Leben als Text

Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel in der Briefkultur und Literatur des 18. Jahrhunderts

Briefe sind die Schule der schreibenden Frauen gewesen; mit diesen Texten machten Frauen seit spätestens dem 17. Jahrhundert überall in Europa ihre ersten selbständigen Schreibversuche, ehe sie dann im 18. und 19.Jahrhundert in den von den männlichen Literaten etablierten und respektierten literarischen Gattungen als Autorinnen von Romanen, Lyrik und zuletzt auch von Dramen hervortreten können. So hat Virginia Woolf in ihrem Essay Dorothy Osborne's >Letters< bemerkt: »Wäre Dorothy Osborne 1827 geboren, dann hätte sie Romane geschrieben; wäre sie 1527 geboren, hätte sie überhaupt nichts geschrieben. Aber sie wurde 1627 geboren, und obwohl es zu der Zeit lächerlich für eine Frau war, ein Buch zu schreiben, so war es dennoch nicht unziemlich, Briefe zu schreiben. Und so wird das Schweigen nach und nach gebrochen, wir beginnen das Rascheln im Buschwerk zu hören... « (The Second Common Reader, Bd. 2, S. 52).
Das Buschwerk, von dem Virginia Woolf hier spricht, wird sich dann zu hohen Bäumen auswachsen, angefangen mit den Romanen der Madame de Scudéry (die den Beginn des französischen Romans bedeuten), mit Sophie La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim, Fanny Burneys Evelina, Germaine de Staéls Delphine, Jane Austens Pride and Prejudice oder den Briefbüchern der Bettina von Arnim, auch wenn die Literaturgeschichte darin nur »literarisches Küchenkraut am Fuße des Parnaß« hat sehen wollen, auf dessen Gipfel nichts mehr gedeihe, da die Petersilie den Berg so entsetzlich ausmergele! (Karl Immermann: Werke, Bd. 9, S. 105) Daran ist sicher richtig, daß die schreibenden Frauen die literarische Landschaft grundlegend verändert haben. Aber wucherte da nur Küchenkraut und Petersilie, wie das auf die Hausfrau und ihren Ort, die Küche, fixierte 19.Jahrhundert hat sehen wollen?
Lassen wir erst einmal die literarische Wertung beiseite, die ja immer eine Festlegung auf Normen (wessen Normen?) und eine Abgrenzung (und Ausgrenzung alles »anderen«) bedeutet, aus dem Spiel und konzentrieren wir uns auf die Briefkultur als neues Medium der Kommunikation und des Selbstausdrucks und auf dessen Bedeutung für seine Trägerinnen, die Frauen selbst. Wer waren diese Frauen? Wo und wie lebten sie? Warum und wie begannen sie zu schreiben? Was für Briefe haben sie geschrieben, und an wen? Welche Inhalte, Ausdrucksformen und Mitteilungsfunktionen hatten diese Briefe? Wie kamen diese Briefe an die Öffentlichkeit und an welche Öffentlichkeit? Und schließlich: wie führten die Briefe weiter zur Literatur, zum Briefroman, zur fiktionalen Literatur? An ausgewählten, charakteristischen Beispielen aus England, Frankreich und Deutschland wollen wir zeigen, wie die von Frauen getragene Briefkultur und Memoirenliteratur ein wichtiger Schreibort für die Frauen vom 17., besonders des 18. und bis hinein in das 19. Jahrhundert waren.

Frauenbriefe und Leben

Unsere modernen Vorstellungen vom Privat-, Geschäfts- oder literarischen Brief müssen wir zurückstellen, wenn wir das 18. Jahrhundert, das klassische Jahrhundert des Briefes, betrachten. Räumliche Trennung und fehlende Geselligkeit einerseits und ein wachsendes Mitteilungsbedürfnis andererseits ließen eine wahre Briefleidenschaft entstehen. Bekanntschaften wurden durch Briefe angeknüpft, Freundschaften entwickelten sich auch zwischen Personen, die sich nicht persönlich kannten. So korrespondierte Sophie La Roche (nach ihrer Entlobung von Wieland und Heirat des kurtrierischen Kanzlers Frank La Roche) mit der zweiten Verlobten Wielands, Julie Bondeli in Zürich, ohne daß sich die Frauen je haben kennenlernen können.
Briefe, so scheint es, ersetzten die vielfach fehlenden Reise- und persönlichen Kontaktmöglichkeiten für die Menschen, besonders für die Frauen. Diese konnten ihr Stadthaus oder Landgut nur in Begleitung und mit einem Anlaß verlassen - noch die La Roche erhielt erst nach Monaten von ihrem Mann die Erlaubnis, 1772 ihr Honorar für ihren ersten Roman zu einer Reise (als Begleiterin ihrer Tochter) an den Hof in Darmstadt zu benutzen. In dieser vielfach isolierten und unbeweglichen Lage konnten Frauen den Brief benutzen, um sich dem abwesenden Briefpartner und seiner Welt mitzuteilen und um Freundschaften über die Entfernung hin zu pflegen.
Doch nur die vergleichsweise gebildeten, wohlhabenden Frauen mit einiger Muße zum Schreiben partizipierten an dieser Briefkultur; Frauen des Kleinbürgertums und der Unterschicht (Handwerkersfrauen, Mägde, Kammerzofen, Marktweiber, Bäuerinnen oder Tagelöhnerinnen) konnten nur schlecht oder gar nicht schreiben. Kaum hätten sie die Zeit oder die Mittel gehabt, schöne Briefe zu schreiben; sie übermittelten höchstens ein paar ungelenke Mitteilungen auf einem Zettel, die jedoch selten erhalten geblieben sind, mit einem Fuhrknecht oder Marktweib an ferne Angehörige. Auch war die Post teuer. Noch im späten 18. Jahrhundert kostete die Briefbeförderung von Magdeburg nach Berlin 2 1/2 Groschen (soviel wie etwa 3 kg Brot oder 1 Pfund Fleisch) und dauerte zwei Tage (ein Brief von Rom nach Königsberg dauerte 2 1/2 Monate!).
Da waren die Briefe (und Dichtungen) der Pächterstocher und Schneidersfrau Anna Louisa Karsch schon eine Ausnahme. Mit ihrem literarischen Mentor, dem von ihr hochverehrten Anakreontiker und Dichter patriotischer Lieder Ludwig Gleim, führte die Autodidaktin, die als »Volksdichterin« in der Berliner Gesellschaft herumgereicht wurde, über mehrere Jahre hin einen höchst lebendigen, anschaulichen (und oft komisch-ungebildeten) Briefwechsel. In einem Brief berichtet sie von ihrer Audienz bei Friedrich II. in Sanssouci im August 1763, indem sie das Gespräch als Dialog wiedergibt:

Wie denn kommt sie mit der Sprache zurecht? wenn sie sie nicht lernte?
Meine Muttersprache hab' ich so ziemlich in meiner Gewalt!
Das glaub ich was die Feinheit betrift, wie aber stehts mit der Gramatik?
Von der hab ich die Gnade Ew. Majestät zu versichern, daß ich nur kleine Fehler mache!
Man muß aber gar keine machen! Hat sie auch einen Mann?
Ja! Ihro Majestät! aber er ist von Ihren Fahnen entlaufen, irrt in Polen umher, will wieder heyrathen, und bittet mich um die Scheidung, die ich ihm verwillige, denn er versorgt mich nicht!
(Frauen der Goethezeit, S. 70f)

Wie authentisch der Bericht der Karschin von dieser Audienz ist, mag dahingestellt bleiben. Die mitgeteilte Szene beleuchtet jedoch die Lage der schreibenden Frauen, die wohl ihre »Muttersprache so ziemlich in ihrer Gewalt hatten«, aber bei der Grammatik (und der gelehrten Bildung) »kleine Fehler« machten, es sei denn sie lebten in einem gelehrten Haus (wie die Gottschedin oder die La Roche) oder hatten eine private Erziehung genossen (wie Eva König oder Meta Klopstock).
Das lesende und Briefe schreibende Frauenzimmer war eine Erscheinung des wohlhabenden Bürgertums und Adels. Ihre Briefe waren, abgesehen von geheimen Liebesbriefen, selten nur für die Augen des Empfängers bestimmt; besonders die Freundschaftsbriefe im »empfindsamen« 18.Jahrhundert wurden weitergereicht, Partien daraus abgeschrieben oder »schöne« Stellen ausgewählt und der Familie und den Besuchern vorgelesen. Das geschah etwa mit den Briefen von Frauen, die Wieland oder Klopstock im Züricher Kreis erhielten, mit Stellen aus den Briefwechseln der Verlobten Caroline Flachsland-Herder oder mit den Briefen im Kreise der Sophie La Roche, wie denn das Vorlesen im Familien- oder geselligen Kreis eine wichtige Form der Unterhaltung war. So schreibt Meta Klopstock 1755 an ihre in Hamburg verheiratete Schwester:

Ich freue mich sehr daß du dich auf den Fuß gesetzt niemand meine Briefe zu zeigen. Fahre dafort, so bist du sicher, daß [ich] allzeyt ganz frey schreibe. Stellen kannst du allenfalls vorlesen.
(Frauen der Goethezeit, S. 100)

Mit der zunehmenden Privatisierung persönlicher Beziehungen und Individuation der Frauen werden auch ihre Briefe reine Privatbriefe, die - bei den Romantikerbriefen wird das dann ganz deutlich - nur für eine Person bestimmt sind; auch führt seit der Französischen Revolution, in der Napoleonischen Zeit und besonders während der Restauration, die Überwachung der Post (Briefe werden von der jeweilig interessierten Geheimpolizei abgeschrieben) teilweise zur Verschlüsselung von Namen und Ereignissen und zur Selbstzensur, etwa in den Briefen, die Dorothea Schlegel 1803 bis 1809 aus Paris und Köln schrieb, oder in Rahel Varnhagens Korrespondenz.
Im 18.Jahrhundert waren Frauenbriefe jedoch zumeist unpolitisch und persönlich, Briefe, in denen der familiäre Bereich und Lebenskreis der Frauen sich gespiegelt hat und zur Sprache gekommen ist. Gelehrsamkeit, Geschäft oder Politik spielten nur ausnahmsweise eine Rolle, denn die Frauen waren davon grundsätzlich ausgeschlossen (oder nur in Ausnahmefällen dazu befugt, etwa die ganz wenigen regierenden Fürstinnen wie Maria Theresia, hochstehende Adelige wie Wilhelmine von Bayreuth, die Schwester Friedrichs II., oder die Musterexemplare der »gelehrten Frau« im 17.Jahrhundert, wie die in Utrecht lebende Anna Maria van Schurman, die sogar auf Latein schrieb). Das »Geschäft« der Frauen, die aus ihren Lebensumständen heraus schreiben und diese in ihre Briefe einbringen, ist ihr begrenzter häuslicher und familiärer Kreis, ihre Familie und die Gesellschaft, in der sie leben und etwas erleben. Hier liegt der eigentliche Ort für die Briefliteratur, eben nicht in politischen, gelehrten, religiösen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Fragen. Damit haben wir einen ersten, ganz wichtigen Unterschied zu den Briefwechseln großer berühmter Männer, die bis heute unsere Vorstellungen vom guten Brief, vom wichtigen Briefwechsel bestimmen und deren gedruckte Briefbände unsere Bibliotheken füllen.
Schon das erste große Briefwerk einer Frau, das der Madame de Sévigné, zeigt bei aller Eleganz und Ekzentrik der hochadeligen Gesellschaftsschicht, der sie angehörte, private, familiäre Züge, eben den Lebensraum, in dem sie sich als Frau der privilegierten Klasse bewegte. Als sie fünfundzwanzig Jahre alt war, starb ihr Mann im Duell (um eine andere Geliebte), ihr blieb als Witwe mit zerrüttetem Vermögen die Fürsorge für die damals sechsjährige Tochter und den vierjährigen Sohn. Statt einen ihrer vielen Verehrer zu heiraten, widmete sie sich ihren heranwachsenden Kindern, der Verwaltung ihrer Güter in Burgund und dem gesellschaftlichen Leben, ohne selbst politische Ambitionen zu haben, aber indem sie dieses Leben und ihre Freundschaften in Briefen festhielt. Sie »packt aus, was sie an Neuigkeiten besitzt« (Briefe, S. 133), wenn sie ihrer - in der Provence lebenden Tochter Bericht erstattet. Das Briefeschreiben wird ihr zum Lebensinhalt. In ihren Briefen berichtet sie über die Pariser Gesellschaft, ihre Freunde und die alltäglichen Vorfälle und Neuigkeiten ihres Kreises. Anders als ihre männlichen Zeitgenossen empfindet sie das Schreiben nicht als berufliche Pflicht und die ausgedehnten Korrespondenzen nicht als eine Bürde, wenn sie 1675 an die nunmehr erwachsene, verheiratete Tochter schreibt:

Ich hingegen bringe mich nicht mit Schreiben um. Ich lese, sticke, gehe spazieren und tue nichts [...] Eins ist sicher, daß ich mich nicht am Schreiben berausche. Ihnen schreibe ich mit Freuden, mit Ihnen rede ich, plaudere ich. Darauf zu verzichten wäre mir unmöglich, jedoch vervielfältige ich diese Liebhaberei nicht. Für die anderen Menschen erledige ich es, weil ich muß. 
(Briefe, S. 139)

Die Briefe an die Tochter und das schriftliche Plaudern über ihre Welt werden zum Lebensinhalt der alternden Madame de Sévigne wie auch vieler anderer Frauen des französischen Adels im 17.Jahrhundert. Ihr Leben wird zu Brief- und Romantexten verarbeitet, darin gestaltet.
Mehr noch als bei den adeligen Frauen des 17. und 18.Jahrhunderts, die den Familienerben zu produzieren, den politischen Zielen zu dienen und der Repräsentation des Hauses (besonders wenn es sich um eine regierende Familie handelte) zu genügen hatten, wurde das Privatleben der gutsituierten bürgerlichen Frauen, die vielfach den Lebensstil des Adels nach Möglichkeit nachahmten, zum Inhalt ihrer Briefe. Und im Zentrum ihres privaten Lebens stand der Ehemann, um den ihr Leben kreiste. So schrieb Luise Adelgunde Gottsched zwei Jahre nach ihrer Verheiratung mit dem Leipziger Professor, mit dem sie schon zehn Jahre lang bekannt gewesen war, 1737 an ihren Mann:

Die Glocke schlägt eben fünfe, und das Verlangen nach einem Brief von Ihnen weckt mich schon früh aus dem Schlafe [...] Ich kann mir diese Schlaflosigkeit nicht besser zu Nutze zumachen, als mich mit der einzig werthen, und einzig geliebten Person auf der Welt, zu unterhalten.
(Frauen der Goethezeit, S. 54)

Zum Zwiegespräch, zur Unterhaltung mit dem abwesenden Ehemann dient der Brief der Luise Adelgunde; besorgt fragt sie:

Was ist Ihnen alles auf dieser Reise begegnet? Was haben Sie für Wetter, was für Weg gehabt? [...] Kaum spreche ich mit Ihnen, mein Bester, so wird mein ganzes Gemüth heiter, und kaum lege ich die Feder nieder, so versinkt es in seine vorige Traurigkeit [... Ich will] Ihnen alle Empfindungen meiner Seele ... schreiben. Dieses ist doch das einzige Mittel, mir Ihre Abwesenheit einigermaßen erträglich zu machen.
(ebd.)

Bei aller Formelhaftigkeit und Höflichkeit (Eheleute redeten sich bis Ende des 18.Jahrhunderts mit »Sie« an - noch Christiane Vulpius redete Goethe so an, er das Mädchen aus dem einfachen Volk allerdings mit »du«) klingt das Anliegen der Luise Adelgunde durch, mit dem Schreiben des Briefes sich die Gegenwart des Mannes zu ersetzen und dabei auch sich bei ihm in Erinnerung zu rufen; »denken Sie auch abwesend an Ihre zärtliche und treu ergebene Louise«, lautet die Abschiedsformel. Die persönliche Beziehung wird Anlaß des Briefes der Frau, sich mit dem abwesenden Familienmitglied, mit dem Freund oder der Freundin zu unterhalten, sie zu informieren und von dem anderen Information und Bestätigung der Beziehung zu erhalten.
Weitaus interessanter als die sich den Vorstellungen ihres Mannes anpassenden Briefe sind die späteren der Gottschedin an ihre Freundin Henriette von Runckel. Hier kommt ihre menschliche Seite, kommen ihre Gefühle und Enttäuschungen zum Ausdruck; im Mittelpunkt steht nicht mehr der (immer anspruchsvolle) Ehemann und seine gelehrte Welt, sondern die Vereinsamung und Skepsis dieser Musterfrau. Im Siebenjährigen Krieg schreibt sie 1758 an ihre Freundin:

Allein die Erwartung der Zukunft, einer vielleicht noch schrecklichern Zukunft, welche vielleicht das wahr machen könnte, was wir jetzt nur vermuthet und gefürchtet haben, diese foltert mich und raubt mir die wenigen Augenblicke der Ruhe, die mir überhäufte Geschäfte und häusliche Sorgen und eine zerrüttete Gesundheit übrig lassen.
O dächten doch die Großen dieser Erde das mannigfaltige Elend, welches den Krieg begleitet, das Elend, welches sich bis auf die Nachkommen erstrecket, und oft für Jahrhunderte eine Quelle des Jammers ist [...] Sie, liebste Freundin beweinen mit mir das allgemeine Unglück, welches wir der Ehrbegierde einiger Sterblicher zu danken haben. (Briefe, 3. Teil, S. 121)

Erst 1776 wurden die Briefe der Gottschedin von ihrer Freundin herausgegeben; sie sind seither nicht wieder gedruckt, obwohl die Gottschedin als eine hervorragende Briefstellerin ihres Jahrhunderts gilt. Anders steht es dagegen mit den Frauenbriefen im Umkreis der bekannten Dichter der Klassik und Romantik- Schon weil ihre Briefe uns Informationen über diese Männer vermitteln, sind die Briefe von Frau Rath Goethe, der Frau von Stein, Lili Schönemann, der Marianne von Willemer, Charlotte von Schiller, der Caroline von Wolzogen, der Caroline von Humboldt, Susette Gontard, der Sophie Mereau, der Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling oder der Bettina von Arnim, um die bekanntesten zu nennen, veröffentlicht worden. Das Leben dieser Frauen, wie es sich in den Briefen spiegelt, war insofern von Interesse, als es den Lebenskreis und die Welt der großen (und nicht so großen) Dichter erhellt, ergänzt und (v)erklärt.
Nur bei Rahel Varnhagen hatte schon der fürsorgliche Ehemann eine erste Auswahl zusammengestellt und nach seinen Vorstellungen leicht überarbeitet als Rahel Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde (1834). Karl August Varnhagen setzte sich mit diesem Buch auch zugleich selbst und einer untergehenden Epoche, die der liberalen Berliner Gesellschaft der Freiheitskriege und der Romantik, ein Denkmal. Die 1830er Jahre waren das Jahrzehnt des großen literarischen Briefes, nachdem der Goethe-Schiller-Briefwechsel veröffentlicht worden war und die Briefbücher der Bettina, angefangen mit Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835), zu erscheinen begannen. Die Literarisierung des Briefes schien mit den Briefwechseln eine eigene Gattung hervorgebracht zu haben; doch blieben diese zumeist von personal- und kulturgeschichtlichem Interesse.
In der Literarisierung des Briefes spiegelte sich die sich entwickelnde sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Frauen aus dem Bürgertum. So läßt sich an den deutschen Frauenbriefen des 18. Jahrhunderts (die Frauen des Hochadels, wie die Schwester Friedrichs II., Wilhelmine von Bayreuth, schreiben französische Briefe) eine langsam fortschreitende sprachliche Gewandtheit und geistige Regsamkeit beobachten. Zwar hatten sich schon die galanten Brieflehrer im 17. Jahrhundert wie August Bohse oder Benjamin Neukirch um die »Frauenzimmer-Briefe« bemüht und das junge Frauenzimmer ermuntert, sich im Briefverkehr mit ihren Verehrern zierlich gewandt und geistreich zu geben. Doch abgesehen von den inhaltslosen Tändeleien nach männlichen Vorstellungen vom schönen Geschlecht, schreiben im frühen 18.Jahrhundert die meisten Frauen (die gelehrte Gottschedin ist da eine Ausnahme) ohne Punkt und Komma, eben wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. So berichtet 1731 Anna Maria von Hagedorn, die Mutter des Anakreontikers und Fabeldichters, aus Hamburg:

Dein Schreiben von 6 dieses habe richtig erhalten, alle einschlüse bestellen laßen, ausgenommen M. Schmid welcher verreißet. [...] Die conduite bey anfangs des universitetenlebens abprobire, halte dich soviel du kanst alleine; [...] Vieler umbgang distrhirt das Gemüthe, machet unfähig auf eine sache mit lust und nutzen so lange zu dencken, als selbige zu erlernen Zeit erfordert.
(Reinhard Nikisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der deutschen Aufklärung, S. 32)

Die besorgte Mutter gibt ihrem auswärts (in Jena) studierenden Sohn gute Ratschläge, ein oft wiederkehrendes Thema von Müttern an ihre Söhne; da Anna Maria nicht sehr gebildet ist, ist sie auch im Sprachlichen behindert, schreibt schwer und ungelenk, durchsetzt ihr Deutsch mit unbeholfenen Einsprengseln und Fremdwörtern, die ihre persönliche Sorge verdecken und für Mitteilungen über sich selbst keinen Raum lassen.
Den beschränkten Horizont und die Ausdruckslosigkeit so vieler Frauen noch im 18.Jahrhundert dokumentieren wohl am besten die (wenigen erhaltenen) Briefe von der Mutter und Schwester des besten deutschen Stilisten unter den Aufklärern, die Briefe von Dorothea und Salome Lessing. Nur weil die Herausgeber der Lessingschen Korrespondenz auch alle an Lessing gerichteten Briefe mit aufgenommen haben, liegen diese Briefe überhaupt gedruckt vor. In einem ungrammatischen und von »Fehlern« strotzenden Brief bettelt die (unversorgte und unverheiratete) Lessing-Schwester den berühmten Aufklärer um Geld für die verwitwete Mutter und sich an:

Ich schreibe Dir dießes mit vielen Thrähnen wie ich überhaupt bin dran gegangen Dir zu schreiben ich habe mir vest vorgenomen Dich mit keinen Briefe von mir mehr zu inkomediren.
(Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, Bd. 17, S. 142)

Sicher waren Mutter und Schwester Lessings keine sprachlichen oder literarischen Begabungen. Doch ist die Sprachlosigkeit dieser beiden Frauen um so eklatanter, wenn wir bedenken, daß die Familie Lessing sich einschränkte, der Vater Schulden machte, um allen seinen vier Söhnen ein Universitätsstudium - und damit den Eintritt in einen bürgerlichen Beruf zu ermöglichen. An die Versorgung der unverheirateten Schwester und Pastorenwitwe (die minimale Pension wurde durch die rapide Teuerung der 1770er Jahre noch weiter geschmälert) hatte der Vater nicht gedacht, noch fühlten die Söhne sich für die praktisch mittellosen Frauen verantwortlich. Aus dem evangelischen Pfarrhaus, wie dem Lessingschen, stammten die meisten Autoren der aufblühenden schönen Literatur im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Daß die Frauen dieser Familien jedoch noch weitgehend aus dem geistigen Leben und Bildungsprozeß ausgeschlossen waren, können wir an ihren Briefen ablesen, auch noch an dem Briefstil einer Sophie La Roche.
Die berühmte Autorin des Fräuleins von Sternheim schrieb ihre vielen Privatbriefe schnell, leicht, wie sie sprach und dachte, mal auf französisch, mal auf deutsch. Und sie dachte nicht in den engen Grenzen der (vom Lateinischen beeinflußten) deutschen Grammatik und Satzstruktur, ebensowenig wollte und konnte sie ihre schwäbische Mundart ganz verleugnen oder ausschließen. Noch Rahel Varnhagen klagte über ihre fehlende Schulbildung und ihren systematischen Unterricht. Ihr oft aphoristischer Stil, ihre Gedankenassoziationen und -sprünge, die Vielfalt der Themen, die sie anschlägt und die perspektivische Beleuchtung der Dinge, die sie berührt, mögen wohl daher stammen, daß sie aus dem männlichen Bildungssystem ausgeschlossen war. Aber war das wirklich nur ein Nachteil? Haben dieser Ausschluß und diese Traditionslosigkeit die schreibenden Frauen nicht auch neue Möglichkeiten und Formen finden lassen?
Schon Gellert hatte in seinem Musterbuch Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751), in dem er einen persönlich gefärbten Briefstil mit Gesprächscharakter vorstellt, auf die Frauen hingewiesen. Er hatte ganz richtig beobachtet, daß die Frauen natürlichere Briefe schrieben, als die Männer. Sein Briefwechsel mit einem Fräulein von Schönfeld und mit der durch Gellert berühmt gewordenen Demoiselle Lucius - sie schrieb später auch erfolgreiche Dramen, die aber von der Literaturgeschichte nicht weiter beachtet wurden - unterstreichen die Richtigkeit seines Urteils. Leicht, natürlich, einfach, ohne gekünstelte Formeln und geschraubte Sätze schrieben diese Frauen, als ob sie mit ihrem Gegenüber plauderten oder sogar Gespräche schilderten und über ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Erlebnisse berichteten. Das war der neue Ton in den deutschen Briefen um 1750 - schon die Gottschedin hatte zwei Jahrzehnte früher solche Briefe geschrieben - und dieser neue Ton wurde auch durch französische und englische Vorbilder mit beeinflußt, da nunmehr Romane, schöne Literatur und Briefsammlungen aus diesen Sprachen in Deutschland zu erscheinen begannen.

Schloß, Salon und Bürgerhaus: Briefe und Memoiren berühmter Frauen

Hat die Briefkultur zunächst adelige, dann auch bürgerliche Frauen auf breiter Ebene zum Schreiben von Privatbriefen geführt, so wurden interessante Korrespondenzen schon im 17. und besonders im 18.Jahrhundert berühmt und gelangten - oft auf Umwegen - an die Öffentlichkeit. So wurden die Briefe der Madame de Sévigné schon zu ihren Lebzeiten weitergereicht, doch erst nach ihrem Tode gedruckt. Die erste Gesamtausgabe erschien erst 1754, bald danach auch in Deutschland, wo sie ebenfalls neben dem rein kulturgeschichtlichen Interesse als formale und stilistische Vorbilder für natürliche, ungekünstelte Briefe galten und die scharfe Beobachtungsgabe der Autorin bewundert wurde. Ob sie allerdings nie daran gedacht hat, daß ihre Briefe auch gedruckt werden würden oder sollten, mag dahingestellt bleiben. Vorgelesen und herumgereicht wurden sie, und ihre Briefe an ihre Vettern Bussy-Rabutin und Philippe von Coulanges sind deutlich mit Sorgfalt geformt und als kleine Kunstwerke gestaltet; die Briefe an ihre Tochter dagegen mehr aus spontanem Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis geschrieben (oder sollte das nur die größere Nähe zur Tochter einerseits und Anpassung an den kultivierteren männlichen Erwartungshorizont andererseits bezeugen?).
Nicht nur bewunderte Stilvorbilder lieferten die Briefe französischer Frauen, ihre reichen Informationen über das Leben des Adels und der feinen Gesellschaft hatten auch historisch-kulturgeschichtlichen Wert. Das galt besonders für große oder ungewöhnliche Persönlichkeiten, wie es die Frauen der französischen Salongesellschaft des 17. und 18.Jahrhunderts waren, deren Briefe und Memoiren zunächst in - oft gar nicht autorisierten - Auszügen kursierten, dann später in Einzelsammlungen zum Druck gelangten. Besonders das historisch-kulturgeschichtlich interessierte 19.Jahrhundert fand hier unerschöpflichen Stoff und entdeckte diese Welt. Bei diesen Entdeckungen und Veröffentlichungen waren eigentlich weniger die Briefe schreibender Frauen selbst von Interesse, als vielmehr ihre Enthüllungen über ihre Umwelt und - ihre pikanten Liebesgeschichten. Von der Madame de Scudéry bis zur Madame de Staél sind diese Frauen hauptsächlich als großartige Lebedamen der feudalen französischen Gesellschaft beachtet worden, während ihre Briefe und Memoiren immer noch als reizvolle Quellen einer ausschweifenden, liebeslustigen Welt gelesen werden.
So korrespondierte Madame du Deffand, die 1753 ihren berühmten Salon in ihrer Zimmerflucht im St. Josephskloster (die standesgemäße Versorgung für die unverheiratete Aristokratin bis zu ihrem Tode 27 Jahre später) etabliert hatte, u.a. mit Voltaire und Horace Walpole. Über diese berühmten Männer haben ihre Briefe, die von Geist sprühen und auch viel zeitgenössischen Klatsch enthalten, einen Platz in der Memoirenliteratur erhalten. Sie sind aber auch ein hervorragender Spiegel einer resignierenden, alternden Frau, wenn sie einmal schreibt: »Ich sehe nur Dummköpfe und Schwindler um mich, aber ich kann nichts anderes tun, als mit ihnen zu leben« (Letters of Horace Walpole, Bd. 7, S. 207). Hier gibt es noch eine Frau und eine großartige Briefautorin zu entdecken, wie auch ihre Nichte Julie.
Als Siebzehnjährige war Julie de Lespinasse als Gesellschafterin von ihrer Tante in deren Salon geholt worden, wo sie sich Bildung, Geist und literarische Kenntnisse aneignen konnte. Zehn Jahre später erfolgte der bittere, unversöhnliche Bruch der beiden Frauen, Julie begann einen eigenen Salon zu führen, in den die meisten berühmten Gäste ihrer Tante, darunter auch deren bisheriger Vertrauter d'Alembert, abwanderten. Anders als ihre kritisch-spöttische, hochintelligente Tante, war Julie eine gute, passive, einfühlsame (und jüngere) Zuhörerin der geistvollen Männer - und sie verbarg ihre persönlichen Leiden hinter der Maske der immer liebenswürdigen Salondame: sie wurde glühend von dem väterlichen d'Alembert verehrt, während sie selbst ein unglückliches Verhältnis mit dem Spanier Marquis de Mora, dann mit dem jungen Literaten Comte de Guibert hatte und an Schwindsucht langsam dahinsiechte. Leidenschaftlich und enttäuscht schrieb sie verzweifelte Briefe an Guibert, als dieser sich 1775 (ein Jahr, bevor Julie, erst 44jährig, an Schwindsucht starb) verheiratet hatte: »Ich liebe sie übermäßig, wahnsinnig, hingerissen und verzweifelt. [...] Ich hasse Sie, weil Sie mich Hoffnung, Angst, Schmerz und Freude gelehrt haben; ich bedurfte dieser Gemütserregungen nicht, warum haben Sie mich nicht in Ruhe gelassen?« (Correspondance entre Mademoiéelle de Lespinasse et le Comte de Guibert, Bd. 2, S. 57) Diese leidenschaftlichen Briefe waren natürlich nicht für die Offentlichkeit bestimmt, sondern private Mitteilungen an ihren Geliebten, in denen sie ganz ihren Gefühlen und Leidenschaften Ausdruck gab. Erst als das ancien régime längst versunken war, konnten die Briefe veröffentlicht werden.
Ebenso verhielt es sich mit den Briefen der Madame d'Epinay, die von 1749 an bis zu ihrem Tode einen wichtigen literarischen Salon in Paris unterhielt und selbst als Autorin hervortrat. Schon als langjährige Mitarbeiterin an Melchior Grimms Correspondance littéraire (der Sammlung privater und persönlicher Berichte, die der aus Leipzig nach Paris übergesiedelte Literat alle zwei Wochen an die wichtigsten Höfe Europas verschickte) hatte sie bei der Auswahl und Bearbeitung des Materials geholfen. Ihre eigenen Briefe an ihren Sohn ließ sie in überarbeiteter Form als Lettres à mon fils zusammen mit der pädagogischen Schrift Les Conversations d'Emilie (1775) erscheinen, in der eine Mutter der Tochter menschliche und praktische Ratschläge gibt, zugleich die Adelserziehung kritisiert (sie erhielt dafür sogar den erstmals von der Französischen Akademie vergebenen Preis - für Nützlichkeit). Erst 1818 konnten ihre Mimoires erscheinen, die sie seit ihrem vierzigsten Lebensjahr aufgezeichnet hatte und die nur leicht verhüllt die Gesellschaft des vorrevolutionären Frankreich kritisch darstellen.
»Nützlich« machte sich auch Madame de Genlis auf dem Gebiet, das den Frauen im 19. Jahrhundert die erste professionelle Tätigkeit (Hand-, Haus- und Dienstleistungsarbeit haben Frauen ja immer geleistet) ermöglichen sollte: der Erziehung. Von der Ehrendame der Herzogin von Chartre stieg sie auf zur Erzieherin der Kinder des späteren Bourbonenkönigs Louis-Philippe und entwickelte originale Erziehungsmethoden, die sie in mehreren Schriften festhielt. Seit der Revolution lebte sie in der Emigration, widmete sich ihrem ausgedehnten Briefwechsel mit Korrespondenten in ganz Westeuropa (Napoleon rief sie 1802 zurück, gab ihr eine Pension und machte sie zur Inspekteurin der Schulen) und ihren zahlreichen Romanen und historischen Werken. Ihre Mémoires (1825) in acht Bänden sind eine lebendige, anschauliche und kenntnisreiche Zeitgeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Perspektive einer Frau (der Aristokratie), die die Öffentlichkeit (etablierte Herrschaftsstrukturen und Politik) mit familiärer, weiblicher (nicht aber feministischer) Anschauung musterte. Auch die Werke und die Person der Madame de Genlis gilt es noch zu entdecken.
Die französische Salongesellschaft hat auch die originellste Autorin des 18.Jahrhunderts hervorgebracht: Madame de Staé1. Germaine Necker-de Staél nahm schon als Kind an den Gesprächen und Festlichkeiten im Salon ihrer Mutter teil, wo das begabte und frühreife Mädchen sich schon mit den berühmten französischen Intellektuellen und Literaten unterhielt. Ihr Vater, der aus Genf zugewanderte reiche Finanzier, verwöhnte seine einzige Tochter, die ihn abgöttisch verehrte, und arrangierte eine Konvenienzehe, die Germaine die Freiheit gab, ihren eigenen Neigungen, Liebschaften, literarischen und politischen Ambitionen nachzugehen (erst 1799 trennte sie sich endgültig von dem unbedeutenden, rettungslos verschuldeten Staél-Holstein).
Madame de Staél, von der Schiller nach ihrem Besuch in Weimar 1803 gemeint hat, man müsse sich ganz in ein Gehörorgan verwandeln, um ihr folgen zu können (sie hatte ihn zunächst für einen General gehalten, weil er in Gala-Uniforrn mit Orden zur Audienz gekommen war), war in der Konversation ebenso gewandt, unermüdlich fruchtbar und originell wie im Schreiben. Unter den zahlreichen, zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlichten Schriften sind auch die vielen Briefe, die die Familienarchive erst im 20. Jahrhundert allmählich freigegeben haben (u. a. Briefe an ihren Vater, an Benjamin Constant, an ihre Freundin Madame Récamier, an Wellington, an die Großherzogin Luise von Weimar, an A.W. und Fr. Schlegel). Berühmt und gefürchtet (Napoleon verbannte sie 1803 aus Paris) war sie wegen ihrer politischen und literarischen Schriften (über Rousseau, über die Leidenschaften, über die Literatur im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Institutionen, über den Frieden) schon bevor ihre zwei großen, in vielen Zügen autobiographischen Romane erschienen.
Die Heldinnen im Briefroman Delphine (1802) und Corinne ou l'Italie (1807) - schon während des Erscheinens der französischen Ausgabe von Dorothea Schlegel ins Deutsche übersetzt - verkörpern wichtige Aspekte der Lebenserfahrung der Madame de Staél; beide Frauen zeigen starke künstlerische Neigungen und Talente, setzen sich über die engen gesellschaftlichen Normen für Frauen hinweg, opfern sich einer idealen Liebe und zeigen eine reiche, psychologisch sehr differenziert gesehene Gefühlswelt. Besonders die Gestalt der Corinne übte eine magische Anziehungskraft auf schreibende Frauen aus, wie denn Madame de Staél selbst dank ihrer hervorragenden gesellschaftlichen Stellung, Begabung, Bildung und Förderung durch ihren Vater ein literarisches und emotionelles Leben gestalten konnte, wie es die meisten bürgerlichen Frauen ihrer Zeit nicht einmal für sich zu erträumen wagten. Sie lebte als romantische Muse der Literatur und Kunst, nachdem sie aus der Politik durch Verbannung effektiv ausgeschlossen wurde. Leben und Romane der de Staél zeigen die Möglichkeiten der außergewöhnlichen Frauen in Literatur und Kunst, die sie verkörpern und auf die sie zugleich festgelegt werden.
Auch in England läßt sich der Einstieg der Frauen in die Literatur über Briefe und autobiographische Texte beobachten, die allerdings dem Ruf einer tugendhaften Frau nicht schaden durften; auch sah die gute Gesellschaft auf die Frauen herab, die mit der Feder Geld verdienten und darin den Männern Konkurrenz machten. Zwar konnten sich schon Aphra Behn und Susannah Centlivre mit erfolgreichen Theaterstücken einen (bescheidenen) Lebensunterhalt verdienen, dann auch Mary de la Riviére Manley und Eliza Haywood mit skandalumwitterten Romanen. 1711 hatte Swift die Manley sogar zu seiner Nachfolgerin als Herausgeberin der Tory-Zeitung The Examiner gemacht (die Manley hatte mit ihren Romanen die Whigs angegriffen und deren Skandale bloßgestellt), doch die Zeitgenossen nahmen Anstoß an der Offenherzigkeit der Romane und an dem Lebenswandel ihrer Autorinnen. So wurde Eliza Haywood von Pope in der Dunciad (1728) so angegriffen, daß sie erst zwei Jahrzehnte später wieder veröffentlichte (und dann zumeist anonym). Ihre späten Romane und die moralische Wochenschrift The Female Spectator (1744-46) gehören zu ihren besten Werken. Diese Autorinnen, die allerdings ein vergleichsweise unkonventionelles Leben führten - z.B. lebte die Manley mit einem anderen Mann zusammen, nachdem sie von der Bigamie ihres Mannes und damit der Ungültigkeit ihrer ehelichen Verbindung erfahren hatte - wurden so angegriffen, als ob sie sich mit Prostitution ihren Lebensunterhalt verdienen würden.

Frauen aus der guten Gesellschaft und solche, die Wert auf guten Ruf legten, mußten ihr Schreiben unter einem Vorwand verschleiern. So ließ Mary Wortley Montagu ihre Essays und Gedichte nur handschriftlich zirkulieren oder anonym drucken. Das Manuskript ihrer Turkish Letters überließ sie einem Manne, von dem sie erwarten konnte, daß er es nach ihrem Tode veröffentlichen würde. Das geschah dann schon 1763. Ihre Privatbriefe (fast neunhundert Briefe umfaßt die moderne Ausgabe) wurden erst Jahrzehnte später, zunächst gekürzt und überarbeitet, veröffentlicht.
Montagus Turkish Letters stammen aus den Jahren, als Lady Mary ihren Mann bei seiner Gesandtschaft nach Konstantinopel begleitet hat und in scharf beobachteten, glänzend formulierten Briefen ihre Erlebnisse und Eindrücke niedergeschrieben hat. Sie selbst hat sie in einem Album zusammengestellt und dabei auf ihre Tagebücher (die nicht anderweitig erhalten sind) und echte Briefe aus der Zeit zurückgegriffen; während die einzelnen Briefe im Ton dem Adressaten angepaßt sind (an Pope sendet sie z.B. einen geistreichen Diskurs über türkische Dichtung, an den Abbé Conti einen über religiöse Sekten des Islam, an eine Freundin aus ihrer Jugendzeit die Beschreibung einer holländischen Stadt, die Nottingham gleicht), ist die ganze Sammlung zu einem anschaulichen, nuancierten Reise- und Kulturerlebnis verschmolzen.
Von ihren privaten Briefwechseln ist der mit ihrer Tochter besonders aufschlußreich. Die Montagu lebte zu der Zeit schon von ihrem Mann getrennt in Norditalien; ähnlich wie bei Madame de Sévigné wird die Tochter als Empfängerin der Briefe zur Vertrauten, zur Gesprächspartnerin für die alternde Frau. Sie schreibt ihre Briefe in allen Stilarten der Literatur über persönliche und kulturelle Dinge und setzt ihre Erfahrung in Brieftexte um, die zugleich eine enge menschliche Beziehung, eine Mutter-Tochter-Bindung (selten, aber keineswegs unmöglich im Zeitalter der übermächtigen Vaterfiguren) mit einschließen.
Gaben aristokratische Lebensweise und verfügbare Geldmittel der Lady Montagu die Möglichkeit zum eigenen Leben und Schreiben, so waren die Frauen der (gebildeten) Mittelklasse weitaus abhängiger von den Weiblichkeitsvorstellungen der Gesellschaft und von den alles bestimmenden und hoch verehrten Vaterfiguren. Sie schrieben unter Bedingungen, die für männliche Autoren einfach undenkbar gewesen wären. Fanny Burney schrieb Evelina (1778) in Nachtstunden, denn tagsüber mußte sie (mit ihren Schwestern) das Manuskript der jetzt gänzlich in Vergessenheit geratenen General History of music ihres Vaters mehrmals abschreiben, da er immer wieder kleine Verbesserungen vornehmen ließ. Ihren eigenen Roman schrieb sie mit verstellter Hand, damit der Drucker ihn nicht etwa mit den Burneys in Verbindung bringen und dabei dem Ruf des Vaters schaden konnte.
Im eigenen Schreiben hatte Fanny Burney sich in ihren umfangreichen und originellen Brieftagebüchern (Journals) geübt; tagebuchartige Briefe schrieb sie zunächst als ganz junges Mädchen an »Mr. Nobody«, an ein namenloses Gegenüber oder Ich, natürlich ein männliches (»Mr.«). Während ihrer Tätigkeit am Hof (sie war von 1786 bis 1791 mit der Garderobewartung für Königin Charlotte beauftragt) wurde ihre Schwester und intime Jugendfreundin, Susanna Elizabeth, ihre Adressatin. Jeden Monat schickte sie ihr ein Päckchen mit briefartigen Berichten, die sie jedoch schon von früheren Notizen zu einem zusammenhängenden Tagebuchtext geformt hatte (nach dem unerwarteten Tod der geliebten Schwester im Januar 1800 schrieb die Burney keine intimen Brieftagebücher mehr). Spätere Journal-Letters sind halböffentliche, literarisierte Texte, die frühere Briefe, Notizen und Erinnerungen verarbeiten, durchkomponieren und sie mit oft humorvollem Abstand (und immer mit Anstand) das Leben betrachten läßt.
Ihre zwei höchst erfolgreichen Romane, Evelina und Cecilia (1782), machten sie berühmt (brachten jedoch keine finanzielle Unabhängigkeit); wie auch die späteren Romane Camilla (1796) und The Wanderer (1814) (der Erlös von diesem Roman und den späten Journals sollte ihrem Sohn das Studium in Cambridge bezahlen) filtern sie Burneys Lebenserfahrung nicht in großen Entwürfen leidenschaftlich liebender kunstbegeisterter Frauen (wie bei Madame de Staél), sondern in gesellschaftlich akzeptablen, betont weiblichen Romanfiguren. Kleine Erfahrungen, zwischenmenschliche Beziehungen, psychologisches Einfühlungsvermögen füllen die fiktionale Welt, in der die Heldin sich - wie etwa Evelina als edel und von adeliger Abstammung erweist. Eine ideale Heirat beschließt ihre Geschichte. Solche Anstrengung, zu gefallen und sich anzupassen, entspringt tiefer Furcht und Unsicherheit, als Frau in einer von Männern beherrschten und nach männlichen Wertmaßstäben ausgerichteten Gesellschaft zu leben; Burney fürchtet ihre verwundbare Stellung als Frau in dieser Gesellschaft, in der ihr nur die Verkörperung der Tugend eine gewisse aktive Manipulation ihrer eigenen Situation erlaubt. Damit ist sie an die von der patriarchalischen Gesellschaft gesetzte Grenze gestoßen, die ihre Romane aus eben den gleichen Gründen als zweitklassig, fast trivial aus dem Literaturkanon heraus auf ein Seitengleis - Frauenroman - schieben kann.
Bei Jane Austen - ihre großen Romane erschienen erst ab 1811 - ist diese Deklassierung schon nicht mehr im gleichen Maße möglich: zum einen förderten ihr Vater und alle Familienmitglieder ihr Schreiben, zum anderen gab ihr die anonyme Veröffentlichung (sie weigerte sich, außerhalb ihrer Familie als Autorin bekannt zu werden) Schutz für ihre Person als Frau und damit Freiraum für ihre Phantasie. Mit Jane Austen beginnt das große Zeitalter der schreibenden Frauen in der englischen Literatur.

Briefe als Literatur

Längst hatte der Brief die Literatur des 18. Jahrhunderts unterwandert. Er war nicht als eigenständige Gattung anerkannt, sondern als konstitutives Element in neu sich entwickelnden Prosaformen wirksam geworden: in den Moralischen Wochenschriften, im Reisebericht und im Roman. Diese Unterwanderung der Prosa durch den Brief und die dadurch hervorgerufene Entwicklung neuer Prosaformen, die eine wahre Lesewut im 18.Jahrhundert entfachen, tragen zur Feminisierung der Literatur bei, die etwa um die Mitte des Jahrhunderts einsetzt. Mit anderen Worten: das »schöne Geschlecht« hatte bedeutenden Anteil am Entstehen der »schönen Literatur«, auch wenn deren große, erfolgreiche Autoren - etwa Richardson, Rousseau oder Goethe - vorwiegend Männer waren. Der weibliche Anteil, der die Feminisierung der Literatur bewirkt hat, erscheint zumeist indirekt, eben in dem, was durch die Frauen als Leserinnen und selbst Schreibende eindringen konnte. Wie sie lebten, dachten, schrieben, unterwanderte nun die herrschenden literarischen Formen vom Drama bis zur Lyrik, besonders aber die Prosaformen und wandelte die gelehrte und belehrende Literatur zur »schönen Literatur«. Dabei war der Brief wegen seines Inhalts und seiner Form wichtig. Seine offene, »natürliche«, gesprächsnahe Form (Studium der klassischen Sprachen war nicht dazu erforderlich, wohl aber galten französische Briefe - und das »gebildete Frauenzimmer« las und sprach französisch - lange als Muster) und sein lebensnaher, oft privater, zeitgenössischer Inhalt hatte gerade dieses Ausdrucksmittel den Frauen zugänglich gemacht.
Schon die Moralischen Wochenschriften benutzten gern die Briefform, um gefällig und lebensnah zu beraten und zu belehren und um in ein Gespräch mit den Lesern zu kommen. Ob diese Briefe echte Leserbriefe sind oder fingierte, spielt dabei keine Rolle. Sie gehören meistens zu den lebendigen, aufschlußreichen Partien dieser Zeitschriften, den Vorläufern der journalistischen Flut im 19. Jahrhundert.
So brachte Sophie La Roche in ihrer Pomona für Teutschlands Töchter (1783-84), der ersten von einer Frau herausgegebenen Zeitschrift in Deutschland, die wirklich erfolgreich war, eine Korrespondenz der Herausgeberin mit ihren Leserinnen, die den Widerhall einer solchen Zeitschrift spiegelt, wenn eine Leserin berichtet, wie die Pomona »von Lesern und Leserinnen mancherley Art, Alt und jung, am Toilette und am Spinnrocken, beym Caffe und beym Filet, in Nachmittags- und Abendvisiten aufgenommen wird« (1783, S. 302). Nach ihrem Zimmer gefragt, berichtet die La Roche von ihren Büchern, die sie gerade liest und auch davon, wie sie »als Tochter eines Gelehrten [...] von Jugend auf von dem Wert der Wissenschaften« gehört und eine natürliche Begierde danach gehabt habe. »Aber Umstände verhinderten die Erfüllung meines Wunsches«, fährt sie fort, »daß ich als Knabe möchte erzogen werden, um ordentlich gelehrt zu werden [...], aber die Wißbegierde und der Geschmack an Kenntnissen blieben in meinem Herzen« (1783, S. 420). Selbstausdruck der Herausgeberin, die von ihren eigenen Erfahrungen ausgeht, und Kommunikation mit der Leserin sind die neuen Töne, die eine Zeitschrift wie die Pomona anschlägt.
Die Briefform ermöglichte eine direkte Anrede und damit Beteiligung der Leserin an den jeweiligen Lebensfragen, ein wichtiger Aspekt der Briefliteratur als Kommunikation. Die Briefform in den Moralischen Wochenschriften stand auch oft einem Essay nahe, indem der Brief zur unmittelbaren Information der Leserin beitrug. Schriften dieser Art, die nicht als gelehrte Traktate mit Fußnoten, wohl aber in aufgelockerter, lebendiger, ansprechender Form eines Essays belehrend-informative Inhalte und Meinungen brachten, hießen im 18. Jahrhundert vielfach »Briefe«. Hatten besonders die Aufklärer sich seiner Form bedient, so begannen Frauen mit dieser Form gegen Ende des 18.Jahrhunderts, ihre Meinungen zu wichtigen Fragen einzukleiden. Sie vermeiden damit den Anschein jeder professionellen Gelehrsamkeit, die ihnen nicht zugebilligt wurde, und einer politischen Meinung, die sie noch weniger hätten äußern dürfen (selbst einer Olympe de Gouge oder Madame de Staél war im Lande der Brüderlichkeit eine politische Meinung schlecht bekommen).
Mary Wollstonecraft, die mit A Vindication of the Rights of Woman (1792) bekannt geworden war, benutzte die Form der Reisebriefe, um eigener Anschauung und Meinung Ausdruck zu verleihen. Ihre Letters Written During a Short Residence in Sweden, Norway, and Denmark (1796) gehen auf authentische Briefe zurück, die Mary von ihrer Reise an ihren Geliebten (und Vater ihrer Tochter Mary Shelley) Gilbert Imlay geschrieben hatte. Es war eine Geschäftsreise in ein wenig besuchtes Gebiet im Auftrag Imlays, und Mary reiste mit ihrer einjährigen Tochter und einer Amme, eine ungewöhnliche Reise und Begleitung für eine Frau. Der tagebuchartige Reisebericht - die Briefe an Imlay scheinen zumeist nur ganz wenig für die Veröffentlichung überarbeitet zu sein - enthält neben der Beschreibung sozialkritische Beobachtungen; immer versucht sie, ihr »Lieblingsthema der Betrachtung, die zukünftige Verbesserung der Welt« berühren zu können. So bemerkt sie über Schleswig, wo sie auf der Rückreise eine Nacht Station macht:

Der Anblick der Soldaten erinnerte mich an all die unangenehmen Gedanken über den deutschen Despotismus, die jedoch unmerklich verschwanden, als ich weiter durch das Land fuhr. Mit einer Mischung aus Mitleid und Schrecken betrachtete ich diese Wesen, die ausgebildet wurden, um zum Töten verkauft zu werden oder um selbst zu töten, und begann nachzudenken. [...] Kinder werden geboren, leiden und sterben; Menschen spielen wie Falter um eine Kerze und versinken in ihrer Flamme: der Krieg und >die tausend Übel, die unser Fleisch ererbt<, mähen sie scharenweise nieder, während die grausamen Vorurteile unserer Gesenschaft unsere Existenz lähmen und lediglich den Verfall hinauszögern.
(Letter XXII, S. 180)

Der oft lyrische Ton der »Briefe« sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Mary Wollstonecraft hier wie auch in ihren anderen Werken politische Gleichstellung und Bildungsreform fordert, um sozialen Wandel hervorzubringen, und von einer grundsätzlichen Anerkennung aller Menschen als rationale Wesen ausgeht, wenn sie z.B. gegen die Todesstrafe (Letter XV) argumentiert. Schon 1797 starb Mary kurz nach der Geburt eines Kindes (wie auch Meta Klopstock, Eva König und Sophie Mereau).
Die Briefform wurde auch für die Entwicklung des Romans im 18.Jahrhundert höchst wichtig. Die Briefromane Richardsons, Pamela (1740) und Clarissa (1747), popularisierten diese Form des Romans; Richardsons Romane wurden vielfach übersetzt, aber auch zunehmend in der Originalsprache gelesen, da um die Jahrhundertmitte die Begeisterung für England als Land der sittlichen Natürlichkeit und Freiheit in Westeuropa langsam begann und das höfisch-unmoralische Frankreich als Vorbild verdrängte. So wirksam und beliebt waren Richardsons Romane bei den Lesern und besonders den Leserinnen deshalb, weil er mit Verständnis, psychologischer Einfühlung, großer Menschenkenntnis und Toleranz (und nicht mit beißendem Zynismus oder Menschenverachtung) zeitgenössische Frauen des Landadels (auch die Häuslertochter Pamela lebt und wächst in diesen Kreis hinein) darstellt und vornehmlich aus ihrer Perspektive schreibt. Das sind andere, neue Töne gegenüber der erotischen Thematik im galanten Roman der Franzosen (erotische Briefe als fiktionale Form gab es schon in der Antike als Hetärenbriefe oder »heroische Briefe« seit Ovid, die jedoch eine rein männliche Perspektive am Liebesgenuß und -verdruß haben).
Eine ausgesprochen weibliche Perspektive bringt der Briefroman der Sophie La Roche, Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771), so weiblich, daß der Herausgeber (und Mentor) des Romans, Wieland, sich behutsam in der Vorrede (und in einigen Fußnoten) von dem Werk distanziert, sollte es ungünstig bei der Kritik aufgenommen werden. Der Erfolg des Werkes ließ aber die Autorin bald selbst zur »Sternheim« werden, sie wurde mit ihrer eigenen Romanfigur identifiziert - und daran gemessen. Denn der Roman spiegelte das zeitgenössische Frauenleben in einer idealisierten Form und kam den Vorstellungen über das »schöne Geschlecht« in der tugendhaften Sternheim entgegen, die den Liebesintrigen am Hofe durch eine selbst gewählte Ehe - die sich als Scheinehe erweist - zu entkommen sucht. Sie lebt als Wohltäterin, Erzieherin und Begleiterin anderer Frauen, bis sie nach einer durch ihren ehemaligen Mann veranlaßten Entführung und Verbannung in das schottische Bergland einen englischen Landedelmann heiratet, der sie schon lange geliebt und umworben hatte. Diese Geschichte ist keine Liebesgeschichte nach lediglich herkömmlichem Muster - viele Elemente gehören natürlich der Romantradition an - denn die Heldin lebt und denkt als vaterlose Waise und betrogene Frau eine Zeitlang selbständig und versucht, ihr eigenes Leben zu gestalten, indem sie sich der Fürsorge anderer Frauen widmet. Die Perspektive der Frau wird weiterhin dadurch gefördert, daß es in der Sternheim ein Bezugsfeld von Frauen um die Heldin neben den üblichen Vater- und Liebhaberfiguren gibt; in diesem Bezugsfeld (die Tante, die Freundin Emilia und deren Schwester Rosina, Madam Hills, Lady Summers) spielen Briefe eine besondere Rolle. Freundin Emilia fungiert als Herausgeberin der Sternheimschen Familienpapiere; darunter ist ihr Briefwechsel mit Sophie und deren tagebuchartige Berichte (aus Schottland). Die polyperspektivische Anlage dieses Briefromans gibt gerade den Formen und Stimmen der Frauen eine direkte, authentische Möglichkeit zur Selbstaussage und Kommuniktion miteinander, zu der die Briefe der beteiligten Männer das Bild der Sternheim und ihres Kreises abrunden, vervollkommnen. Bei aller Konventionalität der Tugenddarstellung hat Sophie La Roche in ihrer Sternheim, anders als Richardson in seinen Briefromanen, die schreibende Frau des 18. Jahrhunderts in einer fiktionalen Form sich wiederfinden lassen. Frauenleben ist in Text umgesetzt worden.

Die »Erlebnisdichtung« hat begonnen. Goethe bekannte, daß er von der Sternheim und dem Frankfurter Kreis um die La Roche Tochter Maximiliane Brentano beim Schreiben seines Werther beeinflußt worden sei. Werthers Leiden (alle Briefe stammen von ihm) sind monologisch um die Person des männlichen Helden zentriert; seine Welt, sein Leiden wird zum Inhalt des Romans, zur ästhetischen Norm, während schon die späteren Werke der La Roche, etwa Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marinae von St.* (1779-81), und die Romane einer Friederike Unger, Therese Huber oder Sophie Mereau zur »Frauenliteratur« deklariert werden (ist ein Wilhelm Meister Männerliteratur?). Die Frauen der Romantik ziehen sich zumeist wieder auf (Privat-)Briefe zurück.
Nur Bettina von Arnim schafft den großen Durchbruch mit ihren Briefbüchern, besonders aber mit Goethes Briefwechsel mit einem Kinde (1835), das sich allerdings ganz an die männliche Tradition eines großen Vaters, eines berühmten literarischen Mentors, anschließt. Indem Bettina jedoch die (von der männlichen Ästhetik nicht beherrschte) offene Form des Briefes wählt, schreibt sie diese Tradition um, schreibt sich selbst in die Briefe hinein, zunächst als Kind, dann als liebende, sich entwickelnde Frau. Ähnlich verfährt sie mit ihrem »großen« und geliebten Bruder (beide verbrachten als Kinder eine längere Zeit bei der Großmutter La Roche, nachdem Mutter Maximiliane - nach der Geburt des 12. Kindes - gestorben war) in Clemens Brentanos Frühlingskranz in Briefen (1845); in der Mischung authentischer und fiktionaler Briefe und deren Umstrukturierung ist die Welt des Bruders ganz die ihre geworden, indem sie sie für die Nachwelt gestaltet hat, ähnlich wie Varnhagen es für Rahel tat. In dem Briefbuch Die Günderode (1840) hat sie die Freundin (die, längst vergessen und totgeschwiegen, schon 1806 Selbstmord begangen hatte) wieder zum Leben erweckt in ihrem Briefwechsel, der ebenfalls authentische Briefe, tagebuchartige Aufzeichnungen, Erinnerungen und fiktionale Umgestaltungen und Texte mit einschließt. Hier sind Briefe als Ausdrucks- und Verständigungsmittel zu Literatur geworden - außerhalb der herrschenden ästhetischen Normen für die Prosa ihrer Zeit.

Texttyp

Briefe