Dann wär' es für die Frau wohl an der Zeit, Gottes Tochter zu werden.
(Ernst Rosmer: Maria Arndt, S. 27)
Mit diesem so genügsamen wie für seine Zeit bemerkenswerten Satz resümiert Maria Arndt in dem gleichnamigen Schauspiel von Ernst Rosmer (d. i. Elsa Bernstein-Porges) das Programm der gemäßigten Frauenbewegung der Jahrhundertwende. Zehn Jahre zuvor hatte die österreichische Autorin Emil Marriot (d. i. Emilie Mataja) in dem Thesenstück Gretes Glück die zerstörerischen Folgen bourgeoiser Ehemoral am Beispiel einer in die finanziell vorteilhafte Ehe gedrängten und über den ehelichen Erfahrungen wahnsinnig werdenden Frau dargelegt. Dagegen setzt nun Rosmer in Maria Arndt die Forderung nach Aufklärung und Bildung der Töchter; dagegen setzt Marie Madeleine (d.i. Marie Madeleine von Puttkamer) die Komödie um Das bißchen Liebe, in welcher ein unerschöpflicher materieller Fonds der Heldin erlaubt, die Regeln im Spiel der Geschlechter selbst zu bestimmen.
Drei Schriftstellerinnen aus zwei Generationen melden sich mit brisanten dramatischen Texten zu Wort und werden an namhaften Bühnen der Moderne gespielt: Marriot an der Berliner Freien Bühne (1897), Marie Madeleine am Intimen Theater in Nürnberg (1905), Rosmer am Münchner Schauspielhaus (1908). War also Gottes Tochter auch wieder Thaliens und Melpomenens Günstling geworden? Ist sie durch solche Ausgrabungen aus jenem Klischee zu befreien, in dem der Name Charlotte Birch-Pfeiffer synonym für das Trivialstück stehen kann, die einzige derzeit anerkannte (deutsche) Dramatikerin dagegen, Marieluise Fleißer, zu ihrer (Wieder-) Entdeckung eines männlichen Stammbaums bedurfte?
Der Weg zurück zu den Quellen, zu Spielplänen und Uraufführungsberichten, lohnt sich. Die Zahl der Schriftstellerinnen, welche den doppelten Tabuverstoß wagten und die Grenzen der Gattungen überschritten, um ihre Interessen in die Öffentlichkeit der Theater zu bringen, verblüfft. Gleichwohl ist es mit dem Schwelgen in Trouvaillen nicht getan. Denn die Reverenz vor den Verdrängten und Vergessenen, welche sie um dessentwillen wieder ins Gespräch bringen will, weshalb ihnen der Zugang in den Kanon kultureller Tradition verwehrt wurde, ihres Geschlechts, kann das Interesse zwar wecken; in der Diskussion ihrer historischen Präsentation aber kann nicht dabei stehen geblieben werden, soll die Praxis ihrer Ausgrenzung nicht in der freiwilligen Abkoppelung vom historischen Prozeß fortgeschrieben werden. Zumal der Euphorie der Wiederentdeckung der Lektüreeindruck die Waage hält: Ein schaler Geschmack bleibt zurück, hervorgerufen durch den Eindruck übergroßer Zaghaftigkeit vieler Frauendramen jener Zeit, einer formalen und ideologischen Rückversicherung auch und gerade dort, wo weibliche Belange ins Spiel gebracht werden. Er kann sich zur Verärgerung verdichten, wenn die Autorinnen gar zu anbiedernd patriarchalische Klischees zu ihren eigenen machten oder aber wenn sie gar zu zaghaft-opportunistisch mit weiblicher Ohnmacht und weiblichem Leid »kokettierten«.
Um Mißverständnissen zu begegnen: Ist mit dieser Kritik auch ein anderer Maßstab an die zur Diskussion stehende Dramatik angelegt, der sich dem Verdacht aussetzt, das weibliche Geschlecht zur Projektionsfläche eines besseren - sprich: weniger korrumpierten Menschen zu machen, so verlangt nicht nur die Wahrnehmung ihre Ausschließung aus dem Kanon des Erinnerungswerten diese Produktion als die der Anderen ernst zu nehmen. Soll der Blick zurück mehr bringen als die Bestätigung erlittener Unterdrückung, dann muß auch der Konsens, welcher die Opfer reproduziert, indem er sie nur als solche gelten läßt, aufgebrochen werden.
Der gewählte Zeitraum - der beginnenden und sich entfaltenden Moderne um die Wende zum 20. Jahrhundert - bietet sich für die Suche nach der vergessenen Dramatikerin und ihrer Konfrontation mit dem Theaterbetrieb an. Die Voraussetzungen scheinen günstig. Seit den späten 80er Jahren machte die Frauenbewegung verstärkt von sich reden und zwang die politische und kulturelle Öffentlichkeit des Kaiserreichs, die Frauen und ihre »Frage« wenigstens - und sei es in der Abwehr - zur Kenntnis zu nehmen. Den Schriftstellerinnen bot sie den notwendigen Rückhalt, um mit ihren Belangen auf den literarischen Markt zu treten. Zur gleichen Zeit gewann das Theater in der Folge der Literaturrevolution der Jungen eine neue Experimentier- und Diskussionsbereitschaft, die es in der Zweiteilung eines routinisierten, pragmatisch-organisierten Spielbetriebs zum einen, akademisch-epigonaler Festschreibung dramaturgischer Regeln zum andern in den vorhergehenden Jahrzehnten verloren hatte. Zwar taten sich auch die Schriftstellergenerationen der beginnenden Moderne in der Doppelstrategie literarischer Innovation, welche zugleich Gewinnung und Behauptung von Marktanteilen war, mit der weiblichen Konkurrenz schwer, doch die ihnen gelingende Öffnung der Bühnen, die Wendung zu neuen Stoffen und zu kleinteiligen, offenen, epischen Formen könnte eine Chance bedeuten auch für die Erprobung eines weiblichen Beitrags - wie auch immer der aussehen mag - in der Entwicklung von den Forderungen an ein zeitgemäßes Theater entsprechenden Dramenfonnen.
Durchaus programmatisch ist daher auch die Aufnahme des Artikels Neunhundert Jahre Frauendrama von Amalie von Ende im ersten Jahrgang der Theaterzeitschrift Bühne und Welt (1899, S. 1105 ff.) zu verstehen, schien damit doch eine Grenzziehung angetastet, mit der, hartnäckiger als in anderen literarischen Gattungen, die dramatische Form als männliches Reservat behauptet wurde. Als solches hatte sie einhundert Jahre zuvor Friedrich Schlegel in einer der ersten Zuschreibungen zu charakterisieren versucht. Was in der Diotima jedoch noch eine explizit gegen den apodiktisehen Oktroi sich verwahrende Annäherung an geschlechtsspezifisch definierte »Begeisterung« (S. 97) war, dies hatte sich im Literatur- und Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts zur Regel verfestigt. Das Rührstück einer Johanna Franul von Weissenthurn, Amalie Heiter (d. i. Amalie Herzogin von Sachsen) oder Charlotte Birch-Pfeiffer war zwar als Kassenfüller und Virtuosenfutter geduldet, ja konnte, prestigearm, wie diese Theaterproduktion war, zu einer weiblichen Domäne stilisiert werden, für das »hohe Drama« jedoch glaubte man, in Spielplänen wie dramaturgischen Schriften auf weibliche Einmischung verzichten zu können.
Mit dem Auftreten Ernst Rosmers, 1893 von der Freien Bühne in Berlin in die Theaterszene eingeführt, versprach für eine kurze Phase der Des- und Neuorientierung die Dramatikerin wieder salon- oder sezessionswürdig zu werden. Ihren Namen halten die Chroniken der Zeit fest; doch in der Form der Anerkennung bereits bahnt sich die Ausschließung von neuem an, kann doch Rosmer als Repräsentantin »dieser echt weiblichen Stimmungskunst« (Edgar Steiger: Von Hauptmann bis Maeterlinck, S. 327) nicht normative Gattungsdefinitionen von männlich/dramatisch und weiblich/undramatisch widerlegen. Ihr Schreiben, gewertet als Resultat der »Weibnatur« (Rudolf Lothar: Das deutsche Drama der Gegenwart, S. 167), bestätigt vielmehr eine Geschlechtsmetaphorik, die als Stilmetapher für die »passiven Helden« und novellistischen Strukturen der naturalistischen und impressionistischen Dramatik favorisiert wurde und die in der Beurteilung der Dramatikerin zu sexistischen Tautologien führen muß. Folgerichtig werden dann die Dramatikerinnen, welche den stilkünstlerischen Gegenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts verpflichtet sind, eine Carolina Woerner oder Hanna Rademacher, ihres Geschlechts beraubt. Ihre Anerkennung - wenn sie denn erfolgt - gilt, explizit gegen das Geschlecht der Autorin gesetzt, der »mannhaften Frau« Julius Bab: Spieldramen, S. 330). Da auch die zeitgenössischen Monographien über Die Frau in der modernen Literatur kaum von überkommenen Wertungen absehen und die zur Erklärung erfahrener Ausschließung bemühte Definition des Dramas als Resultat einer »Herrscher-« (Ella Mensch: Die Frau, S. 73) oder »Herrennatur« Johannes Wiegand: Die Frau, S. 60) nur zu leicht Argument zu deren Beibehaltung wird, schließt sich die schmale Öffnung der Gattungsgrenzen, kaum zeichnete sie sich ab. - »Ich glaube überhaupt nicht, daß eine Frau, die glückliche Gattin und Mutter ist, der Welt noch viel als Dramenschriftstellerin zu sagen hat.« Denn »die starke Auslösung der Kräfte, die bei der physischen Geburt stattgefunden, hat auf die geistige Konzentration verteilend gewirkt, sie aufgehoben. Die Natur verfährt eben sehr ökonomisch.« Mit solchem keineswegs originellen - Verdikt über der Mißerfolg der Frau als Dramenschriftstellerin schließt Ella Mensch 1910 in Bühne und Welt (S. 158f) die Diskussionen einer Epoche ab, an denen sie - Literatur- und Theaterkritikerin in Darmstadt und Redakteurin der Frauenrundschau in Berlin - engagiert und kontinuierlich teilgenommen hatte, u. a. mit einem Konversationslexikon der Theater-Litteratur, das zu den raren Schauspielführern zählt, die Frauendramen berücksichtigen, und mit einem Artikel über Die Frauen und das Theater, der neben der Kritik des männlichen Theaterapparats vor allem ein Plädoyer für die Theaterkritikerin war. Die dort behaupteten weiblichen journalistischen Qualitäten, die in der »ehrlichen Hingabe an die Sache« (S. 128) liegen sollen, belegt Ella Mensch mit dem Mißerfolgsartikel freilich nicht, brechen doch die von ihr angeführten dramatischen Beispiele dort ab, wo bereits ihre Monographie über Die Frau in der modernen Litteratur 1898 geendet hatte.
Solcher Ignoranz kam die Aufführungspraxis in den Zentren der Moderne entgegen, und ein wenig ist bei diesen Verhältnissen und Verhinderungen noch zu verweilen, bevor die Dramenproduktion der Schriftstellerinnen diskutiert werden kann. Voran in Berlin, seltener in Wien, wo weder die strikte Opposition avantgardistischer Bühnen gegen die etablierten Häuser, noch der »literaturrevolutionäre« Impetus in der Radikalität der Berliner zu finden ist, werden die Dramatikerinnen verbannt auf die Matineen der Vereinsbühnen. Diese hatten seit der Gründung der Freien Bühne (1889) die Funktion der Vorreiter für das Theater übernommen; was für die Dramatiker jedoch Sprungbrett zu ihrer Karriere wurde, wird für die Schriftstellerinnen zur Sackgasse.
Schon die erste Aufführung einer Autorin auf der Freien Bühne - fünf von insgesamt 27 ihrer Stücke waren von Frauen geschrieben - fällt aus der Programmatik dieses epochemachenden Vereins heraus, gegen Zensur und indolente Geschäftstheaterdirektoren neue Autoren durchsetzen zu wollen. Im Anschluß an Otto Erich Hartlebens skandalversprechende Angèle (1890), »nach einem höchst bedenklichen Wagnis« also, wurde Marie von Ebner-Eschenbachs Einakter Ohne Liebe »kredenzt als Tasse Thee zur Niederschlagung des Alkohols«, wie Erich Schmidt (Charakteristiken 2, S. 299) den Aufführungsmodus der Freien Bühne kommentierte.
Ebner war dreißig Jahre zuvor mit dem Vorsatz aufgetreten, »das deutsche Theater zu reformieren« (Anton Bettelheim: Marie von Ebner Eschenbach's Wirken und Vermächtnis, S. 23). Das Ausmaß dieser intendierten Grenzüberschreitung ist zu ahnen in den Aufzeichnungen des Karlsruher Theaterleiters Eduard Dewient, der 1861 die Maria Stuart in Schottland des vermeintlichen Herrn von Eschenbach angenommen hatte. Nicht nur bricht, als er die Identität der Autorin erfährt, das Interesse an dem »außerordentlichen Talent« (Eduard Dewient: Aus seinen Tagebüchern, S. 393) abrupt ab, Jahre später noch notiert er als einzig Festhaltenswertes einer Begegnung: »Ihr Aussehen ist erschreckend häßlich« (S. 423).
Wird sie nun, da sie schon lange als Dramatikerin resigniert hatte und sich mit der »bescheidensten Form« (Marie von Ebner-Eschenbach: Aus meinen Kinder- und Lehrjahren, S. 83), der Erzählung, begnügte, zusammen mit Ibsen und Anzengruber zur Schutzpatronin der Freien Bühne erhoben, so mag dies für sie - gemessen an einstigen Demütigungen und Enttäuschungen - ein schwacher Trost gewesen sein. Den Vorteil hatten die Jungen, die sie noch ein zweites Mal, mit der Aufführung von Am Ende, zusammen mit Gretes Glück 1897 gespielt, als Versicherung für ihre Risikofreudigkeit nutzten, auch wenn ihr deren Reverenz den Zugang zum Burgtheater öffnete. Beide Einakter, Plaudereien voller satirischer Spitzen gegen die kaiserlich-königliche Aristokratie, wurden dort 1898 und 1900 der greisen Jubilarin präsentiert. Lief sie gleichsam außer Konkurrenz, so verdankt Ernst Rosmer zwar einen Gutteil ihres Ruhms dem Freien-Bühne-Kreis, doch die Ehre blieb folgenlos. Gemessen an ihrem Ruf ist Rosmers Aufführungsbilanz mager: Sechs ihrer dreizehn zwischen 1891 und 1910 veröffentlichten Schauspiele, Künstlerdramen, »Frauenstücke«, Antikenbearbeitungen und Mysterien, wurden nie auf einer Bühne erprobt, eines nur, die Königskinder, wurde fester Repertoirebestandteil, was es nicht Rosmers Versen verdankt, sondern Humperdincks Musik, den anderen fehlt der Nachspielerfolg. Ihr Debütstück, Dämmerung (Freie Bühne, 1893), bleibt über Jahre hinweg Vereinsbühnen vorbehalten und wird erst zehn Jahre nach der Uraufführung von zwei regulären Bühnen übernommen. Als Jubiläumsvorstellung erinnert es nun an einstige »revolutionäre Kampfzeiten«, als aktueller Beitrag zum Spielplan wird es nicht diskutiert. Ohne auch nur eine solche verzögerte Wirkung bleibt Mutter Maria, aufgeführt 1901 in der Freien Bühne, als diese zu einer Werkstattbühne Otto Brahms herabgekommen war. Weder Rosmers Totengedicht in fünf Wandlungen noch Marriots Kampfstück wurde die Ehre einer Übernahme in den Abendspielplan von Brahms Deutschem Theater zuteil.
Dafür zeitigte die Ausquartierung von Autorinnen auf Vereinsbühnen in der Reichs- und Theaterhauptstadt mitunter kuriose Folgen. So sind z.B. die Gebrauchsstücke von Elsbeth Meyer-Förster in Berlin - nach den Uraufführungen in der Provinz - nur in literarischen Matineen zu sehen. Dort aber gehören sie nicht hin, denn sie können durch solchen Etikettenschwindel nur den fragilen Ruf der Dramatikerin noch weiter diskreditieren. So bleiben die Schauspiele Clara Viebigs, durchaus zwischen denen eines Gerhart Hauptmann und Max Halbe vorstellbar, in Berlin der Neuen Freien Volksbühne (Barbara Holzer, 1896) und Martin Zickels literarischer Gesellschaft (Der Kampf um den Mann, 1905-1908) vorbehalten. So bedurfte selbst die Einführung eines der raren Erfolgsstücke, Annie Neumann-Hofers Kollegen (1901), Max Reinhardts Brettlbühne Schall und Rauch, ohne daß dieser Erfolg der Autorin zum Durchbruch verholfen hätte. Neumann-Hofer tingelte auch weiterhin mit ihren Stücken durch die Provinz, versuchte sich kurze Zeit eine eigene Bühne zu schaffen, das Residenztheater in Köln (1908), ohne je Boden zu gewinnen. Allein ihre Kollegen erreichten eine dreistellige Aufführungsziffer; sie verdanken diese der locker unverbissenen Darstellung des beliebten Themas vom Geschlechterkampf in einer Kunst- und Ehekollegialität, die - sei es aus Souveränität oder aus Konzessionsbereitschaft - auf die wütende Schärfe, damit aber auch auf die Eindringlichkeit des Meisters dieser Spezies, August Strindberg und seiner Kameraden, verzichtet. Doch selbst dieser Erfolg machte den jungen Unternehmer Max Reinhardt nicht experimentierfreudiger - was dramatische Werke von Frauen betrifft. An seinen Bühnen genoß das Privileg einer Aufführung in den folgenden Jahren nur mehr eine Märchenautorin und die Holländerin Josina Adriana Simons-Mees. Nicht günstiger sieht es an den anderen sich etablierenden Bühnen der Berliner Moderne aus. Mit Ausnahme Rosmers bleiben die Spielpläne Otto Brahms frauenfrei; Victor Barnowsky im Kleinen Theater (1905-1912) kam völlig ohne weibliche Autoren aus, worin sich diese künstlerisch führenden Häuser übrigens nicht von ihrem konservativen Antipoden, dem Königlichen Schauspielhaus in Berlin, unterscheiden.
Die Zurücksetzung der Frauen in den theatralischen Aktivitäten der Moderne ist nicht unabhängig von Verschiebungen in der künstlerischen Selbstdarstellung der Avantgarde und damit - muß daran erinnert werden? - der gesellschaftlichen Entwicklung zu sehen. Denn anders als im überschaubaren Kreis der Provinzstädte - und hier wurden Dramatikerinnen als »Lokalgrößen« in »ihren« Stadttheatern gespielt - war in der im letzten Drittel des 19 .Jahrhunderts sprunghaft gewachsenen Millionenstadt Berlin mit der Dissoziation bürgerlicher Schichten auch die Differenzierung und Spezialisierung im Unterhaltungsangebot fortgeschritten, welche die Besinnung auf dem Theater eigene und nur ihm verfügbare künstlerische Mittel verlangte. Die Zeichen wiesen auf Regietheater. Mit diesem aber wurde weiblicher Einfluß in der Institution weiter zurückgedrängt, beruhten doch die besonderen Wirkungsmöglichkeiten der Frau im Theater auf der Präsenz ihrer Person und ihres Körpers, mit allen Chancen und Risiken eines solchen Einsatzes und fallweise mit erheblichem (indirekten) Einfluß verbunden. Mit der Differenzierung und Hierarchisierung des Theaterbetriebs als Agentur bürgerlicher Selbstdarstellung aber waren ihr die Kompetenzen, über die sie als Prinzipalin wandernder Truppen einst verfügt hatte, entzogen worden. Wollte sie nun eingreifen in die Entscheidungsprozesse, blieb ihr nur, ihre Launen ins Spiel zu bringen oder die künstlerisch fortgeschrittenen Zentren zu verlassen. Als Gastspielvirtuosin von außen eingreifend oder an den Rändern der Theaterlandschaft, in der Provinz, konnten sich Theaterleiterinnen im 19. Jahrhundert behaupten, während Frauen in den Metropolen nur mehr selten die (Ko-)Direktion eines Privattheaters übernehmen oder Pächterin eines Stadttheaters werden.
Diesen Prozeß der Verdrängung aufzuhalten und als Regisseurin Autorität zurückzugewinnen gelang in der Umbruchphase der Jahrhundertwende nicht. Vorstöße zwar wurden gemacht, aber die Prozesse der Freisetzung künstlerisch-theatralischer Mittel im Theater der Moderne und gesellschaftlicher Frauenemanzipation verliefen zu zeitverschoben. Von unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen herkommend, mußten auch die Ziele und Mittel divergieren; die künstlerischen Emanzipationsansätze fielen - anders als die sozialen aus dem Spektrum öffentlicher und gegenöffentlicher Interessen heraus. Die Diskussion über Die Regisseurin - von einer ob ihrer Launenhaftigkeit berühmten Schauspielerin Adele Sandrock, 1898, d.h. kurz vor ihrem durch Krach provozierten Abgang vom Burgtheater, in der Wiener Rundschau angeregt, weil sie es »absurd« findet, »über das weibliche Milieu, welches sie [die Bühnenkünstlerin] zur vollen Verkörperung ihrer Rolle nöthig erachtet, erst einen Mann zu Rathe ziehen [zu] müssen; [...] nur eine Regisseurin wird sich da völlig hineinzuversetzen vermögen« (Adele Sandrock: Die Regisseurin, in: Wiener Rundschau, III, S. 506) - diese Diskussion gelangte über Ansätze nicht hinaus. Denn die Kollegen greifen zwar Sandrocks Vorstoß auf aber nur, um ihn abzufangen und ihre Privilegien neu zu sichern. In der Deutschen Bühnen-Genossenschaft wird zum Thema Weibliche Regisseure (1898, S. 271 u. ö.) - so heißt es nun - eingeladen, und die Zuschriften der Bühnenkünstlerinnen und Schriftstellerinnen werden zensiert. Da auch unter letzteren dramatische und theatralische Interessen die längste Zeit zugunsten der Minderung sozialer Probleme zurückgedrängt blieben - erst 1913 entstanden in Berlin innerhalb des Deutschen Schriftstellerinnenbundes (gegr. 1896) und in München Initiativen, um, wie die Schaubühne meldet, »der Frauendramatik vorwärtszuhelfen« (1913, S. 934) - beide Unternehmen versandeten jedoch so sang- und klanglos, wie sie entstanden waren - gelingt es den im Theater arbeitenden Frauen nicht, ein Forum zur Organisation ihrer künstlerischen Interessen zu schaffen. Als 1911 die Regisseure sich zusammenschlossen, geschieht dies über die Köpfe der Frauen hinweg. Im Mitgliederverzeichnis der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände, veröffentlicht im ersten Jahrgang der Scene (1911, S. 47f ), ist unter den 97 ordentlichen Mitgliedern eine Frau zu finden: Rosa Lischka-Raul in Kattowitz.
Nun ist, um auf die Wirkungsmöglichkeiten der Dramatikerin zurückzukommen, eine Affinität der Regisseurin oder Theaterleiterin zu den Schauspielen ihrer Geschlechtsgenossinnen nicht vorauszusetzen. Doch der Exkurs war geboten, um den Spielraum innerhalb der Theater abzustecken; die Strategien dramatischen Schreibens können nicht unabhängig davon beurteilt werden. Zudem ist mit dem Beruf der Bühnenkünstlerin eine der wenigen Möglichkeiten für die Töchter des Bürgertums angesprochen, sich dem direkten Zugriff der bürgerlich-patriarchalischen Familie zu entziehen. Noch um die Jahrhundertwende können viele der für das Theater schreibenden Frauen auf schauspielerische Erfahrungen zurückgreifen. Sie beherrschen das Handwerkszeug, aber ihre Stücke bleiben meist an den Mustern des konventionellen bürgerlichen Dramas orientiert, affrmativ in den bühnentechnischen Mitteln wie in dem Frauenbild, das sie als regressives Ideal entwerfen.
So kamen auch die Impulse für das Theater der Jahrhundertwende von außen, aus der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde. Die schweifenden Erfahrungen der diese Gruppierungen tragenden Söhne aber waren den Töchtern des Bürgertums jenseits des schauspielerischen Berufs verwehrt. Zwar eroberten sie sich seit den 80er Jahren die Studienmöglichkeit in der Schweiz, doch dem (moralischen) Druck der deutschen Gegner des Frauenstudiums ausgesetzt, folgte dieses anderen Bedingungen als das Studium in den deutschen Zentren, wo sich die wechselnden Zirkel der Boheme bildeten. In diesen Kreisen war zwar die reproduzierende Künstlerin gerngesehener Gast, die produzierende blieb auch hier Außenseiterin, fern einer gruppenbildenden Rolle. Dementsprechend begegnen um die Jahrhundertwende keine selbständigen Theaterleiterinnen der Moderne - solche treten zeitverschoben in der Weimarer Republik auf - sondern weiterhin in der Tradition des Virtuosentums stehende Bühnenkünstlerinnen, darunter eine Selma Erdmann-Jesnitzer in Bremen. An sie war 1906, nach dem Tode ihres Mannes, des bisherigen Theaterpächters, das Bremer Stadttheater vergeben worden. Dagegen protestierte die Berliner Schaubühne (Marsyas: Verwitwete Theaterdirektionen, S. 671f), wobei nicht dem individuellen Fall und der Qualifikation der ehemaligen Schauspielerin und Bühnenschriftstellerin Erdmann-Jesnitzer der Einwand galt, sondern prinzipiell dem Vorgang des »Witwenerbes«, einer in der Theaterprovinz des 19. Jahrhunderts häufig begegnenden Praxis der Bühnenübernahme. Das Veto signalisiert das Ausgreifen der Moderne in die Provinz, die Verringerung der Ungleichzeitigkeiten, in denen eine gewisse Chance für Bühnenkünstlerinnen im 19. Jahrhundert gelegen hatte.
Einem Nachholbedarf, der Notwendigkeit, aufholend Schritt zu halten in künstlerischen Institutionen, die sich an ihnen vorbei entwickelt hatten, sahen sich auch die Schriftstellerinnen gegenüber, die mit Blick auf das Theater schrieben. Damit wird nicht etwa das ästhetische Vokabular der Jahrhundertwende als Maßstab gesetzt, wohl aber ist es als formaler und ideologischer Ausdruck der Zeit verbindlich zu nehmen, von dem bei der Beurteilung der Dramatikerinnen nicht abzusehen ist. So wenig es jedoch um den Beweis eines »Auch-Könnens« gehen kann, so wenig wird eine Darstellung der Frauendramatik in der nachvollziehenden Zuordnung zu den »-ismen« der Jahrhundertwende gelingen. Zu fragen ist vielmehr, wie Schriftstellerinnen der Diskrepanz zwischen den im Schatten bürgerlicher Öffentlichkeit gewonnenen Erfahrungen und den Gesetzen der eine öffentliche Wirkung unmittelbar voraussetzenden dramatischen Form begegneten, und ob sie, vielleicht, diese zur Artikulation ihrer Interessen zu nutzen verstanden. Dies heißt aber auch, daß eine im Detail erkennbare Betroffenheit nicht für das Ganze stehen kann.
Wie die literarische war die gesellschaftliche Situation des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch Aufbrüche gekennzeichnet, die Folge und Ausdruck nicht mehr zu retuschierender Widersprüche waren - einer zunehmenden Kapitalkonzentration und einer wachsenden Proletarisierung, einer schwindenden materiellen Sicherheit des Kleinbürgertums und eines Überhangs ideologischer Muster bürgerlich-patriarchalischer Lebensweisen. Mit dem Aufdecken der in unerfüllbar gewordenen Postulaten an die gesellschaftliche Institution der bürgerlichen Familie liegenden Widersprüche setzten die Literaturrevolutionäre im naturalistischen Familiendrama ein. Unmittelbar konnten Frauen sich hier einmischen; die realgeschichtlichen Erfahrungen wie die ihnen verfügbare Tradition des bürgerlichen Schauspiels drängten zu einer Verarbeitung ihrer Rolle in der bürgerlich-patriarchalischen Familie. In hohem Maße ist daher zwar keineswegs die gesamte, aber die brisanteste Dramatik von Frauen in jener Zeit auch im Subjekt der Konflikte eine »Frauendramatik«: Ehefrauen, Mütter, Töchter in der Bindung an ein gesellschaftliches Modell, in dem sie die ihnen zugewiesene Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Doch so sehr sich die Konzentration auf familiale Konflikte anbot - als gesellschaftlicher Raum, der im konkreten Aufzeigen der Unfreiheit auch die Möglichkeit einer Befreiung ahnen ließ - so lag darin die Gefahr einer fortdauernden Ausschließung aus gesellschaftlichen Erfahrungen, zumal die Muster des bürgerlichen Dramas um die Jahrhundertwende nur mehr aufgegriffen werden konnten, um sie - wie ein Schlagwort der Zeit lautete - zu überwinden. Die Öffnung aber zu umfassenderen gesellschaftlichen Räumen und dramatischen Modellen machten die Schriftstellerinnen nur selten mit. Ihr Blick bleibt auf das Naheliegende, auf den binnenfamilialen Raum konzentriert. Damit aber fließen kaum je die zeitgenössischen Diskussionen um Alternativen zu verordneten Weiblichkeitsbestimmungen innerhalb der Familie, um Bildungs- und Berufsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, in die soziale Definition der Frauengestalten, geschweige denn in die Konfliktkonstellation ein. So wird die Stärke zur Schwäche, zu einer freiwilligen und historisch nicht mehr gerechtfertigten Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten und notwendigen Relativierungen familialer Erfahrungen, welche die Frauen zwingt, in der Perspektive der dramatischen Konflikte an der Unfreiheit in der Familie als einzig ihnen verfügbarer Raum festzuhalten.
Bestätigung für den bekannten weiblichen Blick - nah und umfassend zugleich -, aber auch für die gern betonten dramaturgischen Schwierigkeiten von Schriftstellerinnen bietet der Erstling einer österreichischen Autorin und ehemaligen Schauspielerin, Richard Nordmann (d. i. Margarete Langkammer). Ihre in der Tradition des österreichischen Volksstücks stehenden Gefallenen Engel 1892 im Deutschen Volkstheater Wien uraufgeführt, faszinieren in der Exposition, einer genauen Darstellung weiblicher Handlungsmöglichkeiten in der Bindung an brüchig gewordene Autoritätsstrukturen in der kleinbürgerlichen Familie. Im Schatten des Ernährers, der seine Rolle kaum mehr, weder materiell noch symbolisch, erfüllen kann und der doch für Frau und Tochter in der Definition ihrer sozialen Stellung maßgeblich bleibt, entwickeln sie ihre Aktivitäten. Sie können jedoch ihrer Aufgabe, den Schein bürgerlicher Wohlanständigkeit auch noch in der materiellen Defizienz zu wahren, nur durch den Verstoß gegen die moralischen Grundsätze der sie bindenden und ihr privates Handeln deckenden bürgerlichen Gesellschaft gerecht werden. In kleinen Täuschungsmanövern, obskuren finanziellen Geschäften und einem Verhalten, das die Grenze zur Kuppelei bzw. Prostitution streift, wollen sie sich gegen die desolaten materiellen Bedingungen behaupten, schreiben jedoch nur die Abhängigkeit für ihr Geschlecht - »erzogen zum >Warten auf eine gute Partie!<« (Richard Nordmann: Gefallene Engel, S. 38) - fort.
In der Doppelhandlung um die Familie des subalternen Beamten Nowak sucht Nordmann die korrumpierenden Auswirkungen des patriarchalischen Systems darzulegen, wenn sich an der sechzehnjährigen Linerl, unter dem Einfluß der auf die »gute Partie« spekulierenden Frau Nowak, die Erfahrungen ihrer Mutter Johanna wiederholen - Linerl geht am Ende mit einem jungen Bourgeois durch - Johanna selbst aber, mißtrauisch gegen die Erziehungsmaximen der Mutter, Frau Nowak, geworden, fühlt sich in dem Lügennetz gefangen, das die Frauen zur Vertuschung von Linerls Herkunft gesponnen haben und sieht sich außerstande, aus den korrupten Verhältnissen auszubrechen, da man sie zwar »viel [hat] lernen lassen, aber alles nur halb« (S. 67). Durch die Einbeziehung sich ergänzender und indirekt kommentierender Frauengestalten und durch eine breite Exposition, in der viel von Männern die Rede ist, die Szene aber den Frauen gehört, kann Nordmann die Bedingungen weiblicher Existenz nachzeichnen, ohne sie auf ein individuelles Schicksal zu reduzieren, dem in moralisierender Kritik zu begegnen wäre und ohne die Frauengestalten zu falscher Ohnmacht zu verurteilen. Indem sie vielmehr die Opfer, handelnd in der Abhängigkeit falschen Bewußtseins, als Täterinnen zeigt, weist sie auf die Möglichkeit eines anderen Handelns hin. Nicht gelungen ist Nordmann jedoch die Verbindung der gegenläufigen Handlungsstränge und die szenische Durchführung der Motive. Vor allem im letzten Akt entgleitet ihr der Stoff. Mehr als einmal werden hier Zufall und Mißverständnis zu dramaturgischen Nothelfern, haben Selbstgespräche und Briefe die Motivation der Figuren zu erläutern, schließlich kippt das Stück in melodramatische Effekte um.
Stärken und Schwächen des Schauspiels scheinen nur zu geeignet, bestehende Vorurteile eines >typisch weiblichen< Schreibens zu bestätigen. Wenn die Zeitgenossen dies nicht erkannten, so lag das an Nordmanns Taktik; sie war eine der wenigen Schriftstellerinnen, die ihre Identität mit dem Debüt nicht preisgab. Spekulationen knüpften sich an das Pseudonym, doch der Vermutung, daß sich dahinter »eine Dame verberge« (Magazin für Literatur, 1892, S. 749), schien das »starke Theatertalent« (Fritz Mauthner: Theater, S. 760) zu widersprechen, so daß, als Margarete Langkammer bei der Premiere ihres zweiten Stücks, der Überzähligen (Raimundtheater Wien 1895), der Mystifikation ein Ende setzte, die Kritik glaubte, »sehr gute Gründe zu haben, die eine mindestens ausschließliche Autorschaft der Frau Langkammer nicht sehr wahrscheinlich machen« Jakob Julius David: Geistiges Leben in Wien, Sp. 163).
Das Familiendrama der Überzähligen profitierte von dem Aufsehen dieser Debatten. Bei dem dritten Schauspiel jedoch, der Adelssatire Halbe Menschen (Deutsches Volkstheater Wien 1899), holte Nordmann die Meinung der Kritiker ein. Sie zog nach der zweiten Vorstellung das Stück zurück (Das Literarische Echo, 1898/99, S. 725). Das stärkste Schauspiel schrieb sie dann mit dem Blauen Bogen. Sie kann hier, im Kampf eines Subalternbeamten, der durch die Idee zu einer gesetzlichen Altersversorgung mit der »großen Politik« kollidiert, präziser und ökonomischer den dramatischen Konflikt gestalten und auf Behelfsfiguren und spektakuläre Bühneneffekte verzichten, ohne in der Prägnanz der Figuren- und Milieuzeichnung nachzulassen. Doch von der österreichischen Zensur verboten, in Leipzig 1903 uraufgeführt und von der deutschen Kritik als nicht aktuell gerügt, »da wir ja längst die Altersversorgung [...] besitzen« (Wilhelm Henzen: Bühnentelegraph, S. 1058), besiegelte der Blaue Bogen nur das Ende einer Karriere, die nicht stattfinden durfte. Es ist das letzte von Nordmann veröffentlichte Schauspiel.
Die unterschiedlichen dramaturgischen Qualitäten der Gefallenen Engel und des Blauen Bogens sind nicht nur einer wachsenden Erfahrung im Umgang mit der Gattung zuzuschreiben; auch die Stoffwahl muß berücksichtigt werden. Denn der Konflikt der nur reaktiv handelnden Gefallenen Engel ist bei weitem stärker von der ihr Verhalten bedingenden Milieuzeichnung und von außen gesteuerten Impulsen abhängig. Um die Handlungsunfähigkeit milieudeterminierter Figuren dramatisch zu gestalten, behalf sich das Drama der konsequenten Naturalisten mit einem Nordmanns dramaturgischen Nothelfern vergleichbaren Kniff, dem »Boten aus der Fremde«, dessen Auftreten eine Scheinhandlung initiiert. Doch eben dieses Muster ist für eine engagierte Frauendramatik nicht übernehmbar, wenn es gilt, sich von dem Klischee weiblicher Ohnmacht zu befreien. Die Listen der Ohnmacht aber öffentlich, im Drama, auszustellen, dies widerspricht dem Prinzip dieser Listen wie dem Konfliktmuster des bürgerlichen Schauspiels. So sind auch Nordmanns Volksstücke, obwohl sie einer österreichischen Variante des deutschen Naturalismus nahestehen, nicht den ästhetischen Gruppierungen der Moderne zuzurechnen. Diese Distanz gibt der Autorin einen gewissen Freiraum - gegenüber der Anlehnung oder Unterordnung unter die zeitgenössische moderne Gestaltung des Geschlechterverhältnisses aus maßgeblicher, sprich: männlicher Sicht, die bereits bei den Naturalisten hinter die kritisch aufzeigende und verwerfende Dramatik Ibsens und Anzengrubers zurückgefallen war. Der Rückgriff auf Traditionen des Volksstücks, für den unter den österreichischen Autorinnen der Jahrhundertwende noch auf Antonie Baumberg hinzuweisen wäre, die in ihren besten Stücken wenigstens herrschende Muster unterläuft, scheint demgegenüber für die Behauptung weiblicher Interessen besser geeignet. Durch die weniger strikte formale Reglementierung, die offene Form - die Figuren in ihren sozialen Kontakten darstellend kann für die Frauengestalten die lähmende Isolierung im bürgerlichen Haushalt vermieden werden, wie durch die weitaus geringere moralische Disziplinierung auch der Frauengestalten, die sie zur Opferrolle im bürgerlichen Schauspiel prädestinierte, ihnen im Volksstück bessere Karten zugespielt werden können.
Den deutschen Autorinnen des Heimatstücks demgegenüber, Anna Croissant-Rust mit Der Bua (1897) und Clara Viebig, gelingt die Darstellung der Notwendigkeit des Aufbruchs im Moment des Zerbrechens patriarchalischer Bindungen nicht. Aus einem fortgeschrittenen Grad gesellschaftlicher Umstrukturierung stellen sie vielmehr ihre Protagonistinnen in retrospektiv angelegte Konflikte, die diese auf eine faktisch bereits von ihnen verlassene Ordnung rückverpflichten. Daß Viebig dabei niemals dem Wunschbild einer konfliktfreien Idylle »Land« verfällt, trennt sie, wie die Selbständigkeit ihrer Frauengestalten, von der Heimatkunstbewegung. Indem sie aber in den Eifelstücken Barbara Holzer und Das letzte Glück (Schauspielhaus Frankfurt a. M. 1909) die materiellen Existenzkämpfe der Bauern auf die Besitzkämpfe der Frauen, Mägde und Arbeiterinnen um ihre Kinder mit deren Vätern überträgt, muß sie in irrationale Erklärungsmuster ausweichen. Gegen die erreichte materielle und mentale Unabhängigkeit binden die naturalisierten sozialen Verhältnisse auch die Frauengestalten auf Prinzipien einer asozialen Natur, einer triebhaften Mütterlichkeit. Bei weitem Eindringlicheres erreichte Viebig dann auch dort, wo sie das Land verläßt und die Frauengestalten aus patriarchalischen Bindungen - nicht aber aus kapitalistischen - löst, in zwei in Berlin unter Proletarierinnen spielenden Einaktern aus dem Zyklus Der Kampf um den Mann.
Die verschärfte materielle Situation im Deutschen Reich verlangte nach einer entschiedeneren Darlegung der Kritik in den Perspektiven möglicher und notwendiger Veränderungen oder gegen die materielle Zerstörung zurückgeholter familialer und affektiver Sicherheiten. Die Radikalität einer Lu Märten oder Ilse Frapan ist nur selten zu finden. Beide wählen einen seit Holz/Schlaf und Hauptmann etablierten dramatischen Topos: das »ärmliche Zimmer«, darin das Bett einer Schwerkranken und - bei Frapan Utensilien von Schneiderarbeit als Schauplatz oder Ausgangspunkt der Stücke, beide verlassen jedoch das kleinbürgerliche Milieu zugunsten eines proletarischen. Durchbricht Märten in der dramatischen Skizze Bergarbeiter (1909), wo der Tod der Kinder den Streikwillen des Vaters neu zu entfachen hat, geschlechtsspezifische Muster - im Sterben der Tochter, im Lebensdrang und Tod des Sohnes - nicht, so nutzt umgekehrt Frapan in den Rettern der Moral (Ernst-Drucker-Theater Hamburg 1905) Mittel der Arbeiterdramatik, um den Kampf der Abolitionistinnen zu unterstützen und in der Prostitutionsreglementierung Unterdrückungsmechanismen des bürgerlichen Staates anzugreifen. Sie faßt die Vorgänge des Schauspiels die Denunziation einer Arbeiterin und ihre polizeiärztliche Zwangsuntersuchung - im letzten Akt im lebenden Bild zusammen und probt in diesem den Aufstand: Auf einem Maskenball in einer überwachten Arbeiterkneipe tritt vor die Polizeibeamten ein Zug mit einer schwarzverhüllten Bahre; darauf umklammert eine Tintenfischmaske, ein »Polyp«, eine weibliche Wasserleiche. Anonyme Stimmen verkünden dazu den Tod des denunzierten, vergewaltigten Mädchens im Fabrikkanal. Im Moment der Auflösung des Bildes springt eine »rote Maske« mit einer »roten phrygischen Mütze« hinzu und »schlägt dem Polypen den Kopf herunter; unter rasendem Beifallgeschrei wird die Bahre schnell fortgetragen« (Ilse Frapan-Akunian: Die Retter der Moral, S. 63ff.). Dieses Bild, mediale Besonderheiten nutzend, um die politische Beschränkung des Mediums, die Theaterzensur, zu unterlaufen, kann nur ungeheuerlich genannt werden.
Frapan schwankt in der Wahl der stilistischen Mittel. Sie greift, etwa in der verdeckten familialen Verknüpfung der Gegenspieler, auf eine Technik des Naturalismus zurück, und sie durchbricht dessen engen Horizont in der offensiv geführten Anklage, dem die Tendenz zur Entpsychologisierung und Entindividualisierung einzelner Figuren entspricht und die auf das Zeitstück der 20er Jahre vorausweist. Schließlich nimmt die Einführung phantastischer Züge in Nebengestalten und -motiven der pantomimischen Brechung der Handlung im letzten Akt die Gewaltsamkeit eines Stilbruchs. Das Ergebnis ist kein »perfektes« Drama, aber spannend gerade in dem Versuch, das aufrührerische Anliegen in entsprechend funktionalisierten künstlerischen Mitteln vorzutragen. An einer solchen Stimmigkeit hatte es ihrem ersten Schauspiel, Phitje Ohrtens Glück (Altonaer Stadttheater 1902), noch gefehlt, in dem sie in der neidlosen Gemeinschaft eines Hamburger Hofes die Utopie einer Gesellschaft entwerfen wollte, »wo nicht mehr der Geldsack, sondern die Liebe regiert« (Frapan: Presseerklärung, Sp. 139f). Ungeprüft übernahm sie dabei die Mittel des konsequenten Naturalismus, mit denen die dem Gegenentwurf immanente Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft nicht zu führen war.
Die in den Rettern der Moral erreichte Distanz zu ideologischen und stilistischen Richtungen der Zeit fehlt jedoch in vielen Fällen auch einer engagierten Frauendramatik. Im Eifer des sozialkritischen Anliegens bleiben entweder die gewählten dramatischen Mittel unreflektiert, oder die Anerkennung als Dramatikerin wird erkauft durch Anpassung an herrschende Trends. So wählt Marriot z.B. in Gretes Glück für die Darstellung der Zerstörung einer Frau durch die ihr aufgezvmngene, finanziell vorteilhafte Ehe die für ein emanzipatorisches Anliegen denkbar ungeeignetste Form, das Thesenstück. Bei allem Mut der Autorin - und der ist beachtlich - in der Darstellung ehelicher Vergewaltigung kann sie doch die kritisierte Verfügung über die in Unmündigkeit gehaltenen Töchter nicht aufbrechen. Vielmehr schreibt sie in der Beschreibung die Ohnmacht fort, wenn sie die Kritik an den Raisonneur delegiert und gegen alle materiellen Erfahrungen die Rolle der Frau in der bürgerlich-patriarchalischen Familie konservieren will. Wie schon in ihrem ersten Schauspiel, Der Heirathsmarkt (1895), als sie gegen den »Sittenverfall«, wie er in der auf »Männerfang« ausgerichteten Erziehung der höheren Töchter zutage tritt, nur die Aufwertung des mütterlichen Bereichs, der »getreuen Priesterinnen des häuslichen Herdes« (Emil Marriot: Der Heirathsmarkt, S. 115), zu setzen wußte, so mündet die Kritik in Gretes Glück in die Mahnung an die Mütter, ihre Töchter »über die Liebe des Mannes aufzuklären. [...] Sie würden den Sprung [in die liebeleere Ehe] vielleicht nicht thun wollen [...], wenn sie wüßten, was sie erwartet« (Emil Marriot: Gretes Glück, S. 49). Als handle es sich bei dem Spielraum, den Marriot ihren Frauengestalten zubilligt, um eine Frage des Wollens. Sicher widerruft hier nicht nur die dramatische Form den Inhalt. Mit der Rehabilitierung des weiblich-mütterlichen Bereichs steht Marriot Strategien der gemäßigten Frauenbewegung nahe. Nur zu lange hielt diese in ihrer Argumentation eine Trennung aufrecht zwischen weitgehend von den »Umständen« erzwungenen berufs- und bildungspolitischen Forderungen und familienpolitischer Aufwertung der weiblichen Rolle, die nicht zuletzt Sexualität an die generative Funktion in der Familie band. In dem Maße aber, wie Schriftstellerinnen Alternativen aus der dramatischen Diskussion ausschließen, wächst die Bereitschaft zur Einwilligung in herrschende Verhältnisse. So greift zwar Rosmer in der eingangs erwähnten Maria Arndt das Erziehungsprogramm von Gottes Tochter auf - 1908 jedoch, da selbst in Preußen die Mädchenschulreform Frauen, wenigstens de jure, Gymnasial- und Universitätsbildung erschloß, da die radikale Frauenbewegung sexuelle Tabus aufgebrochen hatte, wäre zu erwarten, daß sie über das Postulat hinaus die Idee in der dramatischen Handlung konkretisieren kann.
In Rosmers Dramen fällt eine rigide Zweiteilung geschlechtsspezifischer Konfliktgestaltung auf. Hatte ihr nie aufgeführter Erstling Wir drei (1891) noch tastend nach der Gestaltung einer »neuen Frau« gesucht und bringt die Dämmerung mit der Ärztin Sabine Graef eine der wenigen Akademikerinnen auf die deutsche Bühne, welche nicht von ihrem Autor verhöhnt wird, so läßt sie nicht nur in der weiteren Produktion diese Figur fallen; schon in der Dämmerung, stärker noch in den folgenden Gegenwartsstücken Tedeum (1896) und Johannes Herkner (1904) - alle bei S. Fischer, Berlin, verlegt und bei Brahm uraufgeführt - ist der dramatische Konflikt auf die Bedürfnisse des Protagonisten ausgerichtet, denen die Frauen sich widerspruchslos unterordnen. Aber auch ihre »Frauenstücke«, von denen Mutter Maria und Maria Arndt aufgeführt wurden, willigen wenn auch nicht klaglos - in patriarchalische Vorgaben ein. Verzicht ist die Prämisse weiblicher Existenz, die Rosmer nicht anklagend ausstellt, sondern die sie verklärt, wenn sie in Mutter Maria, einer »weiblichen« Variante des Undinenmotivs, da das Naturwesen Frau zwar durch, aber nicht für den Mann erweckt wird, ein Mutterschicksal mit den Mitteln des Symbolismus zu verewigen sucht, welches im Verzicht der Mutter, belohnt durch eine Marienapotheose, kulminiert. Und resignierende Einwilligung ist Rosmers Angebot an Maria Arndt. Wohl nicht von ungefähr konkretisiert sie das emanzipatorische Erziehungsprogramm in der Episodenhandlung um den Sohn einer benachbarten Familie, denn für ihr eigenes Geschlecht widerruft die Fabel das aufklärerische Anliegen der Titelfigur. Einmal mehr wird ein biologisches Schicksal der Frau hypostasiert: Getrennt von ihrem Gatten, der Erziehung ihrer Tochter Gemma lebend, begegnet Maria dem Mann wieder, dessen Bekanntschaft sie einst bewogen hatte, ihrer »Ehelüge« ein Ende zu setzen. Im Konflikt zwischen dem Geliebten und den Bedürfnissen Gemmas siegt das Kind, die Mutter tötet sich. »Vergewaltigt - hingegeben aber die Natur macht keinen Unterschied und schenkt uns das Kind« (Ernst Rosmer: Maria Arndt, S. 92). Verstärkt wird dieser fatalistische Duktus noch durch eine enggeschlossene, von Todessymbolen durchtränkte Atmosphäre. In diesem stimmungsträchtigen Ambiente wird die Idee von Gottes freier Tochter allenfalls noch als reizvoller Kontrast wirksam, nicht mehr als Alternative durch das Schauspiel diskutiert.
Der Versöhnung in der Resignation mit zerstörerisch erfahrenen sozialen Verhältnissen kommen die impressionistischen wie dann die stilkünstlerischen Richtungen entgegen, sind sie doch selbst häufig als Flucht aus der gesellschaftlichen Realität - der Impressionismus - oder als Unterwerfung der Wirklichkeit unter das Gesetz der »großen Form« charakterisiert worden. Für die Frauenstücke aber bedeutet die Aneignung dieser »-ismen« die Affirmation, die Einwilligung in erfahrenes Leid, das als verübtes nicht mehr erkennbar wird. Nicht anders ist der impressionistische Einakterzyklus Zu spät (Burgtheater Wien 1903) von Marie Eugenie delle Grazie, einer treu an den »-ismen« der Jahrhundertwende partizipierenden österreichischen Autorin, zu verstehen, in welchem sie das Thema der verratenen, verkauften Frau variiert, die in der Retrospektive die Fehlentscheidungen heraufbeschwört. Denn nicht das fragende, suchende Ergründen der Mechanismen, der materiellen und moralischen Zwänge, welche sie in die ausweglose Situation getrieben haben, ist Anliegen der Rückschau und Wiederbegegnungen, sondern die Erinnerung dient nur der Erhöhung des Stimmungswerts einer vertanen Chance, und die Opfer etablieren sich, in breit ausgeführten Reden die einstigen Entscheidungen nachvollziehend, in der Rolle der Dulderinnen.
Vollends die Stildramen geben den Gedanken an emanzipatorische Kritik erfahrener Unterdrückung preis. Denn das gewaltsame Konstrukt einer erzwungen ausweglosen, pseudotragischen Konstellation zwingt die Heldin zum entsagungsvollen Dulden als Voraussetzung der Handlung oder unterwirft ihr Handeln einer Idee, die nicht ihre Befreiung meinen kann. »An Germania«, »Deutschland - in dir!« (Ursula Carolina Woerner, Vorfrühling, S. 95 und S. 206), so wird in Carolina Woerners Vorfrühling (Hoftheater Karlsruhe 1909) der starken, wenn auch schemenhaft bleibenden Antagonistin gehuldigt. Und wie selbstverständlich setzt die Erhebung im Dienste einer nationalistischen Idee die Herabsetzung der Gegenspielerin voraus. Deren falsches Handeln, bedingt durch ein wirres Konglomerat aus Eifersucht, Unwissenheit, Mißverständnis und politischen Divergenzen mit dem geliebten Mann, das als Konfliktpotential nicht aufgelöst und ausgefochten wird, ist Voraussetzung des Handlungsverlaufs, der in die Demagogie eines deutschen Märtyrertodes im Jahre 1809 führt. Damit aber wird die Unmündigkeit der Frau nicht Gegenstand des Schauspiels, sondern Funktionale seiner Tendenz, in deren Dienst die Frau ein zweites Mal vergewaltigt wird.
Keiner dieser Autorinnen, auch den zuletzt genannten nicht, ist Engagement in eigener Sache abzusprechen. Nur die Mittel, mit denen sie auf die erfahrenen Verhältnisse reagieren, sind so unterschiedlich wie ihre Biographien. Frapans immer erneutes Aufbegehren und Durchbrechen auferlegter Schranken unterscheidet sich radikal von dem Leben der ehemaligen Schauspielerin und Münchner Rechtsanwaltsgattin Rosmer/Bernstein oder von Woerners jahrelanger Fesselung in der Krankheit. Ambivalent, wie diese Lebensläufe zwischen Anpassung und Selbstbehauptung jonglieren, bleibt auch die Orientierung an den dramatischen Mustern der Moderne: Die Projektionsmechanismen des ersten Geschlechts stehen ihnen nicht zur Verfügung; das Durchbrechen des Schweigens und das Eindringen in einen ihnen verwehrten literarisch-öffentlichen Raum läßt sie jedoch häufig Konformismus in der Opposition suchen, noch im Aufbegehren signalisieren sie Bereitschaft zur Unterordnung. Dies ist nicht das spezielle Problem der Dramatikerin - aber die privilegierte Gattung kam ihr auch nicht entgegen. Wie schon deren formale Gesetze, in der szenischen Präsenz agierender Personen ein Handlungskonzentrat zu imaginieren, weiblichen Erfahrungen in der bürgerlichen Gesellschaft, ausgeschlossen von deren Öffentlichkeitsforen, zuwiderlaufen - und in jener noch 1930 von Fleißer notierten Diskrepanz zwischen »meisterhaft« geschriebenen Einzelszenen und dem Mißlingen des »sogenannten wohlabgewogenen Baus« als Charakteristikum dramatischen Empfindens bei den Frauen (Die Scene, 1930, S. 8f) mag die spezifische Schwierigkeit der Dramatikerin zwischen öffentlicher Form und privatem Handeln ihren Niederschlag gefunden haben - so widersprechen die ideologischen Muster der Gattung ihren Interessen.
Heldinnen als Opfer hat diese literarische Gattung in ihrer Geschichte kultiviert. Ihren Schöpfern war dies eine bevorzugte Möglichkeit der Kritik an ihrer Gesellschaft. Wollten Frauen die Gattung sich aneignen, dann verlangte dies, mit dem Muster des leidenden Weibs und der opfernden Heldin eine im bürgerlichen Drama überhöhte Erwartung doppelt zu unterlaufen. Dies konnte nicht im simplen Verkehren der Rollenmuster, dem Ersetzen der passiven durch aktive Heldinnen, gelingen, dazu mußte der bürgerliche Heldenmythos zerstört werden - in Übereinstimmung, aber auch gegen dessen Destruktion durch die zeitgenössischen Dramatiker.
Als »weiblicher Wedekind« war die Lyrikerin Marie Madeleine den Zeitgenossen empfohlen und verrufen; in ihrer Komödie um Das bißchen Liebe läßt sie als Anti-Wedekind aufhorchen. Eine andere Lulu, führt diese Sascha ihre Selbstbehauptung nicht nur gegen die Zumutungen der sie begehrenden Männer, welche die Unerreichbare idealisieren, die erreichbar Gewordene sich unterwerfen und bei Mißlingen sich töten oder sie, vergeblich, töten wollen, sondern genauso gegen eine »von Männern beherrschte Literatur«, in welcher »die Frau entweder etwas unglaublich Gutes und Edles oder [...] ganz las-ter-haft und dä-mo-nisch« (Marie Madeleine: Das bißchen Liebe, S. 67) ist.
Etwas subtiler als Marie Madeleine, die im Eifer ihres Anliegens eine andere Maxime ihrer Prinzessin vergißt, daß Frauen nämlich »zu klug [sind], um sich so darzustellen, wie sie sind« (S. 67), und ihre Heldin etwas zu geschwätzig aus der Schule plaudern läßt - etwas subtiler also verfuhr gut dreißig Jahre früher Hedwig Dohrn in einigen Einaktern, damals noch im Königlichen Schauspielhaus Berlin aufgeführt, in denen sie, mit Fontane zu sprechen, »moderne Männerliebe ridikülisiert« (Theodor Fontane: Theaterkritiken, S. 386). Aber mehr noch: Wenn ein Ritter Vom Stamm der Asra (1876) mit den Worten Heinrich Heines seine Angebetete zu erpressen oder ein selbsternannter Seelenretter (1875) Bestätigung für seine Mission ausgerechnet in der Besinnung auf des Deutschen größten dramatischen Helden, in der moralischen Widerlegung Fausts, sucht, dann bezieht sie soziokulturelle Muster vom siegreichen Verführer und der düpierten Verführten in die Blamage ihrer Helden ein. Finden sich diese am Ende als Gegenstand des Spottes wieder, dann verblaßt auch die Aura der von ihnen bemühten kulturellen Leitbilder.
Dohm führte die dramatischen Versuche nicht weiter. Zwanzig Jahre nach ihren Stücken aber schrieb eine jüngere Autorin die für zeitgenössische Klassikerpietät nun wirklich ketzerische Gretchen-Paraphrase: »Mein' Schand' is hin! Mein Schand' will ich wieder!« Juliane Déry: Die Schand, S. 87). Gesprochen ist sie in einem Wiener Volksstück mit den mittlerweile hinlänglich bekannten Determinanten Liebe/Geld, Ehre/Schande. Auf moralisierende oder argumentierende Vorhaltungen aber läßt sich Juliane Déry nicht mehr ein. Der Weg dieser Ungarin, nach dem wenigen, was darüber bekannt ist, hatte sie aus der bürgerlichen Gesellschaft geführt - sie hatte als Schauspielerin in Wien und Paris begonnen, lebte in den 90er Jahren in der Münchner Bohéme, gründete dort zusammen mit Max Halbe das Intime Theater (1895), wurde schließlich noch mit der Dreyfus-Affäre in Beziehung gebracht, 1899 schied sie aus dem Leben - und ihre Stücke signalisieren die Aufkündigung der Einwilligung. Provokationslust führte ihr bei der Verlobung bei Pignerols (Hoftheater Coburg-Gotha 1891), einem Schwank, der durch die Einbeziehung der Frauengestalten die zentrifugale Bewegung des Genres noch steigerte, die Hand; in den 90er Jahren folgte neben einigen impressionistischen Nichtigkeiten - mit den Sieben mageren Kühen (Dramatische Gesellschaft im Residenztheater Berlin 1898) eine Satire auf das Thema Geldehe. Nicht mit Entrüstung oder Verzweiflung, nur mit Hohn kann bourgeoisem Ehehandel noch begegnet werden. Der bürgerliche Tugendkanon selbst steht damit zur Debatte. Die Schand' wird zur Satire auf das bürgerliche Drama schlechthin, auf das Drama der Verführten mit dem bekannten Personal vom polternden Vater, der die Tochter verstößt, dem Liebhaber, den eine Intrige des Freundes von der Geliebten trennte, worauf sie »Opfer« des Intriganten wurde. Allein, die Personen bekommen die dazugehörenden Handlungsweisen nicht mehr zusammen. Die »Lösung« durch Selbstmord ist nur mehr als komische Reminiszenz möglich, und das Duell der Rivalen verkehrt sich in das handgreifliche Bemühen des Betrogenen, den Intriganten zur Heirat der Geliebten zu zwingen. Denn »tragt wer Hörner, dem der Freund die Geliebte wegheiratet?« (S. 74). Die bürgerlichen Wertvorstellungen, an denen die Personen ihr Handeln ausrichten wollen, taugen in dieser Gesellschaft herabgekommener Handwerker und neureicher Unternehmer nicht mehr als Orientierungsmuster, und die Personen stürzen permanent aus der großen Pose ab, kippen um. Hingerissen betrachtet der Vater sein Kind, »vor Freude närrisch« und Anlaß, »der Mutter in Demut und Dankbarkeit zu Füßen [zu] stürzen.« Daraus holt ihn die prosaische Aufforderung Maries: »Heirat' mich! So verleid' mir doch nicht diesen Augenblick!« (S. 32). Und als er sie endlich heiraten will, ist das Kind gestorben, und Marie will ihn nicht mehr haben.
So baut Die Schand' (1897) berühmte Konfliktkonstellationen auf, zu deren Lösung das Drama der bürgerlichen Gesellschaft Mord, Selbstmord, Kindsmord angeboten hatte. Doch die Realität wie die verqueren, nämlich selbstsüchtigen Reaktionsweisen der Gegenspieler lassen solche Konfliktlösungen nicht mehr zu. In Gelächter, dem die Überheblichkeit fehlt, der dann Wedekind seine verhinderte Kindsmörderin, Klara Hühnerwadel, in der Musik (1906), aussetzen wird, versinkt mit einer berühmten dramatischen Tradition ein bürgerlicher Tugendkanon, der Frauen als Opfer nur erhob. Beschränkungen, Belastungen sind damit durchbrochen, ein Weg in die Dramatik des 20. Jahrhunderts ist gebahnt. Doch Die Schand' harrt noch der Uraufführung.