Verlassene Orte, gefundene Stimmen

Schwarz-amerikanische Autorinnen

1982 erhielten schwarze Frauen zum ersten Mal zwei der bedeutendsten amerikanischen Literaturpreise: Alice Walker den Pulitzer Preis für The Color Purple und Gloria Naylor den American Book Award für The Women of Brewster Place. Im Jahr darauf wurde Harriet E. Wilsons Our Nig, or Sketches from the Life of a Free Black veröffentlicht. Der Roman war erstmals 1859 erschienen, war dann aber verschollen, bis er vor kurzem in einer Bostoner Buchhandlung wieder aufgefunden wurde. Jetzt gilt er als der erste afroamerikanische Roman in den Vereinigten Staaten.
1973 reiste Alice Walker nach Eatonville, Florida. Sie suchte das namenlose Grab von Zora Neale Hurston, der »Romanschriftstellerin, Volkskundlerin, Anthropologin«, die heute die Anfänge einer schwarzen Frauenliteraturtradition in den Vereinigten Staaten verkörpert. Diese Tradition ist nicht nur durch das Wiederauffinden verloren geglaubter Manuskripte und namenloser Grabstätten sichtbar gemacht worden, sondern auch durch die reiche literarische Produktion zeitgenössischer schwarzer Schriftstellerinnen, besonders Toni Morrison, Gloria Naylor, Paule Marshall und Alice Walker.
Mit dem Aufstellen eines Grabsteins auf Neale Hurstons Grab markierte Alice Walker nicht nur einen geographischen Ort, sondern steckte auch einen Platz in der Literaturgeschichte ab, der dem Hervortreten der schwarzen Frau als Schriftstellerin und Heldin Rechnung trägt. Alice Walker öffnet den Lesern den Zugang zu vorher unzugänglichem Wissen in einer Anthologie mit dem Titel I love Myself When I Am Laughing ... And Then Again When I Am Looking Mean and Impressive: A Zora Neale Hurston Reader, erschienen bei The Feminist Press. Mit der Sammlung von Auszügen aus den Volksstücken, Essays, der Autobiographie und den Romanen von Hurston huldigt sie einer Frau, die versucht hat, sowohl als Anthropologin wie auch als Romanschriftstellerin ihre kulturellen Wurzeln aufzufinden und darüber zu schreiben. In ihrem meistgelesenen Buch, Their Eyes Were Watching God, schuf Hurston eine Heldin, Janie Starks, die ihre Identität als Frau in den Beziehungen zu einer Reihe von Männern, aber auch als Erzählerin sucht, die an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, um einer Freundin ihre Abenteuer zu erzählen. Während Alice Walker sich als Hurstons Nichte ausgeben muß, um die Suche nach deren Grab zu rechtfertigen, und so die Erinnerung an ihr Leben wachhalten kann, muß Hurstons Janie die erste Person Einzahl wählen, in früheren Zeiten ein Vorrecht des männlichen Subjekts, um den Lebensbericht einer Frau vom Standpunkt derjenigen, die das Leben gelebt hat, schreiben zu können. Beide Schritte verlangen die Inbesitznahme des geographischen oder des literarischen Raums mit Worten aus dem und über das Leben und den kulturellen Beitrag schwarzer Frauen.
Wieviel schwieriger ist es, einen literarischen Raum zu schaffen, wenn ein geographischer Ort nicht nur vergessen worden ist, sondern niemals von seinen ursprünglichen Bewohnern gewählt oder in Besitz genommen worden ist, wie im Fall der Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten. Nach Hurston konzentrierten sich schwarze Schriftstellerinnen auf das Thema der weiblichen Solidarität, darauf, wie sehr Frauen an Orten, die ihnen die herrschende weiße Kultur überlassen hat, zum Überleben aufeinander angewiesen sind. Morrison, Marshall und Walker erwähnen alle die ursprüngliche Enteignung durch Versklavung entweder als »Sage« oder als historische Tatsache. Die Schwarzen erfahren immer noch Unterdrückung in Form von wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung, welche die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung im ländlichen Süden oder in den Städten des Nordens zur Armut verdammt. Der schwarze Mann sucht angesichts der Unmöglichkeit, wirtschaftlich und damit letztlich auch emotional für seine Nachkommenschaft sorgen zu können, Zuflucht zur Gewalt gegen die Familie, oder er verläßt sie. In ihren Mittelpunkt rückt immer mehr die Mutter. So zeigt Naylors Roman, wie der Wohlfahrtsstaat zur Festigung dieser Familienstruktur beiträgt, indem er nur für die alleinstehende Mutter sorgt. Weil diese Frauen von den schwarzen Männern im Stich gelassen, aber auch unterdrückt werden, lernen sie, eine alternative Gemeinschaft zu schaffen, die Patriarchat und Rassismus für eine gewisse Zeit ausschließt.
Toni Morrisons Sula, in erster Linie ein Roman über die Freundschaft zwischen Sula und ihrer Jugendfreundin Nel, spielt in Bottom* of Medaillon in Ohio. Das ist die Geschichte, wie dieser Ort entstand: (*Bottom heißt im Englischen das Tiefland. Nach dieser anfänglichen Episode bekommt dieses Stück Land oben auf dem Berg - eben das Tiefland - den Ortsnamen Bottom. Deshalb wird im folgenden entsprechend dem Sinnzusammenhang Bottom übersetzt oder als Ortsbezeichnung belassen.)

  • Ein guter weißer Farmer versprach seinem Sklaven die Freiheit und ein Stück Tiefland, wenn er für ihn einige sehr schwierige Arbeiten verrichten würde. Als der Sklave diese erledigt hatte, bat er den Fanner, sein Versprechen zu halten. Freiheit, nun gut, dagegen hatte der Farrner nichts einzuwenden. Doch von seinem Land wollte er nichts abgeben. Deshalb sagte er zum Sklaven, es täte ihm leid, aber er müsse ihm Land im Tal geben. Er hätte gehofft, ihm ein Stück vom Tiefland geben zu können. Der Sklave wunderte sich und sagte, er hätte gedacht, das Land im Tal sei Tiefland.
    Der Herr sagte: »O nein! Siehst du jene Hügel? Das ist Tiefland, reich und fruchtbar.«
    »Aber es liegt hoch oben auf den Hügeln«, sagte der Sklave.
    »Von uns aus gesehen ist es oben«, sagte der Herr, »aber wenn Gott herabschaut, dann ist es tief unten. Deshalb nennen wir es so. Das ist das Tiefland des Himmels - das beste Land, das es gibt«
    (Toni Morrison: Sula, S. 4).

Eingekleidet in die Form eines Märchens, kehrt diese Episode die christliche Kosmologie um, um zu erklären, warum die Schwarzen, da sie im Himmel leben, zufrieden mit ihrem Los auf Erden sein sollten. Indem der Sklavenhalter nichts dagegen hat, dem Sklaven die Freiheit zu verschaffen, wohl aber, ihm Land zu überlassen, bestätigt er die Tatsache, daß Rechtsgleichheit ohne die nötigen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die Versklavung bloß in anderer Form fortsetzt. Wie eine Gestalt aus einem Volksstück ist der Sklave dazu gebracht worden zu glauben, daß die Hügel besser sind als das Tal, da die Schwarzen räumlich und geistig auf die Weißen herabschauen können, während sie sozial unterworfen bleiben.
Wie die Schwarzen von Bottom, die oben leben, wohnt Eva Peace, Sulas Großmutter, im dritten Stock eines Hauses, deren wichtigste Mitbewohner ihre Tochter und ihre Enkelin sind, ein »matrilinearer« Haushalt, den die Ehemänner lange zuvor verlassen haben und wo die häufigen männlichen Besucher niemals zum Bleiben aufgefordert werden. Eva, die sich ihr Bein absichtlich von einem Zug abfahren läßt, um das Geld von der Versicherung zu kassieren, das ihre wirtschaftliche Sicherheit garantiert, verläßt ihren Platz nur, um ihre brennende Tochter zu retten - aber sie stürzt dabei aus dem Fenster. Sula bringt schließlich auch ihre Großmutter in ein Pflegeheim, damit sie allein in dem Haus sterben kann.
Dieses Haus, das keine Gesetze der sexuellen Treue kennt, kann in Sula kein Gefühl für Liebe als Besitz oder als Gemeinschaft erwecken. Nach zehnjähriger Abwesenheit kehrt Sula in die Stadt zurück als eine Art negativer moralischer Kraft; sie schläft mit dem Mann ihrer Freundin Nel und empfindet dies ganz und gar nicht als Betrug. Schließlich trifft sie Ajax, einen Mann, mit dem sie ins Bett geht, ohne zumindest seinen Namen zu kennen, einen Mann, den sie gern für sich behalten würde, den sie aber beim Versuch, die Rolle der Ehefrau zu spielen, verliert. Beim Liebesakt wird hier die hierarchische Rangordnung umgekehrt, weil Sula oben liegt. Wie die Bewohner von Bottom, wie Eva schaut Sula herab auf etwas, das sie nicht in Besitz zu nehmen vermag, die Liebe eines freien Mannes, dessen Liebe zunächst auf seine Mutter und dann auf Flugzeuge fixiert ist. Ihr einziger Ausweg ist, sich in den geistigen Raum zurückzuziehen, der immer ihr eigen gewesen ist, belebt von ihrer Neugierde und ihrer Vorstellungskraft. Doch aufgrund ihrer Rasse und ihres Geschlechts muß diese Vorstellungskraft unproduktiv bleiben, und »wie jeder Künstler ohne Kunstform wurde sie gefährlich« (Sula, S. 105).
Auf ihrem Totenbett sagt Nel zu Sula: »Du kannst nicht alles tun. Du als Frau und obendrein noch Farbige. Du kannst dich nicht wie ein Mann gebärden. Du kannst nicht herumlaufen, als seist du unabhängig, und tun, was du willst, nehmen, was du willst, liegenlassen, was du willst« (Sula, S. 123). Doch als das wirkliche Verbrechen gilt hier die Umkehrung der Geschlechterhierarchie, zwar möglich im Liebesakt, aber nicht zu verwirklichen im täglichen Leben, das nicht nur durch die häuslichen Pflichten, sondern auch durch die Hautfarbe eingeschränkt ist. Nels Bemerkung läuft darauf hinaus, daß in einer Welt, die auf den Kopf gestellt worden ist, in der Schwarze auf Weiße herabschauen, die glauben, sie seien besser gestellt, rassische Gleichheit nur im Himmel, d.h. durch den Tod erreicht werden kann. Jene, die unter den Lebenden zurückbleiben, müssen erkennen, daß nur zwei Mädchen, die den Männern noch nicht unterworfen sind, die sich des Rassenunterschieds noch nicht bewußt sind, eine Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht, erreichen können. Nels Erkenntnis, daß sie Sula, aber nicht Jude (ihren Mann), wirklich geliebt hat, kommt zu spät. »Es war ein schöner Schrei - laut und lang -, aber er hatte kein Unten und kein Oben, es war ein Kreisen und Kreisen der Trauer« (Sula, S. 149). Der Roman endet mit dem Ausdruck eines Gefühls, das in seiner Tiefe jede räumliche Gestalt verloren hat.
Gloria Naylor stellte in The Women of Brewster Place: A Novel in Seven Stories ebenfalls eine ausschließlich schwarze Gemeinde dar, dieses Mal in einer großen Stadt. Wie Bottom war Brewster Place von Mitgliedern der weißen Gemeinde konzipiert worden; doch dieses Mal war es kein Märchen in Form eines Witzes über Herr und Sklave, sondern eine Geschichte, die mit einem Geschäft zwischen einem Kommunalpolitiker und dem Direktor einer Immobilienfirma begann. Sie kamen überein, einige Wohnblocks zu bauen, der eine, um als Kandidat für das Amt des Bürgermeisters mehr Wähler zu gewinnen, der andere, um seinen Gewinn aus Spielhöllen zu vergrößern. Als das Viertel farbige Mieter anzieht, verlieren die Weißen nicht nur das Interesse an dem Wohnprojekt, sondern fühlen sich auch davon brüskiert und beschließen, eine Mauer zu bauen, die Brewster Place zu einer Sackgasse macht. Das Viertel entwickelt aufgrund der Abgeschlossenheit einen eigenen Charakter, den vor allem seine weiblichen Bewohner bestimmen: »Sie waren aus hartem Holz geschnitzt, mit einem weichen Kern, unerhört anspruchsvoll und leicht zufriedenzustellen, diese Frauen von Brewster Place. Sie kamen und gingen, wuchsen heran und wurden älter, als sie es den Jahren nach waren. Wie ein Ebenholzphoenix hatte jede von ihnen eine Geschichte, jede zu ihrer Zeit« (Gloria Naylor: The Women of Brewster Place: a Novel in Seven Stories, S. 5). Der Roman erzählt die Geschichte von sieben dieser Frauen. Jede dieser Frauen vertritt einen anderen Typ: die Bluessängerin, die mit einem Cadillac aus dem Süden kommt, die Collegestudentin, die einen afrikanischen Namen angenommen hat, die Frau, die von ihrem Mann verlassen worden ist, die Mutter, die von Sozialhilfe lebt und immer mehr Kinder in die Welt setzt, und die Lesbierin. Eine Frau taucht in fast jeder Geschichte auf: Mattie Michael. Sie mußte mit einem unehelichen Kind aus dem Haus ihrer Eltern in Tennessee fliehen. Sie kommt nach Brewster Place mit einem Sohn, der alle Gedanken an andere Männer ausschaltet. Dort wird sie gemeinsam mit Frauen alt, die bei ihr seelische Unterstützung suchen. Wie im Haus von Eva Peace ersetzen die Frauen in diesem mit einer Mauer umgebenen Ort die biologische Verbindung durch die Zuneigung, die sie als Frauen in der Beziehung zueinander finden; diese Beziehungen untereinander schließen nicht nur Gefühle, sondern auch körperliche Liebe ein. Männer halten sich dort nur zeitweise auf, leben aber in einer anderen Welt: »Alle guten Männer sind entweder tot oder warten darauf, geboren zu werden« (The Women of Brewster Place, S. 61).
Das Ereignis, das alle Frauen zusammenführt, ist die Versammlung der Brewster Place Block Association, einberufen von Kiswana Browne, der Collegestudentin, die ihr Mittelklassenmilieu verlassen hat, um sich der gesellschaftlichen Veränderung durch die »grass-roots«-Politik zu widmen. Auf dieser Versammlung streiten sich die Bewohner darüber, ob Lorraine und Theresa mitmachen dürfen, die beiden Lesbierinnen, von denen man nur als »die zwei« redet. Das Ereignis, das den tragischen Wendepunkt im Roman markiert, ist Lorraines Vergewaltigung durch C.C. Baker und seine Bande:

  • In dem Gebiet zwischen dem letzten Haus von Brewster und einer Backsteinmauer, in diesem unbeleuchteten Gang, herrschten sie wie verkümmerte Kriegerkönige. Geboren mit dem Zubehör der Macht, beschnitten mit einer Guillotine und getauft mit dem Wasserdampf einer Million nicht reflektierender Spiegel, würden diese jungen Männer nicht geholt werden, um einem asiatischen Bauern das Bajonett in den Leib zu rammen, einen Torpedo ins Ziel zu schießen, ihre eisernen Samenkörner aus einer B-52 in die Wunden der Erde zu streuen, mit einem Fingerzeig eine ganze Nation in Bewegung zu setzen oder eine Fahnenstange in den Mond zu stecken - und sie wußten es. Sie hatten nur diesen Einhundert-Meter-Gang, der ihnen als Regierungszentrale, als Panzer und als Hinrichtungskammer dienen mußte. So fand sich Lorraine auf den Knien wieder und sah sich von der gefährlichsten Spezies der Menschheit umzingelt - Männer mit einer Erektion, die nur in einer Welt von zwei Meter Umfang zur Geltung kam.
    (The Women of Brewster Place, S. 169 f).

Brewster Place ist zwar von den Gewaltformen ausgeschlossen, welche die Machtkämpfe unter Männern beherrschen und sich als Kampfplatz oft den weiblichen Körper aussuchen, ist aber nicht immun dagegen. Wie Sula, der es als Künstlerin ohne Kunstform nicht gelingt, ein moralisches Zentrum zu entwickeln, besteht diese Bande aus »Kriegerkönigen«, die nichts weiter zu bekämpfen und zu erobern haben als die Frau, die es abgelehnt hat, sich als Sexualpartner einen ihres Geschlechts zu wählen. Wie die Bewohner von Bottom müssen diese Männer es lernen, in einem Raum zu leben, der von einer herrschenden weißen Kultur aufgegeben worden ist, ein weiteres kleines, steriles Stück Land, das nur Wut und Zerstörung hervorbringt.
Der Roman endet mit Matties Traum von einem Wohnblockfest, auf dem alle Frauen die mit Blut befleckte Backsteinmauer zerstören. Aber die wirkliche Desintegration von Brewster Place ist weniger ein willentlicher Akt der Selbstzerstörung, als vielmehr der langsame Zerfall, herbeigeführt durch die Gleichgültigkeit und Vernachlässigung der tatsächlichen Eigentümer, der Grundbesitzer. Brewster Place ist zum Sterben verurteilt, seine Bewohner sind gezwungen wegzuziehen. Sie nehmen nur ihre Träume mit. Aber im Unterschied zu dem Augenblick, in dem Sula stirbt und sich Nels Schrei löst, »weint niemand, wenn eine Straße stirbt« (The Women of Brewster Place, S. 191).
Bournehills, der Ort, der in Paule Marshalls The Chosen Place, The Timeless People beschrieben wird: »wie ein Land, das Gott vergessen hat« (S. 125), ist wieder eine wirtschaftlich verarmte Gemeinde, dieses Mal auf einer englischsprachigen Insel in der Karibik. Doch diese Abgeschnittenheit vom Rest der Welt hat nicht bloß Armut, sondern auch Rassenmischung zur Folge. Das Kind aus einem Verhältnis zwischen Angehörigen der verschiedenen Rassen ist Merle Kimbona, die uneheliche Tochter eines Zuckerplantagenbesitzers und einer Schwarzen. Merles Mutter wird von der Frau ihres Vaters ermordet, und Merle wird erst als Erbin ihres Vaters anerkannt, als seine Frau keine Kinder bekommt. Dann wird sie nach England geschickt, wo sie Westindische Geschichte studiert, von einer reichen Engländerin ausgehalten wird, einen Afrikaner heiratet und ein Kind bekommt. Als ihr Mann von ihrer früheren Beziehung erfährt, reist er mit ihrer Tochter nach Uganda. Merle kehrt daraufhin nach Bournehills zurüclc, wo sie in einem großen weißen Haus am Meer lebt, das sie von ihrem Vater geerbt hat, und wird mit der Zeit zur Verkörperung des Ortes selbst: »auf irgendeine Weise ist sie Bournehills« (The Chosen Place, S. 118).
Eine ihrer Funktionen ist, die Insel an ihre Geschichte zu erinnern. Das denkwürdigste Ereignis ist die Pyre Hill Revolte, der größte und erfolgreichste Sklavenaufstand, in dem Cuffee Ned und seine Anhänger den Hügel und die Zuckerrohrfelder in Brand steckten. Um die Regierungstruppen zurückzutreiben, schnitten sie Bournehills vom Rest der Insel ab: »und hatten dann zwei Jahre lang als eine Nation für sich gelebt, hinter einer hohen Mauer, unabhängig, frei« (The Chosen Place, S. 102). Der Legende nach brannte der Hügel fünf Jahre lang weiter, und das Ereignis wird jedes Jahr durch eine Aufführung der Revolte zur Karnevalszeit gefeiert. Diese Mauer - ganz im Gegensatz zur Mauer von Brewster Place gibt den ursprünglichen Besitzern, keine Einwanderer, sondern Eingeborene, einen Teil der Insel zurück.
Aber auch diesmal ist politische Unabhängigkeit nur möglich bei wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Diese Lektion müssen Mitglieder eines Forschungsteams vom Zentrum für Angewandte Soziale Forschung in Philadelphia lernen, als sie, am Ende des Rornans, ankommen und einen Wirtschaftsentwicklungsplan durchführen wollen. Sie werden von einem Bewohner von Bourne Island belehrt:

  • ... und so lange die Erde besteht, werden wir ein unbedeutender grüner Flecken in einem verhältnismäßig kleinen amerikanischen See, den man die Karibische See nennt, sein. Arm. Völlig unabhängig von einer einzigen Ernte, die ebensoviel wert ist wie ein halber Penny auf dem Weltmarkt. Ohne Ressourcen, außer Menschen vielleicht, und davon gibt es noch zuviele, und nirgends kann man siejetzt mehr hinschicken, da England dem Beispiel eures Landes gefolgt ist und das Tor für die Nigger zugemacht hat. Wir sind in gewisser Weise unabhängig, ja. Aber Sie und ich wissen, daß das nicht viel wert ist. Wie unabhängig wären wir, wenn England morgen nicht mehr den Zucker zu einem Vorzugspreis nehmen würde und wir erledigt wären.
    (The Chosen Place, S. 207 f)

Die Inselbmohner sind zwar nicht mehr Sklaven im eigentlichen Sinn, leben aber doch weiter in einer Art wirtschaftlicher Versklavung, eine Lage, der sie durch das Wachhalten der Erinnerung an eine frühere Revolte zu entrinnen hoffen. Das Forschungsteam stellt eine moderne Form der Kolo- r nisierung dar, in der die Kolonie keine natürlichen Ressourcen liefert, sondern ein Feld für phdanthropische Aktivität, die dem Forscher nicht nur emotionale Befriedigung verschafft, sondern ihm auch ermöglicht, eine ideale Gemeinschaft zu schaffen: vielrassisch, wirtschaftlich unabhängig und abgelegen. Saul Amron, Anthropologe und Leiter des Forschungsteams, erkennt, daß »Bournehills eine unruhige Region in ihm selbst hätte sein können, in die er unabsichtlich zurückgekehrt war« (The Chosen Place, S. 100). Er weiß auch, daß er, um sein Studienobjekt, die Insel, verstehen zu können, einen der Bewohner kennenlernen muß, Merle. Sie verbringen zur Karnevalszeit eine Nacht zusammen und überschreiten damit die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Eingeborenen und »einem aus der Ferne«, Weiß und Schwarz. Sauls Frau kommt dahinter und setzt beim Zentrum seine Rückberufung nach Philadelphia durch. Ihre Ehe endet damit, daß sie ins Wasser geht, während Merle sich entschließt, nach Afrika zu reisen, um ihr Kind zu suchen.
Die Karibik in Paule Marshalls Roman stellt einen Ort dar, in dem aus der Kolonialzeit her und wegen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verarmung Unterdrückung herrscht, und gleichzeitig einen Ort, der sich in einem Zwischenraum befindet, einem Raum auf der Schwelle, wo Klassen- und Rassenschranken stärker verschwimmen. Geographisch zwischen den Vereinigten Staaten und Afrika angesiedelt, entwickelt er sich zu einem Ferienort der amerikanischen schwarzen Mittelklasse, die sich kaum ihrer Stellung zwischen der weißen Mittelklasse und dem verarmten Teil der eigenen Bevölkerungsgruppe bewußt ist. In Marshalls Praisesong for the Widow wie auch in Morrisons Tar Baby verwischen sich die Rassenunterschiede bei den Kindern gemischtrassiger Eltern, und in jenen Ländern, wo es eine nichtweiße eingeborene Bevölkerung gibt, spielen sie keine Rolle mehr. In diesen Romanen wird weniger der Versuch unternommen, die kulturellen Wurzeln wiederzufinden, als, wenigstens für Augenblicke, die Rassendiskriminierung zu überwinden auf einer Reise, die durch eine günstige wirtschaftliche Lage erschwinglich geworden ist.
In Alice Walkers The Color Purple impliziert die Rückkehr nach Afrika, die fast die Hälfte des Briefromans ausmacht, die Rückkehr zu den Ursprüngen; Ursprünge, die wegen ihrer problematischen, d.h. spezifisch patriarchalischen Natur aufgedeckt werden müssen. Der Roman ist zusammengesetzt aus Briefen, welche die Protagonistin, Celie, zuerst an Gott schreibt, weil sie denkt, er sei der einzige, der ihr Gehör schenkt, und dann an ihre Schwester Nettie, die als Missionarin nach Afrika gegangen ist. Celie beginnt als vierzehnjähriges Mädchen mit dem Schreiben; eingangs wird erzählt, daß sie ihre Mutter verloren hat und an einen Ehemann verkauft worden ist, weil »sie arbeiten kann wie ein Mann« (Alice Walker: The Color Purple, S. 18). Anders als Merle, die als allegorische Figur anderen die Identitätssuche erleichtert, werfen Walkers Charaktere ein Licht auf die Situation der Geschlechter, wie sie Patriarchat und Rassismus geschaffen haben.
Ihr Leben lang ist Celie gesagt worden: »Du bist schwarz, arm, häßlich, eine Frau, verdammt, sagt er, du bist ein Nichts« (The Color Purple, S. 187). Schließlich gewinnt sie ein Gefühl für die eigene Identität durch ihre Liebe zu einer anderen Frau, Shug, einer Bluessängerin, und wirtschaftliche Unabhängigkeit, als sie ein eigenes Hosengeschäft aufbaut; und Eigentum, als sie von ihrem Stiefvater ein Haus erbt. Zunächst muß siejedoch ihre Vaterfiguren beiseiteschieben: Sie entdeckt, daß der Mann, den sie für ihren Vater gehalten hat, nicht ihr richtiger Vater ist. Dieser war durch Lynchjustiz ums Leben gekommen. Und sie entdeckt, daß der Gott, an den sie geschrieben hatte, nicht der Gott ist, den sie sich vorgestellt hatte: »Als ich erkannte, daß ich gedacht hatte, Gott sei weiß und ein Mann, verlor ich das Interesse!« (The Color Purple, S. 177). Dann entdeckt sie, daß ihr Mann Netties Briefe aus Afrika an sie versteckt hat. Sie liest Netties Briefe, während sie die Hosen so näht, wie es ihr Shug beigebracht hat, und bereitet dabei nicht nur ihren Weg in eine selbständige Zukunft vor, sondern erfährt auch etwas über ihre kulturelle Vergangenheit.
Das Afrika, das Nettie ihrer Schwester beschreibt, ist jenes, dem sie noch nicht einmal im Unterricht begegnet war, ein Ort, der weder historisch noch geographisch so genau bestimmt ist wie Marshalls: »Weißt Du, daß es in Afrika vor Tausenden von Jahren große Städte gab, größer als Milledgeville oder sogar Atlanta? Daß die Ägypter, die Pyramiden erbaut haben und die Israeliten zu ihren Sklaven gemacht haben, farbig waren? Daß Ägypten in Afrika liegt? Daß das Äthiopien, von dem wir in der Bibel lesen, gleichbedeutend ist mit ganz Afrika?« (The Color Purple, S. 123). Kultur, mit der sie vertraut wird, während sie bei den Olinkas lebt, kennt keine Rassenunterschiede, sondern betreibt Sklavenhandel in der eigenen Gemeinschaft. Olinkamädchen erhalten keine Ausbildung und werden aufgezogen, um die Mütter der Kinder ihrer Ehemänner zu werden, sogar Frauen aus polygamischen Familien entwickeln eine Solidarität, die auf Arbeit und Freundschaft basiert, wie sie selten unter Frauen im Westen zu finden ist. Wie die Karibik, wird auch dieser Flecken weiterhin von Europäern ausgebeutet: »Zuerst wird eine Straße dorthin gebaut, wo du deine Habe aufbewahrst. Dann werden deine Bäume umgehauen, um daraus Schiffe und Möbel für den Kapitän zu machen. Dann wird auf deinem Land etwas angebaut, das du nicht essen kannst. Dann wirst du gezwungen, auf diesem Land zu arbeiten« (The Color Purple, S. 204). Und wie Saul Amron erkennt Nettie, daß die Menschen Entwicklungsprogramme in ihrem eigenen Land durchführen müssen und daß Missionarsarbeit wie Sozialforschung eine andere Form des Imperialismus ist. Nettie verläßt Afrika, wie Celie den weißen männlichen Gott aufgibt, der ihr Denken kolonisiert.
Von Gott, den sie sich als Mann vorstellt, verlagert Celie ihre Aufmerksamkeit auf die Betrachtung seines Werkes, dargestellt von der Farbe Purpur. Shug lehrt sie, daß sich nichts ändern wird, solange der Mann alles mit seinen Worten darstellt:

  • Der Mann korrumpiert alles, sagt Shug. Er sitzt auf deiner Mehlbüchse, in deinem Kopf und überall im Radio. Er versucht, dich glauben zu machen, er sei überall. Aber er ist es nicht. Wenn du beten willst und der Mann sich am anderen Ende vor dich hinplumsen läßt, sag ihm, er soll abhauen, sagt Shug. Beschwöre Blumen, Wind, Wasser, einen großen Felsen.
    (The Color Purple, S. 179)

Der Mann kann als Gegenstück zur Natur und auch zur Frau, als der Ausbeuter von beiden, angesehen werden. Obwohl Afrika als legendärer Ort entmystifiziert ist, weil es sowohl die besten als auch die schlechtesten Seiten von Tradition und Modernität aurveist, bleibt der Hintergrund im weiteren Verlauf des Romans unspezifisch und damit utopisch: ein Ort, an dem die Frauen sich einander als Liebende zuwenden, aber Männer als Freunde behalten; ein Ort, an dem die amerikanische Tellerwäscher-Story einen schwarzen weiblichen Protagonisten haben kann; ein Ort, an dem Familie und Freunde sich schließlich am 4. Juli vereint finden, nicht um die Geschichte des weißen Mannes, sondern um sich selbst zu feiern. Es ist ein zeitloser Ort, irgendwo im Süden, zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen den beiden Weltkriegen, als die Enteignung eine Sache der Vergangenheit wird.
Der Ort ohne Zeit bietet dem an andere Stelle versetzten Leben und den an falsche Stelle gesetzten Texten der schwarzen Schriftstellerinnen eine utopische Lösung in Form eines literarischen Werkes. Der Ort im Werk schwarzer Schriftstellerinnen ist zunächst ein von der herrschenden weißen kulturellen Schicht klar abgegrenzter und zu einem großen Ausmaß beiseitegeschobener Raum. Diese beherrschende Gruppe untergräbt die Rechte ihrer schwarzen Bevölkerung, weil sie es unterläßt, diese mit umfassenden wirtschaftlichen Möglichkeiten auszustatten. In diesem Raum müssen schwarze Frauen eine Identität entwickeln, die immer von doppelter Unterdrückung, der ihres Geschlechts und ihrer Rasse, bedroht ist. Schwarze Männer geben diesen Raum entweder auf oder dringen in ihn ein oder kehren gebessert dorthin zurück. Frauen in all ihrer Verschiedenartigkeit bewohnen ihn und erhalten ihn durch ihre emotionale Unterstützung und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, die sie gewonnen haben in ihrem Kampf gegen die Armut, die aus rassischer und auch sexueller Diskriminierung herrührt. Die Identität, die diese Frauen gewinnen, ist erreichbar geworden durch die Beziehungen, die sie als Freundinnen und Geliebte zueinander entwickeln, in einer Gesellschaft, die für die Selbstverwirklichung durch Arbeit oder Kunst kaum Gelegenheiten bietet. Die Stimmen, die hörbar werden, sind zum ersten Mal aufgezeichnet worden. Sie haben eine Tradition begründet, die weniger als fünfzig Jahre umspannt. Der Ort funktioniert als eine Erinnerung an die Ursprünge und als eine Anregung für zukünftige Möglichkeiten, Gelegenheiten, die jetzt wenigstens ein paar schwarzen Schriftstellerinnen offenstehen.

Autor(en)