Schreiben als Lebensversuch lateinamerikanischer Autorinnen
angesichts von Gewalt und Diktatur
Emanzipationssuche und Identitätsstreben gelten heute als Kennzeichen lateinamerikanischer Literatur schlechthin, und die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Neokolonialismus wird als wesenhafter Ausdruck des lateinamerikanischen Menschen erkannt und anerkannt, ausgenommen, sie findet im Werk einer Frau statt.
Der Kanon großer lateinamerikanischer Literatur kommt in der Autoren-, anders als in der Titelrubrik, fast ohne weibliche Namen aus. Oftmals hervorragende und, verdächtiger noch: innovative Beiträge von Frauen zur Emanzipationsliteratur des Kontinents wurden und werden kaum zur Kenntnis genommen. Die Beschäftigung mit weltbewegenden Problemen oder gar das Nachdenken über Gewalt aus der eigenen, spezifisch weiblichen Perspektive doppelter Unterdrückung wird von Frauen in Lateinamerika nicht erwartet und folglich weder gesucht noch unterstützt. Eine weibliche Stimme, die sich gegen einen Diktator erhebt, ist immer noch etwas im doppelten Wortsinn Unerhörtes.
Schreiben bedeutet daher für Frauen in Lateinamerika auch heute, sich zu wehren gegen viele Gegner: gegen Staatswillkür und Diktatur, gegen Vereinnahmung und Verschwinden, gegen verborgene Tradition und überkommene Sprachlosigkeit, gegen offenen Machismo und verdeckten Sexismus und schließlich gegen die eigene Unsicherheit, den Schritt aus dem verordneten sanften Frauenbild von Mutter und Muse zu schaffen. Das Bewußtsein um die (selbst-) verdrängte Fähigkeit, sich davon in einem kulturbedingt "unweiblichen" Haß auf die Verursacher zu befreien, durchzieht wie ein roter Faden die stille Geschichte weiblicher Literatur in Lateinamerika.
Schon spätestens seit dem 19.Jahrhundert wagen Autorinnen liberalbürgerlicher Herkunft, in unzähligen Romanen ungerechte und grausame Herrscher und Herrschaften anzuklagen. Eine immer wieder verschüttete Traditionslinie verläuft von literarisch verarbeiteten Parteinahmen für Minderheiten über Angriffe auf ein männliches Sprachmonopol und verschlüsselte Autobiographien. Heute versuchen vor allem Exilautorinnen, gegen i körperlich erfahrene Gewalt anzuschreiben, und scheinen damit endgültig vorgeschriebene »weibliche« Schreibräume zu verlassen. Von einem Neuanfang im Bereich der weiblichen Literatur kann man nur bei der sogenannten Testimonialliteratur sprechen. Es handelt sich hierbei um authentische Erfahrungsberichte, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, in der literarischen Öffentlichkeit als weniger anspruchsvoll gelten. Mit ihnen treten seit rund zwanzig Jahren Frauen aus der Unterschicht und aus dem politischen Untergrund in die Öffentlichkeit. Mit einer ungeahnten Ausdruckskraft, die aus der realen Erfahrung am eigenen Leib rührt, fließt der alltägliche Kampf mit der doppelten Unterdrückung der Frau in diese Art von Literatur ein. Die nichtprofessionellen Autorinnen stellen in ihren Zeugnissen einerseits Ohnmacht und Armut am Rande der Gesellschaft und andererseits Frauenmiß- und -verachtung in allen nicht ans Haus gebundenen Bereichen dar. Die Berichte von Frauen aus dem politischen Untergrund zeigen, welchen Stellenwert und welche Probleme etwa Guerrillakämpferinnen von Geschlechts wegen haben, wenn sie nach ihrer Politisierung durch die Intelligenzia an den Hochschulen im Untergrund plötzlich massiv auf eine Männerwelt treffen. Sowohl die Unterschicht- als auch die Untergrundberichte weisen auf den Unterschied zwischen der lateinamerikanischen und der europäisch-nordamerikanischen Feminismusdiskussion hin. Anders als in der industrialisierten westlichen Welt ist sie in Lateinamerika überwiegend in sozialistische Geschichtsmodelle eingebunden: rassische und geschlechtliche Unterdrückung werden als prinzipiell gleichartig verstanden.
Die Übersetzungen dieser - und fast ausschließlich dieser - Art von Frauenliteratur tragen dazu bei, das Bild ausländischer Leser/-innen von Elend und Unterdrückung in Zwangsregimen nicht nur zu vervollständigen, sondern vielfach auch aus weiblicher Sicht zu korrigieren. Nicht zuletzt geben sie damit auch neue Anstöße für die hiesige Dritte-Welt-Diskussion. Die bisherigen Übersetzungen spiegeln jedoch nicht das tatsächliche Spektrum weiblicher Testimonialliteratur. So ist beispielsweise die Zeugnisliteratur kubanischer Autorinnen, die in den letzten Jahren verstärkt um eine retrospektive Aufarbeitung der Geschichte der Revolution aus dem Blickwinkel von aktiven Kämpferinnen bemüht sind, noch völlig unübersetzt. Darüber hinaus verschleiert die relative Fülle zugänglicher Testimonialromane im Vergleich zu anderen Arten von Frauenliteratur die tatsächlich marginale Rolle von Frauen in der lateinamerikanischen Literatur. In einem vielsagenden Bild vergleicht der mexikanische Literaturkritiker Carlos Monsiváis diese Rolle für Mexiko - und man kann dies ohne weiteres auf den Kontinent insgesamt übertragen - mit derjenigen hübscher Landschaften auf einer Bühne, vor deren dekorativem Hintergrund sich das eigentlich Wesentliche abspielt, und das kann nur das Drama des Mannes sein. Es versteht sich von selbst, daß die Umkehrung der Metapher noch aussteht. Die Verharmlosung der literarischen Bedeutung von Frauen erreicht ihren Gipfelpunkt in der Festlegung der Autorin auf die Rolle der mütterlich-sentimentalen Dichterin, so geschehen selbst bei einer erfolgreichen und engagierten Frau wie der Chilenin Gabriela Mistral, die 1945 den ersten Nobelpreis für Literatur nach Lateinamerika holte. Das in weiblich-häusliche und männlich-öffentliche Bereiche polarisierende Denkraster der federführenden Gesellschaftsschichten ist so mächtig, daß es nur drei Autorinnen in den Augen der herkömmlich männerdominierten Literaturkritik durchbrechen konnten: Mercedes Cabello de Carbonera (Peru), Rosario Castellanos (Mexiko) und Elena Garro (Mexiko) gelten gemeinhin als die einzigen Vertreterinnen der lateinamerikanischen Gattung des Diktatorenromans. Diese Form der literarischen Auseinandersetzung mit autoritärer Herrschaft, der teilweise authentische Vorbilder zugrunde liegen, ist ansonsten streng gewahrtes Männermonopol.
In Wirklichkeit sind es somit weniger die Autorinnen selbst, die sich von vornherein auf sogenannte Frauenthemen beschränkt haben. Vielmehr sind es die literarischen und politischen Öffentlichkeiten, die das Bild der Autorin und geistigen Arbeiterin vor- und verzeichnen und damit auch ihr Selbstverständnis beeinflussen.
Wenn es eine Andersartigkeit weiblichen Schreibens im Sinne des allgemeinen männlichen Normverständnisses gibt, so kann dieses nur, wie Cristina Peri Rossi (Uruguay) es ausdrückt, »konjunkturbedingt« - nicht »essentiell«, sondern »episodisch« sein. Nicht die biologische, sondern die sozial geprägte Geschlechtszugehörigkeit der Autorin ist ausschlaggebend für das »Andere« in ihrer Literatur. Um diesem "Anderen" im folgenden Überblick über neuere Entwicklungen im Roman von Frauen auf die Spur zu kommen und konkret benennen zu können, muß dessen Abhängigkeit von den jeweiligen Möglichkeiten und Freiräumen öffentlichen Sprechens für Frauen von Anfang an mitbedacht werden. Es wird daher anschließend immer um einen doppelten Blick gehen: einerseits auf die unterschiedlichen sozialen und politischen Situationen der verschiedenen Länder und andererseits auf Frauenselbstverständnisse, deren äußere und verinnerlichte Behinderungen und Utopien vor dem Hintergrund patriarchaler Welten in den vorgestellten Romanen.
Die Frage nach Besonderheiten weiblichen Schreibens, ja nach Autorinnen überhaupt wird in Bezug auf Lateinamerika erst seit kurzer Zeit systematisch gestellt. Noch in den Anfängen des weltweiten Siegeszuges lateinamerikanischer Literatur in den 60er Jahren fiel die Abwesenheit weiblicher Stimmen weder Kritikern noch Lesern und Übersetzern schon gar nicht auf Die zunächst stark sozialkritisch engagierte sogenannte »Boom«-Literatur mit Autoren wie Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Gabriel Garcia Marquez, Mario Vargas Llosa u.a. war exklusiv männlich. Bestenfalls als Koautorin erschien eine Frau ab und an auf einer Bestsellerliste. In den 70er Jahren wandelt sich zusehends der politische Anspruch der Autoren. Die »Boom«-Literaten zeigen sich zunehmend kompromißbereit gegenüber einem Verlagswesen, das sich hauptsächlich am Publikumsgeschmack einer neu entstehenden Leserschaft in den Mittelschichten orientiert. Nach dem Motto: »Wenn Du mich zitierst, zitiere ich Dich auch« lassen sie sich auf Jurorenposten in Preisverleihungskommissionen ein. Nicht zu vergessen ist zudem, daß auch enttäuschte Hoffnungen nach dem Scheitern friedlicher sozialer Revolutionen (1973 Chile; 1975 Peru) den Rückzug der ehemaligen Dissidenten in einen literarischen Elfenbeinturm weiter vorantreiben, wo sie anstelle von bitterem Leid nun die »wunderbaren Wirklichkeiten« des Kontinents (Alejo Carpentier) entdecken. »Echt« lateinamerikanische Literatur ist von jetzt an mystisch und märchenhaft exotisch, unbändig wie der Kontinent (!) und unpolitisch. Erst als die selbsternannte Avantgarde (bis zu einer erneuten Wendung in den 80er Jahren) mehr und mehr zum erzähltechnisch perfektionierten Sprachrohr eines Status quo wird und den Diskurs über den Diskurs zu ihrem Hauptthema macht, erlahmt das Interesse US-amerikanischer und später auch europäischer Hispanist/inn/en für sie. So halten die Beitrage von Autorinnen im Kampf gegen Unterdrückung neuerdings, unerwartet für die Schriftstellerinnen selbst, Einzug in frauenbezogene Lehrveranstaltungen.
Das neu erwachte, primär universitär-wissenschaftliche Interesse ist für die meisten Autorinnen bedenklich. Sie befürchten, daß in die Interpretationen nordamerikanischer und europäischer Feministinnen allzu viele idealistisch geprägte Vorstellungen von weiblicher Identitätsfindung einfließen, die ein umfassend antikolonialistisch gedachtes Emanzipationsstreben außer acht lassen. Häufig ist der Verdacht zu hören, daß der lateinamerikanische Frauenroman als Projektionsfläche zur Bestätigung westlich geprägter feministischer Weltbewältigungsstrategien durch einen fremden Kulturkreis dienen könne. Die inhaltsanalytische Suche nach feministischen Unter- oder sogar Obertönen sowie die neuere Frage nach der individuellen Ausfüllung spezifisch weiblicher Schreibräume seitens ausländischer Wissenschaftlerinnen werden immer wieder als Versuche der Vereinnahmung abgewehrt. Im Vordergrund der lateinamerikanischen Schriftstellerinnenkongresse in den USA (1975 und 1982) und in Mexiko (1981) standen dementsprechend Forderungen nach Beendigung des marginalen Status der Autorin und nach Integration in den offiziellen Literaturbetrieb, und erst an zweiter Stelle rangierten Entwicklungsversuche eigenständiger feministischer Theoriemodelle.
Die Aufnahme in den Kanon der »ganz Großen« scheint Anfang der 80er Jahre plötzlich zu gelingen. Grund ist das 1982 in Spanien erschienene und mit Begeisterung vom Lesepublikum aufgenommene Erstlingswerk einer Exilchilenin. Die bestandene Feuerprobe der mit außergewöhnlicher und hinreißender Erzählfreude geschriebenen, mehr als fünfzig Jahre umspannenden Chronik einer Familie aus der chilenischen Oberschicht bei den spanisch-sprachigen Lesern/innen, stärker aber noch die publikumswirksame Tatsache, daß deren Autorin eine Nichte des 1973 ermordeten chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende ist, bewog einen deutschen Verleger, eine Übersetzung in Auftrag zu geben. 1984 erscheint in bald darauf preisgekrönter deutscher Ausgabe Das Geisterhaus von Isabel Allende. Die Präsentation der ersten Auflage hebt auf die politische Scharfsichtigkeit der exilierten Augenzeugin ab und unterstreicht damit die geschichtliche Aussagekraft, die dem Leseerlebnis ihres Werks innewohnt.
Die Auflagenhöhe steigt schnell, und ebenso schnell tritt in den Besprechungen des Romans der Hinweis auf die kritische Reflexion der Autorin über Chile in den Hintergrund. Die Tatsache, daß eine Frau sich ein politisches Thema zu eigen macht, muß offenbar schnellstens wieder verdrängt werden, sobald ihr Werbeeffekt ausgeschöpft ist. Kaum entwickelt sich in der ausländischen Leserschaft ein Interesse an lateinamerikanischen Autorinnen, da wird es bereits abgefangen im "lobenden" Urteil eines Kritikers, Das Geisterhaus sei ein Roman, »wie es ihn eigentlich schon gar nicht mehr gibt«. Die Frage nach weiteren Romanen seiner Art erübrigt sich damit. Glaubt man den Ankündigungen der jüngsten Auflagen, so ist wenige Monate nach seinem Erscheinen aus dem vielversprechenden literarischen Aufbruch einer Frau nichts als eine gut geschriebene Fortsetzung der bereits totgesagten »Boom«-Romane der 60er und 70er Jahre im Stile »wunderbarer Wirklichkeit« geworden. Geschickt wird die Originalität des Geisterhauses zurückgeschraubt auf das Niveau der »Boom«-Bewegung, die längst abgeflaut ist.
Ebenso interessant, wie seine Rezeptionsgeschichte zu verfolgen, ist es, im Roman selbst Spuren zu sichern, die diese öffentliche Verhinderung politischer und kreativer Emanzipation einer Frau vorwegnehmen und als Selbstverhinderung im weiblichen Bewußtsein vorzeichnen. In formaler Hinsicht hat sich Allende zunächst einen angestammten weiblichen Schutzraum gesucht. Wie die meisten lateinamerikanischen Frauenromane ist ihre Chronik im traditionellen weiblichen Lebensraum der Familie angesiedelt. Motivisch wagt die Autorin zu Beginn ihres umfangreichen Romans einen Vorgriff auf spezifisch weibliche Schreiborte und -anlässe: Tagebuch, versteckte Autorschaft, mangelndes Selbstbewußtsein und essentielles Schreibbedürfnis: Auf der ersten Seite wird entsprechend beiläufig das Geschreibsel des Kindes Clara erwähnt. Claras Aufzeichnungen sind Vorübungen späterer »Lebensnotizhefte«, die, so bemerkt eine anonyme Erzählinstanz, einst dazu dienen würden, »das Gedächtnis der Vergangenheit wiederzufinden und mein eigenes Entsetzen zu überleben« (S. 7). Beinahe den ganzen Roman über bleibt ungeklärt, wer diese vorahnungsvollen Worte spricht. Der Verdacht richtet sich auf das meist jähzornig nach Patriarchenmanier polternde Ich des unangefochten selbstherrlichen Familienoberhauptes Esteban Trueba. Wer sonst wäre in der Lage, die Fäden eines solchen Mammutwerks wie Das Geisterhaus in der Hand zu halten? Die weithin auktoriale Erzählführung von souveränem Rückzugsposten aus scheint das vermutete klassische Prinzip eines männlichen Erzählers zu bestätigen. Allenthalben beruhigt angesichts der gewohnten Aufgabenverteilung im Roman, läßt sich die Aufmerksamkeit des/r Lesers/in gefangennehmen von einem einzigartigen Leseabenteuer. Man schmökert in liebevoll ausgezeichneten Details, in die sich unauffällig ein starkes, aber nie aufmüpfiges Frauenbewußtsein einschleicht.
Da fällt plötzlich Terror in die Zeilen, besetzen Folter und Vergewaltigung den Fabulierraum. Brutale Gewalt dringt in das Schreiben selbst ein, erzwingt gegen Ende den Stil-Bruch. Der Topos »wunderbare Wirklichkeit« kann nicht durchgehalten, das Schema der Familiensaga zwischen Aufstieg, Blüte und Verfall kann nicht ausgeführt werden. Die überlebende Enkelin Alba übernimmt die Verantwortung der Augenzeugin. Sie greift und damit klären sich endlich die Ankündigungen des Romanbeginns auf zu den »Lebensnotizheften« ihrer Großmutter Clara und schreibt sich ihre Geschichte, »um mein eigenes Entsetzen zu überleben« (S. 444). Im Moment der doppelten Todesdrohung durch männliches Gattungs- und Gewaltmonopol emanzipieren sich für einen kurzen Augenblick gleichzeitig weibliches Ich und weibliches Schreiben.
Der Schlußmonolog Albas führt von der Utopie zurück auf die Ebene realer Machtverteilung. Der Überlebensversuch Albas/Allendes endet in beschwichtigender Hoffnung. Die jahrhundertelang geübte harmonisierende Funktion der Frau außerhalb öffentlicher Entscheidungsfunktionen klingt in ihrem Appell an den guten Willen durch. Während beispielsweise Maria Luisa Puga (Mexiko) in Las posibilidades del odio (1978) das Eingeständnis des eigenen Hasses auf den sprachlichen, ökonomischen und politischen Kolonisator zum befreienden Movens ihres versteckt autobiographisch angelegten Romans macht, in dem sich das Ich in den vielen Unterdrückten findet und aufbaut, nimmt sich die Autorin Allende (als Frau) zurück und läßt Alba beschwichtigend ihren Rückzug kommentieren: »Und jetzt suche ich meinen Haß und kann ihn nicht finden« (S. 443). In einem Interview nannte Allende ihren Roman weder ein politisches noch ein feministisches Dokument. Tatsächlich ist Das Geisterhaus ein außerordentliches Paradigma der stets bedrohten Emanzipation des Subjekts Frau.
Auch im bisher einzigen anderen Roman einer Lateinamerikanerin, der einem breiteren deutschen Lesepublikum bekannt geworden ist, dem Testimonialroman Allem zu Trotz... Das Leben der Jesusa (1982, sp. 1969) von Elena Poniatowska (Mexiko), verhindert eine Verinnerlichung patriarchaler Denkweise die bruchlose literarische Verarbeitung weiblicher Eigenständigkeit. Poniatowska spart ihr eigenes Autorinnen-Ich im Text aus und leiht ihre Stimme einer Frau aus der Unterschicht Mexiko Citys. Damit taucht neben einem frauenspezifischen ein zweites klassenspezifisches Problem auf, das den verschiedentlich von Kritikerinnen entdeckten "Präfeminismus" im Verhalten Jesusas empfindlich stört. Der literarisch überarbeitete Testimonialroman bewegt sich auf einer Gratwanderung zwischen sozialem Engagement für die Unterdrückten und deren paternalistischer Vereinnahmung.
Nach Gesprächen mit der heute über 80jährigen Analphabetin Jesusa Palaneares schuf Poniatowska deren zweifelsohne faszinierenden Lebensbericht. Die unorthodoxe, assoziativ-chronologisch geordnete Ich-Reflexion, die zurückgreift bis zur entmystifizierten mexikanischen Revolution in den 20er Jahren, ist aufschlußreich für das ideologische Klima Mexikos, das die nun schon seit sechzig Jahren im wesentlichen stagnierende Landesgeschichte prägt. Die abweichende deutsche Titelübersetzung - wörtlich hieße sie: »Bis bald, mein Jesus« - trifft (mit Absicht?) scharf den liberalkonservativen Kern der verwendeten Form der Pikareske, einer hispanischen Variante des bürgerlichen Bildungsromans. Die Erinnerung Jesusas ist in deren Gattungsgrenzen eingefangen. Getreu dem Vorbild im spanischen Schelmenroman, dessen Blütezeiten mit Verbürgerlichungs- und Vereinzelungsprozessen in der Gesellschaft zusammenfallen, rebelliert auch Jesusa nicht offen. Statt dessen setzt sie sich individualistisch durch und übernimmt Verantwortung nur für sich selbst. Oftmals überraschend wird die Frau aus der Unterschicht in ihrem literarischen Portrait zu einer Verkörperung einer bürgerlich-männlichen Perspektive mit Haudegenmentalität, die dem erwarteten Bild einer weiblichen Emanzipation in einer nichtbürgerlichen Schicht einigen Abbruch tut. Jesusa verachtet sich selbst und orientiert sich am väterlichen Ideal, setzt sich kurzzeitig an die Spitze eines Soldatentrupps in der Regierungszeit Carranzas'und schlägt sich, antiklerikal, aber religiös, stets mit nostalgischem Blick auf die Vergangenheit, in den verschiedensten Berufen durch, ohne je mit der für eine Frau doch so naheliegenden Mutterrolle zu liebäugeln. In einer spiritistischen Institution, die ihre kreativen Kräfte vorsorglich ins Jenseits lenkt, findet sie ihre geistige Heimat.
Die stellvertretend geschriebene Autobiographie hinterläßt keineswegs den Eindruck einer unbequemen Rebellin. Die Frage, inwieweit ein Wunschdenken der Autorin diese Aussage zur Situation in der Unterschicht lenkt, läßt sich nicht beantworten. Die in Bezug auf die Schreiberin vorgetäuschte selbstlose Bestandsaufnahme einer verschmitzten Resignation bei Jesusa ist beruhigend, wohl auch für die ebenfalls nicht aus der Unterschicht stammende, für eine Autorin ungewöhnlich große Käufer- und Leserschaft. Der Hinweis auf einen »Präfeminismus« scheint mir vom Kernproblem des Testimonialromans abzulenken: Allem zum Trotz ... ist ein Beispiel weiblichen uneigentlichen, also nicht eigenen Sprechens. Poniatowska, die inzwischen an einem biographischen Roman über die Fotografin und Revolutionärin Tina Modotti arbeitet, weist immer wieder auf die Schwierigkeit hin, nicht nur von den Frauen, sondern als Frau zu sprechen, von der geliehenen Stimme zur eigenen Stimme zu finden.
Mexiko ist eines der Länder Lateinamerikas, in denen schon in den 60er Jahren Frauen, zumindest innerhalb der intellektuellen Schichten, wie der Poniatowskas, einen gewissen Denkfreiraum hatten. Ihre Literatur hat jedoch, wie alle weiteren hier behandelten literarischen Werke, beim deutschen Publikum wenig oder keine Resonanz gefunden. Hier, wie allgemein in der Frauenliteratur der 60er Jahre, ersetzt die stellvertretende Parteinahme für andere Unterdrückte die Artikulation der eigenen Unterdrückungsgeschichte.
Im Schutzmantel der Fiktion ist es für die beiden bereits genannten mexikanischen Verfasserinnen zweier Diktatorenromane, Rosario Castellanos in Oficio de tinieblas (1962) und Elena Garro in Erinnerungen an die Zukunft (1963), möglich, sich nationale Geschichte aus weiblicher Perspektive anzueignen und gleichzeitig in literarischer Hinsicht die Strukturlogik des Diktatorenromans zu verändern. Eine erwartete lineare Geschichte eines aktiven Helden wird aufgelöst in die notwendig antilineare Analyse komplexer Herrschaftszusammenhänge. Die eigenen Erfahrungen der Autorinnen sind als entscheidende Instanzen für die eigenwilligen Perspektivierungen noch nicht unmittelbar erkennbar. Im Vordergrund steht die Reflexion auf »die« Frauen. Das Ich der Autorinnen findet sich aufgesplittert in viele Protagonistinnen, die stellvertretend Plätze in der männlichen Ordnung ausleben und/oder Utopien verkörpern, neben dieser Ordnung zu stehen.
Castellanos' Roman baut motivisch auf dem historisch belegten Ereignis einer blutig niedergeschlagenen Indiorevolte von 1867 auf Das indigenistische Thema, das bis zum Massaker von Tlaltelolco 1968 als unzeitgemäßer Rückfall in eine paternalistisch-indiofreundliche Mode vordemokratischer Epochen galt, wird mit einem weiteren, in der mexikanischen Geschichte mystifizierten Thema verknüpft: Handlungsauslöser ist das Ringen um die Durchsetzung der revolutionären Agrarreformgesetze in den 20er und 30er Jahren, die als grundlegend für die Modernität Mexikos gelten. In der literarischen Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen gelingt Castellanos die Herausarbeitung konstanter Züge von Herrschaft in patriarchalen Systemen. Die ökonomische und schließlich militärische Ausbeutung von Ohnmächtigen, hier der Indios, ist Folge eines Primats kapitalistischen Eigeninteresses. Dieses tarnt sich in der weißen Führungsschicht als kollektives Interesse aller Mexikaner und zersetzt oder zerstört alle nicht durch Kapital gebundenen, überlebensorientierten Kollektive. Der Vergleich zwischen der Funktionsweise des Indiokollektivs und dem Funktionieren weitgehend frauengeleiteter, traditioneller Familiengemeinschaften liegt nahe. Eine frauenspezifische Kapitalismuskritik der Autorin kündigt sich an und entwickelt sich zum Leitgedanken des gesamten Werks. Untermauert und erweitert wird der feministisch-sozialistische Gehalt des Romans durch eine geschlechtsdifferenzierende Gegenüberstellung zweier selbstloser Träger kollektiver Ideale: der Indioführerin Catalina und des Technikers Fernando Ulloa. Ulloa ist von der Regierung zur Ausführung der Landverteilung entsandt und trifft auf eine weiße Gesellschaft, die vom Streben nach Macht durch Landbesitz verblendet ist und sich seinem Regierungsauftrag hinterrücks widersetzt. Die kinderlose Catalina wandelt ihren dumpfen Haß auf ihre Verurteilung zu einem inaktiven Frauendasein in geistige Energie um und dient ihrem Volk als Priesterin und Medium vermeintlich rettender Götter. Beide, gleichsam Antidiktatoren, scheitern: Uloa an der ungebrochenen Macht der lokalen Großgrundbesitzer, welche die revolutionäre Rhetorik der Regierenden als hilflos entlarvt; Catalina an der unzeitgemäßen Schicksalsergebenheit des archaischen Indiokollektivs, welches - anders als die weiße Gesellschaft - Macht nicht an Ausbeutung koppelt. Während Ulloa wie ein Verräter stirbt, läßt sich Catalina mit den Indios in einem Opferritual von den Weißen abschlachten. Im Scheitern beider erledigen sich gleichzeitig der illusorische Topos indianistischer weißer Schriftsteller von einer lebensfähigen matriarchalen Gesellschaft fernab des vermaledeiten städtischen Lebens wie auch ein stolz behaupteter mexikanischer Mythos von einer ehedem gelungenen sozialen Revolution, der einen Rückzug ins Nichtstun rechtfertigt. Die Außenseiterin Julia, Lebensgefährtin, aber nicht Ehefrau (!) Ulloas, spricht gegen Ende des Romans eine seiner Grunderfahrungen aus: »Sprechen gleicht dem Öffnen eines Abszesses. Der Eiter läuft; die Entzündung läßt nach; Fieber und Fieberphantasien werden gelindert« (S. 288, Übers. d. Verf).
Sprache ist für Castellanos wie für Garro das entscheidende Machtinstrument, von dem Frauen und Minderheiten ausgeschlossen sind. Catalina, Angehörige der indianischen Minderheit und Frau, ist der Sprache der Weißen nicht mächtig. Sie ist daher ihrer Verurteilung zur Hexe und Hysterikerin, zur wehrlosen und dennoch gefährlichen Frau, von Seiten der Weissen hilflos ausgeliefert. Castellanos schafft mit dem Portrait der unschuldig schuldigen Frau, die nichts von den archetypischen Formeln zur Frauenverdrängung ahnt und gleichzeitig den Massenmord auslöst, eine Allegorie für patriarchale Praktiken, die weit über den engen historischen Rahmen des Romans hinausweist.
In Garros nicht durchgängig zufriedenstellend ins Deutsche übersetzten Variante des Diktatorenromans verdeutlicht ein aus einem Spiegel sprechender Ehemann das männliche Sprachmonopol, durch das Männer Frauen ihre geschlechtspolarisierte Weltsicht aufzuzwingen versuchen.
Für Garro ist wie für Castellanos ein historisches Thema Auslöser eines kreativen Prozesses, der sich vom geschichtlichen Sachverhalt entfernt, um das Psychogramm einer sozialen Gemeinschaft zu entwerfen. Der Roman spielt zu Beginn des Cristera-Kriegs nach der Niederschlagung der Zapata-Revolte zwischen 1927 und 1929 im Süden Mexikos. Eine zunächst schwer identifizierbare Ich-Stimme, die von den Stadtmauern aus zu sprechen scheint, berichtet von dem in der Kleinstadt Ixtepec stationierten General Rosas, unschwer erkennbar als Vorbild für die Figur des Oberst Buendia in Hundert Jahre Einsamkeit (sowie entsprechender Figuren in Vorarbeiten zu dem Roman). Wie Garro an anderer Stelle bestätigt, las Gabriel Garcia Marquez ihr Manuskript, bevor er seinen Erfolgsroman schrieb. General Rosas terrorisiert unablässig die Kleinstadt. Immer wieder erschaudern ihre Bewohner vor in der Nacht aufgeknüpften Toten. Der tiefere Grund für diese Mordgier, so macht die allgegenwärtige Erzählinstanz transparent, ist kein ökonomisches oder politisches Interesse. Er liegt vielmehr in der Verzweiflung des Mannes Rosas, der sich Gefühle zu erzwingen sucht. Die Frauen verweigern sich jedoch seiner Macht- und Gefühlslogik. Wie bei Castellanos werden sie auch bei Garro nicht von einer Mitschuld am Funktionieren dieser tödlichen Denkordnung freigesprochen, solange sie nicht machtvoll etwas dagegensetzen. Widerstand in Form von Fluchten in Freiräume oder Beschränkung auf die Frauen üblicherweise zugestandenen Waffen erweisen sich im Roman als die falschen Lösungen. Die Geliebten Rosas' verhalten sich seinen Untaten gegenüber teilnahmslos. Während ihre Körper ihn im Hotelzimmer erwarten, scheint ihm ihr eigentliches Wesen in einer anderen, ihm unzugänglichen Welt. Das ständige Erlebnis dieser Doppelexistenz von Frauen flößt ihm Angst ein, und so versucht er, ihre geistige Entrückung und seine daraus folgende Einsamkeit in eskalierenden Amokläufen zu kompensieren. Durch die Verknüpfung von Männlichkeitswahn einerseits und weiblichem Selbstschutz im Rückzug andererseits verschlimmert sich zusehends die Situation in Ixtepee. »Weibliche« List, eine der wenigen den Frauen zugestandenen Aktionsformen, treibt schließlich die Gewaltherrschaft Rosas' auf die Spitze: die als Ehrenball getarnte Konspiration einiger Damen in Ixtepee muß mit unzähligen Menschenleben bezahlt werden. Garro schreibt sich von Frauendaseinsformen in einer geschlossenen Gesellschaft durch die Darstellung von sozialen, psychischen und sogar physischen Todesformen von Frauen, wie sie die Literatur durchziehen, frei. Der realistische Diktatorenroman überschreitet die Grenze zur mythisch-märchenhaften Erzählung, in der Julia, Rosas' erste Geliebte, auf einem mit Zauberkräften ausgestatteten Pferd verschwindet und ihre Nachfolgerin Isabel zu einem Stein erstarrt.
Positive Utopie, sozusagen titelspendende »Erinnerungen an die Zukunft«, besitzt paradoxerweise allein die Stadt Ixtepec, die sich im Laufe des Romans als Trägerin der Erzählperspektive entpuppt. Der zirkulierende, die Chronologie in sich aufhebende Blick der sprechenden Stadt verrät weit mehr als eine bloße Anlehnung an ein zyklisches Zeitempfinden der Azteken, wie es Kritiker vielfach zu finden glauben: Die ungewöhnliche Perspektive versammelt in sich sprechenden Widerstand. In festen sozialen Strukturen, wie denen Mexikos in den 60er Jahren, ist er steinern wie die Stadt: ebenso unerweichlich wie unbeweglich.
Die am Beispiel Mexiko aufgezeigte Entwicklung vom Konstatieren eigener Machtlosigkeit zur Suche nach Widerstandsmöglichkeiten gegen patriarchale Strukturen, die zu einem Dasein als lebende Tote verurteilen, verläuft im Roman von Autorinnen bis zum Ende der 60er Jahre überall dort ähnlich, wo sich demokratische oder populistische Regierungen Frauen gegenüber relativ liberal verhalten.
Im Schutz formaler Anpassung können sich nach dem Zweiten Weltkrieg Frauen in die argentinische Schriftstellergruppe der sogenannten »Zornigen« integrieren und über eine längere Zeitspanne hinweg ihre Anwesenheit behaupten. Die vergleichsweise starke Position der Argentinierinnen stützt sich nicht zuletzt darauf, daß ein Schreibbedürfnis von Frauen und Männern auf den gemeinsamen Nenner »Zorn« gebracht werden kann und damit unabhängig vom Geschlecht der Autoren literaturfähig wird. Im Laufe der Jahre läßt sich eine schrittweise formale und inhaltliche Distanznahme weiblicher Literatur von der ihrer Kollegen und ein allmählich kristallisierendes Frauenbewußtsein beobachten.
Schon aus frühen Romanen spricht verhaltenes Unbehagen an Frauenschicksalen, das nach und nach artikulierbar wird als Kritik an Männern (Vätern, Politikern) und schließlich an männerdominierten Strukturen. In Das Haus mit dem Engel (1958, sp. 1955) von Beatriz Guido wird eine fragmentartig rekonstruierte Familiengeschichte zur Allegorie für die politische Geschichte Argentiniens. Wachsender Nationalismus und Abschottung gegenüber dem Ausland nach dem Zweiten Weltkrieg ist für Frauen, und hierbei insbesondere für die bürgerlichen Frauen, als doppelte moralische wie sprachliche Gefangenschaft spürbar. Sie ist in jenen Jahren, wie Guidos Roman verdeutlicht, im besten Falle individuell überwindbar. Mit La senora Ordénez (1967) schafft Marta Lynch eine Frauengestalt, die ganz in ihrer Verurteilung zu einem Dasein als »anderes« Geschlecht aufgeht und sie schreibend zelebriert. Symptomatisch für das doppelte Bewußtsein der Titelfigur von Frauenbildern ist ihre selbstdurchschaute Unfähigkeit, sich der Faszination für Evita Perón, weibliche Idolfigur und lebendiger Mythos ihrer Zeit, zu erwehren. Blanca Ordonez folgt ihrem ersten Ehemann blindnaiv in politische Versammlungen und läßt sich zwielichtige Agitationsaufgaben - aus Liebe! - aufdrängen. Sie hält sich nicht dafür geschaffen, politische Zusammenhänge selbständig zu durchschauen und würde ihre Bemerkungen zum Alltag in Buenos Aires niemals für scharfsinnige Analysen der Verhältnisse in Argentinien halten, was sie tatsächlich sind. Obwohl von Männern immer wieder enttäuscht, ist sie unfähig, die Frauen und damit sich selbst diskriminierende Brille der Männer abzusetzen. Ihre feste Verhaftung in Weiblichkeitsklischees, die das Bürgertum seit dem 19. Jahrhundert unverändert gelassen hat, verhindert ein dringend notwendiges Selbstbewußtsein für einen eigenständigen Aufbruch in »unweibliche« Denkweisen und Aktivitäten. Blanca, die Weiße, bleibt ihrem Namen getreu nach außen harmlos, sanft, während ihr Inneres von Konflikten zerrissen wird, die nur als unbestimmbare Unzufriedenheit nach außen dringen können. Nur dem Papier kann sie diese Konflikte anvertrauen. Die Bürgerin Blanca rebelliert gegen bürgerliche Verurteilung zur Sprachlosigkeit, ohne sich neu zu entwerfen. Im Wechsel der Erzählperspektive zwischen »Ich« und »Sie« tariert sie ihre Distanz zu sich aus. Ihre Identitätssuche verfängt sich jedoch in schauspielerinnenhaftem Ausleben von bekannten Frauenbildern. Vor die Entscheidung gestellt, zwischen Liebe zu ihren Sicherheit bietenden Peinigern und kreativem Haß auf diejenigen, die sie in einen goldenen Käfig einsperren, zu wählen, bleibt sie bei der althergebrachten Lösung. Unweigerlich stellen sich so Überdruß und Langeweile nach jeder noch so verheißungsvollen Rolle als politische Mitläuferin, Ehefrau, Freizeitkünstlerin und Ehebrecherin ein. Blancas/Lynchs Schreibarbeit an der Entglorifizierung von bürgerlichen Frauenidealen zeichnet beispielhaft Frauenleben in der stark europäisch beeinflußten Mittel- und Oberschicht Argentiniens nach. Tagebuchartig entwickelt sich diese Arbeit zu einem Roman, dessen zirkelschlußartig mit dem Anfang verwobenes Ende gleichsam die Sackgasse beschwört, die für eine neue Frauengeneration nicht mehr begehbar ist.
Mit der allgemeinen Stärkung der Frauenbewegung am Ende der 60er Jahre und den Impulsen, die von der kubanischen Revolution, den Aktionen Che Guevaras (der ja argentinischer Abstammung war) und den antiautoritären Bewegungen in Europa ausgehen, verlagert sich der Blickwinkel argentinischer Autorinnen vom Einzelschicksal der Bürgerin auf Veränderungen und Veränderungsmöglichkeiten im öffentlichen Leben.
Die erzähltechnisch versierte Bestsellerautorin Silvina Bullrich schlägt die Brücke vom sozialkritischen Roman zur leichten Massenlektüre. Argumentativ flach, aber spannungsreich sind ihre Karikaturen politischer und sozialer Mißstände mit spöttisch-feministischem Unterton. Tatsächlich greift ihr Feminismus kaum tiefer als bis zum Problem der Bewältigung von Alltagsproblemen berufstätiger Frauen, ein Thema, das in der feministischen Diskussion des Kontinents lediglich für eine schmale Schicht privilegierter Frauen vermutlich kurzfristig von Bedeutung ist.
Auch in Guidos vielgelesenem Roman EI incendio y las vísperas (1964) scheint die europäisch geprägte Kultur Argentiniens durch, die Frauenbewußtsein durch Zugang zum Bildungswesen gleichzeitig fördert und in bürgerlichen Fesseln hält. Frauen sind hier aktiv am Aufbau eines oppositionellen Bündnisses zwischen Studenten, Arbeitern und Aristokratie gegen Perón beteiligt. Die politischen Verhältnisse, die vor Folter nicht zurückschreckenden Repressionen, die unmögliche Integration divergierender klassenspezifischer Ziele zu einer Volksallianz prägen sich auch den privaten Familienverhältnissen ein. Während die historische Situation exakt argentinisch ist, verrät vor allem die aristokratisch-großbürgerliche Denkweise der Männer, die Geschichte machen wollen, eine ebenso authentische, allerdings zeitenübergreifende Anlehnung an abendländisches Selbstverständnis. Motor aller Aktivitäten, auch der revolutionären, ist die Verheißung eines weiblichen Objekts, sei es Muse, Braut oder sogar der Mutterschoß, als den die Familie Pradere ihren umkämpften Gutsbesitz mit dem Namen einer französischen Geliebten, »Bagatelle«, empfindet. Guidos von der Seite der Männer her aufgerollte Gesellschaftskritik kommt bei der Darstellung der Frauen zum Stehen. Weibliche Romanfiguren bleiben doppelsichtig als Subjekte, die ihrem zugeschriebenen Charakter als (Liebes-) Objekte nie entkommen (wollen). Als Autorin und Erzählerin ist Guido ihren Frauengestalten voraus. In die Erzählstruktur ihres Romans ist ein Bewußtsein von der Notwendigkeit des Ausgangs aus der weiblichen Unmündigkeit tief eingeschrieben. Zwar ist El incendio y las visperas wie so viele Frauenromane unspektakulär als Familienchronik angelegt; zwar bleibt die Beschreibung eines wenn nicht konservativen, so doch männliche und weibliche Zuständigkeitsbereiche konservierenden Denkens realistisch - doch ist jede Art von linearer Logik kräftig durcheinandergeschüttelt. Durch eine mehrstimmige, achronologische Rekapitulation des Untergangs der aristokratischen Familie Pradere in den Jahren 1952 und 1953 kommen verborgene Beziehungsstrukturen zum Vorschein. Das perspektivisch und chronologisch in Gedächtnisprotokolle zersplitterte Familienportrait verdichtet sich schließlich in neuer, eigenständiger Ordnung zu einem Abgesang auf die Gattung der Familiensaga.
Während Guido auch in späteren Romanen weitgehend dem Großbürgertum verhaftet bleibt, verläßt Lynch in El cruce del rio (1972) fünf Jahre nach La senora Ordonez das gleichzeitig abstoßende und anziehende luxusliebende Oberschichtmilieu, dem sie selbst wie Guido entstammt, und durchquert auf der Suche nach den Koordinaten des neuen Menschen im Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung verschiedene soziale Schichten. Die Autorin schlüpft als Ich-Erzählerin nacheinander in die Rollen des Revolutionärs Pablo, der von seiner Totenbahre aus auf sein Leben zurückblickt (Teil 1), und dessen Mutter, die neben dem Leichnam gleichfalls die Vergangenheit rekonstruiert und die Aussagen ihres Sohnes in ihren Bedeutungen für Frauen weiblich verrückt (Teil 2). Beide zeichnen die spezifische Sozialisation eines Guerrillakämpfers, damit des Helden der Opposition, nach und vollziehen dabei eine Polarisierung in männliche und weibliche Denkmuster - hier liebende Entsagung, da heldenhafter Einsatz - als Ergebnis von Kultur und Erziehung nach. Auf literarischer Ebene entspricht der politisch-sozialen Entmystifizierung des typischen selbstsicheren Idols ohne Furcht und Tadel, dessen Vorstellung auch in Guerrillakreisen herumspukt, eine fortschreitende Entzauberung des klassischen Heldenromans. Lynch spürt die Gelenkstellen des Patriarchats heraus und reizt ihre Funktionsweise bis zu ihrem Zusammenbruch aus. Der Held bewahrt zwar bis in den Tod den Ruf des Heroen, doch hilft das der Guerrilla wenig. Auch ein männliches Kunstverständnis, nach dem sich der Künstler in seinem Werk fortsetzt, läßt Lynch nicht gelten. Die anfängliche Eigenständigkeit der Rede Pablos geht im anschließenden Sprechen seiner Mutter unter und verliert jeden Wahrheitsanspruch. Die widersprüchliche Beschreibung von Pablos überlebender Freundin Dolores durch Mutter und Sohn enthält einen vorsichtigen Hinweis auf Notwendigkeit und Möglichkeit einer noch individuellen Überwindung des kulturverordneten Heldenschemas. Zwar noch kein Neuentwurf, stellt die Figur der Dolores immerhin eine lebendige Absage an typisierende Persönlichkeitsvorstellungen und genau darin eine befreite Frau dar. Die politische Tragweite dieser Personwerdung der Idee eines neuen Menschen deutet sich im Roman nur durch die Tatsache an, daß auch Dolores in der Guerrilla aktiv ist, aber anders als Pablo überlebt. Lynch entläßt Dolores in eine unbestimmte, aber mit Sicherheit aktiv gestaltete Zukunft und löst mit diesem offenen Ende ihr Versprechen ein, vor-geschriebene Daseinsformen zu verlassen, ohne neue Modelle vorzugeben.
In dem sich im Laufe der ersten Hälfte der 70er Jahre verschärfenden und nach dem Militärputsch in Gewalt eskalierenden politischen Klima Argentiniens wird das Nachdenken über die psychosozialen Bedingungen des Terrors Antrieb schriftstellerischen Schaffens. Emanzipatorische Literatur von Frauen findet zu einer eindeutigeren Sprache. Die schon lange brüchige Kruste der Familiensaga vermag immer seltener unbefragt die Rede von Autorinnen wie Protagonistinnen zu überlagern. Die neuen Romanformen werden bewußt »unweiblich« im Sinne der überkommenen Frauenbilder. Die beschriebenen Frauen schwanken zwischen verzweifelter Haltlosigkeit und zielstrebigem Sich-Abwenden von erkannten Feindbildern.
Aus der Tradition der phantastischen Erzählung mit Vorläuferinnen wie Silvina Ocampo und Maria Luisa Levinson kommend, überwinden Griselda Gambaro und Elvira Orphée den weiblichen Rückzug in Passivität und Innerlichkeit, der sich bei den Vorgängerinnen in psychologischen Romanen voller Obsessionen, Frustrationen und Phantasmen Ausbruchsmomente gesucht hatte.
Gambaro veröffentlicht zur Zeit des argentinischen Militärputsches Ganarse la muerte (1976). Der hierin beschriebene fiktive Lebensweg der Waisen Cledy verläuft vor dem Hintergrund eines makabren Spektrums von Gewalt. Männer und Frauen (als Väter und Mütter) sind an der zynisch-phantastischen Aushöhlung sinnvoller Existenz - anders etwa als bei vergleichbaren Autorinnen wie Myrna Casas und Luisa Josefina Hernández gleichermaßen beteiligt. Cledy ist rettungslos Objekt. Ihre Geschichte stellt sich dar als chronologischer Ablauf von Willkürakten, die von triebabhängigen Rolleninhabern an ihr ausgeführt werden. Die Verstümmelung des weiblichen Körpers der Waisen spiegelt parabolisch die Verstümmelung der Menschlichkeit. Die alptraumhafte Reihung horrender Leidensstationen läuft jeder geschlossenen Romanästhetik zuwider und verrät in ihrer szenischen Gestaltung die Verwurzelung der Autorin im absurden Theater.
In ähnlicher Weise besteht auch Orphées La última conquista de El Angel (1977) aus einer Kette von Einzelerzählungen mit chronologischer, jedoch ebenso wenig mehr einen akzeptablen Lebenssinn schaffender Ordnung. Beschrieben wird das eigentlich unbeschreibliche menschliche Drama der Folter. Der Text läßt keinen Raum zur Verwunderung über dieses Paradox. Er verbietet jegliche Distanznahme, konfrontiert pausenlos mit dem Schrecklichen, das von keiner menschenwürdigen Moral mehr getragen sein kann. Und so kann nicht einmal mehr ein Menschlichkeit in den Text zurückholendes Mitleid aufkommen, das der Schrei eines Gefolterten hervorriefe. Denn ein solcher Schrei bleibt aus. Die Opfer sind stumm. Orphées Denkweise zufolge wäre es bereits ein Akt der Versöhnung und grundsätzlichen Anerkennung von Opfer-Täter-Strukturen, würde sie sich auch nur für den Moment des Schreibens in sie hineinversetzen. So haben bei Orphée nur die Täter eine Stimme. Einer von ihnen, eine männliche Ich-Figur, ist von Beruf Folterer, jedoch äußerlich kein Ungeheuer, sondern nichts als ein rundum eigenschaftsloser Jedermann, der seiner Faszination für die Perfektionierung und Verwissenschaftlichung von Foltermethoden erliegt. Mit La última conquista de El Angel verfaßt er den nüchternen Bericht seiner beruflichen Karriere in einer Spezialeinheit der Polizei. Der Folterer enthält sich jeglicher Deutung seiner Taten und spiegelt damit um so unmittelbarer den faschistoiden Charakter einer Männergesellschaft, in der sich das Quälen eines Menschen zum Lust- und Liebesersatz verselbständigen kann. Auch Orphées Auseinandersetzung mit der damaligen aktuellen Gewaltherrschaft in Argentinien findet in der Darstellung einer rein weiblichen Erfahrung, der Vergewaltigung, zu ihrer eindringlichsten Sprache. Im Schlußkapitel begründet der Erzähler sein letztes Folterritual nicht ohne einen gewissen Stolz auf seinen Spürsinn. Seine Rhetorik evoziert die »Logik« offizieller Stellungnahmen zu Gewaltpraktiken in Folterregimen. Die Lektüre hinterläßt Fassungslosigkeit angesichts der Fähigkeit eines Menschen, mit Hilfe von Elektroschocks eine Vergewaltigung einer Frau mit dem Leichnam ihres ehemaligen Geliebten zu inszenieren und diesem grauenvollen Akt anschließend noch den Anschein eines ordnungsstaatlichen Sinns zu geben. Es ist eine Fassungslosigkeit, die in der Romanstruktur vorgezeichnet ist. Der verwendeten Tagebuchform ist ihre ureigenste Funktion aberkannt, positiver Schutzraum intimer Regungen zu sein. Statt dessen droht der Bericht des Folterers, der die innersten Erfahrungen von Menschen zu Tagesordnungspunkten seziert, in unzusammenhängende Eintragungen zu zerfallen, von denen nur der Horror als verbindendes Glied nie weicht. In der Grenzerfahrung menschlichen Durchhaltevermögens bleibt nur mehr eine unausgesprochene - Utopie: Gewaltlosigkeit.
In der zweiten Hälfte der 70er Jahre wird für Autorinnen wie Autoren aus Militärdiktaturen und verdeckten Gewaltregimen das Exil zunehmend zum einzig sicheren Zufluchtsort. Die persönliche Bedrohung führt auch schreibende Frauen endgültig dazu, mit allen das Weibliche an sich umgebenden Tabus zu brechen und sich militant und zornig zu Wort zu melden. Ein Überblick über die jüngste Generation lateinamerikanischer Schriftstellerinnen zeigt als gemeinsames Charakteristikum eine Schreibweise, die einem neuen Verhältnis dem weiblichen Körper gegenüber Ausdruck verleiht und ein neues Frauenselbstverständnis prägt, das mehr und mehr bildungsunabhängig wird. Anders als bei den europäischen Tendenzen in der Frauenliteratur der 70er Jahre nimmt die Körper-Sprache der Lateinamerikanerinnen ihren Ausgang in radikal subjektiven körperlichen Schmerz- und kaum je in Lusterfahrungen. Die Beschreibung von Folter und Vergewaltigung verändert den vormaligen Themenkreis beträchtlich. Die neuen Bearbeitungen von Unterdrückungserfahrungen sehen die sprachlich-kulturelle Verdrängung nur noch als Teil einer umfassenden, lebensbedrohlichen Repression. Während man bei der Literatur von Männern in den 80er Jahren von einer Rückkehr (!) von der Reflexion über Chancen und Grenzen des Diskurses zu einer einfachen Sprache des Körpers spricht, geht es bei Frauen heute weitgehend und ehrlicher um den ersten schmerzhaften Einzug in den eigenen Körper. Insofern die Autorinnen ihren konsequenten Bruch mit allen Tabus, die Frauen betreffen, in ihr Werk einbringen, schaffen sie eine Literatur, die in ihrem heimatlichen sozialen und politischen Umfeld oft revolutionärer ist, als dies heute bei vielen feministischen Büchern in Europa der Fall ist.
Das hauptsächlich im spanischen Exil entstandene Werk der eingangs genannten Uruguayerin Cristina Peri Rossi verbindet surrealistische Metaphorik wie die der bei den Argentinierinnen erwähnten phantastischen Literatur mit einer ebenso komplizierten wie reizvollen Chiffriertechnik von hohem linguistischen Gespür. Sprache ist Mittel, Gegenstand und Beweismittel; Sprechen/Schreiben kein Selbstschutz im entgrenzten Experiment (wie tendeziell in der »Boom«-Literatur), sondern Selbstfindungsprozeß in der Grenzerfahrung mit dem Unaussprechlichen des Tabus, des Mythos und schließlich des Grauens vor dem Terror.
In El libro de misprimos (1965/1976), dem Titel nach eine Art Familienalbum, beanspruchen männliche Ich-Sprecher mühsam das Schreib- und Rederecht. Sie sind Mitglieder einer überalterten Oberschichtfamilie in Montevideo, die sich allmählich auflöst. Die lächerliche Karikatur einer ehemals funktionierenden Gemeinschaft steht unübersehbar sinnbildhaft für das uruguayische diktatorische Regime, das sich Anfang der 60er Jahre mit der neu entstehenden Stadtguerrilla, den Tupamaros, konfrontiert sieht. Den traditionellen weiblichen Schreibraum, das Tagebuch, nutzt auch Peri Rossi für eine zynische Demontage. In El libro de mis primos sind es Jungen, die Neffen der Familie, die sich das weibliche Medium aneignen. Ihre Leistung ist aber - im Gegensatz zu einer Forderung an weibliches Schreiben - kaum eine verändernde Anverwandlung eines fremden Mediums, sondern eine zerstörerische Abwandlung der Möglichkeit von positiver Entwicklungsgeschichte. Die Aufzeichnungen der Jungen stellen keine fortlaufende Entwicklung einer Fabel dar. Vielmehr werden Ausschnitte von Bewußtseinszuständen aufgehäuft, deren sperrige Lektüre von den Lesern/Leserinnen eine Transposition des Erzählten auf die Ebene der Allegorie verlangt, um von dort aus Sinnzusammenhänge freilegen zu können. Im Zentrum der allegorischen Transformation von Wirklichkeit entsteht so das Bild einer emotionslos von einem der beteiligten Neffen berichteten »Operation« an einer Puppe, die mit der Entfernung ihres Sprechapparates beginnt und in einer Vergewaltigung endet. Die Entschlüsselung des Puppenbildes und die Übertragung auf die reale Ebene einer Vergewaltigungserfahrung scheint Kritikern nicht leicht zu fallen. In der wiederholt zu lesenden Charakterisierung dieser bitter-schmerzlichen Szene als einer sinnlich und sprachschöpferisch überwältigenden Passage voller erotischer Spannungen scheint der ihr eigentlich innewohnende Angriff auf das Patriarchat und auf den konkreten Mann abgefangen und sublimiert. Die Tagebucheintragungen der Neffen sind vielsagende Zeugnisse dieser Art von Verhalten. Auch sie -junge Männer - hüten sich davor, den Initiationsritus, der ihre Herrschaft und weibliche Unterlegenheit begründet, als das zu bezeichnen, was er ist. Keiner der Protagonisten ringt sich zu der naheliegenden Gleichung durch: Zerstörung von Sprache ist Zerstörung von kultureller Ordnung, ist Abtötung des Weiblichen. Die Autorin verzichtet auf Kommentare. Die Sprechenden entlarven sich selbst. Ihr eingangs ungebrochenes Herrschaftsbewußtsein wird sich, so stellen die Leser/innen fest, über kurz oder lang an einem Bewußtsein brechen, das sich woanders längst einen anderen Ausdruck zu verleihen weiß. In diesem Sinne ist der Aufbruch der nur wenige, auffällig vernünftige Sätze sprechenden Alina, der einzigen sprachbegabten Frau des Romans, zu verstehen: während die Familie eigenmächtig-verantwortungslos ihren Untergang in Gang setzt, verläßt Alina das Chaos und geht mit einem der Neffen zu den Tupamaros.
Auch die beiden Kolumbianerinnen Albalucia Angel (seit 1964 im Exil, lebt heute in London) und Fanny Buitrago versuchen, in ihren Romanen und Erzählungen Deutungsmuster kultureller und politischer Unterdrückung zu finden und klärend zu verarbeiten. Weder die einem kämpferischen Frauenbewußtsein gespalten gegenüberstehende Buitrago noch die heute zunehmend militante Angel entkommen gegenwärtig in ihren Heimatländern den teils widersprüchlichen Sanktionsmaßnahmen der tonangebenden Gesellschaft aktiven Frauen gegenüber: Buitrago muß trotz wiederholter Auszeichnungen und Literaturpreisen immer wieder die Zensur befürchten. Angel, die sich, anders als Buitrago, in den Fußstapfen der Mexikanerin Castellanos als eine der ersten jungen Lateinamerikanerinnen explizit auf der Suche nach der verborgenen Tradition lateinamerikanischer Schriftstellerinnen befindet, wird in ihrem Heimatland mit völligem Stillschweigen übergangen.
Aggressive stilistische Zerrissenheit und unauflösbare Beziehungsverwicklungen in einer (weiteren) großangelegten Familienbiographie, Cola de zorro (1970), die Buitrago dasjenige ihrer Werke nennt, in dem sie sich die größten Freiheiten erlaubt habe, deuten hin auf eine von der Autorin als untrennbar empfundene Einheit von Schreiben und Erleben. Die Verarbeitung der eigenen Herkunft aus einer gutsituierten Familie offenbart den unversöhnlichen Widerspruch zwischen herrschenden Frauenbildern und schriftstellerischem Engagement. Bei Buitrago spiegelt sich ein spezifisch weibliches Identitätsproblem, die Frage nach »weiblicher« Kreativität, im Umgang mit der Erzählperspektive. Eine ständig anwesende Angst vor einem Übergriff auf männliches Terrain im Augenblick politischen Handelns, sei es durch Schreiben - so fürchtet die Autorin - oder durch öffentliches Auftreten - so fürchten ihre weiblichen Verdopplungen im Roman - kommt im Text explizit zum Ausdruck und Ausbruch als Angst vor der Einsamkeit des befreiten Ich. Eine durchgängige Ich-Erzählung will nicht gelingen und scheitert an Verwechslungen der Erzählinstanzen. Gerade gesponnene Gedankenfäden gehen verloren, werden für immer verdrängt von der nie verschwindenden Angst vor männlicher Autorität, die Hand in Hand geht mit einer nie zur Ruhe kommenden Sehnsucht nach einem männlichen stützenden Arm. In dem doppelten Kampf gegen den verinnerlichten, kulturellen und den äußeren, politischen Unterdrücker zeigt sich die Erzählerin Buitrago wesentlich weniger selbstbewußt als die historische Kommentatorin Buitrago. Die Passagen konkreter Anklage an offenen und verdeckten Terror in der nationalen Geschichte Kolumbiens in diesem Jahrhundert reden eine deutliche, schonungslose Sprache. Für die Autorin ist der Angriff auf den Diktator einfacher als der Angriff auf das Patriarchat.
Angel, die zur sogenannten »Generation des Belagerungszustandes« zählt, führt ihren Kampf gegen die angemaßte Universalität des Männlichen nicht durch eine beständige Negation seines Anspruchs, sondern durch das Herausschrei(b)en weiblicher Stärke. Die anstrengende Lektüre des autobiographische Züge nicht verschweigenden Romans Estaba la pájara pinta sentada en el verde limón (1975) liefert ein breitgefächertes Geschichtsbild Kolumbiens. Er beginnt mit der Ermordung des Führers der Linksliberalen, Jorge Elécer Gaitán, im Jahre 1948, verfolgt das Ansteigen des Terrors nach dem Friedensschluß der Regierung mit den Guerrilleros 1953, erinnert die Besetzung und Bombardierung des eigenen Landes und zeichnet die Zuspitzungen nach Che Guevaras Tod und den Ereignissen in Vietnam nach. Das Gedächtnis der Ich-Erzählerin Ana aus gutbürgerlichem Elternhaus erweitert sich zum kollektiven Gedächtnis. Der Roman wird vielstimmig, verwebt Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsmeldungen und innere Monologe zu einer wortgewaltigen Collage und namentlichen Anklage an historische Figuren. Das Schreiben Angels ist zugleich Überlegen und Empfinden, rücksichtsloses Ausprobieren aller sprachlichen Register und schmerzhaftes Sich-Wiederfinden des eigenen Ich unter vielfacher Folter. Ana verausgabt ihre Kräfte im unaufhörlichen Kampf um die Stimme, in dem es häufig auch und zuweilen vor allem darum geht, von sich abzuschreiben, Falschheiten ans Tageslicht zu holen, der Erstarrung in (Frauen-) Bilder zu entkommen. Am Ende ist ein Neuschaffen nicht mehr möglich. Die Sprecherin kann sich nur mehr die Stimme ihres zu Tode gefolterten Freundes Lorenzo leihen und stellvertretend dessen Anklage weitertragen: »auf daß du es nicht vergißt, companera, (...) und du und ich die Zeugen: immer da, um laut die Namen der Toten herauszuschreien« (S. 199, Übers. d. Verf).
Mit dem lebensnotwendigen Wunsch, einen dritten Weg zwischen Gewalt und Ohnmacht zu finden, verbringen in Conversación al sur (1981) der nach Kolumbien übergesiedelten Marta Traba (Argentinien) zwei Frauen einen Nachmittag und Abend in klärendem Gespräch. Die eine ist ein Entwurf der jungen, aktiven Widerstandskämpferin im Moment der Resignation; die andere, eine Mittvierzigerin, glaubte sich mit der bürgerlichen Frauenrolle so lange arrangieren zu können, bis ihr Sohn nach dem Allendesturz in Chile wenige Tage vor dem Gespräch der beiden Frauen verschwindet. Beide stehen an einem Scheideweg. Durch ihre Erinnerungen wird eine Achse der Gewalt zwischen Santiago de Chile, Buenos Aires und Montevideo sichtbar, der, so wird beiden klar, niemand entfliehen kann und der sie doch in der intimen Atmosphäre ihres kraftspendenden Gedankenaustauschs zu entgehen hoffen. Indem sie an ihre je eigenen, subjektiv gedeuteten Erlebnisse anknüpfen, schaffen sie ein intersubjektiv zwischen den Frauen stimmiges Bild der Bedeutung von Terror und Gewalt in den Militärdiktaturen Uruguays, Argentiniens und Chiles für sie als Angehörige des weiblichen Geschlechts. Der thematisch und erzähltechnisch unternommene Aufbruch aus dem Schweigen scheint geschafft, die Aufgabe »der« Frauen entziffert, da bricht die grauenvolle Wirklichkeit der Gewalt auch in diesen gerade noch befreiten Text: Der letzte Monolog der älteren Frau findet durch den Überfall eines Terrorkommandos in deren Wohnung ein abruptes Ende. Die Sprecherin verstummt, der Lebensversuch der beiden Frauen wird zum Überlebensversuch.
Von der Schlußszene in Conversación al sur läßt sich eine Brücke zurückschlagen zum Ende des Geisterhauses. In beiden Romanen konkretisiert sich eine latente weibliche Angst vor Unterdrückung zur Konfrontation mit realer Gewalt, und in beiden ist die existentielle Betroffenheit der Frau als Frau aus der Art der jeweiligen (literarischen) Bewältigungsstrategie nicht wegzudenken. Zwar konvergiert Literatur von Männern und von Frauen in Lateinamerika in den 80er Jahren in Bezug auf das gemeinsame Thema Gewalt, doch kreisen die Aus- und Aufbruchsversuche von Frauen immer auch noch gleichzeitig um die Frage, wie weit sich der bewußt gewonnene Abstand zum weiterhin existierenden sanften Frauenbild ohne einen trügerischen Rückzug in Innerlichkeit und Innenräume durchhalten läßt.
Die Frage nach der Überlebensfähigkeit engagierter Literatur von Frauen stellt sich somit angesichts diktatorischer Regime in einigen Ländern Lateinamerikas in bestimmter Hinsicht nicht anders als früher in einem doppelten - realen wie literaturgeschichtlichen - Sinn. Nach der gelungenen Befreiung der weiblichen Stimme aus der Parabel, in der Angehörige von Minderheiten stellvertretend weibliche Ausgrenzungserfahrungen durchleben (wie im Falle der mexikanischen Beispiele), und nach der Beschränkung auf die traditionelle weibliche Perspektive bei der Wiedergabe gesamtgesellschaftlicher Erfahrungen (wie im Falle der genannten Argentinierinnen) kann und soll auch heute keine Rede sein von einem einheitlichen, irgendwie verbindlich objektivierbaren weiblichen Gegenmodell. Das Lesen ihrer konkreten Texte ist für die Autorinnen wichtiger als deren Klassifizierung. Zu hautnah ist die Erfahrung von Vereinnahmung, der das Verschwinden folgt. »Wir schreiben«, so erklärt Elena Poniatowska 1983 ihr literarisches Sammeln zorniger Stimmen, »um uns das Unverständliche zu erklären, um Ausdauer zu zeigen, damit die Kinder unserer Kinder Bescheid wissen. Wir schreiben, um zu sein ... Wir schreiben wie verrückt.«