Klöster und Höfe

Räume literarischer Selbstentfaltung

Über das Schreiben der Mystikerinnen

»Ich bin heiser in der Kehle meiner Keuschheit“

Die »Ärmsten im Geiste«, die »Einfältigen«, die »gebrechlichen Gefäße«, die »Törichten«, die Unwissenden und Niedrigen - kurzum: das »schwache Geschlecht« beginnt ab der Mitte des 12. Jahrhunderts, die Welt des hohen Geistes in Erstaunen zu versetzen: Frauen beginnen zu schreiben.
Der Zeit entsprechend schrieben die allerersten noch in Latein, dann - ab dem 13. Jahrhundert - zunehmend in der jeweiligen Landessprache, einige wenige allerdings sprachen das, was sie zu sagen hatten, als Diktat in die Feder anderer. Wie und in welcher Sprache auch immer sie ihre Texte verfaßten, so haben sie eines gemeinsam: sie schrieben an und für Gott, der sich ihnen in mystischen Erlebnissen unmittelbar und spürbar offenbart hatte.
Weil aber sowohl ihr Gott als auch ihr Schreiben historisch neu waren, schrieben sie nicht nur auf, was sie glaubten verkünden zu müssen, sondern sie machten den Bruch zwischen Schweigen und Schrift selbst zum Thema, sie beschrieben das Szenarium, den Raum, in welchem sich Schrift für sie ereignen konnte. Auf diese Weise verfaßten sie - ganz ungewollt - eine Theorie des Schreibens.
Geographisch und zeitlich wanderte das mystisch-weibliche Schreiben. In Deutschland fand es einen Ausdruck schon im 12. Jahrhundert mit Hildegard von Bingen, die für ihr erstes Buch Scivias noch der Erlaubnis des Papstes und seines Segens bedurfte, da die göttliche Lehre aus weiblichem Mund neuartig und bezweifelnswert war, »denn viele irdisch gesinnte Kluge verwerfen sie, weil sie von einem armen Gebilde stammt, das aus der Rippe erbaut und nicht von Philosophen belehrt worden ist« (Hildegard von Bingen: Briefwechsel, S. 30).
Doch trotz dieses zaghaften Beginns hat Hildegard von Bingen schon zu ihren Lebzeiten als Äbtissin und Predigerin, als Heilkundlerin und Naturforscherin, als Dichterin und Komponistin und als Briefpartnerin der Großen ihrer Zeit Wirkung hinterlassen und Bewunderung erregt.
Weniger spektakulär und nicht annähernd so öffentlich lag dann in Deutschland der Höhepunkt minnemystischer Literatur mit Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta, Gertrud von Hackeborn, Christine Ebner und Margarethe Ebner im 13. Jahrhundert und zu Beginn des 14. Jahrhunderts; in Italien spannte sich der zeitliche Bogen von der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. In Spanien artikulierte sie sich mit Teresa von Avila im 16. Jahrhundert. Nur Frankreich ist in dieser Landkarte mystisch-weiblicher Literaturproduktion ausgenommen. Ein Grund dafür mag sein, daß sich dort im Umfeld höfischer Gesellschaft Frauen einen anderen Zugang zur Schrift erschlossen haben durch ihre Teilnahme an der minnelyrischen Tradition.
Die mystischen Schriftstellerinnen - obwohl ihre historischen Bedingungen sehr unterschiedlich waren - lebten in ähnlichen sozialen Verhältnissen. Verhältnisse, die einen gesellschaftlichen Umbruch voraussetzten, der den Ort schuf, an welchem Schreiben ermöglicht, begünstigt und gefördert wurde: das Frauenkloster und - allerdings in abgeschwächtem Maße - das Beginenhaus.
Religion war bis zum 12. Jahrhundert gleichbedeutend mit Mönchtum, Klosterleben und lateinischer Sprache. Dann aber entwickelten sich im Gefolge der sozialen Umwälzungen Frömmigkeitsformen und neue religiöse Lebensformen, die in die alte Ordnung der Kirche einbrachen. In gleichem Maße beanspruchten die neuen Orden und die häretischen Bewegungen das Evangelium und die Apostelschriften mit ihren Idealen Armut, Keuschheit und Gehorsam als den Inbegriff christlicher Botschaft. Doch da diese Bewegungen Neues zu verkünden hatten, waren sie bestrebt, es so zu künden, daß man sie verstand: sie predigten deshalb - und damit standen sie in krassem Widerspruch zur klassischen Klostertradition - in der jeweiligen Landessprache.
In ganz Europa begab sich das Wort Gottes auf die Wanderschaft. Vom Süden her kamen die Franziskaner, vom Westen über Frankreich die Dominikaner. Im Norden stießen sie dann auf eine verwandte Bewegung, die vor allem von Frauen getragen war. Von Frauen, die fast ausschließlich dem Adel oder dem damals sich konstituierenden städtischen Patriziat entstammten und deren Antrieb zum Ausbruch vor allem - das jedenfalls legen die Dokumente nahe - eine radikale Ehefeindschaft war. Keineswegs also war dies eine Bewegung der Bedürftigen und Besitzlosen, sondern weit eher ein eigensinniger und freiwilliger Aufbruch von Unzufriedenen, die bisher gut versorgt waren. Diese Frauen, sofern sie dem Adel angehörten, beherrschten aber - zu ihrem privaten Gebrauch - zumindest die landessprachliche Schrift. Und es war die Fusion aus lehrbegierigen Predigern und lernbegierigen Frauen, die das Umfeld zum weiblich-religiösen Schreiben schuf. Allerdings geschah dies auch außerhalb des Klosters, denn die neuen und alten Orden sahen sich außerstande, den Andrang von Frauen aufzufangen, die askesewillig waren. Deshalb haben sich viele von ihnen ohne klösterliche Regel und ohne Ordenszusammenhang - jedoch unter religiösem Beistand von Mönchen - auf eigene Faust Gott geweiht und sich einem ausschließlich geistlichen Leben in Armut und Keuschheit verpflichtet. Diese Frauen nannte man Beginen.
Aber mögen sie nun in Frauenklöstern oder in Beginenhäusern untergekommen sein, in beiden fanden sie den äußeren Rahmen, dessen das Schreiben bedarf. Beides waren Orte frei von familialen Verpflichtungen, und beide boten Augen und Ohren für das Geschriebene, zunächst Auge und Ohr des Mannes, der Beichtiger, Unterweiser, Errnunterer und bisweilen auch Zensor und Korrektor war, und dann die Augen und Ohren der Mitgeweihten, die in Andacht lasen und lauschten. Und schließlich gewährte zumindest das Kloster die Stille und das Ritual, welche das Mysterium verlangt. Dort konnten die Empfänglichen unter den Frauen sich ungestört und wohlvorbereitet den Offenbarungen Gottes hingeben. Offenbarungen, in denen ihnen so Unerhörtes widerfuhr, daß sie nicht ruhten, bis es beschrieben war. Es gibt verschiedene Lesarten ihrer Texte. Man kann sie in religionswissenschaftlicher, in philosophischer, geschichtlicher oder literaturwissenschaftlicher Absicht befragen. Unser Interesse gilt aber vor allem der Frage, wie der imaginäre Raum beschaffen ist, den sich die Mystikerin mittels ihres Schreibens erschließt; wo und wie plaziert sie sich und ihren Gott in ihrem Entwurf, und was macht das sprachlich Spezifische aus, um ihre Inszenierung zu erhalten.
Wenn wir im Folgenden besonders häufig Mechthild von Magdeburg zitieren, so deshalb, weil ihre Texte am genauesten diesen Raum beschreiben, und weil sie zudem die schönsten sind.

Gespielin und Bräutigam

Gott liebkost mit der Seele in sechs Dingen

Du bist mein Lagerkissen,
mein Minnebett,
meine heimlichste Ruhe,
meine tiefste Sehnsucht,
meine höchste Herrlichkeit.
Du bist eine Lust meiner
Gottheit, ein Trost meiner Menschheit,
ein Bach meiner Hitze. (Das fließende Licht der Gottheit, S. 64)

Ein Gott, der so spricht, ist ausgestattet mit Eigenschaften, die einen allmächtigen Gott schlecht kleiden. Er ist Dreiheit, aber keine Dreieinigkeit. Er ist Gott, Mensch und brennendes Verlangen - ohne Synthese, in der er sich an sich selbst sättigen könnte. Und so dreht es sich bei Mechthild von Magdeburgs Gottesvorstellung tatsächlich um die eines Geliebten und nicht um einen entfernten, vollkommenen und gesetzgebenden Gott-Vater. Mechthild von Magdeburgs Texte - fast ausschließlich als Dialog gehaltene Wechselgesänge zwischen der Seele und Gott - sind Liebeshymnen an einen abwesenden Liebhaber. Ihr Gott menschelt. Er ist keine abstrakte Definition, sondern eine Metapher. Er läßt sich nicht denken, aber spüren. Und so ist Gott ein Ereignis, das auf ihren Körper und ihre Seele wirkt; der mystische Gottesbeweis ist sinnlicher Natur.
In seiner Entäußerung menschelt dieser Gott auf zweierlei Weise: zum einen spricht er, läßt seine Worte Gestalt annehmen, Fleisch werden im weiblichen Geist. Zum zweiten ist er ein Gott, dem man begegnen kann in Liebe an einem Lust-Ort, einem Ort, der die Lust bereichert und dauern läßt, weil er die Grenzen des Verstandes nicht kennen und nicht anerkennen will. Der mystische Gott spricht und läßt mit sich sprechen, und er begehrt und muß sich notwendigerweise selbst begehren lassen. Verlangen und Mangel geben ihn frei als Getriebenen, menschlich Sehnenden. Wenn Mechthild die Minne protzen läßt: »Ich habe den allmächtigen Gott vom Himmel getrieben« (1,3), so schafft sie eine Instanz, die Liebe nämlich, die höher noch als Gott gesetzt wird, und der auch er unterworfen ist. Ihr Anliegen, Gott als Bräutigam, als Geliebten zu entwerfen, braucht aber diesen »gefallenen« Gott, nur so nämlich ist er geeignet für die Inszenierung eines lockenden und suchenden Austausches. Denn so steigt er (nicht nur) herab zu ihr, sondern auch sie hinauf zu ihm in die göttliche Sphäre. Für Mechthild ist die Liebe Spiel und Werbung. Die Seele bewegt und verführt den Geliebten zum Abstieg aus der göttlichen Unnahbarkeit zur menschlichen Annäherung. Und nicht, damit Gott sich offenbare in seiner Allgewalt als Schöpfer, sondern sich hinneige als Einzelner zu einer Einzelseele. Auf die göttliche Liebkosung der Seele antwortet sie:

Du bist mein Spiegelberg
Meine Augenweide,
Ein Verlust meiner Selbst,
Ein Sturm meines Herzens,
Ein Fall und Untergang meiner Kraft,
Meine höchste Sicherheit.

Gott ist der Andere; er ist das Aufgeben der Selbstbegrenzung, deren Überwindung die Passion sichert; er ist das Nachlassen der Kraft und dennoch die Gewähr für ihre Erhaltung. Seele und Gott sind jedoch nicht zwei Varianten des Ich-Du-Dramas. Die ungewohnte Verwendung der Spiegelmetapher zeigt eine andere Weise auf, verdeutlicht das Spezifische an diesem Entwurf des imaginierten Geliebten, oder genauer gesagt, der imaginierten Liebe: Gott ist nicht die Antwort im Spiegelbild auf ein suchendes Ich. Ist weder ein »Das also bin ich« des Narziß, noch ein »Das also bist Du mir«, die ergänzende Hälfte des platonischen Liebesideals.
Mechthild von Magdeburg und jeder anderen Mystikerin geht es nicht um eine Ich- bzw. Wir-Findung durch den Anderen, sondern um einen Rausch-Zustand, der diese Unterscheidung nicht mehr kennt.
Katharina von Genua (15. Jh.) bestätigt - zwei Jahrhunderte später dies mystische Bestreben, wenn sie schreibt: »Ich weiß nicht, wo das Ich ist, noch such ich es, noch will ich davon wissen, noch Kunde haben« (Ekstatische Konfessionen, S. 141). Um Freiheit von jeglicher Begrenzung gewinnen zu können oder, wie es Mechthild beschreibt, um in der »wahren Wüste« wohnen zu können, empfiehlt sie: »Du sollst minnen das Nicht, Du sollst fliehen das Ich«.
In Mechthilds Liebesvorstellung gilt es, den Spiegel als Wechselspiegel zu begreifen, in den beide - Gott und Seele - schauen.

Herr, Du bist mein Geliebter,
Meine Sehnsucht,
Mein fließender Brunnen,
Meine Sonne,
Und ich bin Dein Spiegel.

Und auch Gott preist die Seele als einen Spiegel, als Spiegel der »inneren Anschauung« (V, 7). Dieser Spiegel ist aber weder eine Projektion der eigenen Gestalt noch eine Reflexion, Überprüfung des eigenen Bildes. Er ist der Blickfang des Begehrens, denn Seele und Gott erkennen nicht sich, sondern die Liebe.

Minne, deine große, edle Lauterkeit,
Die sich als schöner Spiegel zeigt,
In der keuschen Seele vor Gott,
Sie entfacht heiße Minnelust.

Der Spiegel ist der Vollzug der Vergöttlichung des Menschlichen und umgekehrt, oder - mit Robert Musil gesprochen - »die schattenhafte Verdopplung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur« (Der Mann ohne
Eigenschaften
, S. 941f). Das, was im Spiegel erkennbar wird, ist der begehrliche Blick. Er wird nicht zurückgeworfen auf den Schauenden, sondern abgefangen, verdoppelt, vervielfältigt im Begehren des Anderen. Jene >unsagbare< Vereinigung, von der Mystikerin als >unio mystica< gefeiert, ist das Schauen in den »ewigen Spiegel« (IV,18), der als Brennspiegel ihres Begehrens ihr die >höchste Sicherheit< gibt: das Wissen um die Dauer des unendlichen »Minnebrennens« (III,1). Und kein Liebhaber erhält das Sehnen besser als der, der selbst das gestaltlos brennende Sehnen ist.
Die Seele öffnet und weitet sich, willens, den göttlichen Offenbarungen zu lauschen, die sie Ihn sagen läßt. Denn obwohl er spricht, ist sein Sprechen nur möglich, weil es eine Brechung erfährt im Medium der liebenden Seele. Und so ist Gottes Wort im Munde der Frauen immer doppelzüngig.

Herr so harre ich denn mit Hunger und Durst,
Mit Jagen und mit Lust,
Bis an die spielende Stunde,
Da aus Deinem göttlichen Munde
Die erwählten Worte strömen hervor.
Sie dringen in kein Ohr,
Nur in die Seele allein,
Die sich von der Erde entkleidet,
Und ihr Ohr legt an Deinen Mund.
Ja, die begreift der Minne Fund. (II,6)

Was immer Gott auch sagen mag, er hat kein Privileg auf seine Worte, er beherrscht sie nicht. Weil er spricht, gehört sein Sprechen nicht mehr ihm, sondern ermöglicht dort, wo es vernommen wird, ein Echo. Der göttlichen Entschiedenheit: »Ich komme zu dir, nach meiner Lust« (II,25) setzt die Seele keine geringere Entschlossenheit entgegen: »Ich lebe nach meinem eigenen Willen« (II,23), »Und tue mit ihm, was ich will« (II,21). Beinahe lapidar und in ganz irdischen Bildern verrät Mechthild die Funktionsweise ihres Verfahrens:
Aber die Sonne scheint nach dem Wetter. Verschiedenes Wetter ist hier auf Erden unter der Sonne, ebenso sind verschiedene Wohnungen im Himmel; [...] folglich: Wie ich ihn erleiden und sehen kann, so ist er mir. (IV,12)
Unerschöpflich sind Mechthilds Versuche, die Inszenierung der Liebe auf der Bühne ihres Seelentheaters auszutragen. In einem Tanzlied werden die Sinne von der Seele der Ignoranz angeklagt: »Schweigt ihr Herren, ihr wißt alle nicht, was ich meine« (I,44). Die züchtigen Angebote der Jungfrau-, Engel- oder Märtyrerliebe weist die Seele entrüstet zurück und spottet in bräutlichem Stolz:

Das ist Kindesliebe.
Daß man Kinder stille und wiege.
Ich bin eine vollerwachsene Braut.
Ich will gehn zu meinem Traut. (I,44)

Nach dem Verstummen der Sinne tritt sie als »nackte Seele« vor Gott, frei von allem und frei für ihr ureigenstes Genießen:

Er gibt sich ihr, und sie gibt sich ihm.
Was ihr nun geschieht, das weiß sie,
Und damit tröste ich mich. (1,44)

Mechthild weiß, was der Seele geschieht, bleibt aber selbst dann Hüterin des Geheimnisses, als sie von der Erkenntnis gebeten wird, ihre Frage nach dem »unaussprechlichen Geheimnis, das zwischen Gott und Euch ist« (II,19) zu beantworten. »Frau Erkenntnis« kontert sie kokett, »das tu ich nicht. Die Bräute dürfen alle nicht sagen, was ihnen widerfährt.« (II,19)
Angela von Foligno (13.Jh.) verrät ein wenig mehr. Körperliches Gelöstsein und seelisches Brennen ereignen sich ihr bei jenem Drängen nach Vereinigung.
Und alsbald wurde ich mit Liebe erfüllt und mit einer unschätzbaren Sättigung, die, wenn sie mich auch sättigte, dennoch einen so mächtigen, unstillbaren Hunger in mir weckte, daß alle meine Glieder auf der Stelle kraftlos wurden und meine Seele sehnsuchtsvoll zu dem Übrigen hinüber zu gelangen begehrte.
(Geschichte und Tröstungen der seligen Angela von Foligno, S. 7)

Und Katharina von Genuas Verlangen ist es, keine Differenz mehr zuzulassen:

Ich will keine Liebe, die für Gott oder in Gott wäre. Ich kann dieses Wort für, dieses Wort in nicht sehen, denn sie deuten mir auf ein Ding hin, das zwischen mir und Gott sein könnte. Dieses aber kann die reine und klare Liebe nicht ertragen, und diese Reinheit und Klarheit ist so groß, wie Gott selber ist, um sein eigen sein zu können.
(Ekstatische Konfession, S. 141)

Die Unio Mystica

Was für eine Gottesauffassung bedarf ein derartiges Brautverhältnis zwischen Nonne und Gott? Ein Gottesleben, das diese »unio mystica« überhaupt ermöglicht, kann keines sein, dem es um das Begreifen oder - wie bei den Scholastikern - um einen diskursiven Gott geht. Der mit Hilfe der Vernunft ermittelte Gott findet schließlich an der Sinnlichkeit seine Schranke. Den Mystikern ist jedoch an der Abschaffung jenes scholastischen »rationellen« Gottes gelegen. Dem unmittelbaren Fühlen Gottes gilt all ihr Bestreben. Das mystische Gotterlebnis zelebriert die Erhebung über das profane Dasein des gewöhnlichen Gläubigen. Das kirchlich-institutionelle Verhältnis zu Gott wird verweigert, hingegen eine Gottesbegegnung in Szene gesetzt, die als persönliche, privat-intime, einmalige und besondere durchlebt wird. Davon erzählt bereits das Wort selbst: Mystik kommt vom griechischen »myein« und bedeutet Augen und Lippen verschließen, meint ein Ausgeschlossensein von der Vermittlung durch die menschlichen Sinne und vom Erkenntnisvermögen dieser Sinne. Die Ekstase, das »Aus-sich-Herausgetreten-sein«, eine Folge dieses Verfahrens, verweist jedoch auch auf eine andere Wortverwandtschaft von Mystik: auf das Mysterium.
Ein Geheimnis nämlich ist dieses »Einssein« nicht nur dem heutigen forschenden Blick, sondern Geheimnis bleibt es auch denen, die diesen »anderen Zustand« produzieren.
Das Dilemma dieses Zustandes, dem die Mystikerin nie entkommt, liegt in seiner Endlichkeit; seine Aussichtslosigkeit liegt jedoch bereits in der Absicht vor ihm. Eine Absicht, die das Unmögliche will, einen Willen kundtut, der sich auf ein Grundparadoxon verläßt: das menschliche Dasein in seiner Begrenztheit ignorieren zu wollen, um so zur Partizipation am göttlichen Sein gelangen zu können. Die »unio mystica« macht für Momente des empfundenen Einsseins mit Gott ein Gelingen glauben: Die »Entwerdung« wird gefeiert.
Ihr Ende jedoch führt zum Wissen darüber, in der Überwindung der Grenzen immer wieder an diese zu stoßen; im Gelingen das Scheitern ahnen zu müssen, die Grenzen zu übewinden, sie aber letztlich nie aufheben zu können. Und dennoch ist es gerade die Endlichkeit des Zustandes, die den Grund dafür sichert, unentwegt gegen sie zu rebellieren. Im Ringen um dieses grenzenlose Sein, Einssein, tritt das Wissen um seine Voraussetzungen wie ein treuer Verbündeter mit auf das Spielfeld. Und so fürchtet und genießt, erkämpft und verdammt die Mystikerin jenen unvermeidbaren Wechsel von Rausch und Ernüchterung, von Lust und Pein, Erfüllung und Versagung.
Jener Strudel aber wird bewegt von der Sprache. Sie ist es, von der Mystikerin gleichzeitig bemüht und verachtet, die jenen Spiel-Raum erhält, ein Seil spannt zwischen Annäherung und Ferne, Anwesenheit und Abwesenheit, Mensch und Gottsein. Das Schreiben und Versprachlichen des Unsagbaren bietet der Mystikerin den Ort, an dem ein Aufenthalt zwischen dem Genuß, der war und dem, der sein wird, gewährt bleibt, und das Schreiben selbst zur Wollust gerät.
Aus Liebe widmet sie ihr Schreiben der Liebe. Mechthild von Magdeburgs großes Thema kreist also nicht um die Frage, wer bin ich, und wer ist dieser mein Geliebter, sondern um das Spiel zwischen ihr und ihm. Für sie ist die Liebe ein erkennendes Streben und deshalb Erkenntnisdrang und Erkenntnisgegenstand in einem. Weil Mechthild liebt, will sie erkennen. Denn ihr Begehren ist ein Begehren aus Nicht-Wissen, und geboren aus diesem wächst es zu einem Drang nach Erkenntnis:

Minne ohne Erkenntnis,
Dünkt die weise Seele Finsternis.
Erkenntnis ohne Genuß,
dünkt sie eine Höllenpein.
Genuß ohne Tod
Kann sie nie genug beklagen. (I,21)

Die Frage aller mystischen Fragen stellte als eine der ersten die flämische Mystikerin Hadwijch bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts: »Was ist minne und wer ist minne. Danach hatte ich zwei Jahre lang geforscht« (Briefe, S. 79f). Eine Forscherin also ist die Mystikerin auch, eine Forscherin allerdings, die häufig - wie Katharina von Genua - nur die Frage stellt, ohne die Antwort zu erhalten:
O göttliche Liebe, werde ich je mehr über dich sagen können? Ich hin überwunden und von dir besiegt. Ich bin untergegangen in Liebe und kenne doch die Liebe nicht. Ich fühle, wie diese Liebe in mir wirksam ist, doch ich verstehe ihr Wirken nicht. Ich fühle mein Herz in Liebe entbrannt, das Feuer der Liebe aber sehe ich nicht.
(Geistliche Zwiegespräche über die göttliche Liebe, S. 16)

Die Verworfenheit

Die Mystikerin schafft sich ihren Gott, der nichts anderes als ein gigantischer Liebesentwurf ist. Ihre Erfindung will es aber, daß auch sie von ihr geschaffen wird, durchaus im vulgären und doppelten Sinn des Wortes. Ihre Schöpfung führt zur Er-Schöpfung und läßt so die Begierde unendlich zirkulieren, entzündet am gebrochenen Blick-Duell mit ihrem göttlichen Gegenüber. Denn die Liebe erhält sich als Dauer nur, wenn sie sich stets unterbricht; so kann die Vereinigung

nie lange sein.
Denn wo zwei Geliebte verborgen sich sehen,
Müssen sie oft abschiedslos voneinander
gehen.

Das Scheiden ist Teil der Liebe, es gehört zu ihr. Es ist zwar schmerzlicher Abbruch, aber auch Verpflichtung auf ein erneutes Begehren. Oder mit Mechthilds Worten: Dann läßt er (Gott) »sie ein wenig, daß sie begehren könne« (I,5). Die Distanz zum Geliebten ist die Voraussetzung für die Erhaltung des Verlangens. So erfleht die Seele zwar seine Nähe, sie erfleht aber auch immer wieder das Verworfenwerden, das Verlassensein. Sie bittet nicht um seine unmittelbare Präsenz, sondern sie wünscht die Sehnsucht des Geliebten, sie wünscht die Spanne der Annäherung zwischen ihm und ihr. Die Seele giert nicht nach Gott, sondern sie giert nach seinem Begehren. So spricht sie dann zu ihm: »Und bedeck mich mit dem langen Mantel deines großen Verlangens!« (VII,35).
Das Verlangen braucht jedoch die Ent-Fernung, und deshalb bejaht Mechthild von Magdeburg auch ihre Voraussetzung und unterstellt den Liebenden den Willen zum Abschied.

Hiernach kam die stete Fremde Gottes und hüllte die Seele so ringsum ein, daß die Seele sprach: »Sei mir willkommen, gar selige Fremde! Wohl mir, daß ich geboren ward, weil du, Herrin, nun meine Kämmerin sein wirst! Denn Du bringst mir ungewohnte Freude und unbegreifliche Wunder und dazu unerträgliche Süßigkeit. Aber Herr, die Süße sollst Du von mir nehmen und laß mich (nur) Deine Fremde behalten. Eia, wohl mir, trauter Gott, daß ich sie gemäß der Wandelbarkeit der Minne empfangen darf [...] denn jetzt verfährt Gott wunderbar mit mir, da mir seine Entfremdung lieber ist als er selbst«.  (IV,12)
Immer wieder kreisten ihre Texte um die Trennung vom Geliebten: »Je schmerzlicher sie scheiden, um so reichlicher gewährt er ihr / Je mehr sie verzehrt, um so mehr hat sie« (I,22). Das Nebeneinander von Liebe und Leid, das sehnsüchtige Werben der Liebenden und die Trennung sind Motive, die auch der Minnesang kennt. Und zweifellos war Mechthild von der Minnesangliteratur beeinflußt. Dennoch liegt der Unterschied zum Abschiedsmotiv höfischer Dichtung darin, daß das Scheiden nicht eine Folge von Verzicht und Entsagung oder einem moralischen Gebot geschuldet, sondern Bedingung für eine Wiederannäherung ist. Mechthilds Texte sind keine Klagelieder, sondern Verse, die sich der Erinnerung an den Genuß verdanken. Sie entwirft (sich) mit ihrer Minnevorstellung einen Frei-Raum für ihre Lust: »Je größere Freiheit Du mir gibst, um so länger kann ich in Dir verweilen« (II,18). Und so faßt sie dann die Liebe zusammen:
Es ist die Natur der Minne, daß sie zuallererst in Süße fließt, dann wird sie reich in der Erkenntnis, und zum dritten verlangend und gierig nach der Verworfenheit. (V1,20)

Der Genuß

Das mystische Genießen könnte man darin »göttlich« nennen, daß es sich genau von den Privilegien nährt, die dem mystischen Gottesentwurf zueigen sind: Mangel und Erfüllung, Begehren und Befriedigung in einem zu sein. Was auf der sprachlichen Ebene die Paradoxie aussagt, korrespondiert im Genießen mit dem Zugleich von Verlangen und Gesättigtsein. Und dieses Genießen braucht deshalb auch Geist und Sinne nicht zu trennen: »Die Minne durchwandelt die Sinne und stürmt mit allen Kräften auf die Seele ein [...] Die Minne schmilzt durch die Seele in die Sinne. Daher gewinnt auch der Leib seinen Teil« (V, 4).
Wie lächerlich klänge es zu behaupten, die Mystikerinnen haben mit ihrem Gott geschlafen. Wie passend hingegen erscheint die Formulierung der romanischen Sprachen: »fare l'amore«. Mechthild von Magdeburgs Texte zeugen bei all ihren Fragen: was ist die Minne?, vom Wissen um die Antwort: Liebe ist, sie zu machen, sie zu inszenieren, sie zu gestalten, sie zu spielen, auf daß das Begehren sich verewige und nie erlösche. Die Mystikerin ist die wahre Künstlerin eines Begehrens, in der das Imaginieren selbst Genießen ist.
Und mögen manche ihre Texte für obszön halten, so sind sie dies in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Sie spielen außerhalb der gängigen Szene, sie sind out of scene, sie sind ob - szön.

Das getriebene Reden

Oh Liebe, ich kann nicht mehr schweigen, noch kann ich, wie ich es gerne wollte, von den lieblichen und süßen Wirkungen reden. Denn ich bin allüberall erfüllt von deiner Liebe, die mich gewissermaßen antreibt zu reden, und dann kann ich es doch nicht. Zu mir selbst rede ich mit dem Herzen und mit meiner Einsicht, doch wenn ich ein Wort aussprechen und das sagen will, was ich fühle, dann muß ich einhalten. Deshalb würde ich gerne schweigen, doch auch das kann ich nicht, denn der Trieb zu reden treibt mich an. (Katharina von Genua: Ekstatische Konfession, S. 24)
Sie schwiege gerne, weil das, was sie sagt, nicht das benennt, was die Liebe an ihr wirkt. Aber es gibt - beinahe imperativisch - den Trieb, der sie drängt, ihren Mund zu öffnen. Will sie zu jemandem reden, will sie mitteilen? Sicher nicht im Sinne eines Austausches gewährleisteter Zeichen. Denn das, was sie sagt, ist nicht auf Verständnis aus. Für sie ist die Sprache zunächst nicht Gespräch, sondern getriebener Ausdruck. Ausdruck dessen, was sie - unter anderem - an ihrem Körper ereignen läßt, der ein Szenarium ihres Genusses ist. Und wenn sie doch zu jemandem spricht, dann zu dem, worüber sie spricht: zur Liebe. Wenn sie schon nicht sagen kann, wie ihr Genuß ist, so schafft sie sich in der Sprache zumindest die Instanz, die ihn gewährt. Ein Schöpfungsakt, der gleichzeitig eine delirante Übertragung dessen ist, was ohne Worte geschieht. Und so ist für sie Sprechen auch keine Ent-Sprechung von Gegenstand und Erkenntnis. Sie treibt keine Exegese, weil es weder einen Maßstab noch eine Deckungsgleichheit gibt.

Ich wollte keine Kreatur sehen oder hören, nicht einmal jemanden ahnen. Auch sprach ich nicht. Aber innerlich redete meine Seele und schrie, die Liebe solle sie nicht dermaßen nach Liebe schmachten lassen, daß ich das Leben gestorben wähnte.
(Geschichte und Tröstungen der seligen Angela von Foligno, S. 70f)

Übrig bleibt nur der Schrei und eine Rede über die Liebe, die immer schon Blasphemie ist. Eine Blasphemie allerdings, die sie nicht verletzt, sondern rettet.
Was ich auch darüber sage, es kommt mir vor, als hätte ich nichts gesagt; sogar das wenigste darüber scheint mir schon eine Schmähung und eine Gotteslästerung: so hoch erhebt sich jenes Gut über meine Worte.
(Angela von Foligno, S. 76f)

Dieses lästerliche Daneben-Sprechen aber macht es möglich, Sprache neu zu begreifen. Für die Mystikerin ist Sprache Annäherung und begleitender Gesang, Präludium und Nachspiel für etwas, was sie nie wird treffen können: die »unio mystica«. Sämtliche Mystikerinnen finden viele Worte für ihr Nicht-Sprechen; sie schweigen in der Sprache und schwelgen in den Bildern ihrer Sprachlosigkeit.

Wenn ich seiner gedenke, kann ich nicht reden; meine Zunge ist wie
abgeschnitten. (Angela von Foligno, Geschichte und Tröstungen, S. 78)

Herr, die Stärke des Verlangens hat mir die Stimme zum Sprechen genommen
(Mechthild von Magdeburg, III,23)

Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen oder ausdrücken soll, denn auch die Seele weiß nicht, was sie tun soll, ob sie sprechen oder schweigen, lachen oder weinen soll; es ist ein erhabenes Delirium, ein himmlisches Außersichsein, in dem man die wahre Weisheit vernimmt, es ist eine ganz wonniglieche Art, wie die Seele da genießt.  (Teresa von Avila, S 67/68)

Gerade aber weil das mystische Sprechen das Verfehlen der Sprache eingestehen kann, entledigt es sich der Fesseln, die herkömmlicherweise dem sprachlichen Ausdruck auferlegt sind. Wenn die Mystikerin nicht sagen kann, was sie sagen will, kann sie viel mehr: sie kann singen, anrufen, stammeln, stottern, jubeln und loben. Kühn und erfinderisch wird sie, sie probt und bastelt mit Sprache. Man kennt ihre Stilmittel: es sind Gleichnisse, Metaphern und vor allem Paradoxa und Oxymora: Kühlung und Brand, Hunger und Sättigung, Mangel und Erfüllung, gebunden und frei, heiß und kalt, offenbar und verborgen, Liebe und Kummer, Leben und Tod, Lust und Pein, süß und bitter, nah und fern.
Unsere Frage war nicht, welche der Sprachgesten tradiert und welche originell sind. Wir fragten vielmehr, weshalb die Mystikerin mit solcher Begeisterung und Insistenz gerade diese Stilfiguren benutzt, mögen sie nun überkommen, gefunden oder erfunden sein, und wie es ihr gelingt, ihre Begierde in den Text einzuweben.
Sie ist die Meisterin des verbindenden Gegensatzes. Eines Gegensatzes aber, der keine Relation des Ausschlusses ist, doch ebensowenig in höherer Einheit aufgehoben wird. Kein Gegenteil und keine Ergänzung, weder dualistisch noch dialektisch, sondern die Bewahrung des Ungleichen in der Berührung des Differenten. Denn sie weiß, daß das Wunder verwundet, und die Wunde Wunder wirkt.

O Liebe, du durchdringst und durchbohrst, du zerreißest und bindest, du regierst alle Dinge, du bist Himmel und Erde, Feuer und Luft, Blut und Wasser: du bist Gott und Mensch.
(Maria Maddalena De'Pazzi: Ekstatische Konfessionen, S. 143)

Und die Mystikerin mißt ihr Ich nicht an einem Nicht-Ich, was doch nur ein anderes Ich wäre, sondern sie will Ich und Gott sein als ihr radikales Anderssein. Denn »Gott ist Mensch geworden, um mich zu Gott zu machen«. (Katharina von Genua: Ekstatische Konfessionen, S. 142).

Weil sie begehrt, kann sie dort sein, wo sie sich nicht mehr gleicht. Und selbst wenn ein Mann - angeblich Tauler - das Folgende geschrieben haben soll, ist es dennoch ihr Satz: »Mich irret nimmerrnehr mein Ungleich« (Ekstatische Konfessionen, S. 102). Denn wo es ums Begehren geht, ist die Gleichheit der größte Irrtum. Oder anders: Ihr Satz der Gewißheit lautet: ich begehre, also bin ich dort, wo Ich nicht ist.
Und deshalb wird ihre Sprache auch nie eine Gleichung sein. Wie aber spricht sie? »Ich bin heiser in der Kehle meiner Keuschheit« (II, 25). Heiser ist sie, sie spricht leise und gebrochen. Aber was als Hemmung des Sprechens erscheinen will, ist Folge ihres Schreiens. Denn heiser wird man vom Gebrauch der Stimme. Sie hat ein Bild gefunden, eine Metapher, für ihr schlechtes Reden.
Aber das wahrhaft Irrwitzige dieses Satzes ist nicht die Metaphorik, sondern das ganz Ungehörige ist die Kombination Kehle-Keuschheit, das Wandern eines Organs, der Stimmbänder, an den Ort eines anderen Organs, des Geschlechts. Die Beziehung von Unvergleichlichem. Eine metonymische Berührung, eine unanständige Koppelung, eine Kopulation, in der die Stimme geschlechtlich wird und das Geschlecht redend. Denn sie achtet die Grenze nicht als Trennung, sondern nur als Konnexion.
Und so, wie sie Gott entwirft als den Un-Gleichen, um in der Berührung mit ihm ihr Begehren zu erkennen, so entwirft sie eine Sprache der logischen und semantischen Unvereinbarkeiten - das Sprechen über das Unsprechbare, das Oxymoron und das Paradoxon , wo gerade die Verbindung des Unvergleichlichen das Begehren rettet. Insofern schreibt sie eine Sprache der Lust.

Ein kurzer Schluß - der Kurzschluß

Wir haben Texte vorgestellt, verfaßt von Frauen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert. Allesamt sind es Huldigungen. Die Mystikerin schreibt aus Liebe. Der Andere ist für ihr Schreiben konstitutiv: sie schreibt durch, an, für und über ihn im selben Schriftzug. In einem zirkulären Kurzschluß wird Gott zum Absender, zum Adressaten und zum Inhalt ihres Briefes. Aber dieser Gott, der so eng an die Schrift gekoppelt ist, der sie bewirkt und durch sie bewirkt wird, macht einen historischen Wandel durch.
Hildegard von Bingen, im 12. Jahrhundert, begreift ihr Schreiben noch eindeutig als Auftragsarbeit, ja weniger noch, sie selbst ist nichts anderes als die Feder Gottes und seine Einschreibefläche, die Matrix für seine Offenbarung. Sie ist pures Material und Produktionsmittel, ohne ihr Dazwischentreten. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Wort Gottes und ihrem Wort. Im Vorspann ihres ersten Buches Scivias (Wisse die Wege) ertönt die
Donnerstimme Gottes:

Gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Moder von Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst! Doch weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sage und beschreibe es nicht nach der Erkenntnis menschlicher Klügelei noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der Gabe heraus, die dir in himmlischen Gesichten zuteil wird [...] Tu kund die Wunder, die du erfährst, schreibe auf und sprich! ( S. 89)

Doch ein Jahrhundert später ist das Verhältnis zwischen Gott und seinem Wort schon ein anderes. Gertrud von Helfta, eine Nonne des berühmten Frauenklosters Helfta, sieht sich nicht mehr nur als Instrument, sondern als
Bewahrerin der göttlichen Worte. Sie kündet nicht mehr nur, sondern sie weiß, wem sie verkündet: ihre Schrift gilt den Abwesenden.

»Und als ich in der Seele bewegte, daß ich alle Zutaten Gottes, wenn auch nicht durch die Schrift, so doch durch die Rede zum Heil der Nächsten bewahrt hatte, warf mir der Herr das Wort entgegen, das ich in der gleichen Nacht bei der Mette hatte vorlesen können: »Hätte der Herr seine Lehre nur den Anwesenden gekündet, wäre nur Rede, nicht Schrift. Nun ist aber auch Schrift zum Heile der vielen.« (Ekstatische Konfessionen, S. 87)

Sie ist nicht mehr Gottes Wort, sie bezeugt es. Ist bei Hildegard Gott noch der Prägestempel, der seine Worte in sie eindrückt, Spuren hinterläßt, so weiß Gertrud von Helfta darum, daß diese Spuren etwas ablösbar Drittes sind, nämlich Schrift, Urkunde.

Und der Herr gab hinzu: »Ohne Widerspruch will ich ein gewisses Zeugnis meiner göttlichen Liebe haben in deiner Schrift für diese letzten Zeiten, in denen ich vielen wohlzutun bestimme.«  (S. 87)

Bei Mechthild von Magdeburg schließlich spricht Gott nur noch, weil sie spricht: »Ich muß mich selber künden, soll ich Gottes Wort wahrhaft vollenden« (III,15). Sie ist es, die ihren Gott beschreibt, indem sie die Liebe als Erkenntnismedium zwischen ihr und ihm reflektiert. »Dies Buch ist in der Minne begonnen und soll auch in der Minne enden, denn es ist nichts so weise und so heilig und so schön und so stark und so vollkommen wie die Minne« (IV, 28). So will Mechthild von Magdeburg also nicht das Wort Gottes retten, sondern ihren Genuß. Und der ist göttlich.