Romantische Frauenkultur

Bettina von Arnim zum Beispiel

Ein Portrait Bettinas - nie fiele uns ein, so vertraulich von Clemens oder Achim, geschweige denn von Wolfgang oder Friedrich zu reden, wohl aber wiederum von Caroline oder Rahel. Mindert der Verzicht auf den Nachnamen den Respekt? Höchstens wenn der Name so intoniert wird, als solle es eigentlich »die arme Bettina« heißen oder »die glücklose Caroline«. Vielmehr bezeichnet die häufige Bevorzugung des Vornamens für die großen Frauen dieser Generation eine andere, so wohl nie wieder artikulierte Form des Respekts. Zum einen unterstreicht sie, daß man die besonderen weiblichen Individuen meint, nicht die Töchter, Schwestern oder Ehefrauen prominenter Dichter oder Philosophen. Zum anderen und bedeutungsvoller gilt sie Personen, von denen man emphatisch sagen möchte, daß sie sich zu erkennen gegeben haben. Nennen wir sie mit ihren Vornamen, so gehen wir darin vielleicht auf eine Lebenshaltung dieser Frauen ein, deren größerer Ehrgeiz als einer repräsentativen Position oder bürgerlichem Beruf und sei es auch dem des Schriftstellers - ihrem Ansehen als Vertrauenspersonen galt. Um nichts sonst haben sie so beredt und zeugnisreich geworben. - Daß Menschen leichter Vertrauen entgegenbringen, wo ihnen vertraut wird, ist eine Unterstellung ihres Schreibens Brief für Brief, und kaum anders als in Briefen, stets auch Selbstentdeckungen, stehen uns Bettina, Rahel und Caroline und all jene anderen Frauen um 1800 vor Augen: Charlotte von Stein und Caroline Herder, Charlotte von Kalb, Dorothea Schlegel, Sophie Mereau, Susette Gontard und Johanna Schopenhauer, die Günderode oder Caroline von Humboldt. Vertrauen bekundend, warben sie um Vertrauen, selten aus Eigennutz. Nichts Geringeres ist dabei die Absicht als das angeblich bloß Private in Würde zu setzen. Briefe schreibend und im Gespräch gaben sie ihm ein Ansehen, dessen utopische Zukunft eine intimisierte Öffentlichkeit war. Das gewaltige Briefwerk, das dergestalt entstand, ist mindestens so sehr ein Zeugnis dieses kunstreich angestrebten Ziels als des bloßen Lebens.
Was das Bürgertum unter Freiheit und Gleichheit verstand, hat es - problematisch genug - in seinen programmatischen Akten hinlänglich bezeugt. Was Brüderlichkeit hätte sein können, steht in den stärksten Bekundungen bei den Frauen, die Schwestern und Freundinnen sein wollten in einem weiteren als familiären Bereich. Hätte sein können - ist es denn nicht auch geglückt, zumindest in der Reichweite persönlicher Verbundenheit? Wohl in geringerem Maße als manches einzelne Schreiben nahelegt. Nicht bloß traten dramatische Zerwürfnisse wie zwischen Bettina und der Günderode dazwischen oder herzhaft empfindende Idiosynkrasien wie gegen Caroline Schlegel. In einem allgemeineren Sinn bezeugen viele dieser Briefe Beziehungen, die lebelang bloß gewünscht, Verbindungen, die nie geschlossen wurden - die Briefe der Günderode oder Charlotte von Kalb -, oder ihre unendliche Eloquenz soll Worte auf die allzu gewisse Ahnung häufen, daß auch dieser Vermittlungsversuch oder Bittbrief vergeblich bleiben wird, wie so oft bei Bettina, ob sie bei Savigny für die Brüder Grimm wirbt oder beim König für das Proletariat.
Auf die prekäre Seite der romantischen Wunsch-Konjunktion von Politik und Intimität einzugehen, wie Richard Sennet sie ausführlich erörtert hat, ist hier nicht bloß kein Platz, es ist auch nicht der Ort, weil diese Vorstellung bei den Frauen von vornherein im Irrealis steht: eine Traumgeburt, deren Verwirklichung nicht im Ernst auf der Tagesordnung ist und auch gar nicht so ins Spiel gebracht wird, als wäre es anders. An Brüderlichkeit wird hier im Sinne einer regulativen Idee appelliert, der man konzediert, daß ihre Wirklichkeit nicht von dieser Welt ist. Mit der Melancholie über diese prinzipielle Ungemäßheit von öffentlicher Wirkungssphäre und den intimen Ansprüchen auf Selbstverwirklichung verbindet sich eine Strategie der Fiktionen, die es erlauben sollen, der Klage über das Verlorene bzw. Unmögliche eine Form und ihrem Inhalt noch eine letzte Möglichkeit der Geltung einzuräumen. Als Bettina, Rahel oder Caroline haben sich nicht bloß Individuen einer bestimmten historischen Zeitgenossenschaft zu erkennen gegeben, zur Kenntlichkeit gelangt sind in diesen Namen auch Wunsch- und Reflexionsformen des Umgangs miteinander.

Die subtile Weise, in der in ihren Briefen - im wesentlichen aus der Spanne zwischen 1790 und 1850 - diese Wünsche mit aller Energie ihrer privaten Impulse ausgesprochen und zugleich nach der Seite ihrer Blockierung reflektiert werden, gibt ihnen eine schwer bestimmbare Zwischenposition im Grenzbereich von Kunst und Leben, deren jedes hier auf sein Recht am jeweils anderen pocht und - erhält. - Zu viel Empfindung der lebendigen Menschen, vor allem zu viel Unglück ist in die Briefwerke von Frauen der Romantik eingegangen, als daß es möglich wäre, sich dem Anspruch, den die Schreiberinnen auf Konsequenzen stellen, zu entziehen. Die Autorität gelebten Lebens türmt sich fast überwältigend in jedem von ihnen. Sie wiegt schwerer als vergleichbare Briefwechsel von Männern, weil aus ihnen der Vorwurf über das gestaute, verhinderte und verminderte Leben ernster klingt und weniger relativiert durch eigenes Verschulden. Andererseits entlasten uns diese Briefe durch den Entfaltungsraum, den sie der Rhetorik, die Bühne, die sie den angenommenen Rollen, den Aktionsradius, den sie literarischen oder selbsterfundenen Handlungen gewähren, von der Unerbittlichkeit der wirklichen Schicksale, deren distanzierter Reflex sie sind. So nehmen wir zu den Briefwerken eine noch anders komplizierte Haltung ein als zu Kunstwerken, geschweige lebenden Menschen, denn das widersprüchlich gespannte Verhältnis zwischen Dokument und Fiktion fordert zugleich die Einbildungskraft heraus und bindet unsere Verantwortung wirklichen Menschen gegenüber.
Das könnten alles bloß Überlegungen über eine historische Zeit und ein gewisses Genre sein, wenn wir nicht den Eindruck haben müßten, als ob zwischen der Weiblichkeit der Schreiber und dieser changierenden Mitteilungsform ihrer Briefe bereits für deren zeitgenössische Empfänger ein engerer Zusammenhang bestand, als ein Mann einem anderen in der Korrespondenz zugestehen würde. Haben sich diese Frauen als Personen nicht überhaupt erst brieflich erzeugt? Was in der Dumpfheit eines bedrängten Lebens Angstlähmung oder hysterische Verspannung, ein Zwangsverhalten ist oder ein Tick, im leichteren Falle, ist im Brief eine Stilfigur, denn die Form der Mitteilung - a priori eine des gesellschaftlichen Vertrauens - geht darüber und nimmt sie schonend auf Uns ist die Vorstellung eines näheren Umgangs mit Johanna Schopenhauer, Bettina von Arnim oder Charlotte von Kalb abzüglich ihrer brieflichen Hinterlassenschaft erspart. Das war aber schon für die Zeitgenossen oft kaum anders. Nur brieflich waren sie im Grunde für vollzunehmen. In den Briefen stecken die Frauen wie in Quarantäne. Die Korrespondenzen, in denen sie als Personen eingesperrt sind, waren andererseits oft die einzige Chance, sich als Person überhaupt erst zu erschaffen. Von den Lebensumständen, die ihnen feindlich waren, weil sie sie auf ihre biologischen Geschlechtseigenschaften bzw. daraus entwickelten sozialen Rollen fixierten, waren sie oft zu skurrilen Figuren verzerrt, als die sie sich einander auch deutlich genug wahrnahmen, um es in Klatsch und Tratsch unerbittlich und erbarmungslos auszusprechen. Selbst dann noch geht im Brief die Form des Klatsches über den Inhalt, und auch Männer klatschen. Für die weiblichen Schreiber ist es aber oft die einzige Möglichkeit gewesen, souverän zu sein - nicht es über den Brief hinaus zu werden, denn dieser bleibt der einzige Ort, an dem diese Souveränität wirklich wird - und wiederum auch nicht der einzige Ort, an dem sie sich zeigt, denn was nicht nach außen tritt, ist als wäre es nicht. Die Kultur der Briefe und -auf einer weiteren Reduktionsstufe - die der Tagebücher bilden eine gesellschaftliche Stellvertreterkultur, die den Platz der Frauen einnimmt, die wie Tiermütter die Aufzucht eines halben Dutzends Kinder unter kärgsten Bedingungen zu besorgen hatten wie Bettina; ihrem Liebsten fast Zeit eines kurzen Lebens aus der Erinnerung an ein paar Tage die Treue zu halten versuchen wie Susette Gontard; oder ähnlich lebendig begraben - erblindet in einer barmherzig gewährten Kammer des Berliner Schlosses vegetieren wie Charlotte von Kalb. Für den Umgang mit diesen Frauen mußten sich ihre Freundinnen und Freunde die Brief- und Tagebuchaufzeichnungen hinzu imaginieren, sofern nicht umgekehrt der briefliche Verkehr ohnehin anstelle jedes anderen trat wie vielfach schon wegen der Immobilität der allgemeinen Verhältnisse.
Hoch war aus solchen Gründen der Anspruch an den Brief, höher noch bei den Schreibern als den Empfängern: stand bei jenen doch noch mehr als der gesellige Austausch auf dem Spiel. Alle Vermögen, die bei Männern der Arbeitstag eines Berufslebens, alle Wünsche und Begierden, die bei ihnen in den vielfältigen Beziehungen des Alltags wenn nicht befriedigt, so doch in den Pantomimen und Choreographien eines komplizierten Handlungsfeldes zu symbolischer Darstellung kommen konnten, mußten für die Frauen in Worte gefaßt werden. Endlos daher die Briefe, oft ermüdend, manchmal qualvoll. je geringer die Möglichkeiten des Handelns - und sei es eines metaphorisch verschobenen -, desto breiter das hin und her wendende Reflektieren, das Erinnern und Ausmalen; desto drängender der Impuls, wenigstens in dieser Form wirklich sein zu lassen, was sonst keine Bühne findet; daher eine Wahrhaftigkeit, Unerschrockenheit und ein 'Temperament in der Mitteilung auch von Anstößigem, wie Männer es Briefen selten anvertrauen. Was dergestalt den Frauen eine Not und äußerster Zwang waren, hat auch den Männern Gelegenheit zur Selbsterschließung gegeben. Ob und in welchem Maße sie genutzt wurde - genutzt werden konnte - ist eine eigene Untersuchung wert.

»Es ist Menschenunkunde, wenn sich die Leute einbilden, unser Geist sei anders und zu andern Bedürfnissen konstituiert, und wir könnten zum Exempel ganz von des Mannes oder Sohnes Existenz mitzehren«, vertraut Rahel Varnhagen ihrer Freundin Rose an (Brief an Rose Asser, 22. 1. 1819). Das war eine herausfordernde Wahrheit in einer Zeit, in der die Dichotomie der Geschlechtseigenschaften die Basis jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit bildete. Rahel gibt zu, daß diese Wirklichkeit nicht die ihre ist, daß sie »neben der menschlichen Gesellschaft« steht, »ein ohnmächtiges Wesen, dem es für nichts gerechnet wird, nun so zu Haus zu sitzen, und das Himmel und Erde, Menschen und Vieh wider sich hätte, wenn es weg wollte« (Brief an David Veit, 2. 4. 1793).

In ihren Briefen kann sich Rahel von dieser bedrückenden Wirklichkeit befreien, ihr Leben, wenigstens zum Schein, in eigener Regie gestalten, die Klage zur Kunstklage stilisieren. Der Brief wird zum imaginären Aktionsort, zur intimisierten Öffentlichkeit, der für all das zu entschädigen hat, was die Wirklichkeit dieser neugierigen romantischen Frauengeneration hartnäckig vorenthält: die Praxis des selbständigen Handelns. Rahel versucht, die Diskrepanz, die zwischen den weiblichen Fähigkeiten und den Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung lag, in ihren Briefen ästhetisch zu überwinden. So wird der Brief zum utopischen Ort einer möglichen Selbstverwirklichung. In ihrem weitgespannten Briefwechsel bemüht sie sich immer wieder aufs neue, die schmerzvolle Selbstdarstellung des Ich bis an den Rand des Möglichen zu treiben.
Sie hatte es schwerer in der Wirklichkeit als die meisten ihrer romantischen Schwestern. Nicht reich, nicht schön, weder Freundin noch Gattin eines großen Mannes, eröffnete sie, noch nicht zwanzigjährig, ganz ohne männliche Protektion, in Berlin ihren ersten Salon in der Dachstube in der Jägerstraße. Die ersten, die kamen - zumeist Gäste des Salons der Henriette Herz - kamen aus Neugier und bildeten eine sehr gemischte Gesellschaft. Doch bald gelang es Rahel, die bedeutendsten Persönlichkeiten ihrer Zeit bei sich zu versammeln: Hegel und Humboldt, Savigny und Raumer, Schlegel und Schleiermacher. Was sie zusammenhielt, waren der sprühende Witz und die lebendige Originalität dieser jungen jüdischen Frau, die bald zum Mittelpunkt für das geistige Leben Berlins wurde.
Lange unverheiratet und ohne Kinder, ohne eine sie fordernde Tätigkeit, schaffte sich Rahel im Gespräch mit den Freunden den Aktionsraum für ihre starke ungenutzte Geisteskraft. Mit ihnen wollte sie ihr Leben wie ein Kunstwerk gestalten. Als sie sich in ihrem 42. Lebensjahr mit Karl August von Ense verheiratete, hatte sie mit ihm schon in einem zehnjährigen Briefwechsel gelebt, der den Umgangston zwischen den beiden geprägt hatte: »Wahrheit in allem«, aber kunstvoll gestaltete Wahrheit.

Die andere Hauptfigur der romantischen Epoche, Bettina von Arnim, die einzige, die Rahel für ihren »Pair« hielt und als Schwester empfand, hat diese Verquickungen von Kunst und Leben noch weiter getrieben. Sie steht als Beispiel für ein Frauenleben in Briefen. Es wird ausgewählt aus anderen, weil der Typus, von dem hier die Rede ist, in ihr besonders reich ausgebildet ist. - Doch soll auch der persönliche Anlaß nicht verschwiegen werden: die Überlagerung von Lebens- und Arbeitsschauplätzen mit eigenen und die Sympathie mit dem Habitus dieser Frau, wie er nun geschildert wird.
Erinnern nur wir uns an Mignon, oder ging Bettina selbst die Erinnerung an Wilhelm Meisters sehnsüchtige Freundin zeitlebens nicht aus dem Sinn? Wahrscheinlich ist die Frage zu pedantisch gestellt. Vermutlich sabotiert sie sogar die Lebenskunst dieser Frau, die darauf gerichtet war, die Freiheit ihres Empfindens, Denkens und Handelns durch Exaltation zu gewinnen. So möchte ich hier einmal diese nervös forcierte Naivität ihres Kunstverständnisses, das artistische Ausreizen von gewissen naiven Rollen im Leben bezeichnen. An Mignon soll man denken, um ein Bild Bettinens vor Augen zu haben, wie sie am Anfang des 19. Jahrhunderts den Bürgern Marburgs begegnet sein mag, wo ich ihre Spur zuerst aufnehmen möchte: vom Turm herabsehend unterhalb des Schlosses oder in einem Baum sitzend, mit zerschundenen Knien durch ein Bachbett kletternd oder unterwegs zu Bückings Garten: wild und ungebärdig, sonnenbraun mit dunklen Augen, bunte Bänder im Haar und gelbe Schuhe, im Aufzug fremd und wie von nirgendwo, am ehesten freilich von Italien, dem Land, wo für ihren Großvater auch tatsächlich noch die Zitronen geblüht hatten. Hüpfend, springend, immer hoch hinaus und mit der Erde nur widerwillig verbunden, so hatte Goethe sein knabenhaft abenteuerndes, mädchenhaft schmachtendes Lieblingsgeschöpf erfunden. Ihr will Bettine ähnlich sein, und so schildert sie sich geradeso wie der geliebte und bewunderte Dichter ihr poetisches Urbild, wenn sie aus Marburg an die ältere Freundin Caroline von Günderode schreibt:

  • blüht der Apfelbaum, so habe ich rote Backen, stürzt der eigensinnige Bach die Klippentrepp hinab, so setz ich ihm nach und spring kreuz und quer über ihn weg, ruft die Nachtigall, so komm ich gerennt, und tanzen die Mühlräder mit der Lahn einen Walzer ins Tal hinab, so pfeif ich auf dem Berg ein Stückchen dazu und guck über die rauchenden Hütten und über die schirmenden Bäume hinaus, wie sie ihren Mutwill verjuchzen und der Müller und sein Schätzchen auch, die denken, kein Mensch säh's.

Und dann, den Übermut mit einer gravitätischen Formulierung mutwillig verbindend, der der Geheimrat seine Anerkennung schwerlich versagt hätte:

  • Morgenrührung, Abendwehmut wird nicht statuiert, in den Hecken blüht Frühlingsfeier genug, Schnurren und Summen und Windgeflüster.
    (Die Günderode. Briefe aus den Jahren 1804-1806, S. 443)

Freilich ist es Winter draußen, als dieser Brief geschrieben wird, und von Mignons Italien weiß Bettine kaum mehr, als man auch sonst in Hessen weiß, ohne im Süden gewesen zu sein, und sicher ist selbst nicht einmal, ob unser Brief in dieser Form die Adressatin je erreicht hat, denn wir finden ihn - wie die meisten Berichte der Verfasserin aus Marburg in einem Briefroman der Bettina von Arnim aus dem Jahre 1840, in den sie die Korrespondenz mit der Günderode aus den Jahren 1804-1806 eingearbeitet hat. Manche Daten, selbst ganze Episoden, die Abfolge der Schreiben - manchmal sind sie aus mehreren der wirklich ausgetauschten zusammengefaßt - und diese oder jene Wendung des Stils mögen insofern später erfunden worden sein, hier wie auch in den anderen Briefromanen der Autorin. Aber das braucht eigentlich nur die Philologie zu interessieren. Wir, die wir an der Verfasserin interessiert sind, finden in den Korrespondenzen das Bild, das sie von sich selbst entwirft: in allem Bemühen um Ehrlichkeit - aber freilich auch ein Wunschbild, so gezeichnet, wie Bettine gesehen werden möchte. Doch sind nicht auch Wunschbilder ehrliche Bilder? Mögen sie die Wirklichkeit auch hier und da ein wenig idealisieren, um so genauer treffen sie die inneren Vorstellungen des Wünschenden, noch ohne die Abstriche, die die Realität an ihnen vornimmt. - Übrigens hat Goethe selbst gelegentlich Bettina als ein Abbild der Mignon gesehen, und bei einem englischen Reisenden des Jahrhundertbeginns, dessen Temperament wir uns wohl etwas kühl und reserviert vorzustellen haben, finden wir über Bettina die Briefstelle:

  • Als ich das erstemal nach Frankfurt kam, war sie ein kurzes untersetztes wildes Mädchen, die jüngste (?) und am wenigsten angenehme Enkelin der Frau von La Roche. Sie wurde stets als ein grillenhaftes unbehandelbares Geschöpf angesehen. Ich erinnere mich, daß sie auf Apfelbäumen herumkletterte und eine gewaltige Schwätzerin war; desgleichen auch, daß sie in überschwenglichen Ausdrücken ihre Bewunderung der Mignon in »Wilhelm Meister« aussprach. Indem sie ihre Hände gegen ihre Brust drückte, sagte sie: So liege ich immer zu Bett, um Mignon nachzuahmen.
    (Die Andacht zum Menschenbild. Unbekannte Briefe von Bettine Brentano, S. 13f)

Zu Mignon gesellen sich in einem anderen zeitgenössischen Zeugnis weitere literarische Erfindungen Goethes, so in einem Brief, den Caroline Schlegel ein paar Jahre später über den Besuch Bettines in München an ihre Tochter Pauline Gotter schrieb:

  • Wir haben hier eine Nebenbuhlerin von Dir, mit der ich Dich schon ein wenig ärgern muß, wie sie mit Dir. Da kürzlich in einem Almanach eine Erzählung von Goethe unter der Benennung »Die pilgernde Törin« stand, glaubt ich, er könnte niemand anders gemeint haben als eben Deine Nebenbuhlerin, doch paßt die Geschichte gar nicht, aber jener Name paßt wie für Bettina Brentano erfunden. Hast Du noch nicht von ihr gehört? Es ist ein wunderliches kleines Wesen, eine wahre Bettine (aus den venetianischen Epigrammen) an körperlicher Schmieg- und Biegsamkeit, innerlich verständig, aber äußerlich ganz töricht, anständig und doch über allen Anstand hinaus, alles aber, was sie ist und tut, ist nicht rein natürlich, und doch ist es ihr unmöglich, anders zu sein. Sie leidet an dem Brentanoischen Familienübel: einer zur Natur gewordenen Verschrobenheit, ist mir indessen lieber als die andern. [...] Manche fürchteten sich ihretwegen hinzugehen [zu dem kranken Wieland, den sie in München pflegte; G.M.], denn nicht immer gerät ihr der Witz, und kann sie wohl auch grob sein oder lästig. Unter dem Tisch ist sie öfter zu finden wie drauf auf einen Stuhl niemals. Du wirst neugierig sein zu wissen, ob sie dabei hübsch und jung ist, und da ist wieder drollicht, daß sie weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich, weder wie ein Männlein noch wie ein Fräulein aussieht.
    (Caroline. Briefe aus der Frühromanthik, Bd. 2, S. 544)

So ununterscheidbar, wohl auch für sich selbst, hat das Verwechselspiel von Natur und Kunst, Temperament und Erfindung, Trieb und Inszenierung erst wieder Else Lasker-Schüler getrieben.
War Bettine ein wenig exzentrisch? Sie war es weiß Gott, und zwar im allerwörtlichsten Sinne. Denn wie sollte sie auch einverstanden sein mit dem, was seinerzeit und später als »zentral« galt? In Frankfurt beispielsweise, wo - eine gebürtige Brentano - ihr Elternhaus stand, war das Zentrum beherrscht von den Interessen der Kaufmannschaft. Der Vater selbst ein Kaufmann - strebt nach hohen Ämtern in der Verwaltung der Freien Reichsstadt. Die italienische Herkunft der Familie war dabei eher im Wege. Für Bettine und ihren Bruder Clemens scheint hier die Opposition gegen das Philistertum begonnen zu haben. Als Clemens Brentano in Marburg studiert, liest er u.a. auch Basiles Ausgabe des italienischen Pentamerone, aus dem er für seine Märchen geschöpft hat. (Die Ausgabe im Besitz der Marburger Universitätsbibliothek hat Anstreichungen von seiner Hand.) In seinem Verhalten ahmt er den trinkenden, singenden, fröhlich-melancholischen Canzoniere nach, ja mehr, er wird dazu mit jener Begabung zur Simulation und Vervielfältigung der eigenen Identität, die, weil sie alles Artistische dem herkömmlichen Begriff nach weit hinter sich läßt, dämonisch heißen könnte. Das chimärische Leben der Simulation läßt dabei den kritischen Impuls der am Anfang war, durchaus hinter sich, wie ähnlich bei Bettina, deren schwärmende Neigung für die Mignon-Gestalt gleicherweise auf Kritik an der allzu berechnenden, ökonomisch haushälterischen Lebensführung des anpassungswilligen Vaters zurückgehen dürfte. Da kam die Erinnerung an die eigene unordentlich fremdländische Herkunft gerade recht. Wie in der Pubertät immer aufs neue die Kinder sich als Sprößlinge einer geheimnisvollen Mesalliance oder als unerkannte Waisen träumen, um den Abstand zu den leise oder heftig verachteten Eltern zu gewinnen, so auch hier. - Von einem italienischen Straßenhändler - il signor Pagliaruggi -, »die wahre Lockstimme für mich unwiderstehlich«, berichtet sie der Günderode - kauft sie übrigens einen grünseidenen Regenschirm für ihren Aufenthalt in Marburg, wohin sie ihren Schwager Savigny begleitet, der hier eine juristische Professur versieht. Als es dann wirklich regnet, hat sie den Schirm längst irgendwo stehenlassen - (Die Günderode, S. 427). Längst ist in diesen Jahren die bürgerschreckende Aktion zur Exaltation als Lebensform und Habitus geworden. Wie die Marburger Bettina gesehen haben mögen, können wir uns jetzt vielleicht schon etwas vorstellen. Wie sah Marburg aus in ihren Augen? Sie hat es geliebt. 1802 schreibt sie an Savigny aus Offenbach:

Ich habe eine große Sehnsucht nach Marburg, da wo die schönen Aussichten sind und der große Garten, wo Clemenz und Savigny abends ganz spät hingehen und sich am Abend erfreuen, wo morgens die große Sonne ins Fenster scheint und alles weckt, was ich recht liebe.

Sie hat diese Huldigung später noch ausführlicher begründet und nie eingeschränkt. In jenem Roman, mit dem sie, die 1785 Geborene, spät, im Jahre 1835, fünfzigjährig ihr literarisches Debut beging, steht eine schöne Beschreibung ihres »wunderlichen Lebens« in der Stadt an der Lahn; sie wird Caroline Günderode mitgeteilt:

Ich wohnte einen ganzen Winter am Berg dicht unter dem alten Schloß, der Garten war mit der Festungsmauer umgeben, aus den Fenstern hatt ich eine weite Aussicht über die Stadt und das reich bebaute Hessenland; überall ragten die gotischen Türme aus den Schneedecken hervor; aus meinem Schlafzimmer ging ich in den Berggarten; ich kletterte über die Festungsmauer und stieg durch die verödeten Gärten; - wo sich die Pförtchen nicht aufzwingen ließen, da brach ich durch die Hecken, - da saß ich auf der Steintreppe, die Sonne schmolz den Schnee zu meinen Füßen, ich suchte die Moose und trug sie mitsamt der angefrornen Erde nach Haus; so hatt ich an dreißig bis vierzig Moosarten gesammelt, die alle in meiner kalten Schlafkammer in irdnen Schüsselchen auf Eis gelegt mein Bett umblühten, ich schrieb ihr davon, ohne zu sagen, was es sei; ich schrieb in Versen: mein Bett steht mitten im kalten Land, umgeben von viel Hainen, die blühen in allen Farben, und da sind silberne Haine uralter Stämme, wie der Hain auf der Insel Cypros; die Bäume stehen dicht gereiht und verflechten ihre gewaltigen Äste; der Rasen, aus dem sie hervorwachsen, ist rosenrot und blaßgrün; ich trug den ganzen Hain heut auf meiner erstarrten Hand in mein kaltes Eisbeetland; - da antwortet sie wieder in Versen: »Das sind Moose ewiger Zeiten, die den Teppich unterbreiten, ob die Herrn zur Jagd drauf reiten, ob die Lämmer drüber weiden, ob der Winterschnee sie deckt, oder Frühling Blumen wecket; in dem Haine schallt es wider, summen Mücken ihre Lieder; an der Silberbäume Wipfel, hängen Tröpfchen Tau am Gipfel; in dem klaren Tröpfchen Taue, spiegelt sich die ganze Aue; du mußt andre Rätsel machen, will dein Witz des meinen lachen!
(Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, S. 57)

Der »Witz«, in dem die Freundinnen wetteifern, hat einen weiteren Sinn als die Geschicklichkeit im Rätselraten. Er bezeichnet das Vermögen und die Kunst, das mit den Augen Angeschaute in die tiefen Räume der geschichtlichen Zeitalter zu versetzen. So wird hier das Moos im Eis zum Sinnen-Bild eines uralt lebendigen Lebens, das gelegentlich in Starre fällt und schlafen mag, aber nur für Zeiten. Die Spaziergängerin in den Gärten, Wiesen und Wäldern um das alte Schloß ist immer in zwei Welten unterwegs: in der hessischen Landschaft, die sie mit liebender Genauigkeit wahrnimmt, und in einer übersinnlichen Sphäre der Imagination, in der sie das sinnlich Wahrgenommene in einen geistigen Sinn übersetzt. In der spirituellen Ordnung ihrer Phantasie haben sich in den Moosen um ihr Bett die heiligen Haine von Cypros verborgen. Die Briefe, die sie in dieser Zeit mit ihren ähnlich gestimmten Freunden wechselt, haben allemal diesen Charakter von sinnlich-übersinnlichen Übersetzungsübungen. Das Ewige, Schöne und Bedeutende ist stets gegenwärtig, nur darf es an Witz nicht fehlen, um eines im anderen zu erkennen: das Uralte und Erhabene im Unscheinbaren des Marburger Alltags, das Alltägliche andererseits im Erhabenen. In den Briefen entsteht ein Zwischenreich, in dem beides sich ineinander spiegelt. Es ist müßig zu fragen, ob sie der Literatur oder dem Leben zugehören, denn die sie schreiben, wollen ja gerade diese Trennung nicht gelten lassen. Die säuberliche Scheidung beider ist für sie wie für ihren Bruder Clemens, für Savigny, den Mythologen Creuzer und die Günderode, für ihren späteren Mann Achim von Arnim und die befreundeten Brüder Grimm, kurz für den gesamten romantischen Kreis dieser Jahre zwischen Heidelberg und Frankfurt, Marburg und Berlin ein untrügliches Merkmal des Philiströsen, dem sie den Kampf angesagt haben.
Wie mancher Marburg heute am liebsten von weitem, so scheint Bettina es besonders gern von oben angeschaut zu haben. An der Festungsmauer, die den großen Garten umgibt, findet sie ihren Lieblingsplatz, eine Turmwarte:

wie war mir da, wie ich plötzlich durch Schnee und Mondlicht die weitverbreitete Natur überschaute, allein und gesichert, das große Heer der Sterne über mir! - So ist es nach dem Tod, die freiheitstrebende Seele, der der Leib am angstvollsten lastet, im Augenblick da sie ihn abwerfen will; sie siegt endlich und ist der Angst erledigt; - da hatte ich bloß das Gefühl, allein zu sein, da war kein Gegenstand, der mir näher war als meine Einsamkeit, und alles mußte vor dieser Beseligung zusammensinken.
(Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, S. 58)

Dort oben, womöglich auf der Brustmauer sitzend, hat sie auch den Jahreswechsel von 1805 auf 1806 verbracht:

Es war in der Neujahrsnacht; ich saß auf meiner Warte und schaute in die Tiefe; alles war so still - kein Laut bis in die weiteste Ferne, und ich war betrübt um die Günderode, die mir keine Antwort gab; die Stadt lag unter mir, auf einmal schlug es Mitternacht, - da stürmte es herauf die Trommeln rührten sich, die Posthörner schmetterten, sie lösten ihre Flinten, sie jauchzten, die Studentenlieder tönten von allen Seiten, es stieg der Jubellärm, daß er mich beinah wie ein Meer umbrauste; - das vergesse ich nie, aber sagen kann ich auch nicht, wie mir so wunderlich war da oben auf schwindelnder Höhe, und wie es allmählich wieder stille ward und ich mich ganz allein empfand. 
(Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, S. 59)

Von der winterlichen Einsamkeit Marburgs, von dem engen, beschränkten Kreis seiner Geselligkeiten, von dem »Nest«, wo sie ganz als Einsiedler würde leben können, hatte die Günderode Bettina gesprochen (Die Günderode, S. 437), und dieser entgeht auch das alles nicht. Doch nimmt sie es wie den Winter, den sie als »Frühlingspause« erlebt und in dem sich jeden Augenblick das Leben erneuern kann: wie beim festlichen Eintritt ins Neue Jahr. Wenn sie beim Spazieren botanisiert, um Hinweise auf ein werdendes Leben zu finden - »Die Zeit würde aufhören, wär die Natur nicht mehr frühlingsbegeistert« -, oder wenn sie ein Bauernmädchen ausfragt nach Liedern für Des Knaben Wunderhorn, dem Bruder und seinem Freund Achim von Arnim zu Gefallen, stets stemmt sie sich auf solchen Suchen nach Lebensspuren gegen das Verdorren und Erkalten im Tod: »das ganze Leben ist bloß Zukunftsbegeisterung«, »denn sonst ist's Tod« (Die Günderode, S. 468).
Ist dieser Trotz gegen das Sterben nicht überhaupt einer der mächtigsten Impulse dieser Frau gewesen? Hier steht er gegen die Todeslust der Günderode, die sich im selben Jahr noch das Leben nehmen wird aus untröstlichem Schmerz über die Treulosigkeit des geliebten Creuzer. Einen heftigen, einen dämonischen Sog durch den Tod muß aber auch Bettine selbst erfahren haben; Faszination und archaisches Grauen. Ihre ungestümen Liebeswünsche, die sie - scheinbar unstet und mehr in die Liebe als die Geliebten verliebt - bald auf den Bruder, dann die Freundin, bald auf den verehrten Goethe, dann Arnim, den Fürsten Pückler oder Max von Freyberg richten mag, sind in ihrer fast verzweifelten Intensität immer wieder erneuerte Versuche, Terrain gegen den Tod zu gewinnen.
Als sie Goethe über ihre Liebe zu Achim von Arnim schreibt, heißt es:

was kann man anders machen, hinten und vorne steht der Tod, da muß man sich freilich das Leben herbeiziehn, um ihm zu trotzen, und er ist so friedlich, er besänftigt mich, wenn ich stumm und traurig bin, und hat ja auch ein lieb Lied gemacht:

Lieben und geliebt zu werden
ist das größte Glück auf Erden.
(Bettinas Leben und Briefwechsel mit Goethe, Nr. 10)

Doch eilen wir mit diesen Hinweisen auf die Ehe mit Arnim schon ein Stück weit voraus und wollen doch erst noch das Gesichtsfeld Bettines in Marburg um ein folgenreiches Ereignis ergänzen. Der erste und wichtigste Mensch, den sie hier kennenlernt, ist ein Handelsjude mit Namen Ephraim. Beredt schildert sie der Günderode sein schönes Äußeres: die orientalische Physiognomie, sein würdevolles ruhiges Verhalten, als er der Professorenfrau, bei der Bettina logiert, einige altertümliche Kleider abkauft, angestrahlt vom Abendrot. Wie »Dämmerung über einer erhabenen Natur« empfindet sie sein Wesen, und sie spricht mit ihm darüber, als sie ihn wiedertrifft, »vorurteilsfrei und zutraulich« (Die Günderode, S. 442). In der inneren Verwandtschaft, die sie fühlt, kommt für sie die Gemeinschaft der Außenseiter zum Ausdruck - auch hier schwingt wieder der Klang von Mignons Liedern mit , eine geheime Gemeinde seit altersher im geschichtlichen Dämmerlicht, auf die sie sich beruft gegen die helle Tageswelt des bourgeoisen Lebens, durch das sie wie traumwandelnd geht mit einem wachen Auge für die Zeichen der Zukunft im Ehrwürdigen und Vergangenen. Sie nimmt Unterricht bei diesem greisen Philosophen für die Welt, als den sie ihn rasch kennenlernt, und wenn sie später die vier Marburger Wintermonate aus der Erinnerung verklärt: »ich konnte sie nicht schöner zubringen [ ... ] Natur und tiefer Geist, die haben mich hier freundlich empfangen, die zwei Genien meines Lebens«, so spricht sie vom Geist des  Juden Ephraim, nicht dem der Universitätsstadt, und von Ephraim hat sie das Wort, mit dem sie den Günderode-Roman endet: »Alles Werden ist für die Zukunft« (Die Günderode, S. 533). - In Frankfurt, so beschließt sie, will sie auf das Leben der  Juden im Ghetto achtgeben.
Am ehesten findet sie sonst dieses verborgen Zukünftige im fröhlichen Leben der Studenten wieder, das von den bürgerlichen Sorgen noch nicht verdorben ist. Zu den Jungen hatte sie ein begeistertes Verhältnis, ununterscheidbar, ob erotisch entzündet, ästhetisch oder philosophisch, wie denn wohl auch nicht viel daran liegt, auseinanderzuhalten, was hier seine höchste Intensität gerade durch die wechselseitige Steigerung erfährt. Mit einer glücklichen Wendung schreibt Bettina später an den Bruder Clemens: »Und die Jugend ist doch durch und durch elektrisch« (Frauen der Goethezeit, S. 595f.
Lebelang hat Bettina diese Zuwendung zu den Jungen aufrechterhalten, wie denn auch andere in dieser Frühzeit empfangene Eindrücke bestimmend für ihr Leben bleiben. Tatsächlich ist auch die Öffnung des Blicks für das Schicksal der Juden in Deutschland der Anfang einer lebelangen Parteinahme. Auch sie steht zunächst im Zeichen der Opposition gegen die Bürgerwelt ihrer Vaterstadt. Vor der zunftungebundenen Judenschaft haben die Frankfurter Kaufleute lebhafte Konkurrenzangst, so daß sie noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Gelegenheit auslassen, die jüdischen Rechte gering zu halten. So haben sie auch das Ghetto, das 1812 unter Napoleon nach der Einnahme Frankfurts zugleich mit der Herstellung der Rechtsgleichheit der  Juden aufgehoben worden war, 1816 sogleich wieder eingerichtet, einschließlich des Widerrufs der Bürgerrechte. - Bettine deckt den Widerspruch zwischen den ökonomischen Interessen der eigenen Familie und deren menschenfreundlich philantropischem Selbstverständnis auf, wenn sie die Sache der Juden gegen den auch in der eigenen Familie vertretenen Antisemitismus zu ihrer eigenen macht; übrigens auch Goethe gegenüber, den sie über die jüdischen Belange informiert.
Nach Frankfurt am Main, wo sie geboren wurde, weisen viele Fragen nach den Antriebskräften von Bettinas späteren Ansichten und Verhalten zurück, auch später noch, längst nach ihrem Umzug nach Berlin 1910, wo sie dann die längere Zeit ihres Lebens über bleiben wird bis zu ihrem Tode im Jahr 1859. Zwischen Frankfurt und Berlin ist ihr Leben gespannt wie eine Saite. Dort, in der Geburtsstadt, wird sie gehalten; hier, in der Stadt ihres literarischen und gesellschaftlichen Erfolges, stimmt sie diese Saite auf das hohe Niveau ihrer Lebensansprüche, dessen Voraussetzung und Berechtigung für sie in der intellektuellen und sozialen Verankerung im geistigen Milieu ihrer Herkunft liegen. - Marburg war für Bettina eine kurze Episode, wenn auch eine charakteristisch durchlebte. - Spätestens hier wird es nun aber Zeit, einige der Umstände ihres Lebens der Reihe nach mitzuteilen.
Kaum ließen diese sich würdiger denken. Auf Mutter und Großmutter fällt Licht von Goethes Sonne. Sie hatten sie indessen kaum nötig. Die Großmutter Sophie La Roche war eine der ersten selbständigen Schriftstellerinnen in deutscher Sprache, die mit ihrem Roman Fräulein von Sternheim weltberühmt geworden war, ohne daß es dazu ihrer Freundschaft mit Wieland und der Verehrung durch Goethe bedurft hätte, der ihr im 13. Buch von Dichtung und Wahrheit ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Sie verband eine sorgfältig gepflegte Empfindsamkeit, die sie in den zartesten und rührendsten Wendungen mitteilen konnte, mit einem lebhaften Sinn für die Geschäfte des Lebens, worüber sich ihre Enkelin später scharfsichtig lustig macht. Auf diese Geschäftstüchtigkeit geht wohl auch die Verbindung ihrer ältesten Tochter Maximiliane, der von Goethe mit liebevoller Aufmerksamkeit bedachten Maxe, mit dem Großkaufmann P.A. Brentano zurück, einem phantasiearmen, doch einflußreichen Mann von bedeutenden Mitteln und Ämtern. »Goethe hat die kleine Brentano über den Geruch von Öl und Käse und das Betragen ihres Mannes zu trösten«, will das Schandmaul J. H. Merek erfahren haben.
Als Bettina acht ist, stirbt ihre Mutter Maximiliane. So wird sie mit ihrer Schwester Meline zur weiteren Erziehung in die Obhut der Nonnen des Klosters zu Fritzlar gegeben, in dessen Hof noch heute ein Baum die eingeschnittenen Initialen Bettines tragen soll. Sie lernt dort Handarbeiten anzufertigen, die allgemein gerühmt werden, vor allem aber auch, ihren Eigensinn zu behaupten gegen alle möglichen Bevormundungen. Zum Dank schickt sie den frommen Frauen später Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, und diese bedanken sich zünftig. Sie können nämlich mit dem weltfrommen Buch nicht warm werden, oder vielmehr erst, nachdem sie es schaudernd verheizt haben. - Als 1796 auch der Vater in Frankfurt stirbt, kommt sie in das Offenbacher Haus ihrer Großmutter, wo sie vom 12. bis zum 17. Lebensjahr lebt. Dort, wo ein reges geselliges Leben herrscht, denn Sophie La Roche schreibt noch bis ins hohe Alter und empfängt Besuch aus aller Welt, erhält sie ihre eigentliche Bildung und lernt ihre Weltgewandtheit. Doch hat sie auch ein regelrechtes Lernpensum zu bewältigen: Geschichte, Musik und Zeichnen - sie komponiert später eigene Lieder und läßt ein Goethe-Denkmal fertigen nach Entwürfen von eigener Hand -, alte Sprachen und die griechisch-römische Literatur, Französisch natürlich. Englisch wird sie später auf eigene Faust lernen, um ihr erstes Buch auch in England herausbringen zu können. Sie lernt es so schnell und leicht, daß sie es tatsächlich schafft, einen bedeutenden Teil selbst ins Englische zu übersetzen. Aber sie behält zu solchen Fertigkeiten ein sehr selbstkritisches Verhältnis. Denn auch hier fürchtet sie ein inneres Austrocknen und verwahrt sie sich gegen die tote Gelehrsamkeit des Bildungsbürgertums. In dem späteren Roman aus dem Günderode-Briefwechsel steht, aus dem Jahre 1805 datiert, ein Brief, der ganz im Sinn der ersten Romantiker Generation um Friedrich Schlegel und Novalis erläutert, was allein ihr als wahrhafte Bildung gelten soll:

Heute nachmittag brachte der Büri der Großmama ein Buch für mich Schillers Ästhetik - ich sollt's lesen, meinen Geist zu bilden; ich war ganz erschrocken, wie er mir's in die Hand gab, als könnt's mir schaden, ich schleudert's von mir. - Meinen Geist bilden! - Ich hab keinen Geist - ich will keinen eigenen Geist; am Ende könnt' ich den heiligen Geist nicht mehr verstehen. - Wer kann mich bilden außer ihm. - Was ist alle Politik gegen den Silberblick der Natur! - Nicht wahr, das soll auch ein Hauptprinzip der schwebenden Religion sein, daß wir keine Bildung gestatten das heißt kein angebildet Wesen, jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich zutage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder ein Quell, die ganze Bildung soll darauf ausgehen, daß wir den Geist ans Licht hervorlassen. Mir deucht mit den fünf Sinnen, die uns Gott gegeben hat, können wir alles erreichen, ohne dem Witz durch Bildung zu nahe zu kommen. Gebildete Menschen sind die witzloseste Erscheinung unter der Sonne. Echte Bildung geht hervor aus Übung der Kräfte, die in uns liegen, nicht wahr? - Ach, könnt ich doch alle Ketten sprengen, die uns daran hindern, jeder innern Forderung Genüge zu leisten; - denn dadurch allein würden die Sinne in ihre volle Blüte aufbrechen.
(Die Günderode, S. 340)

»Schwebend« ist diese Religion, weil ihre Erfüllung aussteht. Bildung bedeutet hier nicht das Beherrschen eines Lernstoffs, sondern eine Produktivität, die den Geist in der Nähe sichtbar macht. Dem Werdenden in Natur und Geschichte nachzuspüren, das ist die Parole Bettinas, mit der sie sich dem jüdisch-messianischen Zukunftsdenken näher weiß als ihrer christlichen Erziehung. Insofern auch ist die innere Nähe, die sie zu dem alten Marburger Juden fühlt, mehr als eine romantische Flause. - In unserem Jahrhundert sind es auch wiederum Juden gewesen, die ihr eigenes Denken als wahlverwandt mit dem utopischen der Frühromantik empfunden haben: Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor W Adorno. -
Bei der Günderode im Frankfurter Cronstettschen Stift lebt Bettine nun auch, wenn sie nicht in Offenbach bei ihrer Großmutter oder den älteren Geschwistern bzw. im Haushalt des Schwagers Savigny in Landshut, Marburg und später auch in München ist. Alleinstehend, ohne eigenen Hausstand, hatte man es als Frau nicht einfach. So zigeunert sie durch halb Deutschland, um irgendwo zur Ruhe zu kommen, erst recht nach dem Selbstmord der Günderode im Jahr 1806. Im selben Jahr lernt sie in Frankfurt die alte Rätin Goethe kennen, in der sie einen Ersatz der eigenen so früh gestorbenen Mutter und der Freundin zu finden scheint, die sich vor ihrem Freitod schon von Bettine abgewandt hatte. Zu den Füßen der alten Frau sitzend, läßt sie sich aus Goethes Kindheit und aus den Frankfurter Erinnerungen der Rätin erzählen. Durch diese tritt nun auch sie - nunmehr in der dritten Generation ihrer Familie - in den Bannkreis Goethes. Als sie 1843, ganz im Gefolge der politischen Aufklärung noch des 18. Jahrhunderts, ein Buch der Fürstenerziehung schrieb - »Dies Buch gehört dem König«, nannte sie es, um den Schutz Friedrich Wilhelms IV vor der Zensur anzurufen -, legt sie ihre politische Philosophie einer liberalen bürgerlichen Selbstverwaltung mit einem Minimum an repräsentativer Gewalt der Mutter Goethes in den Mund - aus persönlicher Verehrung und als Geste des Respekts vor der Frankfurter Freien Reichsstadt, die sie aus Preußisch Berlin erst schätzen lernt. Ein Jahr nach der Bekanntschaft mit Goethes Mutter lernt sie diesen selbst 1807 in Weimar kennen und sogleich auch lieben.
Wie ihre größte Begabung im Rühmen anderer lag, so hat sie ohne zu lieben nicht leben wollen. Die Willkür, die in solcher noch ganz unpersönlichen Vorentscheidung für den jeweiligen Geliebten liegen mag, hat sie durch bedingungslose Hingabe an den gesühnt, auf den gerade ihre Wahl gefallen war. »Ich wollte mich lieber tot wünschen als übrig sein; ich bin es aber nicht, denn ich bin Dein, weil ich Dich erkenn in allem«, schreibt sie 1808 an Goethe (Bettinas Leben und Briefwechsel mit Goethe, Nr. 9), und etwas später: »mein Gemüt wehrt sich gegen sonst nichts, als nur gegen Nichts, - Gegen dies Nichts, das einen beinah überall erstickt« (Bettinas Leben, Nr. 16). So tritt Goethe in ein Liebesvakuum ihres Lebens. Sie hätte ihn aus Stolz und Selbstachtung erfinden müssen, wenn es ihn nicht schon in Weimar gegeben hätte, denn ihre Erwartungen an einen Geliebten waren hoch. In der Liebe standen für sie Gewinn oder Verlust des eigenen Selbst auf dem Spiel. Alles auf die Liebe setzend, war sie ohne Verständnis, wenn sie diesen Absolutismus nicht erwidert fand. Andererseits brauchte sie kaum Resonanz. »Du strahlst in mich wie die Sonne in den Cristal und kochst mich wie diese immer reiner und klarer aus«, schreibt sie an Goethe im gleichen Jahr (Bettinas Leben, Nr. 16). Durch ihre selbstlose, gar unerwiderte Liebe findet sie die Bedingungslosigkeit ihres Begehrens noch geläutert und erst völlig dem Handel von Liebe und Liebeslohn, dem Schacher von Gabe und Gegengabe entzogen, der für sie die Leidenschaften im bürgerlichen Leben kompromittierte. Über Hölderlin, dessen dichterische Bedeutung sie als eine von Wenigen sofort erkannte, schreibt sie an die Günderode: »ich darf ihn hier in Frankfurt gar nicht nennen, da schreit man die fürchterlichsten Dinge über ihn aus, bloß weil er eine Geliebt hat, um den Hyperion zu schreiben, die Leute nennen hier lieben: heiraten wollen [...]« (Frauen der Goethezeit in ihren Briefen, S. 544). Die Liebe hat danach ihr Recht und ihre einzige Verantwortung beim Liebenden, nicht dem Geliebten. Es ist diese Gesinnung Bettines, an die Rilke später bewundernd erinnert, als er im Malte Laurids Brigge eine Liebe zu denken versucht, die unabhängig vom Geliebten ihre absolute Reinheit durch Selbstlosigkeit gewinnt.
Es ist aber wohl schwerlich Sache von Männern, diese Haltung zu verklären; dazu ist sie zu schwer mit der Hypothek des Ausschlusses von Glücksmöglichkeiten belastet, die Männer selbstverständlich einfordern und in Anspruch nehmen. So möchte ich sie denn hier auch eher als den Ausdruck einer Einsamkeit anführen, aus der die aus sich selbst Begeisterte den zweifelhaften Gewinn ziehen möchte, von niemandem, vor dem nicht von Männern abhängig zu sein. Eine ewige Jungfernzeugung im Geiste ist die perverse Wunschvorstellung, die diesem Solipsismus entspricht, finden Frauen wie Bettina doch den angemessensten Partner noch immer in sich selbst: »oft liege ich abends oder vielmehr nachts im Fenster und habe ganz herrliche Gedanken, wie es mir scheint; ich freue mich dann über mich selbst, meine Begeisterung begeistert mich sozusagen ... « (Die Günderode, S. 543). Diese Entzündung und Fortzeugung aus selbsterhaltener und -erneuerter Energie überträgt sie auch auf ihr Verhältnis zum Briefeschreiben, wenn sie gelegentlich ausruft: »seid fruchtbar ihr Briefe und mehret euch«, als bedürfe es kaum noch der Anstöße von außen (Die Günderode, S. 546). - Ein zunehmender Wirklichkeitsverlust war die naheliegende Folge. Christiane Vulpius jedenfalls war von der Kompliziertheit des Liebesverhältnisses, das Bettina zu Goethe eher erfand als im bürgerlichen Sinne unterhielt, bis zur Verstimmung überfordert.
Goethe, der zunächst die schwärmerische Zuneigung der jungen Frau genossen hatte, entzog sich ihr später. Immerhin besucht sie ihn auch noch 1810 und 1811, doch dann erst wieder nach über zehnjährigem Abstand 1824. Bedeutend ist er in ihrem Leben immer geblieben, weit über den Reiz der erotischen Beziehung hinaus. Wie in all ihren Lieben hat sie auch in dieser das persönlich Intime in den Rang einer metaphysischen Passion gesteigert (einer durchaus weltlichen gleichwohl), weshalb sie die Veröffentlichung des - wenn schon bearbeiteten - Briefwechsels auch nicht als Selbstentblößung empfinden konnte. In so hohem Maße hatte ihr eigenes Leben die Form und Festigkeit eines Kunstprodukts angenommen, so konsequent hat sie es aus der Logik der Bildungsphilosophie einer »schwebenden Religion« geführt, daß es darin nichts mehr zu geben schien, was nicht als Zeichen eines höheren Sinns zu denken war. Ist ihre Schamlosigkeit, wie Kritiker gelegentlich den Freimut ihrer Briefromane nannten, nicht die Unbedenklichkeit eines Menschen, der den entblößten Leib vor profanen Blicken sicher glaubt, weil er selbst den Kopf über den Wolken trägt?
Von den fürstlichen Persönlichkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts wird berichtet, daß sie sich umstandslos vor ihrer Dienerschaft entblößten, weil sie kein Privates hatten, was nicht als Zeichen eine öffentliche Bedeutung repräsentiert hätte und insofern über alle persönliche Neugier unendlich erhaben war. Auf die bürgerliche Sphäre übertragen verhält es sich wohl mit der romantischen Veröffentlichung des Persönlichen vergleichbar. Es ist ein Versuch, für das private Leben von Liebe und Freundschaft eine ähnliche Würde und Erhabenheit zu beanspruchen; nicht im Rahmen einer bürgerlich repräsentativen Öffentlichkeit, sondern in der Beziehung auf die »werdende Zukunft« aus dem Geist der Liebe, also als Anleihe auf eine höhere menschliche Bildung. Von 1817 ist ein Brief Bettines an Goethe aus Berlin datiert, dessen Postscriptum sich auf den Brand des Schauspielhauses bezieht. Aus ihm läßt sich gut lesen, wie persönliche Verehrung, Metaphysik und Politik in der Vorstellung der Schreiberin zusammengehen:

Den Tag, nachdem ich dieß geschrieben, geriet das Comödienhaus in Brand; ich ging nach dem Platz, wo tausende mit mir dies unerhörte Schauspiel genossen: die wilden Flammendrachen rissen sich vom Dache los und ringelten sich nieder oder wurden von Windstößen zerrissen; die Hitze hatte die schon tröpfelnden Wolken verzehrt oder zerteilt, und man konnte durch die rote Glut ruhig ins Antlitz der Sonne sehen, der Rauch wurde zum rötlichen Schleier, das Feuer senkte sich in die inneren Gemächer und hüpfte von außen hier und dort auf dem Rand des Gebäudes umher; das Gebälk des Daches war in einem Nu in sich herein gestürzt, und das war herrlich! nun muß ich Dir auch erzählen, daß es währenddessen in mir jubelte; ich glühte mit, der irdische Leib verzehrte sich, und der unechte Staat verzehrte sich mit; man sah durch die geöffnete Tür, durch die dunklen toten Mauern alle Fenster schwarz, den Vorhang des Theaters brennend niederstürzen; nun war das Theater im Augenblick ein Feuermeer, jetzt ging ein leises Knistern durch alle Fenster, und sie waren weg; ja wenn die Geister solcher Elemente einmal die Flügel aus den Ketten los haben, dann machen sie es zu arg; in dieser anderen Welt, in der ich nun stand - dach' e ich an Dich, den ich solange verlassen hatte. Deine Lieder, die ich so lange nicht gesungen hatte, zuckten auf meinen Lippen ... ja es war gut: mit diesem Haus brannte ein dumpfes Gebäude nieder, frei licht wards in meiner Seele, und die Vaterlandsluft wehte mich an.
(Bettinas Leben und Briefwechsel mit Goethe, Nr. 60)

Wir wissen übrigens, daß diese Szene zumindest noch einen anderen ähnlich interessierten Beobachter hatte: mit blitzenden Augen, halb verborgen durch einen flatternden Fenstervorhang: E.T A. Hoffmann.
Untrennbar eng sind in Bettines Beschreibung - und mit wie furioser Meisterschaft ist nicht allein diese beschreibende Prosa ausgeführt! - der Brand des Staatstheaters und die Vision eines Zusammenbruchs des falschen Theater-Staats ineinandergebildet. Mit anarchisch lodernder Begeisterung sieht sie dieses schönste Stück, das im Schauspielhaus je inszeniert wurde, als Vorspiel einer neuen vaterländischen Zukunft. Wenn Goethes Lieder ihr dabei einfallen, so wird uns deutlich, daß sie in ihm auch den Dichter der Revolte gegen den Plunder des Ancien Régime verehrt hat, wie ähnlich Beethoven, den sie 1810 besuchte, und sie sah jeden auf seine Weise den Brand schüren, von dem sie das morsche Gebäude des absolutistischen Ständestaates verzehrt sehen wollte.
Seit 1810 mit Achim von Arnim verheiratet - zur Zeit des Brandes hat sie mit ihm bereits fünf Kinder -, lebt Bettina von Arnim auf dem märkischen Gut Wiepersdorf und in Berlin; nach 1831, dem Todesjahr ihres Mannes inzwischen hat sie sieben unmündige Kinder, das jüngste gerade vier Jahre nur noch in der Hauptstadt Preußens. Sie gilt nun als Symbol der liberaldemokratischen Opposition, die sie persönlich zunächst als verehrende Freundin des Königs, später dann desillusioniert, als scharfe Kritikerin des Monarchen und gar der ständischen Monarchie austrägt, gegen die sie die Souveränität des Volkes stellt. Ohne zu zögern nimmt sie Partei für die »Göttinger Sieben« und für die Freilassung des polnischen Patrioten Mieroslawski, verwendet sie sich für den lebenslänglich eingesperrten Kinkel, der an der 48er Revolution teilgenommen hatte, und sammelt sie durch einen öffentlichen Aufruf Material für ein »Armenbuch«, in dem sie das soziale Elend in den Berliner Armenvierteln dokumentieren möchte. Keine Frage, daß sie Marx, mit dem sie 1842 in Kreuznach zusammengetroffen war, bald sehr viel näher stand als ihren Standesgenossen. Mit roter Tinte damit die »rote Farbe der Beschämung auf den Wangen eines hochlöblichen Magistrats widerscheine« - gibt sie der Berliner Stadtverwaltung bereits 1842 Nachhilfe in politischer Ökonomie:

Der Schatz der Armen besteht im angebornen Reichtum der Natur, das Verdienst des Bürgers im Anwenden und Ausbeuten dieses Naturreichtums, welchen er vermittels seiner tätigen Gewandtheit und zum eigenen Vorteil derjenigen Menschenklasse zuwendet, deren Hochmut, Verwöhnung und geistige Vorbildung alles verschlingt, eben weil sie keine Produktionskraft hat.
Die Gründe also, warum ich den Proletarier am höchsten stelle, ist, weil er der Gemeinheit enthoben ist, als Wucherer dem Weltverhältnis etwas abzugewinnen, da er alles gibt und nicht mehr dafür wieder verzehrt, als er eben bedarf, um neue Kräfte zum Gewinn anderer sammeln zu können.
(Frauen der Goethezeit in ihren Briefen, S. 610)

Noch bis ins Alter bleibt sie lernfähig und bereit, sich bewegen zu lassen. In einem »Polenaufruf« schreibt sie an die Linke der deutschen Nationalversammlung, um für die Unterstützung des polnischen Freiheitskampfes und für die Aufklärung des eigenen Volkes zu werben, so wie sie zuvor für die Sache der Tiroler, später für die der Ungarn geworben hat. Wo immer sie Volksinteressen auf dem Spiel stehen oder Minderheiten und Wehrlose in Gefahr sah, war auf sie zu zählen. Kein Wunder, daß sie zum Gespött der Höflinge wurde - um so ungeschützter, als ihre persönliche Moral eine Unterscheidung des angetanen Unrechts - ob wichtig oder weniger wichtig - kaum zuließ. Zu politischer Klugheit fehlte ihr der Opportunismus, ja selbst die List mittelbarer Wirksamkeit. So muß Alexander von Humboldt gelegentlich vermitteln, um den gegen Bettina aufgebrachten König zu beschwichtigen oder auch, um ihre Bittgesuche auszurichten. Nur mit knapper Not entgeht sie auch in einem zivilrechtlichen Prozeß mit dem Magistrat, der sie schikaniert, der Verurteilung.
Fast alle politischen Aktivitäten Bettines bleiben mehr oder weniger erfolglos. Die Brüder Grimm, zu den Göttinger Sieben gehörend, beruft der König zwar noch nach Berlin auf ein Versprechen hin, das er Bettina als Kronprinz gegeben, danach versagt er sich aber ihren Eingaben mit zunehmender Entschiedenheit. Stand Bettina auf verlorenem Posten? Ja, aber sie stand dort nicht allein. Achim von Arnim hat zu ihr gehalten, auch in den Alltagssorgen um den Haushalt und um die Krankheiten der Kinder. Er ist ihr ein wirklicher Freund gewesen, wie - allem Literaturklatsch zum Trotz der Briefwechsel der beiden es beweist. Freilich war sie auch in den praktischen Dingen weltläufiger und geschickter als er, ganz gegen die Erwartung, die ihr phantastisches Wesen erwecken mochte. Freundschaftliche Loyalität hat sie schließlich auch bei Frauen gefunden: Rahel von Varnhagen, die in Berlin am längsten noch an der frühromantischen Salon-Tradition emanzipierter Frauen festhielt, und bei ihrer Tochter Gisela, die ihre demokratischen Auffassungen teilte.
Fast hätte ich mit diesen allgemeinen Worten einer berichtenden Würdigung meinen Versuch eines Portraits abgeschlossen, als ich beim Blättern noch auf einen Brief Bettines an ihren Mann stieß, der aus Berlin geschrieben ist, wo sie mit den fünf Kindern - vier Jungen und einem Mädchen lebt, während er gerade wieder für länger auf dem Gut Wiepersdorf unabkömmlich zu sein scheint. Ich habe mir diesen Brief als Warnung vor allzu harmonisierenden und geglätteten Lebensbildern zu Herzen genommen und will ihn auch hier nicht vorenthalten. Die Schreiberin hat mit ihren Söhnen soeben Schularbeiten gemacht:

Ich komme eben davon her, daß ich Siegmund geschlagen habe, daß ihm die Nase geblutet hat, er ist mit Wörtern und Güte durchaus zu nichts zu bewegen; daß ich dabei meine Gesundheit aufopfere, ist natürlich, die Max ist ebenso von einer Bosheit, die nicht zu bändigen ist, und dabei spricht sie das lächerlichste Zeug, daß einem die Haare zu Berge stehen und ich es nicht wage aufzuschreiben. Freimund ist wirklich eine gute Natur, und auch Kühnemund läßt sich von Biedermann zurechtweisen, Friedmund hat einen beleidigenden Trotz; ich fühle, wie wesentlich deine Gegenwart hier wäre, besonders am Anfang, damit sie mit dem Lehrer in ein ordentliches Verhältnis kämen; Du glaubst aber auf dem Lande notwendiger zu sein, obschon die Betrügerei mit dem Brote während Deiner Anwesentheit war und Du auch bis jetzt noch keinen Streit und Zank verhindern konntest ... Wenn ich Dir die Wahrheit sagen soll, so hat es mich oft gekränkt, Dich um solcher Lappalien wegen ganze halbe Tage verlieren zu sehen; ich weiß zwar, daß Du manches Gute gestiftet hast, allein gerade was am wesentlichsten ist, kannst Du von hier aus auch besorgen. Sei nur nicht böse auf mich, ich hab heute schon zu viel ausgestanden, die Szene mit Siegmund hat mir heftigen Magenkrampf zugezogen; bei diesem Schreckensleben verändert sich meine Natur alle 3 Tage, ich bin auch so ermattet, daß ich abends gar nicht mehr ausgehe, sondern mich müde und tränenschwer zu Bette lege; ich sage Dir also, daß Deine Gegenwart hier höchst notwendig ist; und daß ich es nicht mehr ertrage, hier allein mit den Kindern zu sein [ ... ] Und ich beschwöre Dich: nicht so bald als möglich, sondern gleich hierherzukommen und Deinen Kindern vorzustehen und Deine Wirtschaft mit Vertrauen auf Gott dem Gruhl zu rekommandieren. Wenn Du mir darin nicht willfahrest, so wälz ich alle Schuld auf Dein Haupt. Ich weiß, daß ich allein nichts ausrichte, und kann nicht länger widerstehen; Du mußt selbst einsehen, daß es für mich kein Amt ist, 4 Knaben von dieser Heftigkeit in Ordnung zu erhalten. Die Max allein macht mir Not genug, die Kinder sind ganz außer allen Banden und haben die unsittlichsten Erfahrungen gemacht. Ich erwarte Dich also ganz gewiß und hoffe, daß es Dir wesentlicher deucht, Deinen Kindern zu helfen als dem Vieh.
(Achim und Bettina in ihren Briefen, S. 416ff)

Ich möchte diese Sätze, die nicht als ein endgültiges Urteil der Schreiberin über Achim von Arnim zu lesen sind, auch die letzten Federstriche meines Portraits sein lassen. Sie zeichnen in heftiger und nervöser Schraffur den alltäglichen Lebenshintergrund Bettines. Vielleicht lassen sie besser als alle allgemeinen Worte die Energie und Liebesfähigkeit ahnen, die nötig waren, um diesem Leben einige Bedeutung abzugewinnen.