung des Helden in allerletzter Minute, bei der der Handlungsstrang, der auf das gefährliche Ende zuläuft, immer wieder unterbrochen wird durch einen parallel laufenden Strang, dessen Ziel die Rettung ist. Ein Höchstmaß an Spannung wird erreicht durch die schnellstmögliche Abfolge von Schnitt und Montage. Nach diesem Muster werden auch heute noch Krimis gedreht, deren Helden nicht zufällig - in -aller Regel - Männer sind.
Filmemacherinnen haben sich entschieden gegen eine so einseitige, am Action-Kino orientierte Spannungsauffassung zur Wehr gesetzt und eine Revision des Spannungsbegriffs gefordert. Das meint auch Friederike Pezold, wenn sie behauptet, ihr Körperfilm sei spannender als jeder Krimi, spannender jedenfalls für den, der auf Entdeckungen aus ist und vom Kino mehr erwartet als die übliche Heldengeschichte. Wie einseitig das Kriterium der Spannung auf dem Filmsektor weiterhin verwendet wird, haben Filmemacherinnen auch dann erfahren müssen, wenn ihnen von Gremien und Kommissionen ihre Drehbücher mit dem Vermerk »nicht spannend genug« zurückgegeben wurden. Es ist bezeichnend, daß Helke Sander ihre Drehbuchexposés zu ausgesprochenen Frauenthemen wie Frauen im Mittelalter, Die Frauenbewegung im 19. Jahrhundert oder Rote Tage von den Redaktionen mit dem Hinweis zurückbekam, daß sie für die Allgemeinheit nicht spannend genug seien, hingegen ihren Film Männerbände (1973), eine Dokumentation über die Darstellung des Fußballs im Fernsehen, ohne Schwierigkeiten bewilligt bekam, da er offensichtlich der (männlichen) Vorstellung von Spannung eher entsprach.
Doch hier hat sich im Verlauf der 70er Jahre manches geändert. Das Nachdenken über geschlechtsspezifische Bedingungen von Kunstproduktion hat - nicht zuletzt durch die intensiven Erörterungen der Frauenbewegung - zunehmend an seriösem Boden gewonnen. Auch hat, was die Bundesrepublik betrifft, die Tatsache zu denken gegeben, daß so mancher Frauenfilm, ein Paradebeispiel hierfür ist Helma Sanders-Brahms Deutschland, bleiche Mutter (1980) - der von deutschen Rezensenten bis unter die Gürtellinie verrissen, von der ausländischen Kritik hingegen als der intensivste Beitrag zur jüngsten deutschen Vergangenheit gefeiert und mit zahlreichen Auszeichnungen versehen wurde.
Hinzu kommt, daß während der Jahre 1980/81 in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von Frauenfilmen fertiggestellt werden, die sowohl bei männlichen wie auch bei weiblichen Kritikern auf sehr viel Anerkennung stoßen und - mehr noch - als das eigentlich »Interessante« empfunden werden. Hierzu gehören Filme wie Hungerjahre Jutta Brückner), Kraftprobe (Heidi Genée), La Ferdinanda (Rebecca Horn), Malou Jeanine Meerapfel), Was soll'n wir denn machen ohne den Tod (Elfi Mikesch), Freak Orlando (Ulrike Ottinger), Der subjektive Faktor (Helke Sander), Die Berührte (Helma Sanders-Brahms) oder Die bleierne Zeit (Margarethe v. Trotta). Doch was ist das Interessante an diesen Filmen, und wie verhält es sich mit dem Versprechen, neue Frauenbilder auf die Leinwand zu bringen? Wie sieht sie nun aus, die nicht reduzierte Frau aus dem Stoff der Frauenphantasien? Ist es den Filmemacherinnen gelungen, den Blickwechsel zu vollziehen? In mancher Hinsicht durchaus.
Wo schon konnte man vorher im Film eine so genaue und komplexe Mädchenkindheit sehen wie in Brückners Hangerjahren? Gewiß gibt es Kinomädchen in Hülle und Fülle, als »sweethearts« und »pretty babies«, als Lolita und Bilitis, als Trophäen jugendlicher oder jedenfalls sich für jugendlich haltender Helden, d. h. als Stimulanz oder Appendix. Nicht von ungefähr ist es eine Tatsache, daß der Jugendfilm stets ein Jungenfilm geblieben ist, daran haben auch so engagierte, an Jugendthemen interessierte Filmemacher wie Hark Bohm oder Norbert Kückelmann nichts geändert. Die besonderen Schwierigkeiten und Verunsicherungen des heranwachsenden Mädchens - verschärft durch den Doppelanspruch der Erzieher: »Mach es besser als wir, aber um Gottes willen nicht anders!« - diesen Dressurakt am weiblichen Körper, der das Mädchen auf die Rolle der Frau vorbereiten soll, indem er ihr das Frausein gründlich verleidet, all das hat erstmals Jutta Brückner auf die Leinwand gebracht, und vermutlich hat es ihr sogar zum Vorteil gereicht, daß das Kino für solche Themen noch kein Bildarsenal bereithält und sie gezwungen war, über die genaue Erinnerung - durch die Rück-Be-Sinnung auf ihre eigene Mädchenkindheit solche Bilder zu finden. Es ist gewiß kein Zufall, daß Brückner, bevor sie diese autobiographische Figur gestalten konnte - ganz im Sinn von Virginia Woolf -, »zurück zu den Müttern« gedacht und einen Film über ihre Mutter gedreht hat (Tue Recht und scheue niemand).
Auch die Darstellung von alten Frauen - zum Beispiel in Elfi Mikeschs Film Was soll'n wir denn machen ohne den Tod (1980) - gewinnt eine ganz neue Qualität. Das sind nicht mehr die gewohnten Kinobilder der Großmütter, die zumeist nur im Blickwinkel auf die junge Generation von Interesse sind, die Alten als Pflegefälle oder im Kampf um ein klägliches Rentendasein, wie wir sie vom italienischen neorealistischem Film her kennen. Mikesch zeigt eine Freundschaft zwischen zwei sehr alten Frauen, schon in der Nähe des Todes, in einem privaten Altenheim in Hamburg. Sie spart zwar die Bilder von Krankheit, Verfall und der ständigen Nähe des Todes nicht aus, verdeutlicht aber gleichzeitig, wie sich die Wahrnehmungsweisen dieser Frauen im Alter verändert haben, und - befreit von der gesellschaftlichen Konvention eines linearen Zeitempfindens - es möglich wird, ein ganz neues Sinnsystem zu errichten, in dem Vergangenes und Gegenwärtiges, Totes und Lebendiges, nicht mehr als getrennte, sondern als verbundene Komplexe erlebt werden können.
Mit solchen und anderen Filmen hat der Frauenfilm in der Kinogeschichte der Bundesrepublik einen ersten und deutlichen Höhepunkt erreicht und zugleich seine öffentliche Anerkennung gefunden. Was 1978 begonnen hatte, erlebt hier seine augenfällige Vollendung. Margarethe v. Trotta erhält für ihren dritten Spielfilm, Die bleierne Zeit, 1981 den Goldenen Löwen von Venedig, den Fipresci-Preis der internationalen Kritiker-Vereinigung, den Goldenen Hugo auf dem Internationalen Filmfest Chicago und 1982 die höchste deutsche Auszeichnung, einen Bundesfilmpreis (das Filmband in Gold). Mit der Verleihung des Goldenen Löwen hat erstmals der Film einer Frau die internationale Aufmerksamkeit erregt. Doch nicht nur Trotta errang Preise. Auch Brückner konnte mit den Hungerjahren internationale Anerkennung gewinnen. 1980 erhielt sie den Publikumspreis auf dem Frauenfilmfestival in Sceaux, 1981 den Publikumspreis in Brüssel sowie den Preis der deutschen Filmkritik. Ulrike Ottinger errang 1982 den 2. Preis von Sceaux für Freak Orlando, und Helma Sanders-Brahms Film Die Berührte wird zum besten Film des Londoner Filmfestivals gekürt. Fast alle der genannten Filme werden außerdem von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden als »besonders wertvoll« prädikatisiert.
Wenn an dieser Stelle etwas ausführlicher auf die öffentliche Lobzuteilung eingegangen wird, so deshalb, weil darauf hingewiesen werden soll, daß sich für den deutschen Frauenfilm in Zukunft etwas ändern wird. Die Erfolge, die sich die Filmemacherinnen errungen haben, machen sie notgedrungen zu Konkurrentinnen und führen sie in die Rolle der Einzelkämpferin zurück. Die gemeinsame Basis droht brüchig zu werden, die Ausgangssolidarität zu zerbröckeln. Davon zeugen auch die immer spärlicher besuchten Sitzungen des Verbands der Filmarbeiterinnen und die noch kürzlich erhobene Frage seiner Auflösung. Der Begriff »Frauenfilm«, anfangs ganz bewußt und undifferenziert als Programmbegriff benutzt, wird nun von einem Großteil der Filmemacherinnen als zu einengend und gleichmachend verworfen. Feminismus und Frauenfilm sind keine Synonyme mehr. Die Zeiten der gemeinsamen Strategien sind offensichtlich vorüber. Der Kampf um die staatlichen Futtertröge isoliert. Die Einzelkämpferinnen beanspruchen für sich allein, was ihnen zusteht.
Und noch etwas ist zu beobachten: eine Art Generationswechsel und Tendenzwende, bei der die Töchter den Aufstand proben. Ula Stöckl verarbeitet diesen Wechsel in ihrem letzten Film Der Schlaf der Vernunft (1984), in dem die inzwischen herangewachsenen Töchter der Feministinnen vorgeführt werden. Diese wehren sich gegen den Rigorismus ihrer frauenbewegten Mütter, fühlen sich im ideologischen Würgegriff und am emanzipatorischen Gängelband, wollen ihrerseits »ganz Frau und frei sein« zugleich, jedenfalls ihren Spaß und sehen in Stöckelschuh und Straps nicht mehr bloß die klassischen Unterdrückungsutensilien, die Marterwerkzeuge zur weiblichen Domestizierung, sondern Signifikate von Lebenslust, Buntheit und Vergnügen. Damit fällt ein wichtiges Signalwort: Vergnügen. Interessant ist, daß Virginia Woolf bereits 1928 die erstaunliche Unterscheidung zwischen »Selbstfindung« und »Vergnügen« gemacht hatte. Poetische Lektionen könnten die Frauen nur durch »die Rückkehr zu den Müttern« erhalten, hatte sie behauptet, »Vergnügen« hingegen fänden sie vor allem bei den männlichen Schriftstellern.
Damit wird ein zentrales Defizit in der feministischen Diskussion deutlich: die Mißachtung des Faktors »Faszination«. Denn es ist ja - besonders auf dem Filmsektor - eine Tatsache, daß auch sexistische Weiblichkeitsentwürfe den Zuschauerinnen offenbar Vergnügen bereiten. Dieses lediglich als »das falsche Bewußtsein« zu denunzieren, griffe gewiß zu kurz. Zu fragen wäre vielmehr, welche weiblichen Sehnsüchte und Utopien in solchen Bildern aufbewahrt sind und wie solche Wunschpotentiale möglicherweise in nichtsexistische Frauenimaginationen integriert werden können.
Durch die Abspaltung des Vergnüglichen vom Lehrreichen fand neuerseits eine Reduzierung der Frau statt, das jedenfalls empfanden viele Filmemacherinnen der zweiten Generation. Ihre Antwort auf die Alltagsästhetik ihrer Wegbereiterinnen war: die Ästhetisierung des Alltags. Was Helke Sander bereits in ihrem dritten Spielfilm Der subjektive Faktor (1981) programmatisch als Titelanspruch formuliert hat, wird zum Ansporn für die neue Generation, allerdings mit anderer Betonung. Sander hatte den »subjektiven Faktor« durchaus als eine politische Kategorie gesetzt und damit die Gleichbewertung von männlichem und weiblichem Lebenszusammenhang gefordert. Die jungen Filmemacherinnen der 80er Jahre - das hat der repräsentative Querschnitt über den neuen Frauenfilm aus Nordrheinwestfalen während des Kölner Frauenfilmfests, der Feminale von 1984, deutlich gezeigt - gehen mit dem »subjektiven Faktor« beliebiger um. Die Aufarbeitung der Frauenbewegung scheint beendet zu sein. Sie interessiert die schillernde Seite der weiblichen Wahrnehmung, der Flitter im Alltag, das Bunte im Banalen. Der Blick auf den weiblichen Körper, auf das Ritual des sich Schminkens, Verkleidens und Schmückens, auf die Räume weiblicher Wiederherstellung, wie Bad, Boutique und Frisiersalon - früher vor allem als Orte weiblicher Zurichtung diffamiert - der Einsatz von Musik und Tanz, insbesondere des Tangos, als Rausch und narzistische Entgrenzung, das sind die Merkmale dieser neuen Filme, wie Sibylle Tiedemanns Aqua maria (1983), ein Film über die Lust am Baden, Monika Vogels Rot und Blau (1983), ein Tanzfilm als Reise in Raum und Zeit, Olga Gasteigers Meine Hüte (1984) oder auch Ulrike Filgers Ich sage immer, wenn meine Haare gemacht sind und ich ein paar schöne Schuhe trage, bin ich vollkommen angezogen (1983).
Ein Film, der alle diese Elemente von Tanz, Musik und Farbenfülle enthält, ohne bloße Oberflächenästhetik zu zelebrieren, und die ganze Spannweite zwischen Werktagswirklichkeit und Feierabendträumerei, vernünftigen und kitschigen Wünschen von Frauen einfängt und zum Grundprinzip seiner Geschichte macht, ist Sydney an der Wupper Dreamtime (1982) von Bettina Woernle. Irreführend allerdings ist der Titel. Nicht der Gegensatz zwischen der australischen Weite und der Enge der nordrheinwestfälischen Industriestadt wird von der Hauptdarstellerin - Meryl Tankard (Mitglied des Tanztheaters der Pina Bausch) - als Kontrasterfahrung durchlebt. Die Gegensätze lassen sich eher als solche von Mühsal und Märchen, von Werkstatt und Traumfabrik, kurz von grau und rosa verstehen. Denn wenn sich Meryl in der Wuppertaler Industrielandschaft an ihre australische Heimat erinnert, dann fallen ihr Bilder von Opernhäusern, Abendtoiletten und Starauftritten, also von Glamour ein. Es sind Happy End-Bilder, die so gar nicht zu den tristen Abschminkszenen in der öffentlichen Bedürfnis- und Badeanstalt passen, in der Meryl ihren Wuppertaler Arbeitstag beendet. Evozierung und Zerstörung von Happy-End - diesen Widerspruch fängt der Film ein und zeigt auf eine sehr sinnliche Weise, daß mit der Demontage der weiblichen Kinomythen erst die halbe Arbeit getan ist.
Aber wie steht es um den Frauenfilm bei der letzten Berlinale 1985? Kann er das bereits Erreichte halten? Liefert er weiterhin die interessante Alternative? Gewiß Filmemacherinnen sind zahlreich vertreten, aber vom Frauenfilm wird kaum mehr gesprochen. Etwas Spezifisches ist nicht zu beobachten. Bunte Beliebigkeit und beliebige Horrordramatik wurde gefördert (Gabriele Zeraus Tapetenwechsel, Marianne Enzensbergers Der Biß und auch Doris Dörries Im Innern des Wals gehört letztlich dazu), wichtigen Projekten hingegen - wie z. B. Jutta Brückners Im Bauch der Revolution, in dem es um die Identitätskrise einer deutschen Studentin zur Zeit des Algerienkriegs in Frankreich geht ist die Subvention bisher verweigert worden. Drei Filme, an die sich große Erwartungen geknüpft hatten, lassen höchst widersprüchliche Eindrücke zurück. Helma Sanders-Brahms Flügel und Fesseln, bzw. Emiliens Zukunft (L'Avenir d'Emilie), wie der Originaltitel des in Frankreich gedrehten Films lautet, erzählt zwar eine frauenspezifische Geschichte, enthüllt die unordentliche Kehrseite des Lebens einer sogenannten Arrivierten, nämlich das Hin-und Her einer unverheirateten Schauspielerin zwischen den Ansprüchen ihres Berufs und denen ihrer Tochter, aber die Filmemacherin findet doch bloß recht klischeehafte Bilder für diese Probleme. Denn was kann man schließlich sagen zu einem Film, dessen Titelheldin ein ganz besonders süßes kleines Mädchen ist, das auf eine Weise benutzt wird, wie das ähnlich mit dem amerikanischen Kinderstar Shirley Temple geschah? Oder Valie Exports Die Praxis der Liebe, die bei diesem Film eher nach dem Basarprinzip verfahren ist, nach dem Motto »wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen« und ein bißchen Feminismus, ein bißchen Experimentelles und eine Dosis Kriminelles zu einem eher beliebigen Farbenpotpourrie zusammenmontiert hat. Und schließlich Elf Mikesch, die sich mit ihrer Grausamen Frau vollends ins ästhetische Niemandsland verliert.
Doch damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Zwei Filme diesmal nicht aus der Bundesrepublik - machen auf sehr unterschiedliche Weise deutlich, daß Frauen noch über ein ungeahntes Repertoire von Bildern verfügen und dem Kino nutzbar machen können, nämlich Marguerite Duras mit Die Kinder (Les Enfants, Frankreich 1984) und Léa Pool mit Die Frau im Hotel (La femme de l'hotel Kanada 1984).