Manchmal genügt schon ein Blick zum Glück.
Sprichwort, zitiert in »Der Traum der roten Kammer«
Tschiang Tsching war mit ihren Gedanken so tief in die Vergangenheit versunken, daß sie sich nicht leicht ablenken ließ. Jeden Abend gegen zehn oder elf näherte sich ihr unauffällig ein Mann, um mitzuteilen, daß das Essen bereit sei; aber sie fuhr in ihrer Erzählung fort, als hätte sie nichts gehört. Die Nachricht wurde von Zeit zu Zeit wiederholt, bis sie endlich reagierte. Dann sagte sie: »Sie können sich etwas frisch machen, wir treffen uns dann bei Tisch.«
In dem geräumigen, nur spärlich möblierten Eßzimmer nahmen wir, zusammen mit sieben ihrer Begleiter, an einem runden Tisch Platz. Tischtuch und Servietten waren aus schwerem weißen Leinen, und das Porzellan und die Eßstäbchen besaßen die hohe, aber unaufdringliche Oualität, wie sie im Süden Chinas üblich ist. Tschiang Tsching genoß es sichtlich, bei Tisch, wie im übrigen bei jeder anderen Gelegenheit, die Hauptrolle zu spielen. Von mir erwartete sie nur Bemerkungen zu dem, was sie sagte, und Antworten auf ihre Fragen; sie bestimmte, worüber gesprochen wurde, ich lieferte ihr bestenfalls die Stichworte. Die anderen aßen meist schweigend und schienen es zu genießen, sich von ihr unterhalten zu lassen.
Da sie bei Tisch meist an das vorher Gesagte anknüpfte, wenn auch in etwas gelockerter Form, nahm ich Block und Schreibstift zur Hand. An meinem ersten Abend in Kanton fragte mich Tschiang Tsching spöttisch, ob ich eigentlich nicht vorhätte, mit ihr zu essen. Doch, natürlich, erwiderte ich, erklärte ihr aber, daß ich mich wohler fühlte, in ihrer Gegenwart meine beruflichen Utensilien bei mir zu haben. Sie lachte und warf mir scherzhaft vor, ich würde »zu hart arbeiten«, eine im kommunistischen China geläufige Form des Kompliments. Am nächsten Abend setzte ich mich absichtlich darüber hinweg und bediente mit der linken Hand die Eßstäbchen, während ich mir mit der rechten Notizen machte; diese Unhöflichkeit duldete Tschiang Tsching allerdings nicht lange. Ich beneidete unseren »Hofchronisten«, der alles, was gesagt wurde, aufschreiben konnte - aber nur, weil ihm die beiden Frauen neben ihm geschickt die Eßstäbchen in den Mund schoben.
Unser Essen war nicht alltäglich und immer besonders hübsch angerichtet, ohne dabei protzig zu wirken.[1] Jede Mahlzeit bestand aus ungefähr zehn Gängen, immer zu einem ganz bestimmten kulinarischen Thema - verschiedene Zubereitungsarten von Fleisch, Geflügel oder irgendeine regionale Spezialität. Zwischen den Mahlzeiten wurde fast ununterbrochen Tee serviert. Nur während des Essens selbst gab es Wein und alkoholische Getränke, letzteres ein scharfes Destillat namens mao-tai. Tschiang Tsching hob bei Trinksprüchen das Glas nur an die Lippen, trank aber nichts. Als sie bemerkte, daß ich nicht nur pro forma trank und auch immer wieder einmal zwischendurch ein Schlückchen zu mir nahm, lächelte sie ein wenig verstimmt, beteuerte aber, daß sie nichts dagegen habe. »Das gehört alles mit zu meiner Arbeit«, versicherte ich, hob mein Glas mit beiden Händen und prostete strahlend dem geröteten Gesicht Lao Tschens, meiner ältesten Begleiterin aus Szetschuan, zu. Sie kicherte und verkündete herausfordernd: »Wir beide wissen, wie man die Lebensgeister wach hält!«
Tschiang Tsching erklärte ganz sachlich, daß Alkohol nicht gut für ihre Nerven sei, und dann widmete sie sich wieder den frisch aufgetragenen Delikatessen.
Sie zog mild gewürzte Speisen vor, vor allem die kleinen Schalen mit den breiigen Substanzen, die gegen das Ende der Mahlzeiten serviert werden. Dazu gehörten auch Suppen mit exotischen Meerestieren und Pilzen, die wie welke Blumen aussahen; Reis, mit geschabten Krabben und Grünzeug gemischt; Hirsebrei mit Jasminblüten garniert, sowie süßes Walnußpüree, das Tschiang Tsching als besonders nahrhaft empfahl. So appetitlich dies alles auch aussah, ich war nicht daran gewöhnt und hielt mich daher lieber an die scharfen, süßsauren Gerichte. Jeden Bissen tunkte ich in Essig und PfefferJam, eine dicke Soße aus gemahlenem scharfem Pfeffer in Öl. Nach unserem ersten gemeinsamen Essen standen an meinem Platz immer zusätzliche Essigkännchen und Schälchen mit Pfeffer-Jam. Ob der Vorsitzende immer noch so gern den scharfen Hunan-Pfeffer esse, fragte ich (er stammt aus der Provinz Hunan, die für ihren Pfeffer berühmt ist). »Nicht mehr so wie früher- seit er älter ist«, erwiderte sie heiter.
Tschiang Tsching hatte ihre Geschichte an einer Stelle unterbrochen, als sie gerade im Begriff war, aus Schanghai, wo sich ein Sturm zusammenbraute und eine neue japanische Invasionswelle bevorstand, zu flüchten. Ich war gespannt, was sie als ihren Zielort angeben würde. Ich erinnerte mich an einen Bericht aus Hongkong, in dem behauptet wurde, sie habe sich der Zentralen Film-Gesellschaft angeschlossen, einem Organ des KMT-Propagandaministeriums, und sei mit dieser nach Tschungking und in andere Städte im Landesinnern gegangen, um in Filmen der Nationalen Verteidigung mitzuwirken - und sei erst ein oder zwei Jahre später in Jenan aufgetaucht.[2] Weit glaubhafter erscheint allerdings das, was der Historiker des kommunistischen Films Tscheng Tschi-hua darüber zu berichten wußte: 1938 habe sie bei der Zentralen Film-Gesellschaft in Wuhan gearbeitet und sei im darauffolgenden Jahr nach Tschungking gegangen, um dort an der Seite des gutaussehenden und vielseitigen Tschao Tan die Hauptrolle in »Jungen und Mädchen von China« zu spielen.[3]
Meine Spekulationen wurden hinfällig, als sie erklärte, daß sie Schanghai nach dem Zwischenfall bei der Marco-Polo-Brücke im Juli 1937, durch den die Fassade der Einheitsfront eingerissen und eine weitere Phase chinesisch-japanischer Kämpfe eingeleitet wurde, verlassen habe. Direkt nachdem sie auf ihr persönliches Mißgeschick in ihrem Artikel »Mein offener Brief«, der in einer Schanghaier Zeitung veröffentlicht wurde, aufmerksam gemacht hatte, floh sie aus der Stadt. Als sie nach einer Reise von fast 1500 Kilometern in Sian ankam, hatte der Krieg eine katastrophale Wende genommen. Am 13. August bombardierten die Japaner Schanghai. Damit wurde ein einzigartiges gesellschaftliches und kulturelles Zentrum vernichtet, jedoch blieb das »Schanghai der dreißiger Jahre« ein Begriff.
Damals war Sian ein ärmlicher ausgedehnter Marktflecken im Süden der Provinz Schensi vor tausend Jahren war es die Hauptstadt von elf Dynastien gewesen. Seine Bevölkerungszahl war auf 50 000 geschrumpft, und davon waren etwa 5000 Agenten der KMT, die die Stadt aus dem Untergrund beherrschten. Nach den Sian-Ereignissen vom Dezember 1936 errichtete die KPCH dort das Hauptquartier der 8.-Route-Armee. Von 1937 bis 1946 diente dieses Büro (das 1970 als Gedenkstätte des kommunistischen Aufstiegs restauriert wurde) dazu, linke Flüchtlinge in die Geheimnisse der Parteidisziplin einzuführen, bevor sie auf die letzte Strecke ihrer Reise geschickt wurden: die 500 Kilometer durchs Gebirge nach Jenan. Tschiang Tsching gehörte zu den vielen tausend jungen Flüchtlingen, die diesen Weg einschlugen. Für die meisten war dies der Wendepunkt in ihrem Leben.
»Nach dem Zwischenfall vom 12. Dezember 1936 (den Sian-Ereignissen) verbesserte sich die Lage ein wenig, als es Tschang Hsüe-Iiang gelang, den Vormarsch Tschiang Kai-scheks aufzuhalten. Aber wir (die Rote Armee) waren noch immer stark eingeengt. Tschiang Kai-schek mobilisierte eine Streitmacht von angeblich 300000 Mann, um unser Gebiet einzukreisen und anzugreifen. Erst nach dem Zwischenfall vorn 12. Dezember erfuhr ich, daß unsere Armee Nord-Schensi erreicht hatte; ich bat sofort, dorthin reisen zu dürfen. Ich kam in Jenan erst im Sommer (genauer, Ende August) 1937 an. Damals war es außerordentlich schwierig, dahin zu kommen. Ich fuhr auf einem unserer Armeelastwagen mit, die Reis transportierten. Auf halbem Weg mußten wir anhalten, da die Straße wegen eines Unwetters nicht mehr passierbar war. Ich mußte ziemlich lange warten. Mein Geld war aufgebraucht, und ich wußte mir nicht mehr zu helfen. Dann hat mir jemand ein Pferd besorgt, aber ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie man reitet. Ich stieg also auf, aber das Pferd fuhr fort, Gras zu kauen, und rührte sich nicht vom Fleck. Natürlich wollte ich nicht zugeben, daß ich gar nicht reiten konnte. Deshalb kletterte ich wieder herunter und holte mir eine Weidenrute. Damit stieg ich wieder auf das Pferd und schlug ihm kräftig aufs Hinterteil. Da wurde es plötzlich ganz wild und galoppierte wie verrückt los. Ich dachte, ich würde es nicht überleben. Jeden Augenblick konnte ich vom Pferd stürzen. Aber endlich wurde es müde und verfiel in eine langsamere Gangart.
Als ich in Lo-tschuan ankam, hatte das Politbüro des Zentralkomitees gerade eine Sitzung. Ich war völlig durcheinander, und der Schrecken saß mir noch in allen Gliedern. Ich glaubte, ich würde im nächsten Augenblick in Ohnmacht fallen. Aber ich war fest entschlossen, die führenden Genossen des Zentralkomitees zu begrüßen sie hatten meinetwegen eine sehr wichtige Sitzung unterbrochen. (Der übliche Empfang für Kulturprominenz?) Ich riß mich zusammen und hämmerte mir immer wieder ein, daß ich auf keinen Fall vor ihren Augen schlappmachen durfte - im Gegenteil, ich mußte ihnen aufrecht gegenübertreten. Ich schüttelte jedem einzelnen von ihnen die Hand.«[4]
Auf politische Fragen im Zusammenhang mit dem Zentralkomitee ging Tschiang Tsching nicht ein, sondern ließ sich weitschweifig über Pferde aus, den Militarismus, über die Eigenart der Menschen aus dem Norden und darüber, wie man sich ein Tier gefügig macht. Pferde waren in Jenan Mangelware, daher waren sie hauptsächlich der Führungsspitze vorbehalten. Später war sie als Ehefrau Maos auch dazu berechtigt, ein Pferd zu halten, und überwand allmählich ihre Furcht vor ihnen. Immer wieder zwang sie sich zum Reiten und brachte es schließlich auf fünf Kilometer in zehn Minuten.
»Ich reite bis zum heutigen Tag auf einem sanften, ruhigen Pferd. Ich reite für mein Leben gern. Sie auch?«
Ich mußte gestehen, daß mir in diesem Punkt die Theorie lieber war als die Praxis. Das Pferd würde meine Unsicherheit bestimmt sofort merken und mit mir machen, was es wollte. »Sie müssen ein junges Pferd nehmen und es selbst zureiten«, riet sie mir. »Wenn ich zu einem Pferd von mir >Ma-erh< sage (etwa >Pferdchen<), wiehert es mir zu. Aber wenn ich es nicht selbst zugeritten habe, wirft es mich möglicherweise ab.«
Danach kam sie wieder auf ihre Ankunft im Stützpunktgebiet zu sprechen; sie erzählte, sie habe den letzten Teil des achtzig Kilometer-Trecks von Lo-tschuan nach Jenan zusammen mit anderen auf einem Lastwagen zurückgelegt. Wie sich herausstellte, fuhr ihr Wagen zufällig direkt hinter dem von Mao Tse-tung her, der von dem Treffen in Lo-tschuan nach Jenan zurückkehrte. Aber das erfuhr sie erst später. Der erste Blick auf die alte Mauer von Jenan würde ihr unvergeßlich sein. Auf das Südtor waren zwei Zeichen geschrieben - an-lan, »die Wellen glätten«, erinnerte sie sich wehmütig.
In Tschiang Tschings Bericht wurde die Rote Armee nicht erwähnt; deren Situation läßt sich aber ohne weiteres rekonstruieren. Sieben Monate vor Tschiang Tschings Ankunft im August 1937 hatte die Partei ihr Hauptquartier von Pao-an nach Jenan, etwa 65 Kilometer südöstlich, verlegt. Während der folgenden zehn Jahre sollte Jenan Hauptstadt des Grenzgebietes SchensiKansu-Ninghsia sein.[5] Das Gebiet war im Süden durch Lo-tschuan und im Norden durch die Große Mauer begrenzt, die Windungen des Gelben Flusses bildeten die Ost- und Westgrenzen. Zur Zeit von Tschiang Tschings Ankunft - fast zwei Jahre nach Beendigung des Langen Marsches, der sich als die qualvollste und zugleich konstruktivste Erfahrung bei der Bildung von kommunistischer Identität und kommunistischem Ethos erwiesen hatte - war eine gewisse Atempause eingetreten. Die Genossen, die die fast unglaublichen Anforderungen an das menschliche Durchhaltevermögen überlebt hatten, bildeten die Generation revolutionärer Gründerpersönlichkeiten, die von ihren Genossen und dem Volk stets als »Veteranen des Langen Marsches« betitelt werden sollten. Dieser besondere Status wirkte sich für Tschiang Tsching ständig zum Nachteil aus, weshalb sie sich bemüßigt fühlte, an anderer Stelle unseres Interviews ausführlich den späteren Befreiungskrieg zu erörtern, an dem sie selbst auch teilgenommen hatte.
Die objektiven Gegebenheiten des Langen Marsches sind allgemein bekannt, der menschliche Aspekt wurde in den historischen Aufzeichnungen jedoch nur flüchtig beleuchtet. Der Marsch begann im Herbst 1934 mit dem Rückzug der Roten Armee, die in zunehmendem Maß Niederlagen einstekken mußte, nachdem die KMT zwischen Dezember 1930 und Oktober 1934 die Zentralen Sowjetgebiete im Südosten fünfmal eingekesselt hatte. Diesen fast 10 000 Kilometer langen Marathon-Marsch - der westlichste Teil der Route schlängelte sich durch Szetschuan und Yünnan - überlebten nur etwa 20 000 Soldaten, das heißt weniger als 30 Prozent aller Teilnehmer. Der Marsch endete in Wu-tschi-tschen in Nord-Schensi. Der Kern der Partei zog noch etwa 280 Kilometer weiter nördlich bis Pao-an, der Ruine einer Grenzstadt, die inmitten von kahlen Hügeln lag und dafür berühmt war, den Banditen, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Ming-Dynastie stürzten, Schutz gewährt zu haben.
Das Zentralkomitee blieb während der Sian-Ereignisse, der gefeierten Verhaftung von Tschiang Kai-schek, in Pao-an. Dieses Manöver, das Tschiang zwang, einer Einheitsfront gegen Japan zuzustimmen, ermöglichte es dem Zentralkomitee auch, die strategischen Operationen nach Jenan zu verlegen, einer durch Mauern geschützten, weitgehend zerstörten Stadt, die drei Jahrtausende lang eine Bastion gegen die Invasion barbarischer Horden aus den nördlichen Gebieten gewesen war und bis zu den Aufständen der Moslems und der Taiping Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Bedeutung bewahrt hatte. Die große Hungersnot von 1928 bis 1933, die den gesamten Nordwesten heimgesucht und Millionen Menschenleben gekostet hatte, war in der Geschichte dieser Region nur eine von vielen Naturkatastrophen.> Die »Stadt« Jenan besaß keine Bauten im üblichen Sinne, vielmehr war sie eine natürliche Zitadelle, die von tausend und abertausend menschlichen Händen in die Löß-Klippen gehauen worden war. Die Behausungen waren künstliche Höhlen; der harte Boden wirkte isolierend, so daß das Innere im Winter ungewöhnlich warm und im Sommer sehr kühl blieb und außerdem vor Bombenangriffen geschützt war. Die Höhlen waren besser ausgestattet als die Pueblo-Wohnungen - sie besaßen gewölbte Offnungen, Holzgitter an den Fenstern, die mit Papier bespannt waren, und abgetrennte viereckige Innenräume. Die schönsten Höhlen hatten dicke schwarzgelackte Türen und waren alles in allem komfortabler als die meisten chinesischen Wohnungen. Im Zickzack verlaufende Fußwege verbanden die Höhlen miteinander, die in Reihen übereinanderlagen und von den Klippen flankiert wurden. Als die Rote Armee in Jenan eintraf, hatte die Stadt ungefähr 3000 Einwohner. Während der nächsten zehn Jahre stieg die Bevölkerungszahl auf 100 000 an.[6]
Die Soldaten, die in Jenans revolutionärer Gesellschaft in der Überzahl waren, standen Neuankömmlingen, vor allem aber Frauen, skeptisch gegenüber. Die Eingliederung in die Gemeinschaft hing gewöhnlich davon ab, welchen Ruf man genoß, wie man seine politische Vergangenheit darzustellen wußte und wieviel Vertrauen man den Parteigrößen einzuflößen vermochte. Kurz nach ihrer Ankunft suchte Tschiang Tsching Li Fu-tschun auf, den stellvertretenden Leiter des Organisationskomitees der Partei, der mit Tsai Tschang, einer berühmten Führerin der Frauenbewegung verheiratet war. Sie gab ihm einen Überblick über ihre politische Laufbahn und beschrieb, wie ungerecht sie von den politischen Führern in Schanghai behandelt worden war; sie berichtete, wie sie jahrelang darum gekämpft hatte, mit der Schanghaier Untergrundorganisation der Partei Kontakt aufzunehmen; wie man sie daran gehindert hatte, obgleich sie darauf verweisen konnte, daß sie der Partei schon in Tsingtao beigetreten war. Aus welchen Gründen sie diskriminiert worden sei, sei nie klar ausgesprochen worden, sagte sie. Sie war sehr aufgeregt, als sie ihre Bekenntnisse und Anschuldigungen vor Li Fu-tschun vorbrachte, doch er zeigte sich wohlwollend. Das habe überhaupt nichts zu sagen, beruhigte er sie. »Von jetzt an ist alles in Ordnung.«
»Alles in Ordnung« bedeutete, daß der politische Status anerkannt wurde. Die Zeit der Ankunft in Jenan spielte jedoch auch eine Rolle. Wer schon vor seiner Ankunft nachweislich eine feste Bindung an die Partei besaß, wurde bei der Zulassung zur Parteischule und zu anderen führenden Erziehungseinheiten der Regierung des Grenzgebiets bevorzugt behandelt. Der große Zustrom von Studenten und Intellektuellen während des Krieges verschärfte die Aufnahmebedingungen. Tschiang Tsching strebte sofort die höchste Institution an - die Parteischule. Die Zulassung hing vom Zentralkomitee ab und war auf Personen beschränkt, die ihre politische Zuverlässigkeit bewiesen hatten. Wie gut sie sich noch an die nagende Angst erinnerte, die sich ihrer bemächtigt hatte, als sie vor den berühmten Führern der Partei stand, die nun ihre Vergangenheit als Schauspielerin und politische Aktivistin aufrollten. Jede Einzelheit beleuchteten sie, einerlei, ob sie mit gegenwärtigen politischen Fragen in direktem Zusammenhang stand oder nicht.
Tschang Kuo-tao, lange Zeit ein Gegner Maos, war einer der wenigen Führer von damals, die sich noch an Tschiang Tschings Aufnahme durch die Jenan-Regierung erinnerten. Er war damals gerade Vorsitzender des Grenzgebietes NordSchensi, der einzigen lokalen Regierung, die von außen anerkannt wurde, wie er behauptete. Er bestätigte ihren Ankunftstermin, an den er sich aus anderen Gründen erinnerte: Ende Sommer 1937 waren die Zulassungen Sache der Public Relations-Abteilung. Obgleich sie offiziell der Regierung des Grenzgebiets unterstand, wurde sie in Wirklichkeit vom Zentralkomitee der KPCH gelenkt und fungierte als Zweigorganisation seines Büros für politische Sicherheit. Die Public Relations-Abteilung wurde jedoch in Wahrheit von zwei Männern geleitet: von Mao Tse-tung und Tschang Wen-tien. Sie akzeptierte durchaus manchmal auch Personen, von denen man annahm, sie seien keine ganz lupenreinen Kommunisten, und betrachtete sie als Freunde; dazu gehörten die »demokratische Persönlichkeit« Liang Sou-ming, der linke Militarist Ho Tschi-li und die spätere Ehefrau Maos Tschiang Tsching, eine Künstlerin, deren Ankunft wenig Aufsehen erregte.[7]Viele Jahre später, erinnerte sich Tschiang Tsching, als sie und Li Futschun einmal über alte Zeiten sprachen, mußte er noch darüber lachen, wie er versucht hatte, sie während der Überprüfung, von der die Zulassung zu der renommierten Parteischule abhing, absichtlich zu erschrecken. Sie schaffte es, aber das war nur die erste Hürde. Denn am Besuch der LuHsünSchule (der späteren Akademie) für Literatur und Kunst war ihr genauso viel gelegen.' (Ob sie sie zur gleichen Zeit besuchte oder erst nach der Parteischule, ging aus ihren Äußerungen nicht klar hervor). Die praktische Ausübung eines künstlerischen Berufs genügte nicht für die Aufnahme; wichtiger war die politische Qualifikation. Als sie sich bei der Lu Hsün-Schule bewarb, stellte ihr Tschen Yün, Mitglied des Zentralkomitees und Leiter der Organisationsabteilung der KPCH, ein paar Fragen. Da sie wußte, daß er für die Bewilligung der Zulassung ausschlaggebend war, strengte sie sich an, ihn davon zu überzeugen, wie sehr sie sich wünschte, hier den Marxismus zu studieren; auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, nur am Theater interessiert zu sein. Sie erzählte Tschen Yün, daß sie ihren Koffer gleich zur Prüfung mitgebracht habe - so sehr lag ihr daran, die Schule zu besuchen. Anscheinend ließ er sich überzeugen, denn er nahm sie auf der Stelle. (Sie mußte darüber lachen, wie entschlossen sie damals die Dinge angegangen war, aber, fügte sie hastig hinzu, schließlich habe sie damals an nichts anderes gedacht als an das Studium.) In Wirklichkeit aber war Tschen Yün gar nicht so überzeugt von ihr, wie sie angenommen hatte. Sie war erst kurze Zeit an der Schule, als er zu einer Aufführung kam und sie danach demütigte, indem er das Stück, in dem sie mitspielte, verriß.
Alles in allem verlief ihr Leben in Jenan normal. Im Herbst begann sie ein sechsmonatiges Armeetrainingsprogramm - damals sei sie zum ersten Mal mit dem Militär in Berührung gekommen, bemerkte sie stolz. (Seit der Kulturrevolution bemühte sie sich um das Wohlwollen der Militärs.) Gleichzeitig machte sie ihre erste richtige Schulung in marxistisch-leninistischer Theorie und ihrer chinesischen Variante mit, die damals vor allem in der von Wang Ming an der Parteischule propagierten orthodoxen Komintern-Linie bestand. Obwohl kaum älter als sie selbst, war Wang Ming, dessen Wort unter den selbsternannten Kommunisten in Schanghai als Evangelium galt, bereits der chinesische Hohepriester des Marxismus-Leninismus und Mao Tse-tungs einziger ernstzunehmender ideologischer Rivale in Jenan. Tschiang Tsching betätigte sich auch weiterhin als Schauspielerin, ging aber auf meine Fragen nach Art der Stücke und Rollen nicht ein. Sie betonte, daß sie sich nicht lange mit Kunst und Literatur beschäftigt habe. »Von den vier Jahren in Schanghai war ich zwei im oberen Kultursektor tätig, und die andern zwei Jahre arbeitete ich an der Basis. Als ich dann nach Jenan kam, wechselte ich den Beruf. Zuerst wollte ich gar nicht auf die Lu-Hsün-Akademie für Literatur und Kunst gehen, aber meine Organisation hat mich dazu gezwungen.«
Erstaunt fragte ich sie nach dem Grund, vermied es aber, sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie vorher ja erzählt hatte, wie erpicht sie darauf gewesen war, die Zulassung zu schaffen.
»Ich arbeite gern mit den Massen zusammen. Die Arbeit mit den Massen ist wichtiger als die Kunst. Die Arbeit mit den Massen ist die entscheidende.«
Anscheinend hatte sie deswegen zwiespältige Gefühle gehabt, die jetzt in der Rückschau wieder zu Tage traten. Vielleicht hatte sie geglaubt, daß die Erinnerung an ihre Mitwirkung in ausländischen »bürgerlichen Dramen« und in Filmen der Nationalen Verteidigung - die sich mit dem Leben in Maos revolutionären Stützpunktgebieten kaum vereinbaren ließen aufgefrischt werden könnte, wenn sie sich jetzt erneut an der Theaterarbeit beteiligen würde, die in der Akademie besonders intensiv betrieben wurde. Oder war die Büroarbeit, für die sie zunächst eingeteilt war, einfach zu primitiv und unter ihrer Würde? War die Erinnerung daran, daß sie an der Akademie unter Leuten wie Tschou Yang und Tschang Keng arbeiten mußte, die sie in Schanghai verfolgt hatten, für sie zu unangenehm, als daß sie sich gern daran erinnert hätte? Vielleicht war auch die Akademie so elitär geworden und hatte sich so nach der Wang-Ming-Linie orientiert, daß sie sich jetzt im Beisein ihrer Mitarbeiter, in einer Ära, die sich ausschließlich auf die Massen berief, nicht darüber auslassen wollte, wie eng ihre Bindung an die Akademie gewesen war?
Wie immer ihre persönlichen Gefühle auch gewesen sein mögen, sie vermittelte jedenfalls einige sachliche Informationen über die Lu-Hsün-Schule, die 1938 die berühmte Lu-HsünAkademie für Literatur und Kunst wurde. Im Herbst 1937 arbeitete sie als Sekretärin an der Schule und war zum Teil mit Verwaltungsaufgaben betraut. Dabei war sie vor allem für die Belange der weiblichen Studenten zuständig. Zu ihren Schützlingen gehörte Tschang Ying, ihre engste Vertraute aus dem derzeitigen Kreis ihrer Mitarbeiter in Kanton. Die Genossin An Lin war damals ebenfalls dort, sowie eine Reihe anderer, die heute noch am Leben sind. Tschiang Tsching musterte Tschang Ying wohlwollend, als sie sagte: »Ich brüste mich nur mit der Zahl meiner Jahre, wenn ich sage, daß sie von mir gelernt hat.« Tschang Ying ist eine kurze Abschweifung von Tschiang Tschings Geschichte wert.
Obgleich sie einen wichtigen Posten als Propaganda-Expertin innehatte und für die Selbstdarstellung der VRCH im Ausland verantwortlich war, stand sie Tschiang Tsching während meines gesamten Besuchs zur Seite. Bei dem Gespräch über Jenan wandte sich Tschiang Tsching öfters an sie und ließ sich von ihr zusätzliche Informationen geben und gewisse Dinge bestätigen. Tschang war nur acht Jahre jünger als ihre Gönnerin, aber, wie fast jeder, Lichtjahre von deren politischem Status entfernt. In Tschiang Tschings Gegenwart wirkte sie sehr aufmerksam, sie verfolgte alles, was vor sich ging, sehr genau, und wenn sie etwas sagte, dann tat sie das auf sehr zurückhaltende Art. Aber in Abwesenheit von Tschiang Tsching wurde sie plötzlich sie selbst - äußerst intelligent, empfindsam und herzlich. Sie hatte die Aufgabe, mich in dem Gästehaus, in dem wir wohnten, oder bei Ausflugen zu Denkmälern und Restaurants in Kanton zu unterhalten und auf das aufzupassen, was ich sagte. Sie holte auch bei den anderen Genossinnen, die sich in unserer Gesellschaft befanden, Informationen über mich ein. Anscheinend wurden all diese Beobachtungen und Eindrücke während der internen Zusammenkünfte, die im Verlauf des Tages in der Villa stattfanden, an Tschiang Tsching weitergegeben. Über Tschang Ying ließ mir Tschiang Tsching auch Nachrichten zukommen, die sie nicht direkt zu vermitteln wünschte, unter anderem ihre Bitte, ihren Gedankenfluß nicht mit Fragen zu unterbrechen (wechselseitige Unterhaltung war nicht ihr Fall). Tschang Ying gab mir auch Dokumente zu lesen, die die Richtigkeit der Darstellungen von Tschiang Tsching belegten. (Jber Tschang Ying ließ ich umgekehrt Tschiang Tsching einige spezifische Fragen zustellen - etwa in Bezug auf die allgemeine Verwirrung, die in ausländischen Berichten über den Zeitpunkt ihrer Ankunft in Jenan herrscht, was ihr zweifellos nicht verborgen geblieben war.
Tschang Ying stellte entschieden in Abrede, daß es in diesem Punkt Diskrepanzen gebe, und bestätigte Tschiang Tschings Aussage, im August 1937 auf direktem Weg von Schanghai über Sian nach Jenan gelangt zu sein.
Woher sie das so genau wisse? fragte ich in einer privaten Unterhaltung. Sie sei kurz nach Tschiang Tsching nach Jenan gekommen, erklärte sie - im November des gleichen Jahres, und nicht erst 1938 oder 1939.
Lachend erzählte sie mir von ihren ersten Tagen in Jenan. Sie war fast noch ein Kind - erst fünfzehn Jahre alt. Sie konnte damals nur kantonesisch, das in ihrer Heimatstadt gesprochen wurde (jetzt unterhielten wir uns im Mandarin-Dialekt, den sie ausgezeichnet beherrschte.)
Was hatte sie veranlaßt, nach Jenan zu gehen?
»Ich wußte nur, daß ich den Japanern Widerstand leisten wollte; das war so ungefähr alles, was ich damals wußte. Wenn ich den Mund aufmachte, lachten sich die Leute halb tot, weil sie meinen Dialekt so komisch fanden. Und als ich mich bemühte, ihren Mandarin-Dialekt nachzuahmen - machten sie sich über meinen kantonesischen Akzent lustig. Deshalb stand ich jeden Morgen ganz zeitig auf - vor allen anderen - und ging in die Berge, um sprechen zu üben; ich sagte Theaterstücke im Mandarin-Dialekt auf.«
»Dann waren Sie also auch Schauspielerin - wie Tschiang Tsching?«
»Natürlich nicht direkt wie Genossin Tschiang Tsching«, erwiderte sie bescheiden. »Ich hätte es nie so weit gebracht wie sie - dazu bin ich nicht begabt genug.«
Tschang Yings aufmerksame, bescheidene und zurückhaltende Art wurde auch bei anderen, scheinbar trivialen Anlässen deutlich. Eines Abends hörte Tschiang Tsching plötzlich zu reden auf und griff nach einer länglichen Schachtel, die jemand kurz vorher gebracht hatte. Sie entnahm ihr zwei Brieföffner - beides herrliche Schnitzereien, die eine aus Elfenbein, die andere aus Bambus. »Sie bekommen aber nicht alle beide«, bemerkte sie scherzend. Allerdings war sie sich noch nicht schlüssig, welchen sie mir geben sollte. Bewundernd strich sie mit den Fingern über das Material und meinte, beide seien sehr schön, der aus Elfenbein sei allerdings wertvoller. »Deshalb gebe ich Ihnen den aus Elfenbein.« Sie reichte ihn mir; dann beugte sie sich vor und streckte den anderen Brieföffner Tschang Ying hin, die darüber ziemlich erstaunt und etwas peinlich berührt war. Ich war entzückt und bedankte mich bei ihr. Dann las ich die Inschrift, die auf die archäologischen Ausgrabungen verwies, die seit der Kulturrevolution in Tschangscha durchgeführt worden waren. Diese Rekonstruktion der Vergangenheit demonstrierte die wissenschaftlichen Leistungen des Volkes und betraf obendrein Tschiang Tschings spezielle Interessengebiete - Kunst und Geschichte.
Zwei Tage später suchte mich Tschang Ying privat auf und gab mir den Brieföffner aus Bambus; sie bestand darauf, daß ich ihn behielt. Verwirrt lehnte ich ab, aber sie ließ sich nicht beirren. Daher bot ich ihr im Tausch den Öffner aus Elfenbein an; aber auch diesen Vorschlag wollte sie nicht akzeptieren. »Ich weiß, daß Sie Bambus mögen«, sagte sie. Ich fragte mich, woher sie das wissen konnte. Nach einigem Hin und Her stellte sich heraus, daß sie mich dabei beobachtet hatte, wie ich mich einmal bei Tagesanbruch aus dem Gästehaus geschlichen (in dem wir beide in verschiedenen Flügeln wohnten) und Bambusrohr fotografiert hatte. Über diesen tiefen Einblick in meine Privatgewohnheiten mußte ich lachen und gab nach. Bei unserem nächsten Zusammentreffen bemerkte Tschiang Tsching amüsiert, daß ich ja nun doch beide besäße. Sie fügte hinzu, daß ihr der Gedanke, Bambus gegenüber Elfenbein den Vorzug zu geben, gefiele, weil dadurch konventionelle materielle Wertmaßstäbe auf den Kopf gestellt würden.
Nachdem ich gehört hatte, wie Tschiang Tsching nach Jenan gekommen war, hätte ich natürlich auch gerne gewußt, wie sie Maos Bekanntschaft gemacht und wie sie ihn näher kennengelernt hatte. Ihre Antwort darauf war etwas ausweichend; hinter der offiziellen Miene verbargen sich romantische Gefühle. Nicht alles, was sie sagte, war für die Öffentlichkeit bestimmt. Schon in Schanghai waren ihr Gerüchte über den Führer der Roten Armee, den Einzelgänger Mao Tse-tung, und seinen respekteinflößenden Partner Tschu Te zu Ohren gekommen. Sporadische Nachrichtenberichte und Erzählungen von Reisenden, die zwischen den Weißen und Roten Gebieten hin und herpendelten, hinterließen einen gemischten Eindruck von Mao, dem Bauernrebellen und Volksverteidiger mit modernem revolutionärem Bewußtsein. Sie hatte nur eine vage Vorstellung von seinem Äußeren und keine Ahnung, was für eine Persönlichkeit er war. Wie andere Neulinge, die nach Jenan gekommen waren, war auch sie fasziniert von den Unterschieden zwischen den führenden Genossen, und sie nahm auch wahr, wie Mao über den anderen stand - in olympischer Höhe, wie manche es nannten. Aber während der ersten Monate wurde ihr Leben in Jenan von denjenigen Führern beeinflußt, die die direkte Kontrolle über politische, militärische und kulturelle Organisationen ausübten.
Schon bald nach ihrer Ankunft erfuhr Mao Tse-tung jedoch von ihr - von Lan Ping, der Schauspielerin. Sie wußte nicht, wer ihm von ihr erzählt hatte. Er bemühte sich persönlich um sie und bot ihr eine Eintrittskarte für einen Vortrag an, den er am Institut für Marxismus-Leninismus hielt. Überrascht und erschrocken lehnte sie zuerst ab, überwand dann aber ihre Scheu, nahm die Karte und hörte sich seinen Vortrag an. Von ihrer Beziehung zueinander merkten die anderen Parteiführer kaum etwas und das Volk fast gar nichts. Sowohl die traditionellen als auch die revolutionären Regeln des Anstands ließen es nicht zu, intime Einzelheiten über eine Liebesbeziehung, die zur Eheschließung führte, an die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn Tschiang Tsching den ideologischen Aspekt hervorkehrte, pflegte sie - wie schon so oft vor der Öffentlichkeit - mir gegenüber zu bemerken, daß die Zurschaustellung individueller Gefühle, romantischer Vorstellungen und verlockender Sexualität - ob im Leben oder in der Literatur - »bürgerliche Irrtümer« offenbare - Abweichungen vom unpersönlichen und asexuellen »proletarischen« Ideal. Paradoxerweise machte sie auf mich jedoch einen außergewöhnlich phantasievollen und ausgesprochen weiblichen Eindruck, und sie wirkte so, als sei sie intensiver Gefühle fähig. Trotzdem gab sie mir nie einen Anlaß zu glauben, daß es bei ihr je zu Konflikten zwischen romantischer Liebe und revolutionärer Entschlossenheit gekommen wäre.
Was hatten Tschiang Tsching und Mao gemeinsam? Auf den ersten Blick lassen sich mehr Unterschiede erkennen als Ähnlichkeiten. Spielte bei ihnen die magnetische Anziehung von Gegensätzen eine Rolle? Mao war in Hunan, einer Provinz im südlichen Landesinneren, geboren, wo er auch aufwuchs. Vor mehr als 2500 Jahren war Hunan Sitz des Tschu-Staates, und seit der Sung-Dynastie (960-1278) wegen der Banditen berüchtigt, die sich in den umliegenden Sümpfen versteckt hielten. Zahlreiche nationalistische und kommunistische Revolutionäre stammten aus Hunan.
Wie wir bereits gehört haben, stammte Tschiang Tsching aus dem im Küstengebiet gelegenen Schantung, einst der alte Staat Lu, der die konfuzianische Kultur hervorbrachte. Im 19. Jahrhundert wurde Schantung durch die Taiping und die Boxer sowie durch ein weibliches Kampfkorps mit dem Namen Rote Laternen (ist es Zufall, daß Tschiang Tschings erste revolutionare Oper diesen Namen trägt?) auseinandergerissen. Anfang des 20. Jahrhunderts machten sich die Imperialisten gegenseitig die Kontrolle über die Halbinsel Schantung streitig und riefen damit nationalistische Unruhen hervor aus denen sich Tschiang Tschings eigenes politisches Bewußtsein erklärt.
Als Sohn reicher Bauern noch vor dem Niedergang der Mandschu-Dynastie geboren, erhielt Mao seine Ausbildung im Sinne des konfuzianischen Klassizismus. Er lehnte sich zunächst gegen die Bindung seiner Familie an die konfuzianische Hochkultur auf, indem er klassische Romane las wie z. B. die »Geschichte der drei Reiche«, der von der Realpolitik zwischen rivalisierenden Königreichen zur Zeit des Niedergangs der Han-Dynastie handelt, »Die Räuber vom Liang Schan-Moor«, ein Geschichtenzyklus über Abenteurer, und »Die Reise nach dem Westen«, eine phantastische Erzählung von einem Mönch und einem Affen, in der das gesellschaftliche System verspottet wurde.
Als Kind einer relativ ungebildeten Familie in den ersten Jahren der Republik geboren, lernte Tschiang Tsching den Konfuzianismus von seiner ganz orthodoxen Seite her kennen dazu gehörte bedingungslose Selbstdisziplin und Gehorsam gegenüber Höhergestellten. Sie war zwanzig Jahre jünger als Mao und befaßte sich daher nicht mehr mit historischen Abenteuerromanen, die im übrigen von jeher auf Jungen und Männer größeren Reiz ausgeübt haben als auf Mädchen und Frauen, sondern sie bevorzugte das moderne Theater, eine Fundgrube für fremde Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Trotzdem fühlte sie sich aber auch von der traditionellen Kultur angezogen, vor allem in der Art, wie sie etwa in dem großen Familienroman »Der Traum der roten Kammer« oder in dem pornographischen Roman aus der Zeit der Ming-Dynastie, »Kin-ping meh«, dargestellt ist - wo es um das Leben der Reichen, der Aristokraten und Mächtigen geht.
Daß Tschiang Tsching der Partei in jüngerem Alter beitrat als Mao - sie mit neunzehn und er mit achtundzwanzig Jahren - hat nichts zu bedeuten, denn schließlich gab es die Partei erst, seit Mao dazu beigetragen hatte, sie zu gründen; außerdem wies Tschiang Tschings Mitgliedschaft Lücken auf. Im Verlauf seiner unruhigen Jugend hatte Mao alle möglichen Vorstellungen darüber, was er einmal werden wollte - Seifenhersteller, Lehrer, Rechtsanwalt, Geschäftsmann. Als er jedoch auf die Dreißig zuging, konzentrierte er sich völlig auf seine Aufgabe als revolutionärer Führer. Hingegen übte Tschiang Tsching fast zehn Jahre lang einen festen Beruf aus, und bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie - mit 23 Jahren Mao begegnete, hatte sie ihre Energie zwischen beruflicher Karriere und Parteiarbeit geteilt.
Aber der entscheidende Unterschied zwischen ihnen, der auch die Dialektik der modernen Ära ausdrückt, lag vielleicht in seiner ländlichen und ihrer städtischen Herkunft. Bevor er 1949 in Peking Staatsoberhaupt wurde, hat Mao nie über längere Zeit in einer größeren Stadt gelebt. Tschiang Tsching lebte hingegen seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr in der eleganten Provinzhauptstadt Tsinan und danach in den modernen Häfen Tsingtao und Schanghai, und gelegentlich reiste sie sogar nach Peking. Schanghai war für sie der kulturelle Prüfstein. Jahre später, am Vorabend der Kulturrevolution, war Schanghai ihr strategischer Ausgangspunkt gegenüber den etablierten Kräften in Peking. Mao kannte Schanghai nur flüchtig: 1921 kam er zur geheimen Gründung der KPCH dorthin, dann hielt er sich dort im Winter 1922 noch einmal kurz auf; im darauffolgenden Jahr wurde er Leiter der Organisationsabteilung der Partei und arbeitete während der ersten Phase der Zusammenarbeit für das Exekutivbüro der KMT. Für kurze Zeit hatte er auch einmal einen Job in einer Wäscherei eine erniedrigende Tätigkeit in einer Stadt, die von Ausländern beherrscht wurde. Dieser Mangel an Erfahrung, was das städtische Leben betrifft, zeigt sich in seinen Schriften: kein einziger seiner Essays beschäftigt sich mit der politischen Geschichte Schanghais oder mit dessen sozialer oder ökonomischer Entwicklung.
Er war nicht nur ein Revolutionär im politischen Bereich, sondern auch auf privater Ebene; seine erste Ehe mit einem ungebildeten Bauernmädchen die gemäß der Tradition von seinen Eltern arrangiert worden war, wurde nie vollzogen [9] - ein Affront gegen die alte Generation und ihre Bräuche. Seine erste tatsächliche Ehe ging er mit Yang Kai-hui ein, der modern eingestellten Tochter seines liberalen Ethiklehrers in Tschangscha. Da er als Mann keinerlei Keuschheitsregeln unterworfen war, konnte es sich Mao stets erlauben, über seine früheren Gefährtinnen zu sprechen. Selbst nach zwei weiteren Ehen (seine nächste Frau war Ho Tzetschen) ehrte er Yang Kai-hui mit dem klassischen Gedicht »Antwort an Li Schu-i«[10] (sie ist »meine stolze Pappel« ist eine Anspielung auf ihren Nachnamen, der soviel wie Pappel bedeutet):
Verlor meine stolze Pappel, verlorst deine Weide;
o Yang, o Liu: leicht aufgeflogen zu Neunten Himmeln.
Befragen, verhören Wu Kang, was er da habe,
und Wu Kang reicht ihn entgegen, Zimtblütenwein.
Vereinsamte Tschang O, breitet die weiten Ärmel,
in zehntausend Meilen des Raums für die treuen Seelen zu tanzen.
Die plötzliche Nachricht: auf Erden ergab sich der Tiger;
in Tränen brechen sie aus, wie Ströme von Regen.
Genossin Tschiang Tsching, ein neuer Name und eine neue Persönlichkeit. Um sich der Namen Li Yün-ho und Lan Ping und der damit verknüpften unseligen Erinnerungen an Schanghai zu entledigen, nahm sie, wie Tausende anderer Bekehrter, im Kommunismus einen neuen Namen an. Hatte Mao ihr diesen Namen gegeben, fragte ich.
Sie reagierte, als wäre ich in ihre Intimsphäre eingedrungen. Sie habe ihn sich selbst ausgesucht. Sie würde mir seine Bedeutung erklären, wörtlich hieße er »Azurblaue Ströme«. Das erste Schriftzeichen, Tschiang, enthält keinen Hinweis auf ihren Familiennamen Li; damit wollte sie die Verbindung lösen. Außerdem ist in Tschiang ihre Liebe zu langen und breiten Flüssen enthalten - wie dem Yangtse, dessen Mündung sie von Schanghai her kannte. Tsching drückt ihre Liebe zu hoch anfragenden Bergen und zum Meer aus, die in chinesischen Gemälden beide durch tsching oder »azur« ausgedrückt werden - die Farbe der Natur, die die Chinesen als Blau mit leichtem Grünstrich sehen. Um das ganz spezielle Blau von tsching zu verdeutlichen, zitierte sie eine Zeile aus einem Gedicht der Tang-Zeit, die etwa folgendermaßen lautet: »Azur kommt von blau, aber es ist blauer als blau.«[11] So und nicht anders, sagte sie, sei die Bedeutung ihres Namens zu verstehen.
Die Bedeutungen sind vielfältig und faszinierend. Das tsching - azur - von Tschiang Tsching hieß, daß die Lan (blau) Ping von früher übertroffen werden sollte. Das tschiang - Fluß ist sehr eng mit yin assoziiert, dem weiblichen Prinzip im traditionellen chinesischen Gedankengut. Im Mythos und in der Geschichte galten Frauen als die Urheberinnen von Flußüberschwemmungen und wurden dafür bestraft.[12] Es gab einmal (und gibt wahrscheinlich noch) ein beliebtes Sprichwort: »Frauen sind die Quelle allen Unheils« »Nü schih huo schui.« Die Schriftzeichen für »Unheil« bedeuten »Wasserunheil« (huo schui in umgekehrter Reihenfolge).
Ihr deutlicher yin-Bezug paßte vorzüglich zu Maos yang. In der revolutionären lkonographie wird Mao durch die Sonne symbolisiert, der kosmischen Kraft, die yang zugrundeliegt, dem maskulinen Prinzip. In der chinesischen Graphik dominiert das Symbol der Sonne, die stets positiv gesehen wird, und sowohl in der gesprochenen als auch in der gesungenen Propaganda heißt es: »Der Vorsitzende Mao ist die röteste aller roten Sonnen in unserem Herzen«.
Seit Beginn ihrer Ehe hätten sie sich über ihre völlig verschiedene Herkunft lustig gemacht, erinnerte sich Tschiang Tsching und zog ein Gesicht. Der Vorsitzende sagte immer, sie habe als Kind gelernt, »an Gottheiten zu glauben und Konfuzius zu lesen«, und danach habe sie das ganze »bourgeoise Zeug«, wie er sich ausdrückte, kennengelernt - durch das Theater. Und erst später habe sie begonnen, sich mit dem Marxismus-Leninismus auseinanderzusetzen das war ihr drittes Lernstadium. In Wahrheit sei sie jedoch von früher Kindheit an gegen den Konfuzianismus gewesen. Je älter und reifer sie geworden sei, desto intensiver habe sie sich für die Kommunistische Partei eingesetzt. Selbst heute könne sie nicht von sich behaupten, den Marxismus-Leninismus in Theorie oder Praxis zu beherrschen. Ihr ganzes Leben sei jedoch ein unaufhörlicher Versuch, dieses Ziel zu erreichen.
Zu der Zeit, zu der Tschiang Tsching und Mao heirateten, war das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in den Roten Gebieten außerordentlich unausgewogen. Unter den Teilnehmern des Langen Marschs gab es nur dreißig Frauen, meist Ehefrauen von Führern der Roten Armee. Fast alle verheirateten Soldaten mußten Frau und Kinder zurücklassen, als sie sich auf den Marsch begaben, und aufgrund der großen Entfernungen und der Kriegswirren fanden nur sehr wenige Familien wieder zusammen. Im Nordwesten, wo sich die Roten Soldaten niederließen, lag das Verhältnis von Männern zu Frauen ungefähr bei achtzehn zu eins. Manche Männer gingen Verhältnisse ein oder verheirateten sich einfach wieder, ohne sich erst von zurückgelassenen oder verlorengegangenen Frauen scheiden zu lassen. Aber der überwiegenden Mehrheit, die zu jung oder zu arm zum Heiraten war, wurde eingeschärft, ihre Kraft nicht mit sexuellen Dingen zu verzetteln und nicht ihr ganzes Geld an Prostituierte zu verschwenden. Ihre erste Pflicht war es, den Feind zu schlagen, und dazu benötigten sie ihre ganze Kraft und Energie.
In den Gebieten, die unter Roter Kontrolle standen, mußten Heirat und Scheidung nach den Gesetzen der chinesischen Sowjetrepublik vollzogen werden, die ursprünglich 1931 erlassen, dann 1934 und noch einmal 1939, dem Jahr, in dem Tschiang Tsching und Mao heirateten, revidiert wurden. Die Klauseln dieses Gesetzes waren unkonventionell und billigten jedem die gleichen Rechte zu: das westliche Modell der Monogamie trat an Stelle der chinesischen Polygamie (die sich sowieso nur die Reichen hatten leisten können); außerdem ging man dazu über, sich seinen Ehepartner selbst auszusuchen, anstatt zu akzeptieren, was Eltern oder Heiratsvermittler einem präsentierten. Das einfache bürokratische Verfahren bei Eheschließung und -scheidung folgte dem sowjetrussischen Modell, das Wang Ming für China neu formuliert hatte. Aber was in den revolutionären Schriften stand, entsprach nicht unbedingt der sozialen Realität. Eine Ehe konnte bereits aufgrund einer mündlichen Absprache zwischen den Partnern vollzogen werden, die die Partei dann offiziell billigte. Auch die Abteilung für Belange der Frauen nahm manchmal Heiraten oder Scheidungen vor.
Die meisten Überlebenden des Langen Marsches stellten eine Krieger-Elite dar, deren Meinungen wie auch gesetzgeberische Neuerungen in den befreiten Gebieten Maßstäbe setzten. Früher war man nach Wunsch und Laune der Eltern verheiratet worden; und jetzt, in den progressiven Kreisen Jenans, in denen elterliche Autorität und konfuzianische Pietät verurteilt wurden, erwartete man, daß jeder aus eigenem Entschluß, jedoch in Üereinstimmung mit Parteiinteressen, heiratete - und natürlich niemanden aus der ausbeuterischen Klasse. Als revolutionäre Idealisten verachteten sie auffällige Liebesaffären, offenen Ehebruch und überhaupt jede Art persönlicher Disziplinlosigkeit. Ihre puritanische Gesinnung im Namen der Revolution wurde durch die kulturelle Rückständigkeit des Nordwestens noch verstärkt. Hier, wie überall in China, war die Scheidung praktisch ein Privileg des Ehemannes. Wenn sie vollzogen wurde (was selten genug vorkam), war das eine Schande für die verstoßene Frau. An diesen Maßstäben wurden alle gemessen - die Parteiführer und sogar ihr Vorsitzender.
Darüber hinaus stand das sozial freie Benehmen der Scharen städtischer Studenten, Künstler und Intellektuellen, die der Armee nach Jenan folgten, im Widerspruch zu den festen Normen der Landbevölkerung. Männer und Frauen waren Erben der Frauenbefreiungsbewegung, die die junge gebildete Klasse während der Bewegung des 4. Mai erfaßt hatte und die eigenwillige Bohémewirtschaft in Chinas Welt der modernen Künste anregte. Wer alle Heiratszeremonien traditionelle chinesische oder westliche - mißachtete die Paare machten sich einfach ihre eigenen Verträge oder kümmerten sich gleich gar nicht um Papierkram - bewies damit, daß er zur Avantgarde gehörte. Manche Paare der kulturell »höheren Schicht« lebten auch einfach auf relativ herkömmliche Art zusammen. Klatschgeschichten über das freizügige Leben mancher Filmstars kursierten in den Städten entlang der Küste, gelangten bis ins Landesinnere und drangen sogar bis ins Ausland.
Der Klatsch verschonte auch den Vorsitzenden Mao nicht. Nach außen hin sah es so aus, als hätte er mit seiner Frau, einer Veteranin des Langen Marsches, mit der er zwei Kinder hatte, Schluß gemacht, um sich mit einem Schanghaier Flüchtling einzulassen - noch dazu einer Filmschauspielerin. Somit hatte Tschiang Tsching nicht nur gegen die Skepsis anzukämpfen, mit der die revolutionären Führer die politische Vergangenheit dieser nach außen hin so brillant wirkenden Lan Ping betrachteten, sondern auch gegen die instinktive Verachtung der Landbevölkerung für das schon sprichwörtlich freizügige Leben eines Mädchens aus der Großstadt. Hartnäckige Gerüchte über Tschiang Tschings Verbindung mit Mao stehen in Widerspruch zu den historischen Aufzeichnungen. Niemand, der sie oder Mao persönlich kannte, hat es je gewagt, diese Gerüchte schriftlich zur Diskussion zu stellen. Oder gab es da nichts zu erklären? Wer hatte beispielsweise die Geschichte in die Welt gesetzt, das Zentralkomitee sei gegen die Heirat gewesen und habe Maos Ehe mit der flatterhaften Schauspielerin nur unter der Bedingung zugestimmt, daß sie ihre Aktivitäten auf Heim und Herd beschränkte und sich zwanzig Jahre lang oder gar bis ans Ende ihrer Tage nicht um öffentliche Angelegenheiten kümmerte? Für manche Beobachter war Tschiang Tsching plötzliches Auftauchen während der Kulturrevolution nach zwanzig Jahren Ehe eine Bestätigung dieser Version.
Fragen wie diese legte ich Tschang Ying privat vor, und wie erwartet, gab sie sie an Tschiang Tsching weiter, die am nächsten Abend auf die ihr eigene Weise reagierte.
Lange, nachdem sie Schanghai verlassen hatte, erinnerte sie sich, kam sie in Gedanken einfach nicht los von den persönlichen Feinden, die sie dort gehabt hatte. Viele von ihnen waren nun auch in Jenan aufgetaucht. Sie gingen auf jede erdenkliche Art und Weise vor und beeinflußten auch die öffentliche Meinung im Nordwesten, um ihr zu verstehen zu geben, daß sie sie, falls sie sich weigerte, ihre Vorschläge zu akzeptieren (die sie an dieser Stelle nicht aussprach, aber wahrscheinlich sollte sie gezwungen werden, in politisch kompromittierenden Filmen mitzuwirken) töten würden.[13]
Weil sie sich in Jenan Gerechtigkeit erhoffte, legte sie die Gründe für ihre Verfolgung den höchsten Führern, Mitgliedern des Politbüros, offen dar, damit sie sich über ihre Vergangenheit ein klares Bild machen konnten. Später, nachdem sie bereits die Frau des Vorsitzenden geworden war (Ende 1938 wurde die Ehe offiziell anerkannt)[14] und feststellen mußte, daß sie noch immer von der Arbeit, die sie gerne verrichtet hätte, ausgeschlossen wurde, mußte sie befürchten, daß immer noch falsche Gerüchte über sie im Umlauf waren. Da sie keinen Fürsprecher hatte (anscheinend bekam sie nicht einmal von Mao Unterstützung), trat sie noch einmal vor die Parteiorganisation, um diese anscheinend gerechten Männer von der Zwangslage, in der sie sich in Schanghai befunden hatte, zu überzeugen.
»Wir wissen über Ihre Vergangenheit Bescheid«, war alles, was sie darauf sagten.
Die Worte sollten beruhigend wirken, aber Worte allein genügten nicht. Tschiang Tsching bezog sich auf Tschang Keng, Theaterregisseur und einer der Leiter der Schanghaier Untergrundorganisation der Partei (und von ihr zurückgewiesener Verehrer), als sie fragte: »Warum hat er mich als Trotzkistin bezeichnet und andere glauben gemacht, daß es stimmt?«
»Das hat Tschang Keng nicht so gemeint«, erwiderten sie zweideutig.
Das hatten sie nur gesagt, weil sie von Tschou Yang beschützt wurden, mutmaßte Tschiang Tsching.[15] Sie erklärten ihr, daß Tschang Keng und andere sie eben »noch nicht kannten«, aber das war albern, denn gerade Tschang Keng kannte sie ja ziemlich gut. Erst nachdem sie schon eine ganze Weile in Jenan war, wurde ihr klar, daß Tschang Keng und seine Begleiter in Wirklichkeit »Spezialagenten des Feindes« waren (vermutlich der KMT - allerdings muß man sich fragen, warum feindliche Agenten im Lager der Roten Armee nicht entlarvt wurden). Sie würde nie vergessen, wie schwer sie ihr das Leben in Schanghai gemacht hatten. Doch selbst nachdem sie die Frau des Vorsitzenden geworden war und es in ihrer Macht lag, ihre Gegner zu vernichten, nahm sie sich zusammen. Nehmen wir zum Beispiel doch einmal Tschang Keng, sagte sie. In Jenan durfte er Leiter der Theaterabteilung an der Lu-Hsün-Akademie sein - wie leicht hätte sie das verhindern können, denn schließlich lag das kaum in ihrem eigenen Interesse. Nach der Befreiung wurde er dann zum Direktor des Forschungsinstituts für Schauspiel ernannt.
Obwohl die Parteiorganisation sie zuvorkommend behandelte, wurde sie den Verdacht nicht los, daß einige der führenden Genossen gegen sie eingenommen waren und dafür sorgten, daß sie isoliert blieb und keinen Kontakt zum Volk bekam. Nichts wünschte sie sich mehr, als daß die Massen erkannten, wie ernst es ihr mit ihrem Engagement war, und daß sie von ihnen akzeptiert wurde.
Aus diesem Grund ersuchte sie erneut um eine Anhörung im Hauptquartier der Parteiorganisation, deckte weitere Einzelheiten über die politischen Zustände im Parteiapparat des Schanghaier Untergrunds auf und versuchte zu erklären, daß sie nur ein Opfer der Umstände geworden sei. Sie wollte den Genossen zu verstehen geben, daß sie nicht die Absicht hatte, ihre Position als Frau des Vorsitzenden auszunutzen, um sich an Leuten zu rächen, die früher gegen sie gewesen waren und sie ihre Abneigung immer noch spüren ließen. Sie müßten endlich begreifen, daß sie mit ihnen zusammenarbeiten wollte. Wenn sie ihre Schuld zugäben, würde sie ihnen verzeihen. Sie wartete. Niemand gab irgend etwas zu.
Noch Jahre danach konnte sie sich des Verdachts nicht erwehren, daß für ihre Schwierigkeiten mit der Partei in Schanghai, für ihre Isolierung dort und nun auch in Jenan, für die üblen Gerüchte, die über sie verbreitet wurden, vor allem Tschou Yang verantwortlich war, der seit Mitte der dreißiger Jahre die kulturellen Belange der Partei praktisch ganz allein vertrat. Aber solange sie sich dessen nicht völlig sicher war, schwieg sie.
Forschend blickte sie in die ausdruckslosen Gesichter in ihrer Runde und teilte mit ernster Stimme mit, daß sie nun die Gelegenheit ergreifen wolle, um die Frage ihrer unterbrochenen Parteimitgliedschaft ein für allemal zu klären. Jahrelang hatte sie sich eingebildet, daß Tschou Yang, Tien Han, Yang Han-scheng, Tschang Keng und andere Mitglieder der Liga Linker Dramatiker ihr Mißgeschick in Schanghai verschuldet hätten. Erst als sie am Vorabend der Kulturrevolution die Initiative ergriff, brachte sie endlich den Mut auf, vor Tschou Yang hinzutreten und es ihm ins Gesicht zu sagen: »Wußtest du, daß ich damals in Schanghai war, und was ich angestrebt habe?«
»Ja, das wußte ich«, erwiderte er.
»Ich wollte zur Kommunistischen Partei Kontakt aufnehmen.«
Schweigend habe er zu Boden geblickt, berichtete sie mit leiser, bedächtiger Stimme.
Tschiang Tsching stand auf und bat mich, ihr zu folgen. Sie bedeutete ihrer Leibwache, durch die hohen Türen nach draußen voranzugehen. Hsiao Tschiao war sichtlich erstaunt, er nahm eine Taschenlampe und leuchtete uns, denn das fahle Mondlicht hob nur undeutliche Umrisse hervor. Die Nachtluft war feucht. Wir folgten dem Strahl der Taschenlampe - zuerst Tschiang Tsching, dann ich. Hinter mir kamen die Dolmetscherinnen und der junge Mann, der alles, was zwischen uns gesprochen wurde, aufschreiben mußte. Er war jetzt völlig auf sich gestellt, denn Tschiang Tsching hatte uns mit Absicht außer Reichweite der Mikrophone geführt.
Während wir weitergingen, redete Tschiang Tsching schnell und aufgeregt. Aber da sie mit abgewandtem Kopf sprach, konnte ich nicht alles verstehen, und der Schreiber, der erst hinter mir kam, verstand offensichtlich überhaupt nichts. Außerdem mußten wir ständig aufpassen, daß wir nicht in die blanken Bajonette der jungen VBA-Wachen liefen, die im Bambusdickicht neben dem engen Pfad versteckt waren. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah Tschang Ying, Yü Schih-lien und Tschen Ming-hsien, deren Augäpfel im Mondlicht und im Strahl der Taschenlampe weiß glänzten. Sie lächelten etwas verkrampft, denn auch ihnen war im Dunkel des tropischen Gartens mit den Wachen, die zwischen den Büschen lauerten, unheimlich zumute.
»Ich möchte, daß Sie ein paar Dinge wissen, die nicht gleich alle Welt erfahren muß.« Und dann sprudelte es nur so aus ihr heraus.[16] Die Gerüchte, die im Ausland über die Umstände ihrer Heirat mit Mao im Umlauf waren, interessierten sie nicht sonderlich. Das meiste war Unfug, bösartiges Geschwätz, möglicherweise von Wang Ming und seinesgleichen in die Welt gesetzt. Sie wußte auch von den Behauptungen, die in einer Kurzbiographie über sie in dem Londoner Magazin »The China Quarterly« aufgestellt worden waren, die aber zum größten Teil nicht stimmten.[17] Premierminister Tschou war um sie besorgt. Sie hatte Vertrauen zu ihm, daher vertraute auch er ihr. Er und seine Frau Teng Ying-tschao wußten, daß sie über die Widersprüchlichkeiten, die ihrer Heirat mit dem Vorsitzenden angedichtet wurden, nicht gerne sprach. Ein paar Dinge habe sie dazu aber doch zu sagen.
Als die Partei im Zentralen Sowjetgebiet ankam, (wahrscheinlich sprach Tschiang Tsching von der Ankunft in Jenan im Januar 1937) lebten der Vorsitzende Mao und seine dritte Frau Ho Tze-tschen schon seit über einem Jahr voneinander getrennt. Und als Tschiang Tsching selbst im Spätsommer 1937 von Schanghai nach Jenan ging, waren Mao und Ho bereits geschieden.[18] Ho hatte den Nordwesten verlassen und erholte sich in der Sowjetunion von einer Krankheit. Wer hatte die Scheidung eingereicht? Ho Tzeschen, nicht der Vorsitzende, sagte sie heftig.[19]
Sie war Ho nie persönlich begegnet, aber aus den Bemerkungen, die verschiedene Mitglieder der Familie des Vorsitzenden und gelegentlich auch der Vorsitzende selbst fallen ließen - der im übrigen in dieser Hinsicht bemerkenswert zurückhaltend war - konnte sie sich ein Bild von ihr machen. Ho Tze-tschen war, wie Tschiang Tsching erfuhr, eine eigensinnige Frau, die »die politische Welt des Vorsitzenden Mao nie verstanden hat«. Das lag zum Teil an ihrer Herkunft: sie stammte aus einer Grundbesitzer- und Kaufmannsfamilie und war an einen ziemlich hohen Lebensstandard gewöhnt. Jedesmal, wenn sie auf dem Langen Marsch in eine Stadt kamen, wollte Ho am liebsten dableiben, denn sie war an das Leben in der Stadt gewöhnt. Von Kindheit an verwöhnt, verachtete sie körperliche Arbeit. Sie weigerte sich, »Papier zu schneiden« und andere einfache Arbeiten zu verrichten, für die alle gemeinsam die Verantwortung zu tragen hatten.[20]
Zu diesen Problemen, die durch ihren Charakter bedingt wurden, kamen noch unglückliche Umstände hinzu, fuhr Tschiang Tsching fort. Während des Marsches wurde Ho bei feindlichen Angriffen mehrmals verwundet, was sie physisch und psychisch völlig aus dem Gleichgewicht brachte.[21] Als die Rote Armee Ende 1935 den Nordwesten erreichte, war sie weder der politischen Situation, noch ihren Kindern, noch irgendwelchen anderen persönlichen Bindungen gewachsen. Natürlich fand der Vorsitzende ihr Benehmen unerträglich. Als die Partei das Zentrale Sowjetgebiet des Nordwestens erreicht hatte, verließ Ho den Vorsitzenden und schwor, sich nie in ihrem ganzen Leben in Jenan niederzulassen.[22] Allein kehrte sie nach Sian zurück. Tschou En-Iai und Teng Ying-tschao, die sich um die Ehe der beiden Sorgen machten, versuchten sie dazu zu überreden, nach Jenan zurückzukehren, aber sie lehnte es strikt ab. Als sie nun niemanden mehr hatte, der für sie da war und sich um sie kümmerte, ließ sie ihre Frustrationen an den beiden Kindern aus; sie pflegte sie ständig zu prügeln, was man ihnen noch anmerken konnte, als sie längst erwachsen waren, sagte Tschiang Tsching. Es erging ihnen wie ihrer Mutter - und auch durch deren Verschulden: sie vermochten sich den Anforderungen des sozialistischen Lebens nie anzupassen. Um 1930 wurden Ho und die beiden Kinder - die Tochter war noch sehr klein - von der Partei nach Moskau geschickt. Die rauhen Behandlungsmethoden der russischen Ärzte sowie der anderen Russen, die ihr zu helfen versuchten, verschlimmerten ihren Zustand nur noch mehr. Da sie sich isoliert fühlte, nahmen ihre Depressionen zu, und sie begann erneut ihre Kinder zu mißhandeln. Schließlich kümmerte sie sich überhaupt nicht mehr um sie, bis man sie ihr wegnahm und sie selbst in eine Irrenanstalt steckte. Ende der vierziger Jahre (als Stalins Haltung gegenüber Mao immer kritischer wurde) schickte man sie nach Schanghai zurück. Dort lebt sie noch heute in einer Nervenanstalt. Von Zeit zu Zeit wird sie mit Elektroschocks behandelt.
»Gibt es für ihren Zustand eine Erklärung?« fragte ich.
»Depressive Reaktion auf die ungewohnt harten Lebensbedingungen«, erwiderte Tschiang Tsching ruhig.
Zweifellos war an der Geschichte über den Bruch zwischen Mao und Ho der treuen Ehefrau, fruchtbaren Mutter und Veteranin des Langen Marsches - mehr, als Tschiang Tsching für die Veröffentlichung preisgab. Sollte sie in Hos tragisches Schicksal eine Bedeutung für ihr eigenes hineininterpretiert haben?
Das Los von Ho-Tze-tschen, Tschiang Tsching und anderen Frauen,die sich von Mao angezogen fühlten, war eng verknüpft mit dem am besten gehüteten Element der Revolution - Maos Charakter und seiner persönlichen Macht. Zeitgenössische Beobachter haben es nur angedeutet. Wie so viele ausländische Journalisten, die unentwegt nach politischer Romantik suchen, war auch Nym Wales von der »Jenaner Mystik« fasziniert. Sie nannte Mao den »König Arthur von China ... den Vorsitzenden der Tafelrunde von Jenan. Seine Männer waren Ritter und seine Frauen wahre Damen, voller Würde und Stolz und erfüllt von dem Bewußtsein, für ganz China Maßstäbe zu setzen.« Obgleich Nym Wales Maos letzter Frau nie begegnet war, entspricht Tschiang Tsching ihrer intuitiven amerikanischen Vorstellung von dem, was Mao an Frauen mochte, aufs Haar. Sie schrieb: »Mao gehörte zu den Männern, die besonders viel Gefallen an Frauen finden - allerdings nur an außergewöhnlichen Frauen. Er wollte eine feminine Frau, die ihm ein schönes Zuhause bereitete, und er schätzte auch Schönheit, Intelligenz und Geist, sowie Treue - ihm selbst und seinen Ideen gegenüber. Er fürchtete keine selbständig denkenden Menschen, und gegen Lippenstift und gekräuseltes Haar hätte er nichts einzuwenden gehabt.«[23]
In der 1968 überarbeiteten Ausgabe seines Buchs »Roter Stern über China« erwähnt Edgar Snow die Schauspielerin Lily Wu (Wu Kuang-wei), von der Mao fasziniert war und die für Tschiang Tsching gewissermaßen den Boden bereitete. Ende der dreißiger Jahre arbeitete Lily Wu als Dolmetscherin für die faszinierende Agnes Smedley, die amerikanische Journalistin, die mit einigen chinesischen Kommunistenführern befreundet war. Lily Wu war von verwirrender Anmut, außerdem sehr begabt und eigenwillig. Während sich fast alle anderen Frauen einen kurzen Bubikopf Haarschnitt zulegten und auf Make-up verzichteten, trug Lily Wu ihr lockiges Haar lang und schminkte sich auch weiterhin die Lippen, wie sie es von Schanghai her gewohnt war. Im Mai 1937 kam Mao einmal, um Agnes Smedley in ihrer Höhle zu besuchen; sie aß gerade mit Mrs. Snow (Nym Wales) und Lily zusammen zu Abend. Wie die meisten jungen politischen Enthusiasten in Jenan verehrte Lily den Vorsitzenden. Er setzte sich zu ihnen, und sie tranken Wein; und in dieser gelockerten fröhlichen Stimmung brachte sie Mao dazu, ihr die Hand zu halten.[24]
Von diesem Flirt erfuhr Ho Tze-tschen - ob es über das, was Mrs. Snow beobachtet hatte, hinausging, ist nicht bekannt; sie beschuldigte Lily Wu öffentlich, ihren Ehemann verführt zu haben. Mao stritt die Beschuldigung ab. Trotzdem sprach, laut Snow, ein Sondergericht des Zentralkomitees die Scheidung aus, und beide, sowohl Wu als Ho, wurden ins Exil geschickt, letztere, wie wir wissen, nach Rußland.[25]
War Lily Wu die Wegbereiterin von Tschiang Tsching? Wenn sich auch Tschiang Tsching über das genaue Datum des Beginns ihres Verhältnisses mit Mao ausschwieg, so erzählte doch Yang Tze-Iie, die Frau von Maos Rivalen Tschang Kuo-tao, Hos Version der Geschichte, die im großen und ganzen den Bericht Tschiang Tschings ergänzt. Zu Beginn des Frühjahrs 1938 traf Yang aus Schanghai im KPCh-Hauptquartier der 8.-Route-Armee in Sian ein. Dort wurde ihr ein einfaches Zimmer zugewiesen, das mit zwei Holzliegen ausgestattet war. Auf der einen lag eine schmale, blasse, kränkliche Frau, die sich ihr als Ho Tze-tschen, die Frau von Mao Tse-tung, vorstellte. Yang Tze-Iie fragte sie, warum sie nicht bei ihrem Mann und seinen Kameraden in Jenan sei. Ho erklärte, sie sei auf dem Weg nach Moskau, um sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen, sie habe aber ohnehin nicht die Absicht, nach Jenan zurückzugehen. »Tse-tung behandelt mich nicht gut«, sagte sie. »Wir zanken uns und haben ständig Streit. Er greift zum Tisch und ich zum Stuhl! Mit uns ist es aus, das weiß ich.«
So sollten sich verheiratete Genossen nicht aufführen, erwiderte Yang Tze-Iie und erbot sich, in Jenan zu Mao zu gehen, um ihn zu überreden, ihr einen Brief zu schreiben. Ho hielt die Sache jedoch für aussichtslos.
Später erzählte Liu Tschun-hsien einmal Yang Tze-Iie im Vertrauen: »Lan Ping ist sehr hübsch und eine gute Schauspielerin. Als sie nach Jenan kam, war der alte Mao hingerissen. Er klatschte bei ihren Auftritten immer so laut, daß Ho Tze-tschen eifersüchtig wurde. Die beiden hatten oft Streit deswegen - mit ganz schrecklichen Folgen.«
Einige Tage nach ihrer Ankunft in Jenan erzählte Yang Tze-Iie Mao, daß sie Ho in Sian getroffen und ihr angeboten habe, sie hierher zurückzubringen. Sie habe aber abgelehnt. »Es ist alles deine Schuld«, sagte sie ärgerlich zu Mao. »Du solltest ihr sofort einen Brief schreiben.« Mao lachte nur und sagte nichts. Als sie Mao einige Tage später wieder traf, bemerkte er: »Ich habe Ho einen Brief geschrieben, aber sie will nicht zurückkommen.« Ob er diesen Brief wirklich geschrieben hatte oder nicht, konnte Yang nicht sagen. Sicher war, daß sich Hos Gesundheitszustand verschlechterte und sie nach Moskau fahren mußte. Manche Genossen sprachen davon, wie dickköpfig Ho immer gewesen sei - wie ein hunanischer Esel.[26]
Zweifellos hatte Mao vom ersten Augenblick an, als Lan Ping in Jenan eintraf, ein Auge auf sie geworfen.
Im großen und ganzen sprach Tschiang Tsching nur sehr wenig von ihrer eigenen Familie und Herkunft, dafür umso mehr über die Mitglieder von Maos Familie, die sie im Lauf der Jahre näher kennenlernte. Einer der Gründe dafür mag darin liegen, daß ein Mädchen, das heiratet, nach chinesischer Tradition ihre eigene Familie für immer verläßt und sich der Familie ihres Mannes anschließt. Als Folge davon rückt ihre eigene Familie in den Hintergrund und die ihres Mannes wird zum Mittelpunkt ihres Lebens. Maos Familienleben, wie das der meisten Revolutionäre, die ja keinen festen Wohnsitz hatten, war insofern unkonventionell, als Ehemann und Ehefrau den Kern der Familie bildeten; die Eltern des Mannes, die nach altem Brauch aufgrund ihres Alters und ihrer Autorität an der Familienspitze hätten stehen sollen, waren sich selbst überlassen oder gar verstoßen worden. Noch mit siebzig Jahren setzte Mao seinen Vater ständig in aller Öffentlichkeit herab. Selbst war er jedoch ein fürsorglicher Vater und nahm, so weit sich das machen ließ, die Kinder seiner Frauen bei sich auf. Zu diesem Punkt, der sehr persönliche und schmerzhafte Erinnerungen heraufbeschwor, äußerte sich Tschiang Tsching ziemlich ausführlich.
Die Tragödien innerhalb der Familie Maos sind für die ganze Generation der Gründerväter der Revolution typisch. Als die Überlebenden des Langen Marschs endlich den Nordwesten erreicht hatten, waren sie durch tausend und abertausend Verluste während des Bürgerkriegs abgestumpft. Im Lauf der Jahre gingen die Todesopfer in die Millionen, und je mehr es wurden, umso stärker wurde der Wunsch nach Rache. Aber wie groß die persönlichen Leiden des einzelnen auch sein mochten - die kommunistischen Führer waren Strategen, die sich keine Sentimentalitäten leisten konnten. Blutschulden auf eigene Faust zu begleichen, würde zu keinen großen historischen Veränderungen führen. Daher unternahmen sie erbitterte Anstrengungen, um die persönlichen Rachegefühle für die Verwirklichung ideologischer Prinzipien nutzbar zu machen.
Paradoxerweise wird das revolutionäre Theater der Volksstimmung eher gerecht als die politische Ideologie. Während wir uns eine Aufführung der »Roten Signallaterne« ansahen, einer revolutionären Oper, die Ende der vierziger Jahre im Nordwesten spielt, begann Tschiang Tsching über Mao Tse-tungs Familie zu sprechen. Die Geschichten über die Überlebenden waren verknüpft mit schmerzlichen Erinnerungen an Kinder, Ehefrauen und andere Verwandte, die verlorengegangen, in den Wahnsinn getrieben oder durch die Gewalt der historischen Veränderung, die Mao, seine Genossen und seine Feinde über dem 20.Jahrhundert heraufbeschworen hatten, zugrundegerichtet worden waren. Während der Szene, in der die Großmutter die familiären Tragödien der Lis (ist die Übereinstimmung mit Tschiang Tschings Nachnamen reiner Zufall?) aufzählt, kamen Tschiang Tsching die Tränen, als sie von den sieben Mitgliedern der Familie des Vorsitzenden berichtete, die »ihr Leben für die Revolution gelassen« hatten.[27] Nach der von Tschiang Tsching aufgezählten Reihenfolge gehörten dazu Yang Kai-hui, die Frau des Vorsitzenden; sein mittlerer Bruder Mao Tse-tan kam in den Sowjetgebieten um, sein jüngster Bruder Mao Tse-min in Sinkiang; sein Sohn Mao An-ying kam in Korea ums Leben, sein Neffe Mao Tschun-hsiung beim Rückzug der Truppen aus der Zentralebene, und ein weiterer Sohn war so mißhandelt worden, daß er einen Gehirnschaden davontrug. Verärgert fügte sie hinzu, daß die KMT noch immer das gemeine Gerücht verbreite, sein Nervenleiden sei »unsere Schuld«.
Bei einer späteren Unterhaltung kam Tschiang Tsching noch einmal auf Yang Kai-hui zurück, nominell die zweite Ehefrau des Vorsitzenden, aber in Wirklichkeit seine erste. Ihre drei Söhne - Mao An-ying, Mao An-tsching und Mao An-lung - wurden ziemlich am Anfang der Ehe geboren.[28] Danach verließ sie der Vorsitzende, um in den Bergen Stützpunkte zu errichten.[29] Yang Kai-hui hatte volles Verständnis für Maos Ziele und unterstützte ihn in jeder Beziehung; schließlich wurde sie festgenommen und von den KMT-BEhörden wegen der revolutionären Tätigkeit des Vorsitzenden eingesperrt. Da sie sich weigerte, ihren Mann oder die Kommunistische Partei zu denunzieren, ließ sie der hunanische Kriegsherr Ho Tschien 1930, zusammen mit Maos Cousine Mao Tse-tschien, in Tschangscha enthaupten.
Was ihre unmittelbare Vorgängerin Ho Tze-tschen anging, so war sich Tschiang Tsching nie völlig klar geworden, wie viele Kinder von ihr stammten; auch über dieses Thema schwieg sich der Vorsitzende aus. (In manchen Berichten heißt es, Ho hätte bereits vor dem Langen Marsch ein oder zwei Kinder bekommen, die vorübergehend oder für immer zu Bauern gegeben wurden.)[30] Den einen Sohn, den der Vorsitzende besonders liebte, nannten sie Maomao; aber er ging Ende der vierziger Jahre während des Kriegs in Nord-Schensi (anscheinend bei der Evakuierung Jenans) verloren.
Nicht lange nach ihrer Heirat übernahm Tschiang Tsching die Sorgepflicht für einen weiteren Sohn Maos (wahrscheinlich eines der Kinder von Ho Tzetschen). Offensichtlich war er als kleiner Junge nach Moskau geschickt worden und später nach Schanghai zurückgekehrt (wahrscheinlich 1944; genaue Angaben über den Zeitpunkt machte sie allerdings nicht); dort wurde er in die Obhut eines Priesters gegeben, der mit zwei Frauen verheiratet war, die sich beide als äußerst bösartig erwiesen. Sie schlugen den Jungen so erbarmungslos, daß sein Gleichgewichtssinn ständigen Schaden davontrug. Tschiang Tsching erinnerte sich noch gut daran, wie sein kleiner Körper immer hin- und herschwankte. Jahrelang konnte er sich nicht normal fortbewegen, oft stolperte er oder fiel plötzlich zu Boden.
Tschiang Tsching gewann den Jungen sehr lieb und zog ihn wie ihren eigenen Sohn auf, bis sie sich Anfang der fünfziger Jahre einer radiotherapeutischen Krebsbehandlung unterziehen mußte. Natürlich war es schwierig, sich in dieser Zeit um ihn zu kümmern. »Andere« (Ungenannte) kamen zu dem Schluß, daß sie nicht länger fähig sei, für ihn zu sorgen. Trotz all ihrer Bitten nahmen »sie« ihn ihr weg und verrieten nicht einmal, wo sie ihn hinschafften. (Konnte die Aberkennung des Sorgerechts von Tschiang Tsching, noch dazu nach der Befreiung, tatsächlich außerhalb der Jurisdiktion des Vaters und nationalen Führers Mao gelegen haben?) Es war ein schwerer Verlust, denn er war ein sehr kluges Kind; mit drei Jahren konnte er die »Internationale« bereits von Anfang bis Ende singen. Sie bekam nie heraus, wo seine Entführer ihn versteckt hielten, auch Mao nicht.
Der Vorsitzende habe ihr nie viel über Ho Tze-tschen erzählt, sagte Tschiang Tsching. Was sie wußte, erfuhr sie zum größten Teil von Mao Anying. Gleich nach der Scheidung begleitete Mao An-ying, noch nicht ganz zwanzig Jahre alt, Ho Tze-tschen und ihr jüngstes Kind, eine Tochter, in die Sowjetunion. Bei seiner Rückkehr (um 1944) wurden Tschiang Tsching und er gute Freunde, denn sie war nur ein paar Jahre älter als er.[31] Sie verglich diesen geringen Altersunterschied mit dem weit größeren zwischen ihr und Ho Tze-tschens Tochter, zu der sie ein ausgesprochen mütterliches Verhältnis hatte.
Von An-ying erfuhr sie Näheres über diese Generation der Familie Maos. Die Tochter war als Kind vorübergehend zu einem Bauern gekommen. In der Sowjetunion kam sie, nachdem man Ho Tze-tschen in eine Anstalt gesteckt hatte, in einen staatlichen Kindergarten, wo sie eine typisch russische Erziehung genoß. Später, als die Mutter in eine Nervenheilanstalt in Schanghai kam, nahm Tschiang Tsching das Kind zu sich.
Sie gab ihm den Namen Li Min und zog es zusammen mit ihrer eigenen Tochter Li Na auf, die fast genauso alt war wie Li Min.
Ich erwähnte Tschiang Tsching gegenüber, daß man im Ausland gelegentlich hört, sie habe zwei eigene Töchter und vielleicht auch einen Sohn. Sie habe nur ein eigenes Kind, erwiderte sie mit Bestimmtheit, und der Vorsitzende Mao sei sein Vater. Bei mehreren Gelegenheiten verglich sie mich mit ihrer Tochter Li Na. Wir seien ungefähr gleich alt, hätten beide Geschichte studiert und einen gemeinsamen Hang zum allzu Intellektuellen. Li Na hatte man aufs Land geschickt - was ihr gutgetan habe, fügte Tschiang Tsching hinzu.
Die Tatsache, daß sie Li Min und Li Na gemeinsam aufzog, drückt sich in den Namen aus. Sie gab beiden ihren ursprünglichen Familiennamen Li[32] und dazu Vornamen, deren klassische Bedeutungen im Gegensatz zueinander stehen. Sie sind von dem alten Sprichwort »Ein wahrer Herr sollte beim Reden vorsichtig und im Handeln schnell sein« abgeleitet. Somit bedeutet Na »vorsichtig beim Reden« und Min »schnell im Handeln«. Aber in Wirklichkeit bestand dieser Gegensatz von Na und Min nicht. Tschiang Tschings eigene Tochter brachte aus der Schule lauter »Fünfer« heim (das heißt Einser-Noten), aber dann lernte sie so viel, daß sie »dumm« wurde. Außerdem war Li Na von Haus aus nicht gerade »vorsichtig beim Reden«, obgleich diese Schwäche durch politische Berichtigung ein wenig behoben werden konnte. Andererseits war Li Min nicht besonders »schnell im Handeln«, ein Punkt, auf den Tschiang Tsching nicht weiter einging.
Nach dem Tod von Mao Tse-min, des jüngsten Bruders des Vorsitzenden, (er wurde 1943 von KMT-Anhängern in Sinkiang hingerichtet)[33], bat sein Sohn Mao Yüan-hsin, in der Familie Mao Tse-tungs leben zu dürfen. Natürlich nahmen sie ihn auf, und mit der Zeit hatten sie alle ein sehr enges Verhältnis. Auf eigenen Wunsch nannte er Tschiang Tsching nicht »Tante«, sondern »Mutter«. Er war ein begabter Junge, der zu einem typischen Intellektuellen heranwuchs und wie diese während der Kulturrevolution »gezügelt« werden mußte.[34]
Ihre eigene Tochter, Li Na, war ihm ähnlich. Schon von klein auf vergrub sie sich in historische Studien und entwickelte sich immer mehr zur bornierten Intellektuellen. Gleich zu Beginn der Sozialistischen Erziehungsbewegung im Jahre 1960 schickte Tschiang Tsching sie aufs Land, wo die Mehrzahl des Volkes lebt, damit sie dadurch ihren Horizont erweiterte. So zog Li Na zusammen mit Hunderttausenden Studenten und Intellektuellen aus der Stadt aufs Land. Sie blieb mehrere Jahre dort und machte die verschiedenen Stadien der Sozialistischen Erziehungsbewegung mit. Als sie nach Peking zurückgekehrt war, heiratete sie und bekam ein Kind. »Ich bin also Großmutter!« erklärte Tschiang Tsching stolz. Ihre Stieftochter Li Min, fügte sie noch hinzu, studierte Naturwissenschaft, heiratete und bekam zwei Kinder.
Diese persönlichen Dramen blieben neben dem gewaltigen Panorama des Widerstandskampfes und des Bürgerkriegs weitgehend unbemerkt. Die ständige Veränderung der strategischen Lage verlangte Maos volle Aufmerksamkeit. Anfang 1933 errichteten die KMT-Truppen unter dem Befehl von Hu Tsung-nan, der seit seiner Verteidigung Schanghais gegen die Japaner berühmt war, rund um die kommunistischen Grenzgebiete eine Blockade. Dadurch war fünf Jahre lang der gesamte Handel und jegliche andere Kommunikation mit den anderen Teilen Chinas und der gesamten Außenwelt unterbunden. Die Folge war eine unaufhaltsame Inflation innerhalb des Grenzgebietes: die Getreidepreise schnellten in die Höhe, Baumwolle und Stoffe, die zu den wesentlichsten Importgütern zählten, waren plötzlich nicht i mehr erhältlich. Die Ausfuhr von Salz, die bis dahin neunzig Prozent aller Einkünfte in der Region ausgemacht hatte, war nicht mehr möglich;[35] genauso wie die Einfuhr von Waffen für die Rote Armee, die zu diesem Zeitpunkt ungefähr eine halbe Million Mann stark war. Die Erhöhung der Steuern, jahrhundertelang letzter Ausweg von Grundbesitzern und Kriegsherren, hätte die Bauern unweigerlich zur Ernüchterung gebracht. Um diese negative Geschichtslektion nicht noch einmal zu wiederholen, machten sich die kommunistischen Führer eine radikale Pioniergesinnung zu eigen. Mao, der es großartig verstand, aus der Not eine Tugend zu machen, erhob »Vertrauen auf die eigene Kraft« und »Selbstversorgung« zu positiven Schlagworten. Die Soldaten mußten sich als Bauern betätigen. Mit Holzkohle ließ Mao auf die alten Mauern, die Jenan umgaben, schreiben:
- Vertrauen auf die eigene Kraft, ausreichende Kleidung und Nahrung!
- Entwicklung der Wirtschaft und Vorsorge für die militärische Verteidigung!
- Durch Selbstversorgung bauen wir ein blühendes Grenzgebiet im Nordwesten auf!
- Mit der Hacke über der einen und dem Gewehr über der anderen Schulter werden wir
Selbstversorger in der Produktion sein und das Zentralkomitee der Partei beschützen![36]
Aber selbst heute, mehr als 35 Jahre nach Eintreffen der Partei, sei Jenan noch immer unterentwickelt, bekannte Tschiang Tsching. Der Fehler liege bei »uns«, sagte sie von sich und den Führern - »in unserer Unzulänglichkeit«. In den letzten Jahren hatten internationale Verpflichtungen sie davon abgehalten, den Aufbau der Nordwest-Region zu fördern, die von jeher schier unüberwindbare Hindernisse aufweist: steile Berge, tiefe Täler und Terrassenfelder, die eine Produktionssteigerung so gut wie unmöglich machen. Es wäre schon lange an der Zeit, Pläne zur Urbarmachung und Verbesserung des Bodens zu erarbeiten. Zum Teil seien »gewisse Elemente« unter den Führern, die das Interesse der Öffentlichkeit außer acht gelassen hätten, schuld an der Rückständigkeit.
Während seines Aufenthalts im Nordwesten leitete Mao Tse-tung (wie wir aus anderer Quelle wissen) einige der ehrgeizigsten Projekte zur Nutzung des Bodens in die Wege. Im Winter 1939 befahl er dem jungen Kommandeur Wang Tschen, mit zehntausend Soldaten der 359. Brigade ein Modell-Projekt zur Urbarmachung von Brachland in den kahlen Bergen und Tälern von Nanniwan, fünfzig Kilometer südöstlich von Jenan durchzuführen. Sie waren angehalten, sich ihre Nahrung und Kleidung selbst zu beschaffen. Und so sammelten sie in verlassenen Tempeln Glocken, Urnen und Götterbilder, schmolzen sie ein und schmiedeten daraus Pflugscharen.[37] Außerdem hielten sie Schafherden, um Wolle zu gewinnen. Sie bauten neue Höhlenwohnungen, gründeten Dörfer und errichteten Schulen. Die Produktions- und Verbraucherkooperativen, die zuerst in der Landwirtschaft, dann auch im Handwerk und in der Kleinindustrie eingeführt wurden, folgten dem Prinzip der gegenseitigen Unterstützung. Zwar führten die Soldaten dieses Modell ein, allmählich jedoch wurden alle Männer, Frauen und Kinder des Gebiets in die Produktionskampagne miteinbezogen. Selbst in dieser Wildnis wurde das kulturelle Moment nicht vernachlässigt. Soldaten wurden zu Schauspielern, und die Bevölkerung wurde dazu angeregt, Propagandastücke über die fundamentale Wandlung in ihrem Leben aufzuführen.[38]
So revolutionär dieses umfassende Projekt zur Nutzung des Bodens, das unter militärischer Leitung durchgeführt wurde, auch ausgesehen haben mag - Mao Tse-tung hatte sich eingehend genug mit Geschichte befaßt, um sich darüber im klaren zu sein, daß es sich dabei im Grunde nur um eine neue Variante der alten Militärkolonien handelte, die es in den Grenzbereichen Chinas seit über zweitausend Jahren in ununterbrochener Folge gegeben hatte.[39] In regelmäßigen Abständen kamen die Parteiführer, unter ihnen Mao Tse-tung, von Jenan nach Nanniwan, und manchmal faßte einer seine frischen Eindrücke in Verse. Auf einer solchen Reise schrieb der Krieger Tschu Te sein Gedicht »Auf nach Nanniwan«:
Letztes Jahr war ich das erste Mal hier,
Da war nichts als Unkraut,
Kein Lager für die Nacht,
Nicht einmal Scherben von einem Krug;
Heute eröffnen wir einen neuen Markt,
Überall im Tal sind Höhlenwohnungen,
Wir lenken die Flüsse und ernten vorzügliches Korn,
Wasser ergießt sich in die neuen Reisfelder,
Das Militärlager ist im Bau,
Die Soldaten lagern Korn ein,
Auf den Weiden grasen fette Rinder und Schafe,
Astern werden zu Papierschönheiten.[40]
Aber nicht alle Aspekte des Lebens in Nanniwan waren so idyllisch. Tschiang Tsching kam ebenfalls hierher; aber nicht wie die Parteiführer, zur Inspektion, sondern als die neue Frau eines Parteiführers, um zu arbeiten. Im Januar 1939, gleich zu Beginn des Unternehmens, traf sie ein;[41] sie blieb sechs Monate. Von dieser Pflichtübung hätten die meisten Genossen von der Führungsspitze und das Volk nichts gewußt, erzählte sie mir. (Wollten Mao und gewisse andere Genossen sie einer Probe unterziehen, in der Hoffnung, Skeptikern und Gegnern die Ausdauer des Mädchens aus der Stadt vor Augen führen zu können?) Nachdem die Japaner die Roten Armeen 1939 in ihrem nordwestlichen Stützpunktgebiet angegriffen hatten, setzte eine ungefähr hunderttausend Mann starke KMT-Streitmacht unter dem Kommando von Hu Tsung-nan zu »drei antikommunistischen Attacken« an. Den KMT Truppen war es nicht nur darum zu tun, die Kommunisten nach ihrer üblichen Strategie der Einkesselung militärisch zu vernichten, sondern sie errichteten auch rund um das Gebiet eine Wirtschaftsblockade, so daß die 8.-Route-Armee keinen Nachschub bekam.[42] Und als die Kommunisten gerade dabei waren, im Grenzgebiet SchensiKansu-Ninghsia die wirtschaftlichen Verhältnisse grundlegend umzustrukturieren, ließ die KNff nichts unversucht, um sie auszuhungern. (Tschiang Tschings Stimme bebte vor Zorn, als sie dies berichtete.)
Als der Vorsitzende ihre Gruppe in Jenan verabschiedete, sagte er ihnen, daß sie in der Wildnis umkommen würden, wenn es ihnen nicht gelinge, sich die nötige Nahrung und Kleidung selbst herzustellen. Nach dieser drohenden Prophezeihung machten sie sich auf den Weg. Als sie ihr Lager errichteten, bekam Tschiang Tsching Blasen an den Händen, denn sie hatte noch nie in ihrem Leben körperlich gearbeitet. Weiter erzählte sie, daß die wenigen Frauen, die an dieser Urbarmachungs- und Produktionskampagne teilnahmen, bevorzugt behandelt wurden.[43] Während der Menstruation waren sie zum Beispiel zwei Tage lang von der regulären Arbeit befreit - selbstverständlich hatten sie in dieser Zeit andere Aufgaben wie Waschen und leichte Hausarbeit zu erledigen. Derartige routinemäßigen Konzessionen gegenüber Frauen lehnte sie stets ab. Manche Frauen zogen die leichtere, traditionelle Frauenarbeit vor, weil sie es verabscheuten, zu der gleichen schweren körperlichen Arbeit gezwungen zu sein wie Männer. Damals waren Frauen noch der Meinung, Männerarbeit zu leisten sei »zweitrangig«.
Da Tschiang Tsching während all dieser Jahre Tuberkulose hatte - diese Krankheit ist im Nordwesten und anderen Teilen Chinas endemisch - brauchte sie nicht am Spinnrad zu arbeiten, weil es zu anstrengend gewesen wäre. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Stricken (im Nordwesten eine traditionelle Männerarbeit, die auch die Soldaten der 359. Brigade erlernten). Obgleich sie darin nicht geübt war, brachte sie es während ihres Aufenthalts immerhin auf zehn Pullover, die alle dem Kollektiv ausgehändigt wurden. Pullover waren lebenswichtig, denn in den Bergen war es immer kalt. Während der gesamten sechs Monate trug sie einen dicken wattierten Mantel. Als sie mit ihrer Gruppe aus den Bergen zurück nach Jenan kam, erwartete sie dort sommerliches Klima. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich gefreut hatte, nicht mehr verschiedene Kleidungsstücke auf einmal anziehen zu müssen.
Rückblickend gestand sie, daß andere in Nanniwan weit bessere Arbeit geleistet hätten als sie, und ganz sachlich fügte sie noch hinzu, daß sie sich dort nicht durch besondere Leistungen hervorgetan habe.[44]
Gleich nach ihrer Rückkehr nach Yang-tschia-ping, der Höhlenwohnung und dem Armeehauptquartier in den sanften Hügeln bei Jenan, in denen sie mit Mao lebte, widmete sie sich wieder der kulturellen Arbeit, die ihr mehr lag. Allerdings war diese Tätigkeit in jenen Tagen noch kein so wesentliches Mittel, um zur Führungsspitze zu gelangen. Erst später sollte sie durch Tschiang Tsching zu einem wichtigen Machtinstrument werden.
»Unser großer vorsitzender Mao hat uns gelehrt >wir Kommunisten sind wie der Same, und das Volk ist der Boden.
Sobald wir an einen Ort gelangen, müssen wir das Volk vereinen, zusammen mit dem Volk Wurzeln schlagen und mit
ihm Blüten hervorbringen< Während der Zeit des großen Widerstandskrieges gegen Japan war der Vorsitzende Mao
immer eins mit dem Volk und teilte das Schicksal der Massen. Die leuchtenden Gedanken des Vorsitzenden Mao und seine große revolutionäre Linie werden uns immer anspornen und ein Vorbild sein«