Die Literatur hat sich in vieler Hinsicht Frauen gegenüber als feindliches Medium erwiesen, nicht zuletzt durch das schwärmerische Feiern ihrer Feminität, das auf Kosten weiblicher Individualität ging. In der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts dienten Frauen ausschließlich als Objekte, derer sich der Dichter bediente, um seine sprachliche Virtuosität zur Schau zu stellen. Der Frauen verhängnisvolle Blicke, ihr rosiger, zarter Teint und ihre tödlichen Reize wurden besungen, um die Tugenden des männlichen Märtyrers herauszustellen und die Angebetete auf ihre äußerlichen Attribute zu reduzieren. Zu den drei oder vier Gedichten aus dem 16. Jahrhundert, die die Wirren der Zeit überdauert haben und daher noch heute zum literarischen Standardwissen vieler Franzosen gehören, zählt das folgende Sonett von Ronsard:
Wenn du nun alt und grau geworden und beim Kerzenschimmer
zur Nacht am Feuer sitzt und Faden spulst und spinnst,
dann singst du, selber staunend, meine Verse, sinnst:
so pries Ronsard mich einst, da ich noch schön war, immer.Da ist wohl keine Magd, wenn sie auch fast schon schliefe,
nach schwerer Tagesarbeit halb in Schlummers Macht,
die nicht, beim Klange meines Namens jäh erwacht,
unsterblich Lob auf deinen Namen segnend riefe.Dann bin ich längst im Grab und ruh' im dunklen Haus,
ein Schemen ohne Leib, im Myrthenschatten aus.
Du hockst gebückt und alt am Herd, denkst voller Sorgen
an meine Liebe, deinen stolzen Sinn. Vergebens!
so lebe, glaube nur. Oh warte nicht bis morgen
und pflücke heute noch die Rosen dieses Lebens.[1]
Es ist sicherlich nicht unbedeutend, daß dieses großartige, drohende Gedicht von einem Dichter stammt, dessen Ruhm bereits zu Lebzeiten so gefestigt war. daß er glauben konnte, noch nach vielen Jahren werde die Nennung seines Namens die obskure Dienerin und Gefährtin der alten Helene aus dem Schlaf reißen. Die durch harte Arbeit gebeugte Dienerin und die durch ihr Alter erniedrigte Helene, die Ronsard am Herd hockend beschreibt, bieten ein Bild weiblicher Abhängigkeit und Unterlegenheit, aber auch der Einsamkeit und Verlassenheit. Es zeigt die greise Helene, die heute im Kreis der Ehrendamen der Königin Triumphe feiert, in der unwürdigen (und nicht gerade wahrscheinlichen) Gesellschaft ihrer Dienerin. Alles, was an dieser Frau dauerhaft überlebt, wird ihr vom Dichter geschenkt - als bloßer Abglanz seines eigenen Ruhms. Ohne Ronsard kein »unsterblich Lob« auf den Namen und somit keine Helene. Quod erat demonstrandum.
Allerdings gibt es nicht nur dieses Sonett und nicht nur Helene. Die bewundernswerte Übereinstimmung von Gedanke und Form, die es als isoliertes Gedicht so vollkommen verkörpert, relativiert sich im Kontext der 136 weiteren Sonette, die lediglich Reprisen oder Entwürfe zum Thema Helene darzustellen scheinen. Die Amours de Cassandre und die Amours de Marie schlagen in dieselbe Kerbe, indem sie einen unstillbaren Kummer thematisieren. Philippe Desportes fügt dem seinerseits in den Amours de Diane nicht weniger als 155 Sonette, in den Amours d'Hippofyte 88, in Cleonice 104 und weitere 40 Sonette in Diverses amours hinzu, ganz zu schweigen von den Liedern, Stanzen, Elegien und Klagen:[2] »Das ist das Tagebuch meiner Leiden!«, ruft er aus. Wozu all diese Reime, und wozu sich »mit Leiden, Seufzern, Mühen, Liebesglut und Tränen/als Belohnung nur Zurückweisung einhandeln?« Die Belohnung ist nicht etwa in den Armen der grausamen Schönen zu suchen, sondern im literarischen Ruhm, durch den der Fürst großzügig gestimmt wird. Desportes verdiente sich damit mehrere Abteien, davon eine, so heißt es, als Entlohnung für ein einziges Sonett. Die Entschädigung bestand auch aus dem Zuspruch eines breiten Publikums für eine Art der kulturellen Zerstreuung, die der heutiger Werbekampagnen nicht ganz unähnlich war. Die damalige Dichtung vermittelte ebenso wie unsere Werbung ein Frauenbild, das völlig verzerrt war durch männliche Projektionen und Hirngespinste. Es blieb den so beweihräucherten jungen Göttinnen, die stumm auf ihrem Sockel thronten, kaum etwas anderes übrig, als die dichterischen Huldigungen dankbar entgegenzunehmen. Es ist bekannt, daß die Renaissance in der Schönheit die wahrnehmbare Manifestation des Göttlichen gefeiert und dieses Göttliche in der Frau exaltiert hat.[3] Die Delie von Maurice Sceve ist vielleicht das vollendetste dieser neuplatonischen
Monumente an die Liebe, diese »ursprüngliche Kraft, die die Harmonie der Welt schafft und die Bedingung für eine spirituelle Askese ist [...], die den körperlichen Besitz ausschließt.[4] Die unglücklichen Lieben des Sir Philip Sidney (Astrophel and Stella) sind ähnlich metaphorisch und geläutert. In den 108 Sonetten und 11 Liedern, die er seiner Geliebten widmet, wagt Sir Philip nur eben, dieser während des Schlafes einen Kuß zu rauben...[5]
In der Flut von Versen, die Europa während des 16. Jahrhunderts überschwemmte, finden sich unter dem Wust gelehrter mythologischer Anspielungen und rhetorischer Höhenflüge wahre Wunder an Ergriffenheit und Schönheit. Immer aber besang der Dichter seine eigenen Gemütsbewegungen - seine nie heilenden Wunden, seinen hundertmal ins Auge gefaßten Tod - in einer nazistischen Ein-Mann-Show, in der die Angebetete lediglich als Vorwand dient, nie aber wirklich präsent ist. Es kommt vor, daß der in seinem Liebeswahn befangene Dichter es leid war, ständig das alte Lied anzustimmen, und seinen Ton wechselt. Der erfinderische Ronsard widmet eine außergewöhnlich freimütige Ode den Kammerzofen, die sich nicht so anstellen konnten wie die vornehmen Damen: »Die Liebe der reichen Prinzessinnen/ist eine Maske von Traurigkeit./Wer seine Lust haben will,/muß an einem niederen Ort lieben.«[6] Aber selbst das ist ein literarischer Gemeinplatz! Kann man diesen ewigen Klischees nie entkommen? Doch, ausnahmsweise, mit diesem Gedicht von einer Frau, die sich nicht verstellt, nämlich Louise Labe (»Ich lebe, ich sterbe: ich verbrenne und ertrinke./Mir ist heiß und kalt ...«), oder wiederum mit Ronsard: In dem sehr konventionellen Bocage royal findet sich ein unerwarteter Discours, der die auf Hindernisse stoßende Liebe eines jungen Mannes zu seiner Cousine mit der ganzen Heftigkeit und Bitterkeit einer gelebten Erfahrung beschreibt. Diesmal kommt der Widerstand nicht von der Geliebten, sondern der Grund liegt in der unbeugsamen Haltung, mit der die Mutter des jungen Mannes eine Heirat verhindert, die alle anderen wünschen. Es gibt noch den Vater, der an dem Unglück seines Sohnes Anteil nimmt, ohne ihm jedoch helfen zu können:
»(…) da Alter und Krankheit/mich zerstört und ohnmächtig gemacht haben,/kann
ich deinen Wunsch nicht erfüllen./Denn es ist nicht länger meine Sache,/mich um
Hochzeiten oder anderes zu kümmern: Der Wunsch deiner Mutter ist auch der meinige«
Die unerwartete Einmischung der allmächtigen und despotischen Mutter hebt die Künstlichkeit der Tausende von Versen, die diesen seltsamen Discours umgeben, um so deutlicher hervor. Ich werde im folgenden weitere Beispiele der Beziehungen zwischen Werken, Autoren, deren Publikum und dem Zeitgeist vorstellen.
Die belehrte Frau
Wir befinden uns im 16. und 17. Jahrhundert, in England wie in Frankreich, auf christlichem Boden und inmitten der Konflikte und Kontroversen, die sich durch Reformation und Gegenreformation, zwischen Jesuiten und Jansenisten, Puritanern und Freigeistern in Wort und Tat entzündet hatten. Die Frauen werden wie alle anderen von diesem Strudel der Ideen und Gewalttätigkeiten mitgerissen, in dem Politik und Religion unentwirrbar miteinander verstrickt waren. Welchen Platz nahmen sie innerhalb der Fülle von Literatur ein, die sich zu der Zeit mit Fragen des Glaubens, des Heils und der religiösen Praxis beschäftigte? Die katholische Literatur wies Frauen religiöse Aufgaben zu, die sich unmittelbar auf ihren geschlechtlichen Status gründeten:
»Jeder Stand hat seine eigene Tugend. Der Bischof, der Staatsmann, der Soldat, die Ehefrau, die Witwe müssen zwar alle Tugenden haben, aber sie müssen und können sie nicht alle gleichzeitig und gleicherweise betätigen, sondern jeder nach dem besonderen Beruf, der ihm zugewiesen ist.«[8]
Sanftmut, Mitgefühl und Mutterliebe gehören zu den angeborenen Tugenden des weiblichen Geschlechts. Den Frauen obliegen daher die Werke der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die Pflege der Kranken, der Armen und Alten. Da sie die Kinder gebären, kommt ihnen die Verantwortung für deren Erziehung, ihre Unterweisung in der Religion und den sittlichen Regeln zu; und da sie überdies an das Haus gebunden sind und über das häusliche Universum herrschen, sind sie auch für die Führung des Haushalts, die alltäglichen Besorgungen und die Überwachung der Dienerschaft verantwortlich. Gehorsam und Keuschheit machen aus artigen Töchtern treue Ehefrauen. Die protestantische Glaubensauffassung, gleichsam egalitärer und fordernder, macht die Ehefrau praktisch zum alter ego ihres Mannes, verlangt von ihr sehr früh schon, ihre Kinder zu stillen und deren Erziehung und Sitten streng zu überwachen. Sie wird an die Seite ihres Mannes gestellt bei der Verwaltung des Familienvermögens, und bei dessen Abwesenheit oder Tod übernimmt sie den häuslichen Gottesdienst, die Verheiratung der Kinder, kurz: ihr wird das Familienwohl anvertraut.
»Das Leben der Frau, der Gattin, der Hausfrau und Mutter ist in der Optik der Propagandisten der Reformation ein individuelles Unternehmen, eine persönliche Askese, fast heroischer Natur, in jedem Fall eine Erfüllung ihres Wesens…[9]
Die allmähliche Marginalisierung der Hugenotten in der französischen Gesellschaft erlaubte die weite Verbreitung von Werken, die weniger von den Segnungen der Orthodoxie überzeugen, als Frömmigkeit mit Höflichkeit versöhnen sollen.
Die strengen Verweise des heiligen Franz von Sales (1608) verlangten vielleicht viel von einem weiblichen Publikum, das den Versuchungen seines Jahrhunderts ausgesetzt war. Seine Epigonen bemühten sich, seine Botschaft dem Zeitgeschmack anzupassen und der honneste femme ***449.8.1a*** schmackhaft zu machen, deren Beichte sie abnahmen und mit der sie in den Salons verkehrten. Das Zeugnis des Pere du Bosc, eines Franziskaners, ist für uns deshalb von Interesse, weil es unmittelbar aus dem Alltag in der Mitte des 17. Jahrhunderts schöpft.[10] Er wendet sich darin an die Flamen, die er davon zu überzeugen sucht, »daß es nicht nötig ist, spröde zu sein, um tugendhaft zu sein«, und beginnt sein Buch mit einer Apologie der Lektüre, der Konversation und der Träumerei, die »die edelsten Beschäftigungen der Seele« sind: »Bei der Lektüre unterhalten wir uns mit den Toten, in der Konversation mit den Lebenden, und mit uns selbst in der Träumerei; die Lektüre bereichert das Gedächtnis, die Konversation verfeinert den Geist, und die Träumerei formt die Urteilskraft.« Dadurch daß er der Lektüre die Priorität einräumt, »die für alle Damen notwendig ist«, definiert der Autor sein Publikum als städtisch (bzw. aristokratisch), auserwählt und müßiggängerisch; ein Publikum also, das als »honneste« bezeichnet wird. Welche Bücher sollten gelesen werden? Zweifellos dachte er dabei an fromme Werke, aber seltsamerweise erwähnt er kein einziges namentlich, außer der Philotbea. Anleitung zum religiösen Leben des Franz von Sales, in das er die Honneste femme einführen will. Außerdem sollten sich Frauen historischen und philosophischen Werken sowie der Dichtung zuwenden, weil »die Beispiele aus der Mythologie unterhaltender sind als diejenigen aus der Geschichte«. Es spielte hierbei keine Rolle, daß es sich um heidnische Autoren handelte (da diese aus der Antike stammen): Besser war es, sich mit deren edlen Grundsätzen zu befassen, als sich durch die Lektüre von Romanen korrumpieren zu lassen. Es erstaunt nicht, daß der Pere du Bosc den Frauen empfiehlt, ihren Ruf mehr als ihr Aussehen zu pflegen, keusch, beständig, treu, umsichtig, anmutig und nicht allzu kokett zu sein, nicht über andere zu lästern, nicht eifersüchtig zu sein oder dem Laster zu frönen. In dem Kapitel »Des Dames scavantes« (Von den gelehrten Damen) gibt er sich entschieden feministisch und scheut sich nicht davor, »die Ignoranten und die Dummköpfe, die sich vorstellen (...), daß eine Frau nicht studieren oder lesen kann, ohne lasterhaft zu werden oder wenigstens sich dessen verdächtig zu machen«, vor den Kopf zu stoßen. Er glaubt im Gegenteil, daß »die Literatur die guten Neigungen unterstützt«, und was die intellektuellen Fähigkeiten betrifft, so ist das weibliche »Temperament, da es feinfühliger als das unsrige ist, auch geeigneter für das Studium der Künste und Wissenschaften». Aber wenn es darum geht zu präzisieren, welchen Platz diese Aktivitäten im täglichen Leben einnehmen sollen, greift er auf den geltenden sozialen Kode zurück: Die »honneste femme« soll sich »zu ihrer Beschäftigung dem Haushalt und zu ihrer Zerstreuung dem Studium widmen. Das ist ihr Los. auch nach Ansicht des heiligen Paulus«, der hierin mit Aristoteles und den anderen Philosophen übereinstimmt. Alle Weisen sind sich darin einig, »daß die Arbeit der verheirateten Personen so aufgeteilt sein muß. daß die Frau sich den häuslichen Geschäften und der Mann sich denjenigen der Außenwelt widmet (...). Es gibt keine Beschäftigung, die den Frauen angemessener wäre, als diejenige, die sie am wenigsten dazu zwingt, das Haus zu verlassen.« Das soll jedoch keineswegs heißen, daß sie dort müßig bleiben!
«Wenn man bedenkt, was die Frauen machen, könnte man dann nicht sagen,
daß die Hälfte des Menschengeschlechts gelähmt ist und daß nur ein Teil unserer
Gattung beschäftigt ist? Während die Männer ihr Leben damit verbringen zu
kämpfen, zu studieren, zu regieren und zu reisen. Wenn man sich fragt, was
die meisten Frauen machen, so kann man nichts darauf antworten, außer daß
sie ihre ganze Zeit darauf verwenden, sich zu schmücken, spazierenzugehen,
zu schwätzen oder zu spielen. Sind sie nur dafür geboren?«
Daher sollen Frauen ihre Zeit zwischen nützlichen Beschäftigungen, der Ausbildung ihres Geistes, dem Gebet und gesunden Zerstreuungen aufteilen.
In der englischen puritanischen Literatur, die der Ehe und der Rolle der Ehefrau einen großen Platz einräumt, soll diese vor allem »hausfraulich sein, so wohlgeboren und so reich sie auch sein mag. Denn es ist der Beruf der Frau, dies zu sein; es ist der Zweck ihrer Erschaffung.«[11] Das bescheidene Werk des Pere du Bosc scheint daher repräsentativ zu sein für eine neue Strömung, die in Frankreich wie in England an Einfluß gewinnt und die mit der Zeit die Fähigkeiten und Rechte, aber auch Pflichten der Frau anerkennt, ganz besonders in der Ehe. Zahlreiche Arbeiten haben sich mit der schwierigen Geburt dieses Konsenses [12] sowohl auf der Seite der Katholiken wie der Protestanten, dem neuen Status der Ehefrau (katholisch oder protestantisch) sowie mit der diese Veränderungen dokumentierenden Literatur befaßt.[13] Aber während die englischen couduct books sich an Ehepaare
richteten, wandte sich unser Franziskaner ausschließlich an die (verheirateten oder verwitweten) Frauen und machte sich nolens volens zu deren Seelsorger. Der Beichtvater, diese überragende Gestalt des tridentinischen Katholizismus, ersetzte praktisch den Ehemann auf spiritueller und bald auch, will man La Bruyere glauben, auf weltlicher Ebene:
»Er kümmert sich um ihre Geschäfte, übernimmt ihre Prozesse and besucht ihre
Richter; er gibt ihnen seinen Arzt, seinen Kaufmann, seine Handwerker; er läßt es
sich angelegen sein, ihnen eine Wohnung und ihre Möbel zu verschaffen, und er
besorgt ihre Equipage (...). Er beginnt, indem er geschätzt wird, und er hört damit
auf, daß man ihn fürchtet...[14]
Die Honneste Femme lehrt uns, daß eine katholische Frau, ob verheiratet, ledig, Witwe oder Nonne, sich nie von der männlichen Vormundschaft freimachen darf (selbst wenn sie den Beichtvater. Liebhaber oder Ehemann terrorisiert oder verführt, wofür Saint-Simon uns zahlreiche Beispiele liefert). Aber man würde diesem Buch und allen Büchern mit derart naiven Moralvorstellungen nicht gerecht werden, wollte man sie auf ihr Programm reduzieren. In seinem Katechismus liefert uns Pere du Bosc wertvolle Informationen über zahlreiche Aspekte der weiblichen Gesellschaft. Seine Art, ihre Riten, Grillen und Moden zu beschreiben, läßt darauf schließen, daß Frauen in seinen Männeraugen eine Gesellschaft für sich bilden, eine Art Republik, einen Staat im Staate. Dieser so wenig literarische Text mit seiner schwerfälligen und bilderreichen Prosa liefert gewissermaßen den Hintergrund zu den lebendigeren Porträts von Tallemant, der Madame de Sevigne oder La Bruyeres.
Die Traumfrau
Wir können uns heute nur schwer den Einfluß des Theaters auf vergangene Gesellschaften vorstellen, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Auf beiden Seiten des Ärmelkanals war das Theater die öffentliche Belustigung par excellence - jeder ging ins Theater, und die umherziehenden Theatertruppen traten überall auf. Das erklärt die heftigen Auseinandersetzungen über seine Rolle, die von den Anhängern der etablierten Ordnung als sehr viel schädlicher angesehen wurde als der Einfluß unanständiger Bücher, die vor allem (aber nicht ausschließlich) denen vorbehalten waren, die lesen konnten. In England entbrannte um 1580 ein unversöhnlicher Kampf zwischen einem Mittelstand, der zunehmend von den puritanischen Ideen erfaßt wurde, und den Liebhabern des Theaters. Zum Glück für Ben Jonson, Shakespeare und für uns teilten der Hof, der Adel und das Volk die Liebe zum Schauspiel,[15] das sich bis zur puritanischen Diktatur Cromwells halten konnte und unter Karl II wieder legalisiert wurde. Frankreich konnte diesen Wechselfällen entgehen, trotz der hartnäckigen Feindseligkeit bestimmter Elemente der Kirche - nichtitalienische Schauspieler wurden exkommuniziert.
Charles de Saint-Evremond hat im 17. Jahrhundert über das Theater seiner Zeit einige interessante Überlegungen angestellt. Da er lange Zeit in England im Exil war und als kultivierter Franzose die italienische, spanische und natürlich auch die lateinische Literatur kannte, war er in der Lage, die Werke der verschiedenen Länder zu vergleichen:
»Es gibt keine Komödie, die der antiken Komödie ähnlicher ist als die englische, was die Sitten betrifft: sie ist nicht nur reine Galanterie voller Abenteuer und Liebesgeflüster wie in Spanien und Frankreich: sie ist die Darstellung des gewöhnlichen Lebens mit seiner Vielfalt der Temperamente und den verschiedenen Charakteren der Menschen.«[16]
Mit anderen Worten, die englischen Komödien glichen den Engländern. Ebenso erschienen ihm die Autoren der spanischen Komödien »erfinderungsreicher als die unsrigen (...). Der Grund dafür ist. daß in Spanien, wo die Frauen sich fast nie sehen lassen, die Vorstellungskraft des Dichters darauf sinnt, Mittel und Wege zu finden, daß die Liebenden einander begegnen können, und in Frankreich, wo ein freier Umgang herrscht, verwendet der Autor seine Einfühlungsgabe für den zarten und verliebten Ausdruck der Gefühle.[17]
Saint-Evremont sah eine enge Verbindung zwischen der Fiktion und dem Milieu, in dem sie hervorgebracht und »konsumiert« wird. Da sich Männer und Frauen in Frankreich frei begegnen konnten, richtete sich das Interesse der einen mehr auf »ein Amt oder eine Anstellung«, während die anderen »eher galant als leidenschaftlich« wurden und sich im übrigen der Galanterie bedienten, um »Intrigen anzuzetteln«.[18] Das Neue einer solchen Situation besteht in der Symmetrie. Im 16. Jahrhundert hörte die Frau dem Dichter zu, der seinen Schmerz, besingt; im 17. Jahrhundert richten sich Männer und Frauen in Kenntnis der Dinge und ohne Illusionen in einer konventionellen Koketterie - oder Galanterie - ein, die nun zum guten Ton gehört: »Was man in Frankreich lieben nennt, ist nichts anderes, als von der Liebe zu sprechen...«[19] Und davon spricht man in allen Tonlagen, vor allem besingt man sie in der Oper, so als ob Leidenschaften nur noch stellvertretend gelebt werden könnten.
Die »edlen« literarischen Genres - die Theologie, Philosophie. Geschichte und Jurisprudenz - ignorierten die Frauen bzw. erinnerten sie an ihre Pflichten. Im Gegensatz dazu feierten die Tragödien, Komödien und Opern die Leidenschaften und gaben den Frauen Hauptrollen. Häufig kündigten sich diese Rollen schon im Titel an - Zeichen dafür, daß die Figur der Heldin und die Konflikte, in die sie hineingerät, handlungstreibend sind.
Das gilt vor allem für Racine: Andromache, Athalie, Esther, Iphigenie. Phädra: all diese Namen stehen für die Verkörperung eines weiblichen Typus, dessen Reinheit oder aber Verworfenheit. Und Shakespeare, der seinen Stücken entweder den Namen eines männlichen Helden oder eines Paares gibt (Romeo und Julia, Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra), schuf doch auch eine Vielzahl unvergeßlicher Frauengestalten: die zu Unrecht getötete Desdemona. die mit ihren langen Haaren im Wasser treibende Ophelia und Lady Macbeth, auf immer ihre Hände reibend, an denen unsichtbares Blut klebt. Vom Ende des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts wurde die kollektive Vorstellungskraft mit einem Pantheon exemplarischer Frauen bereichert: Bereits zu Lebzeiten Racines benutzt Madame de Sevigne den Begriff »Andromache«, um auf eine Witwe zu verweisen.[20] Ein Theaterstück mit seinen vielen gesungenen und getanzten Einlagen oder eine Oper werden als Fest erlebt, als feierliches Ritual der Begegnung: Schillernde Frauen und gepuderte und betreßte Herren gingen aufeinander zu, begrüßten sich, drängten sich im Parterre oder besuchten sich in ihren Logen. Das Schauspiel begann inmitten des Stimmengewirrs der sich Klatschgeschichten erzählenden, lachenden und rufenden Menge, die mit sich zufrieden war und froh darüber, dabei sein zu können. Wie sollte man da einen kühlen Kopf bewahren und nicht im Geiste oder mit den Sinnen sündigen! Der geistreiche und konservative Boileau wendet sich mit folgenden Worten an den Ehemann einer jungen und tugendhaften Frau:
»Bald von dir in die Oper geführt,/mit welcher Miene, denkst du, wird deine Heilige/
den harmonischen Prunk eines betörenden Schauspiels sehen/diese Tänze, diese
Helden mit wollüstiger Stimme;/sie wird von der Liebe reden hören;/diese süßlichen
Renaucis, diese unsinnigen Rolandsy sie wird von ihnen erfahren, daß man der Liebe,
wie dem höchsten Gott allein/alles opfern muß, sogar die Tugend:/daß es nie zu
früh ist, in Liebe zu entbrennen;/daß man vom Himmel nur ein Herz bekommen hat.
um zu lieben:/und all diese Gemeinplätze einer schlüpfrigen Moral,/die Lulli mit den
Tönen seiner Musik erhitzte?,'Aber von welchen Regungen, in ihrem erregten Herzen./
wird sie dann alle ihre Sinne aufgewühlt fühlen?«[21]
Man konnte nicht passender die verschiedenen Aspekte beschreiben, die zur Zeit Ludwigs XIV. aus einem Theaterstück oder einer Oper ein totales, buchstäblich berauschendes Spektakel machten, für das kein junges Mädchen und keine junge Frau unempfänglich bleiben konnte. Begegneten sie dort nicht, neben den Wonnen siegreicher Liebe von Mentoren und Graubärten, so mancher Anspielung auf die körperliche Lust - Diener und Dienerinnen traten auf, um von ihr zu künden sowie den Handlungen und Ausdrucksweisen einer autonomen weiblichen Existenz? Und wenn sie auch nicht davon träumten, solch skandalöse Freizügigkeit der Sprache und der Sitten zu übernehmen, die die Schauspielerinnen und Tänzerinnen zur Schau trugen, so konnten sie diese doch wenigstens mit den Zwängen und der gähnenden Langeweile ihres alltäglichen Lebens vergleichen.
Der Roman war auf privatere Art und Weise nicht weniger heimtückisch. Im Theater oder in der Oper nahmen Frauen an Ereignissen teil, die den Sinnen schmeichelten, jedoch waren Zeit und Ort der Aufführung außerhalb des Alltags angesiedelt, gleich einem festlichen Zwischenspiel. Romane machten es möglich, zu Hause zu träumen, allein oder in kleiner Gesellschaft, und dies tut man natürlich auf andere Art. Es wurden Tausende von Romanen geschrieben, ungefähr 1200 im Frankreich des 17. Jahrhunderts, nahezu 1000 in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (die Anzahl während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist bedeutend geringer).[22] Manche dieser Romane benötigten für ihre Lektüre eine so lange Zeit, daß man sie zwangsläufig aus der Hand legte und wiederaufnahm, weshalb viele sich aus Episoden zusammensetzten, die ohne jede Logik aneinandergereiht waren. Dieses Muster des Fortsetzungsromans, das mit L’Astree (1607-1628) begann, »wurde im Roman bis ins 18. Jahrhundert hinein allgemein angewandt«. Die starke Verbreitung solcher Romane war vielleicht der Grund dafür, daß sowohl die Feinde als auch Verteidiger des Romans das Genre behandelten, als sei es vollkommen undifferenziert. Die Qualität eines Werkes oder Autors zählte weniger als die Zugehörigkeit des Buches zu einem spezifischen Genre, das als unbedeutend und ephemer angesehen wurde. Dieses Genre hätte kaum Aufsehen erregt, wenn es nicht ausgerechnet die Frauen, die aufgrund ihrer Frivolität und mangelnden Bildung dessen natürliche Leserschaft bildeten, so unmittelbar seinem schlechten Einfluß unterworfen hätte. Madame de Sevigne erwähnt in ihren Briefen nur etwa zwanzig Romane, meistens nicht mit ihrem Titel, sondern wegen der Ähnlichkeit einer Romanfigur mit einer Person aus ihrem Bekanntenkreis. An erster Stelle steht Don Quijote (24 Zitate), gefolgt von dem Roman La Princesse de Cleves ihrer engen Freundin Madame de La Fayette (21 Zitate), Amadis des Gaules, einem altmodischen Ritterroman, der im hintersten Winkel eines Schrankes aufgestöbert wird (17 Zitate)25, und dem nicht aus der Mode kommenden Roman L'Astree (9 Zitate). Die Werke von La Calprenede (Cassandre und Pharamond) und von Mademoiselle de Scudery (Clelie. Le Grand Cyrits) tauchen vier- bzw. siebenmal auf, der Roman comique von Scarron und Les Visionnaires von Desmarets de Saint-Sorlin viermal, der Rest lediglich ein- oder zweimal. Natürlich gilt für Madame de Sevigne-. die eine eifrige Leserin war, der Roman sehr viel weniger als etwa die italienische oder französische Dichtung (La Gerusalemme liberata wird vierzigmal zitiert, L’Orlando furioso 29mal und La Fontaine siebzigmal mit 29 verschiedenen Fabeln). Madame de Sevigne schöpfte reichlich aus dem Fundus ihrer Zeitgenossen Corneille, Racine und Moliere (43 Zitate aus Medecin malgre lui). aus den Opern von Quinault und Lulli, aus Geschichtsbüchern sowie einer kleinen Zahl antiker Schriften. Aber nichts wird so häufig zitiert wie die Bibel (121mal), die erbaulichen oder moralischen Traktate von Arnauld und Nicole (letzterer wird 95mal erwähnt), nicht zu vergessen die Grabreden. Wie ihre Zeitgenossen war sie empfänglich für die wundersamen Begebenheiten in den Romanen, »die sie wie ein kleines Mädchen mitrissen«.[24] Aber sie nahm diese Torheiten nie ernst, die in
ihren Augen nicht mehr zählten als für uns heute die Groschenheftchen oder Kriminalromane. Als Aristokratin und kluge, gebildete Frau konnte sie sich über sich selbst lustig machen, so wie sie ungeniert über ignorante Priester und heuchlerische Frömmigkeit herzog. Pere du Bosc hingegen hatte ein weniger gebildetes und weniger selbständiges weibliches Publikum im Sinn:
»(…) denn da die Mütter bestimmte Bilder nicht anschauen können, ohne in ihren Kindern Spuren zu hinterlassen; warum sollte man nicht glauben, daß die lasziven Geschichten der Romane den gleichen Effekt auf unsere Imagination haben können und daß sie immer Flecken auf unserer Seele hinterlassen?«[25]
Schlimmer noch:
»Die Romane machen sie nicht nur dreist, sondern auch geschickt. Sie lernen daraus Subtilitäten und Selbstvertrauen, und sie lernen nicht nur das Böse, das sie ignorieren sollten, sondern die raffiniertesten Weisen, es zu begehen (...): man sieht dort oft, daß eine Frau ihr Vaterland und ihre Eltern verließ, um einem Fremden nachzulaufen, in den sie sich sofort verliebt hat. Man liest dort, wie eine andere Briefe von ihren Galanen bekam oder wie sie ihnen Anweisungen gab. Das sind nur Lektionen der Kunstgriffe, bei denen man lernt, subtil zu sündigen.«[26]
Die Liebe ist der schlimmste Feind der Frauen, ein Feind, der sich nicht offen zu erkennen gibt. Romane, Komödien und Opern
•befleißigen sich, [die Liebe] als die bezauberndste und süßeste Sache der Welt erscheinen zu lassen (...) Mehr braucht es nicht, um eine große Neigung zu dieser unglücklichen Leidenschaft einzugeben.«[27]
Lassen die Besorgtheit dieser verdrießlichen Geister und die Heftigkeit ihrer Worte nicht darauf schließen, daß Literatur und Theater, pauschal gesehen, einer Art spezifisch weiblicher Gegenkultur Auftrieb gaben? Was bedeutete da schon die Qualität eines bestimmten Werkes, der Rang und die Sensibilität seines Autors, zum Beispiel Clelie von Mademoiselle de Scudery:
»Monsieur, es geht nicht um die Verdienste der Person, die die Clelie verfaßt hat, noch um die Würdigung, die man diesem Werk zuteil werden ließ (...). Er mag, wenn Sie so wollen, der schönste aller Romane sein: aber es ist immer noch ein Roman. Das sagt alles.«[28]
Diese Literatur, deren Leserschaft (oder Zielscheibe) die Frauen bildeten, war Teil der frivolen zügellosen Sphäre, in der diese sich von Natur aus wohlfühlten und in der alles zusammenpaßte: Romane lesen, sich schminken und schmücken, mit seinen körperlichen Reizen kokettieren (vom Tanz wird noch zu sprechen sein) - in den Augen des Moralisten war dies alles dasselbe. Der Einfluß fiktionaler Werke gründete sich sicherlich nicht auf ihre literarischen Qualitäten, sondern auf den Gebrauch, den man von ihnen machte. Eine Vielzahl historischer Belege veranlaßt uns jedoch zu der Feststellung, daß sich die weltliche französische Gesellschaft (einige Rigoristen ausgenommen) insgesamt so verhielt, als ob die Verdammung der Sinneslust und die strenge Beachtung der religiösen (und ehelichen) Pflichten vor allem eine Frage des Alters gewesen seien oder aber auch des sozialen Rangs. Die Jugend sollte sich austoben, die Sorge um das eigene Seelenheil würde sich zu gegebener Zeit schon einstellen. Weisheit kam mit Reife, wobei eine heuchlerische spontane Frömmigkeit, die niemanden zu täuschen vermochte, tunlichst zu vermeiden war. Saint-Simon schreibt über das Leben der Miss Hamilton, die in Port-Royal erzogen wurde: »[Sie] hatte sich den Geschmack und das Gute bewahrt trotz aller Verirrungen der Jugend, der Schönheit, der großen Welt und einiger Galanterien«.[29] Er widmete auch Ninon de Lenclos, einer der berühmtesten Kurtisanen seiner Zeit, eine seitenlange, äußerst herzliche Totenrede: »Sie war bezaubernd im Umgang. selbstlos, treu, verschwiegen, sehr zuverlässig, und man könnte sagen, daß sie bei all ihren Schwächen tugendhaft und voller Rechtschaffenheit war.«[30] Dieses Verständnis für die Verirrungen der Jugend, der Schönheit und der großen Gesellschaft floß nicht von ungefähr aus der Feder eines Höflings. Pierre de Brantome stellte über den Hof der Valois ähnliche Überlegungen an. Man kann sich fragen, ob die hier evozierte »Gegenkultur« ihre Stärke nicht aus einer Alt Legitimität zog und diese wiederum aus dem höfischen Kontext. Die Zensoren waren sich auch darüber im klaren:
»[Am Hof] lernt man alle Formen des Luxus, der Eitelkeit, des Ehrgeizes und der Raffinesse kennen; dort bilden sich die Leidenschaften, die alle anderen antreiben (...). Und da das Laster ansteckend ist, verbreitet es sich in den unteren Regionen des Königreichs: man nimmt sich diese Regellosigkeit der Sitten zum Vorbild; und in unseliger, aber natürlicher Konsequenz werden die Sünden der Großen im Volk Mode; und die Korruption des Hofes wird schließlich in den Provinzen zur Höflichkeit!.[31]
Am englischen Hof herrschte unter Jakob II und Karl II eine Freizügigkeit, die sich noch unbekümmerter gab als an dem in seiner Etikette befangenen Hof von Versailles. Die Memoiren des Grafen von Gramont enthalten eine sehr lebendige Beschreibung dieser Zustände.[32] Es besteht kein Zweifel, daß diese Freizügigkeit des Hofes Schule gemacht hat. Der Historiker Lawrence Stone bedient sich des Bilds der nach unten durchsickernden Kontamination in bezug auf Samuel Pepys, der zur Londoner Bourgeoisie gehörte, bei der Admiralität eine glänzende Karriere begann und gleichzeitig ein außergewöhnliches Tagebuch schrieb:
»Die allmähliche, auf der Londoner sozialen Leiter absteigende Verbreitung der sexuellen Gewohnheiten des Hofes von Karl II. erfolgte durch Gerüchte, Beobachtungen oder Beispiele. Das Tagebuch von Pepys zeigt dies ganz deutlich (...) Pepys zeigte sich weiterhin schockiert und angeekelt von den Ausschweifungen des Hofes, brachte ihnen aber auch ein Interesse entgegen, das aus Begehrlichkeit und Neid gemischt war. Und während er seine Frau sorgfältig von den anderen Männern entfernt hielt und seine eigenen außerehelichen Erfahrungen vor ihr geheimhielt, erlag er
allmählich der Versuchung, das sexuelle Verhalten der höheren sozialen Ränge zu imitieren, wenn auch auf sehr viel bescheidenere Weise und voller Schuldgefühle.«[33]
Aus der Dichtung des 16. Jahrhunderts und den Erbauungsbüchern und literarischen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts kristallisieren sich drei Idealtypen des Ewigweiblichen heraus. Die Betrachtung der Frau als kollektives Wesen hat zwangsläufig bestimmten Verhaltensweisen und Äußerlichkeiten den Vorzug gegeben, zumal die Autoren, die über sie sprachen, meistens Männer waren. Es ist nicht schwer, in der »Frau als Vorwand« oder in der »belehrten Frau- das Schönheits-oder Tugendideal zu erkennen, das die Männer dem Gegenstand ihres Begehrens oder ihres Tadels aufzwingen wollten. Was die »Traumfrau« betrifft, die ebenfalls von den Romanciers und Librettisten geschaffen wurde, so bot diese der wirklichen Frau, die auch eine träumende Frau war, wenigstens eine Zuflucht im Imaginären.
Drei Schriftsteller, drei Zeugnisse
Mit dem im Hinblick auf Samuel Pepys erwähnten Begriff der Schuld betreten wir die Sphäre des Innenlebens, in der Verallgemeinerungen sehr riskant sind. Es ist daher notwendig und wünschenswert, den Blickwinkel zu ändern und mit Hilfe des Werks dreier Schriftsteller die Literatur mit dem Leben (vor allem mit ihrem Leben) zu vergleichen. Ich werde mich im folgenden auf ein literarisches Zeugnis pro Jahrhundert stützen, um das bisher Gesagte zu bestätigen, zu entkräften oder zu ergänzen. Warum drei Autoren, wo doch so viele über die Frauen geschrieben haben? Eine begrenzte Auswahl wird es uns ermöglichen, einen gründlicheren Zugang zum jeweiligen Werk zu finden. Um diese Auswahl zu treffen, habe ich mich entschieden, parteiliche, apologetische und fachspezifische sowie fiktionale Literatur auszuschließen und mich an Memoiren und Briefe zu halten. Auch sollte der Autor lange genug gelebt haben, um die Dinge und Menschen sich entwickeln gesehen zu haben, und genügend Originalität, Intelligenz und Bildung besessen haben, damit sein Zeugnis zugleich wahr und unverwechselbar erscheint. Eine so radikale Auswahl schließt aus:
Montaigne und Voltaire als zu universell, Sire de Gouberville als zu provinziell und weltfremd, Brantome und Saint-Simon als dem Hof zu nahestehend, Samuel Pepys und Jonathan Swift, da ihr Tagebuch sich nur über wenige Jahre erstreckt, Tobias Smollett als zu griesgrämig und Jane Austen, die zeitlich zu spät liegt.
Es bleiben aber noch manche übrig, von denen ich für das 16. Jahrhundert Etienne Pasquier, für das 17. Jahrhundert Madame de Sevigne und für das Zeitalter der Aufklärung James Boswell ausgewählt habe. Es wird sich zeigen, ob sich diese Auswahl bewährt.
Etienne Pasquier (1529-1615)
Etienne Pasquier war ein gefeierter Jurist, der den letzten Monarchen der Valois und später Heinrich IV. beistand, ein großer Humanist, gelegentlich auch spielerischer Poet, mit seinen Recherches sur la France der Vater der französischen Geschichtswissenschaft und einer der Männer, die wie ein Fels den Stürmen ihrer Zeit widerstanden. Nachdem er sein Amt als öffentlicher Ankläger bei der Chambre des Comptes niedergelegt hatte, zog er sich in sein Landhaus in Argenteuil zurück, um sich dort in Muße seinen Studien zu widmen, wo er, weit über achtzigjährig, starb. Seine Gesammelten Werke, in die der Herausgeber auch die Briefe seines jüngsten Sohnes Nicolas, der ebenfalls Jurist war, aufnahm, wurden 1723 in Amsterdam veröffentlicht.[34]
Vielleicht hat das Beispiel seines von ihm als Person und Autor der Essais verehrten Freundes Montaigne ihn ermutigt, ein umfassendes Porträt seiner Person zu verfassen. Pasquiers umfangreiches und vielseitiges Werk enthält unter anderem ein Traktat über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, den 1556 entstandenen Monophile, den der Autor in die Form eines fiktiven Dialogs zwischen einer »Damoiselle bien apprise« (einem gebildeten Fräulein) und »trois jeunes Gentilshommes d'eslite« (drei jungen hochgeborenen Edelmännern) kleidet. Bei einer so ungleichen Geschlechteraufteilung verwundert es nicht, daß die verbalen Fähigkeiten der Männer die des Fräuleins weit übertreffen. Letztere befindet sich nahezu ständig in der Defensive, unter anderem in bezug auf »die merkwürdige Kleidung«. Einer der drei Gesprächspartner, Philopole, bringt das Thema allerdings auf wesentlichere Fragen, auf die Freiheit, die Frauen nicht im gleichen Maße wie Männer genießen können. Dabei wurden sie nicht nur »von der Verwaltung der Republiken, dem Gebrauch der Waffen, der Ausübung politischer Ämter ferngehalten (...)«, sondern »unsere Vorfahren wünschten auch, daß sie eine gewisse Schamhaftigkeit an den Tag legten (...), was beim Mann nicht so wichtig war, da er nicht so schwach und lüstern wie die Frau ist«. Entrüstet erinnert das Fräulein an die Königinnen und berühmten Kriegerinnen der Vergangenheit (von Semiramis bis zu den Amazonen), an die Dichtung Sapphos und die von Marguerite de Valois, an die Eloquenz der Römerinnen Cornelia und Hortensia. Vor allem beklagt sie, daß »das ärgerliche Gesetz der Männer, das in Kenntnis der geistigen Fähigkeiten der Frauen, denen es lediglich an körperlicher Kraft mangelt«, es ihnen untersagt, Plädoyers zu halten und öffentliche Ämter zu bekleiden, ihnen sogar die Schenkung und den Verkauf von Gütern verbietet »ohne die ausdrückliche Einwilligung ihres Ehemannes«. Sahen sie denn nicht, »wie täglich angesehene und große Häuser durch die Dummheit und Verschwendungssucht der Männer verfallen und ruiniert werden, wohingegen sie durch die Klugheit und die gute Haushaltsführung der Frauen erhalten und vergrößert werden«? Wenn es den Frauen möglich wäre, ebenso wie die Männer »ihren Geist solchen Geschäften zu widmen«, »so könnten sie mit den gleichen Mitteln die Angelegenheiten einer Stadt in ihre Hände nehmen«. Die Zuhörer des streitbaren Fräuleins sind erstaunt darüber, daß sie ihre Sache so gut vertritt. Zwar räumt sie ein, »ihr Männer habt uns die Lektüre der guten Autoren verboten«, aber sie, Charilee, verwende darauf »den besten Teil ihrer Stunden«. Und was die Keuschheit anbetrifft, warum sollte sie für die Frau wichtiger sein als für den Mann, wo doch das göttliche Gesetz die Unzucht bei beiden Geschlechtern »gleichermaßen verabscheut« und die gesellschaftlichen Statuten von Männern entworfen werden, die damit gleichsam »Richter und Partei« sind. Ihr natürlicher Anstand bringe die Frauen dazu, »ihre fleischlichen Begierden zu zügeln«, während die Männer »sich rühmen, ihr Herz nach Belieben zu verschenken« und »die Erstbeste, die sich ihnen anbietet, besitzen zu dürfen«. Charilee, die an die Ursprünge der höfischen Liebe erinnert, bei der die Dame die Gebieterin und der Mann ihr Diener ist, propagiert jedoch nicht, »daß in der Liebe einer mehr Macht als der andere haben kann oder soll. Das Ganze soll auf Gegenseitigkeit beruhen, und wenn es das nicht tut, beginnt die Liebe bereits schwächer zu werden...« Pasquier verläßt das Gebiet theoretischer Spekulation, nachdem er gezeigt hat, daß die Frau dem Manne potentiell ebenbürtig ist und nur durch Zwang im Zustand der Inferiorität gehalten wird, »so wie gewöhnlich die kleinen Fische von den großen Fischen gefressen werden«, und kehrt auf den Boden der gesellschaftlichen Institutionen zurück. Er beschäftigt sich insbesondere mit der Ehe vor dem Hintergrund der alten Debatten über Natur versus Kultur, wobei die Natur Mann und Frau dazu bringt, sich zusammenzutun, während die Kultur diese gleichberechtigte und spontane Beziehung durch die Einführung der Mitgift, das heißt der finanziellen Ungleichheit, pervertiert. Diese Unsitte hatte sich so sehr etabliert, daß »der Pöbel« einem Mann beipflichte, der eine Frau, die er nicht liebt, wegen ihres Reichtums heiratet, und denjenigen für verrückt erklärt, der aus Liebe »ein Mädchen niederen Standes« heiratet. Im Endeffekt versucht jeder, sich für derart verquere Verbindungen zu entschädigen, und um die Frauen in ihrer Pflicht zu halten, denken sich die Männer (und Gesetzgeber) strenge Sanktionen für den Ehebruch aus. Aber die Mitgift hat auch ihre Vorteile. So ist die Heirat dazu da, den Kindern das »estre« (das Sein) und das »bien estre« (den Wohlstand) zu ermöglichen. Wenn man verheiratet ist, muß man leben, und leben heißt, »sich in seinem Stand zu erhalten, seine Kinder und seine Familie zu ernähren, sich bei Krankheiten zu helfen (...): alle diese Mühen obliegen dem Mann.« Auch wenn sie dabei »zum Nachteil ihres Geschlechts« redet, betrachtet Charilee es als ungerecht, daß »diese doppelte Bürde (die Mühe und das Geld)« dem Ehemann zufällt und daß »die Frau allein das Vergnügen hat und nur das zu tun braucht, was ihr gefällt«.
Selbstverständlich kann Pasquier seine Protagonisten die ihm genehmen Argumente vorbringen lassen. Hüten wir uns jedoch vor anachronistischen Aussagen! Die Gesellschaft zu Zeiten Pasquiers war, wesentlicher radikaler als die unsrige, in eine geringe Zahl von Reichen und eine riesige Menge von Armen aufgespalten. Und während die Armen im Schweiße ihres Angesichts arbeiteten (oder vor Hunger starben), taten die Reichen entweder gar nichts oder widmeten sich edlen Beschäftigungen (der Theologie, Jurisprudenz, Literatur), bei denen sie sich die Hände nicht schmutzig machten. Ihre Gattinnen blieben daheim, teils um den Haushalt zu überwachen und teils, um sich mit mondänen Nichtigkeiten die Zeit zu vertreiben, die sie ihrem Status schuldeten. Die Überlegungen Charilees, die die Mitgift als Gegenleistung für einen erwiesenen Dienst rechtfertigte, gehen von der damals täglich erlebten Realität aus. Die von ihrem Vater oder von ihren Verwandten mit einer Mitgift ausgestattete Ehefrau erkaufte sich damit zumindest die unschätzbare Sicherheit eines Heimes, wenn schon nicht »Befriedigung und Vergnügen«. Unfähig, aufgrund gesellschaftlicher Konventionen allein für ihren Lebensunterhalt zu sorgen (sofern sie nicht ins Kloster ging oder Kurtisane wurde), durfte sich die Tochter aus adligem oder vornehmen Stande nicht so weit herablassen, einer Arbeit nachzugehen. Irgend jemand mußte für sie aufkommen, sofern sie nicht als Erbin oder Witwe wie ein Mann von den Einkünften ihrer Güter leben konnte oder gar der Klasse der verschämten Armen angehörte.
Pasquiers Briefe skizzieren ein Leben, aufgeteilt zwischen der Arbeit als Advokat, der Verwaltung seiner Güter, der Veröffentlichung von Büchern und der Korrespondenz selbst, in der er ausführlich von einigen erinnernswerten Ereignissen berichtet, deren Zeuge er war. Häufig auch erteilte er seinen Freunden und weiblichen Bekannten sowie seinen erwachsenen Kindern Ratschläge. Was offenbaren diese Materialien über seine Sicht der Frauen, und vor allem, was berichten sie über seine eigene Ehefrau?
1558, als er gerade mit seiner Ehefrau von einer fröhlichen Weinlese im Brie zurückgekehrt war, starb er beinahe an den Folgen einer Pilzvergiftung und mußte lange Zeit das Bett hüten. Es folgte eine achtzehnmonatige Genesungszeit mit Reisen in die Provinz. Bei seiner Rückkehr nach Paris war der junge Advokat im Justizpalast in Vergessenheit geraten. Zwei Monate lang harrte er aus, ohne etwas zu tun, und sein Mißmut war so groß, daß er beschloß, sich gänzlich zurückzuziehen. Seine Frau sah, wie er verkümmerte; er jedoch zögerte, mit ihr darüber zu sprechen.
»Als Witwe hatte sie mich in der Meinung geheiratet, daß ich eines Tages einen hohen Rang unter den Advokaten einnehmen würde, und durch diesen neuen Umstand fand sie sich unvermutet in ihrer Hoffnung betrogen; da sie aber sah, daß dies nur von meiner Niedergeschlagenheit herrührte, sagte sie mir, statt wie eine dumme Pariserin ihre Tränen einzusetzen, mit einer bewundernswerten Festigkeit, daß sie meinen Entschluß sehr gut fände, daß wir Maultiere und Lastpferde in unserem Stall hätten und genügend Mittel, um bequem zu leben…«
In einer anderen Version drängt Madame Pasquier, »eine echte Viragine«, als sie die Angst ihres Mannes vor der Beschäftigungslosigkeit wahrnimmt, diesen selbst, den Justizpalast zu verlassen, »da es ihr lieber war, daß ich meinen Beruf verlor als mein Leben«. In jedem Fall bewies die Dame Charakterstärke bei einer Entscheidung, die die Zukunft des Paares und ihren eigenen Status als angesehene Gattin aufs Spiel setzte. Sie hatte Gelegenheit, ihre Entschlossenheit auch zur Zeit der Liga unter Beweis zu stellen, und bei ihrem Tod im Jahre 1590 beweint Pasquier sie anscheinend so sehr, daß er sich schämen müßte, wenn ihn jemand sähe. Wir sind weit entfernt von den Geistlosigkeiten und Abgeschmacktheiten eines großen Teils der Literatur des 16. Jahrhunderts, dennoch wußte dieser Greis, der im Jahre 1590 um seine Frau trauerte, was er vor seiner Hochzeit gesucht hatte. In einem Brief an den Advokaten Le Picart legt er auf zwei Seiten die Vorstellungen dar, die er im Monophile so weitschweifig ausführen sollte:
»Was mich betrifft, so bin ich für die Ehe und gegen das zölibatäre Leben, nicht nur weil sie im allgemeinen das Mittel ist, uns in der menschlichen Gesellschaft fortzupflanzen, sondern auch insbesondere deshalb, weil wir die Frauen umso mehr brauchen, wenn wir nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ich meine damit, daß sie uns in unserem Alter beistehen, wenn sich die Schwächen zeigen, die wir anderen, sogar verwandten Personen weniger zumuten wollen als unseren Frauen, mit denen wir unser Leben verbracht haben.«
Die Ehe sollte sich auf »die Vereinbarkeit der Sitten und die Beseitigung der Notwendigkeit« sowie auf Gleichheit gründen; die Frau hat ihrem Mann bzw. der Mann seiner Frau zu gehorchen. Und was die sexuelle Lust betrifft, so »gibt es keine Frau, so schön sie auch sein mag, der gegenüber ein Mann nicht gleichgültig wäre, nachdem sie ein Jahr lang miteinander geschlafen haben, noch ein gemäßigtes häßliches Aussehen, das nicht mit der Zeit erträglich würde«. Pasquier distanziert sich sogar von der traditionellen Sorge, die Kontinuität der Familie zu sichern: »Kinder zu zeugen, ist auf der Welt ein großes Glück / keine zu haben, aber deshalb kein Unglück.«
Die Frau, die Pasquier sich wünscht, ist weder Objekt noch Gebärmutter, sondern vor allem Gefährtin. Jeder hat seinen Bereich, der Mann die Arbeit, die Sorge um einen Beruf oder ein öffentliches Amt, und zur Entspannung eine »edle Betätigung« (gelehrte Arbeiten, Dichtung, Lektüre der Klassiker), aber auch Kegelspiele oder Spaziergänge im Garten und Brettspiele am Kamin. Der Frau obliegt die Verwaltung der häuslichen Geschäfte einschließlich der Erziehung der Kinder (später gehen die Jungen aufs Kolleg und die Mädchen ins Kloster), und sie verbringt einen Teil der Mußestunden gemeinsam mit ihrem Mann (Spaziergänge in der Gesellschaft von Freunden, wie 1558 im Brie, Besuche und Empfang von Gästen, Hausmusik). Ein Brief Pasquiers vermittelt uns ein konkretes und lebendiges Bild von dieser Aufteilung der Aktivitäten. Pasquier schloß sich im Alter mit seinen Büchern in ein Zimmer seines Landhauses im Chatelet ein und überließ seiner Frau die Aufsicht über die Weinlese — eine willkommene Ausrede, um die Einladung eines benachbarten Landadeligen auf später zu verschieben: »Meine Frau hat erst die Hälfte ihrer Arbeit erledigt: ihre Trauben sind in den Bottichen, kurz davor, gepresst zu werden, und die meinigen reifen im Kopf . . .« Die Zeit vergeht, man wird alt, die Gesundheit verschlechtert sich, man fällt gar ins kindliche Stadium zurück; wie schön ist es dann, von einer mütterlichen Gattin verhätschelt zu werden, die häufig jünger und daher flinker ist als ihr Ehemann und die vor allem ihre Pflichten weniger vernachlässigt als die undankbaren Nachkommen.
Ähnlich salbungsvoll wie Pasquier beschreibt Sir Francis Bacon die Situation: »Frauen sind die Geliebten der Männer in der Jugend, die Gefährtinnen auf der Höhe des Lebens, die Pflegerinnen im Alter.«[35]
Dies ist im England des Jahres 1600 nicht die einzige Äußerung zugunsten einer allmählichen Rehabilitierung der Ehe, Die Gedichte John Donnes zum Beispiel verraten die Besorgnis eines Mannes, der seine traditionellen Fixpunkte verliert in einer Gesellschaft, die sich radikal weiterentwickelt: Wo waren die großen Häuser vergangener Zeiten, die Dichtern Gunst und Schutz gewährten, eine Schlafstätte und Nahrung boten?
»Abhängig von dieser Wahrnehmung der zeitgenössischen Veränderungen und untrennbar damit verbunden existiert ein tiefgehendes charakteristisches Gefühl von Instabilität in den persönlichen Beziehungen, das einhergeht mit einem gleichermaßen charakteristischen Gefühl für die herausragende Bedeutung der Liebe zwischen Mann und Frau. Beide Gefühle verstärken sich gegenseitig.«[36]
Diese wechselseitige Liebe findet Erfüllung in der Institution der Ehe, die hierarchisch und gleichberechtigt zugleich ist, so wie Pasquier es wünschte, aber auch Shakespeare [37] und John Donne, der seine eigene »romantische« Heirat mit der Nichte seines argwöhnischen Brotherrn damit bezahlen mußte, daß er für lange Zeit in Ungnade fiel.[38]
Madame de Sevigne (1626-1696)
»Welch ein Tag, meine Tochter, der die Abwesenheit einleitet!«[39] Lediglich durch eine Reihe von Zufällen gelang es, in die Intimsphäre dieser leidenschaftlichen Frau einzudringen, deren Briefe ursprünglich nur für ihre Tochter und eine kleine Schar Vertrauter bestimmt waren. Der freie Ton ihrer Briefe rührt von ihrer Überzeugung her, offen sein zu können, hat jedoch auch andere Ursachen. Marie de Rabutin-Chantal, die schon früh ihre Eltern verlor, wurde in Paris erzogen, inmitten des mütterlichen Clans der Coulanges, die - eben erst in den Adelsstand erhoben - reich und gebildet waren. Damit entkam sie »den Rabutins und dem Kloster«[40] und einer allzu strengen Erziehung. Man verheiratete sie im Jahre 1644 (mit achtzehn Jahren) mit einem bretonischen Adligen, einem Frauenhelden und Lebemann, Henri de Sevigne. Dieser wurde schon bald im Duell getötet (1651). Seine Witwe war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte zwei Kinder, ein gewisses Vermögen und Schulden. Sie war geistreich, verführerisch, in der besten Gesellschaft eingeführt, und es mangelte ihr nicht an Freiern. Allerdings gab sie allen einen Korb, weil sie ihre wertvolle Unabhängigkeit nicht aufgeben wollte. Über ihre Entscheidung besteht kein Zweifel, da sie im Jahre 1687 vermerkt, daß sie das Datum ihrer Geburt vergessen und an dessen Stelle dasjenige ihrer Witwenschaft setzen wolle, »welche süß und glücklich war«.[41] Später fühlte sie den Kummer der Mütter mit, die in der Schlacht von Fleurus ihre Söhne verloren hatten. »Was die jungen Witwen betrifft, so sind sie kaum zu beklagen; sie werden froh sein, ihre eigenen Herrinnen sein zu können oder den Herrn zu wechseln.«[42] In seiner Antwort gibt Bussy-Rabutin noch einen drauf und scherzt: »Ich kenne drei junge Witwen aus dieser Schlacht, mit denen man sich über den Tod ihrer Ehemänner freuen sollte, und zwei Damen, die man wegen des Überlebens der ihrigen trösten sollte, welche sich von ihren Wunden erholt haben. Die Götter der Ehe und der Liebe sind seit langer Zeit unversöhnlich.«[43] Liest man die Briefe dieser beiden, so versteht man, weshalb die unerhörte Freude über den Witwenstand solchen Aufruhr unter den Geistlichen verursachte und so ergiebigen Stoff für Komödien lieferte: »Die Hoffnung, Witwe zu werden, ist ein trauriger Zufall./Diese Gunst des Himmels kommt immer zu spät./Unsere schönen Tage sind vorbei, wenn dieser große Tag kommt.«[44] In einer Welt, in der es nur Zwangsheiraten gab, begann die Freiheit mit dem Tod des Ehemannes. Ein Jahrhundert später - der Mechanismus der Ehe war noch der gleiche - konnte Choderios de Laclos zeigen, welchen Vorteil Madame de Merteuil aus ihrer Witwenschaft zu ziehen verstand.[45] In England gab es zwar im 18. Jahrhundert die Möglichkeit einer Ehescheidung per Parlamentsbeschluß, sie erwies sich aber als ein selten angewandtes und kostspieliges Verfahren.
Aber kommen wir zu Madame de Sevigne zurück, die dabei ist, ihre Unabhängigkeit zu erlernen, das heißt, einen beträchtlichen ererbten Grundbesitz zu verwalten, der mit Schulden belastet ist (ihr Onkel Coulanges war dabei behilflich, sie vor dem finanziellen Ruin zu bewahren); sie beginnt, ihr Leben zwischen Paris und den Annehmlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens und der Bretagne, wo der Unterhalt nichts kostet, aufzuteilen und ist darum bemüht, ihren Kindern eine Existenz zu sichern (ihrer Tochter dadurch, daß sie sie glänzend verheiratet, ihrem Sohn dadurch, daß sie ihm vor seiner von ihr arrangierten späten Ehe ein Amt in der Armee kauft). Sie handelte damit in völliger Übereinstimmung mit den Gewohnheiten ihrer Zeit, und ihre Unabhängigkeit als Witwe gestattete es ihr zu sehen, wen sie wollte, zu reisen, wohin sie wollte, Ausgaben zu vermeiden, die sie für überflüssig hielt, und ihre Ersparnisse in Dinge zu investieren, die ihr gefielen (Geschenke für ihre Tochter, Verschönerungen ihres Landsitzes Les Rochers). Sie lernte, ihre kostbare Unabhängigkeit sogar vor übertriebenen Zuwendungen seitens ihrer Freunde zu schützen. Im Herbst 1689 versuchten drei ihrer Freundinnen, sie aus der Bretagne nach Paris zu holen, um ihr »den gräßlichen Winter auf dem Land« zu ersparen.[46] »Sie fürchten, daß ich mich langweilen werde, daß ich krank werde, daß mein Geist verkümmert, daß ich schließlich sterbe. Sie wollen
mich sehen, mich halten, mich beherrschen.«[47] Eigensinnig wie sie war, blieb sie, und eine Monat später schrieb sie, zufrieden über ihren kleinen Sieg, an ihre Tochter:
»(. . .) ich lache manchmal und sage: -Das ist also, was man den Winter in den Wäldern verbringen nennt?' (. . ,) Diese Wälder sind im Augenblick voller Sonne (. . .). Und wenn es regnet, ein schönes Zimmer mit einem großen Feuer, häufig zwei Spieltische, wie im Augenblick. Es gibt sehr viele Leute, die mich nicht belästigen; ich tue. was mir gefällt. Und wenn niemand da ist, fühlen wir uns noch wohler, denn wir lesen mit einem Vergnügen, das wir allem anderen vorziehen.«[48]
Neben ihrem Streben nach Unabhängigkeit bewahrte sie sich eine äußerst tolerante Gesinnung - auch eine Art, ihre Freiheitsliebe zu bekunden -, die sie zur Vertrauten ihres Sohnes Charles werden ließ, der ihr von seinen Eskapaden und amourösen Abenteuern berichtete. Als er einer der Liebhaber von Madame de Champmesle wurde, bezeichnete sie diese freundlich als »meine Schwiegertochter«.[49] Und sie erfuhr auch, daß er im Bett von Ninon de Lenclos versagt hatte: »sein dada blieb kurz in Lerida (. . .). Wir mußten sehr lachen; ich sagte ihm, ich sei entzückt, daß er da bestraft worden wäre, wo er gesündigt hätte.«[50]
Sie hatte ein Auge auf die Erziehung ihrer Enkelkinder, insbesondere von Pauline de Grignan, und empfahl ihrer Tochter immer wieder, bei ihnen zu bleiben und maßvoll, flexibel und verständnisvoll zu sein. Sind sie aber über die kritische Phase der frühen Kindheit hinaus, sollte man es vermeiden, sich zu sehr an sie zu klammern, und sich statt dessen mit ihnen vergnügen. Als Pauline heranwuchs und ihre Mutter gedachte, sie ins Kloster zu geben, sie tatsächlich zeitweilig dorthin schickte (der Vater hatte an dieser Entscheidung anscheinend keinen Anteil), äußerte Madame de Sevigne ihre Vorbehalte: »Ich bin überrascht, daß sie in diesem Kloster nicht dumm und albern geworden ist. Meine Tochter, Ihr habt gut daran getan, sie wieder zu Euch zu nehmen! Behaltet sie…«[51] Und zehn Jahre später schrieb sie: »Glaubt nicht, daß ein Kloster die Erziehung verbessern kann, weder was die Religion betrifft, von der unsere Schwestern kaum etwas verstehen, noch was die anderen Dinge betrifft. Das könnt Ihr in Grignan viel besser tun, wenn Ihr die Zeit dazu habt.«[52] Pauline blieb in Grignan, und ihre Ausbildung bestand vor allem darin, daß sie die Rolle der Sekretärin ihrer Mutter übernahm, die viel schrieb. Es war eine ausgezeichnete Gelegenheit, »die französische Sprache zu lernen, die die meisten Frauen nicht kennen«.[53] Dem fünfzehnjährigen Mädchen die Lektüre »der schönen Komödien von Corneille» zu verweigern, wie dies ein dummer Beichtvater verlangte, würde bedeuten, »von der Frömmigkeit nur die Unterdrückung kennenzulernen, ohne durch die Gnade Gottes zu ihr zu gelangen«. Ließen nicht auch die Pomponnes ihre Tochter Italienisch lernen »und alles, was dazu dient, den Geist zu bilden«? Das hinderte sie nicht daran, ihr eine ausgezeichnete christliche Erziehung zu geben.[54] Die Großmutter gibt vorsichtige Empfehlungen hinsichtlich der Bücher, die Pauline lesen soll. In erster Linie beinhalten diese die italienische Dichtung, »Tasso. die Aminta, den Pastor fido. die Filii di Sein», und die Beschäftigung mit der Geschichte, »die [den] Müßiggang so lange zu trösten vermag«.[55] Schon im nächsten Brief kommt sie auf das Thema Erziehung zurück, das ihr sehr am Herzen liegt, und liefert ihrer Tochter in wenigen Zeilen eine großartige Familienpädagogik:
»Was Pauline betrifft, diesen Bücherwurm, so ist mir lieber, sie liest schlechte Bücher, als daß sie gar nicht lesen will. Die Romane und Komödien. Voiture. Sarasin, das ist bald erschöpft. Hat sie Lukian versucht? Kennt sie die Petites Lettres? Danach kommt die Geschichte: und wenn man ihr die Nase zuhalten muß, damit sie sie schluckt, dann tut sie mir leid. Was die schönen frommen Bücher betrifft, wenn sie sie nicht mag, umso schlimmer für sie, denn wir wissen nur allzu sehr, daß man sie, auch ohne fromm zu sein, charmant findet. Was die Moral betrifft (. . .). so möchte ich, daß sie ihre kleine Nase weder in Montaigne noch in Charron oder die anderen steckt; dazu ist es für sie noch zu früh. Die wahre Moral ihres Alters ist die. die man in guten Gesprächen lernt, in den Fabeln und Beispielsammlungen, ich glaube, daß das genügt. Wenn Ihr ihr ein wenig von Eurer Zeit widmet, um mit ihr zu plaudern, so ist das sicher am nützlichsten.«[56]
Über Pauline und ihre kleine Nase sind wir zur Literatur zurückgekehrt. Aber haben wir sie bei der Lektüre dieser Briefe jemals verlassen? Die Literatur nimmt einen zentralen Platz ein im täglichen - zwangsläufig dem Müßiggang gewidmeten - Leben der Kreise gebildeter Edelmänner, galanter, verseschmiedender Abbes und der Frauen, die die Lücken ihrer klösterlichen Erziehung durch Lektüre und den Besuch des Theaters zu kompensieren suchen (für Madame du Deffand spielen beide eine gleichermaßen wichtige Rolle beim Wissenserwerb).[57]
Liest man die Briefe der Madame de Sevigne. so ist man immer wieder angenehm überrascht darüber, wie selbstverständlich Zitate am richtigen Ort erscheinen, wie sie das Gesagte lebendig machen und immer im richtigen Moment betonen. Mutter und Tochter kennen ihre Klassiker nicht nur auswendig, sondern haben sie verinnerlicht. »Wir haben die Stelle vom Tod Ciorindes wiedergelesen. Meine Gute, sagt nicht, ich kann sie auswendig, lest sie wieder . . .«[58] Zwischen Ich und Wirklichkeit gibt es stets die Vermittlung durch den Text, die das Banale transzendiert, das Glücklichsein verstärkt oder relativiert und den Kummer zerstreut. Im Jahre 1680, einem düsteren Jahr, in dem Trauer und Sorgen überhandnahmen, besuchte Madame de Sevigne eines ihrer Familienbesitztümer bei Nantes und fand die Wälder auf Befehl ihres Sohnes abgeholzt, der knapp bei Kasse war. Sogleich »distanziert sie sich von ihren Gefühlen und gibt der vertraulichen Mitteilung den Anschein eines Bravourstücks«.[59] Sie improvisiert zuerst eine lange Passage über die trauernden Dryaden, die Faune und die Raben, die darüber klagen, ihre Heimstätte verloren zu haben, und endet damit, daß sie vorgibt, sich zu fragen, »ob manche dieser alten Eichen nicht reden konnten wie jene, in der Clorinda wohnte? Wenn je ein Wald verzaubert war, so ist dieser es gewesen.«[60] Kann man sich eine bessere symbolische Kompensation vorstellen, als einen abgeholzten Wald in einen verzauberten Ort zu verwandeln?
Zur damaligen Zeit war die gesamte abendländische Kultur von der Autorität gewisser Texte abhängig, jedoch beschworen unterschiedliche Leute auch unterschiedliche Autoritäten herauf. Der honnete homme und der gentleman, die lebenslang geprägt waren von ihren Jahren im Pensionat, schmückten ihre Korrespondenz mit lateinischen Zitaten als Zeichen gemeinsam gelebter Erfahrung (die Briefe von Boswell und Temple sind in dieser Hinsicht typisch). Der kleine Schreiber, die Frommen, Protestanten und besonders die Puritaner beriefen sich fast ausschließlich auf die Heilige Schrift. Lediglich die Frauen genossen als Ausgleich für ihre lückenhafte Erziehung - das Privileg, nachlässig, d. h. »natürlich«, sein zu können.[61]Die Art der Madame de Sevigne, frei und unterschiedslos aus allen literarischen Gattungen zu schöpfen, sofern diese ihr gefielen, war daher typisch weiblich. Nur benutzt sie dieses Verfahren besser als alle anderen. Man hat den Eindruck, in eiskaltes Wasser zu stürzen, wenn man im Anschluß an ihre heitere Prosa das düstere Tagebuch einer schottischen Familie zur Hand nimmt:
Die Gattin glaubt, eine Todsünde begangen zu haben (»sinned unto death«), weil an einem Sonntagabend »in der Familie die starke Versuchung aufkam zu lachen«; der Gatte ist krank vor Schuldgefühlen, »mein Körper war voller Schmerzen und gebrochen durch einen Wind in meinem Magen, von dem mein Geist oft heimgesucht wurde«, und die Tochter beginnt ihr Tagebuch mit den Worten: »Ich habe Gott gelästert, aber mir wurde verziehen. . .«[62] Dieser Kontrast ist gewiß etwas überzogen. Die französischen Gegenstücke zu diesen Unglücklichen, egal wie heuchlerisch (»Räum jetzt mein Bußgeld und die Geißel weg«[63]), existierten neben der festen, aber keineswegs prüden Frömmigkeit einer Madame de Sevigne, eines Duc de Saint-Simon oder der Zofe Dorine aus Molieres Tartuffe. In einer Zeit, da namhafte Werke mit Erfolg versuchten, die puritanische Kultur zu rehabilitieren, vor allem deren positiven Beitrag in Sachen Sexualität und Ehe,[64] sollten wir nicht vergessen, daß sie, nach eigener Aussage der Engländer, auch das robuste, vitale »Merry Old England« beseitigt hatte, das bei Shakespeare noch so lebendig gewesen war.[65] Es scheint, als ob die Toleranz und die Skepsis eines Pasquier oder einer Madame de Sevigne nur aufrechterhalten werden konnten, weil sie aus allen Quellen des Wissens schöpften, wohingegen Intoleranz und Pessimismus immer dort gediehen, wo man sich beständig und ausschließlich auf das einzig gültige Evangelium berief.
James Boswell (1740-1 795)
»Ich bin ein seltsamer Mensch. Ich habe die impulsive Wunderlichkeit eines Engländers, die mich dazu bringt, extravagant zu denken und zu handeln, und trotzdem habe ich die Kaltblütigkeit und den gesunden Menschenverstand eines Schotten, die mir dieses bewußt machen.«[66]
Tausende von Dokumenten, Briefe, Notizen, Tagebücher, deren Herausgabe ein abenteuerliches Unternehmen war,[67] liefern uns eine Fülle von Informationen über einen Mann der Aufklärung, die wahrscheinlich nicht ihresgleichen hat. Dieser Mann, James Boswell, war der Sohn eines hohen schottischen Beamten und einer Mutter mit strengen calvinistischen Prinzipien. Boswell selbst war Advokat, aber berühmt machten ihn seine Bücher: 1768 ein Plädoyer zugunsten Korsikas, 1785 der Bericht einer Reise in die Highlands mit Samuel Johnson und 1791 eine Biographie desselben Johnson, »die berühmteste Biographie in englischer Sprache«.[68]
Zur Aufklärung gehört er zweifellos aufgrund seiner Humanität, seines Engagements für Gerechtigkeit, seines außerordentlichen Wissensdrangs und seiner Begeisterung für alle Vertreter großer Ideen (er lernte Voltaire und Rousseau kennen, war ein Freund von Hume. von Goldsmith, von Malone und vielen anderen). Natürlich reiste er gerne und hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Konversation. Freundschaft nahm in seinem intellektuellen und seinem Gefühlsleben zweifellos einen größeren Platz ein als Liebe, denn er verwechselte Liebe mit Lust, und zumindest in seiner Jugend hielt er jede Frau, die er begehrte, für die Liebe seines Lebens. Da er sowohl Charme als auch Temperament besaß und dem Alkohol zusprach, hatte er zahllose Abenteuer, vom harmlosen Flirt bis hin zu
wüster Ausschweifung. Das mag ihn nicht sonderlich geeignet erscheinen lassen, um über die Frauen des 18. Jahrhunderts Auskunft zu geben. Aber Boswell war von leidenschaftlicher Aufrichtigkeit, was seine Lebensgier und seinen Erkenntnisdrang betraf. Damit auch ja keine Erfahrung in Vergessenheit geriete, schrieb er alles peinlich genau auf. Gleichzeitig trieben ihn seine Neigung zur Selbstkasteiung, sein Abscheu vor der Sünde und seine ständigen Schuldgefühle dazu, auch diejenigen Verfehlungen zu gestehen, die man in der Regel verschweigt, und seine Freunde sowie seine Frau darüber richten zu lassen. Zahlreiche ähnliche Charakterzüge finden sich bei dem Protestanten Jean-Jacques Rousseau, einschließlich der ambivalenten Haltung Frauen gegenüber, die sich allerdings durch ein grundverschiedenes sexuelles Verhalten verriet.[69]
Die Beschäftigung mit dem Werk Boswells, mit seinen Briefen und Tagebüchern, läßt die Eigenart der angelsächsischen Kultur spürbar werden. Liest man seine französischen Zeitgenossen, Diderot oder Crebillon, Voltaire oder Beaumarchais, so wird deutlich, daß diese einer gemischten Gesellschaft angehörten, in der Männer und Frauen ganz selbstverständlich in ständiger Nähe (oder gar promisk) lebten, die allerdings Ungleichheit sowie ein unterschwellig feindseliges Klima nicht verhindern konnte.[70]
Mit Boswell hingegen betritt man eine zutiefst männliche, insulare Welt. Zwar verkehren Männer und Frauen miteinander, aber engere Beziehungen, echter intellektueller Austausch und völliges Vertrauen gibt es nur zwischen Personen des gleichen Geschlechts. Reisende nehmen immer das zur Kenntnis, was sich im fremden Land anders darstellt als zu Hause. Es ist amüsant zu sehen, wie so unterschiedliche Charaktere wie Smollett oder Sterne, jeder auf seine Art, die in Frankreich herrschende Intimität des Verhältnisses zwischen Mann und Frau feststellten und wie sich der eine deswegen entrüstet und der andere darüber freut:
»Dadurch daß sie seit ihrer Kindheit mit Frauen zusammen sind, gewöhnen sich die Franzosen nicht nur an deren Gewohnheiten und Launen. Mit zunehmendem Alter erwerben sie die Fähigkeit, tausend kleine Dienste zu erweisen, die andere Männer, die ihre Zeit darauf verwendet haben, wertvollere Talente zu erwerben, geringschätzen. Sie betreten ohne weiteres das Schlafzimmer einer Dame, wenn diese sich noch im Bett befindet, reichen ihr die Gegenstände, die sie braucht, lüften ihr Hemd und helfen ihr dabei, sich anzukleiden. Sie sind bei ihrer Toilette dabei, kümmern sich um die Verteilung ihrer >mouche< [Schönheitspflästerchen] und beraten sie, wie sie sich schminken soll (. . .).«[71]
Der sentimentale Reisende Sternes begegnet in Calais einer schönen Unbekannten, von der er gerne wissen möchte, wer sie ist, woher sie kommt und wohin sie geht:
»Es ging doch nicht an, sie unumwunden danach zu fragen, das war unmöglich. Ein kleiner, munterer französischer Hauptmann, der die Straße herabgetänzelt kam, zeigte mir jedoch, daß es die einfachste Sache von der Welt war. Er tauchte zwischen uns auf, gerade als die Dame zur Tür des Wagenschuppens zurückkehrte, machte sich mit mir bekannt und bat mich, noch ehe er seinen Namen ganz ausgesprochen hatte, ich möchte ihm doch die Ehre erweisen, ihn der Dame vorzustellen. Ich war aber selbst nicht vorgestellt worden; und so wandte er sich an sie und tat es eben selbst, indem er sie fragte, ob sie von Paris käme.»
Der Hauptmann bekam in fünf Minuten alle gewünschten Auskünfte die Identität und den Reiseweg der Dame betreffend, grüßte und ging. Schlußfolgerung des Reisenden: »Selbst wenn ich sieben Jahre lang bei einem Weltmann in die Lehre gegangen wäre, hätte ich nicht so viel zu erreichen vermocht.«[72]
Man hat auch heute noch den Eindruck, daß die in privaten Internatsschulen herangewachsenen gentlemen die nostalgischen Erinnerungen an ihre gemeinsame Initiation in das Wissen, den intellektuellen und sportlichen Wettstreit, die Sexualität und die Politik liebevoll pflegen. Selbst Frauen aus ähnlichen Verhältnissen fühlen sich aufgrund der Tatsache, daß sie nicht ebenso erzogen wurden, diesen Kontexten gegenüber vollkommen fremd. Nie ist Boswell so sehr er selbst wie in den warmherzigen, begeisterten und hellsichtigen Briefen, in denen er über seine Erlebnisse berichtet und William Temple, der zeitlebens sein Freund war, um Rat bittet. Umgekehrt trifft dies auch auf die Briefe Temples an Boswell zu. Was Samuel Johnson angeht, der dreißig Jahre älter war als Boswell, so war er für diesen mehr als nur ein angesehener Freund. Er war eine Art geistiger Vater, den er jedes Jahr in London besuchte, wodurch er Edinburgh und dem bedrohlichen Schatten seines wirklichen Vaters entfliehen konnte. Den gleichen wichtigen Platz nehmen Männer in der umfangreichen Korrespondenz von Horace Walpole ein, den bereits während seiner Schulzeit in Eton enge freundschaftliche Bande mit Gray, West und Ashton verbanden. Seine platonische Verbindung mit Madame du Deffand war für ihn (nicht für sie) nur von sekundärer Bedeutung.
In dieser stabilen Männergesellschaft, die ein Leben lang bestimmend war, gab es vorübergehend Frauen, von denen einige blieben: Ehefrauen, Verwandte, selten Freundinnen. Boswell wollte alle verführen (was ihm häufig auch gelang), nur die Alt und das Ziel wechselten dabei. Bei Männern setzte er seinen Charme ein, um mit ihnen sprechen zu dürfen (Voltaire, Rousseau) oder auf Dauer ihre Wertschätzung zu gewinnen (die des korsischen Generals Paoli, von Samuel Johnson und vielen anderen). Und bei Frauen, die ihm gefielen und die er sogleich besitzen wollte, setzte er ihn ein, um eine Erbin dazu zu bringen, ihn zu heiraten (was ihm nicht gelang), oder um eine amie Cousine, die er liebte, heiraten zu können. Unter den Frauen, die seinen Weg kreuzten und deshalb Aufnahme in sein Tagebuch fanden, war zum Beispiel die Tochter des Gärtners seines Vaters. Im April 1766 kehrte Boswell zum schottischen Familiensitz zurück nach langer Reise, die ihm viele Liebesabenteuer beschert hatte. In der Zwischenzeit war die Tochter des Gärtners zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Da es sein Grundsatz war. »nie ein unschuldiges Mädchen zu verführen«, und er den Gärtner achtete, »einen würdevollen Mann mit seltenen Fähigkeiten«, war er »verrückt genug, um daran zu denken, sie zu heiraten«. Da er sich keine Illusionen über sich selbst machte, konnte er sich an so manche Eskapade erinnern, die eben nur eine solche geblieben war, was ihn jedoch nicht daran hinderte zu glauben, daß es diesmal etwas ganz anderes sein könnte:
»Sie und ich, wir wurden gewissermaßen zusammen erzogen. So weit ich zurückdenken kann, bauten wir zusammen Häuser und legten Gärten an, plantschten im Fluß und spielten auf seinen sonnigen Ufern. Ich kann sie nicht als mir unterlegen ansehen (. . .). Sie hat das liebenswerteste Gesicht, den hübschesten Fuß und den feinsten Knöchel. Sie ist vollkommen gebaut, und sie hat eine Lebhaftigkeit und Vornehmheit, die unwiderstehlich ist. Ich versäume keine Gelegenheit, mit ihr zusammen zu sein, wenn sie das Feuer anzündet oder ein Zimmer aufräumt (...). Ich tue so, als ob es mir sehr wichtig wäre, die Bibliothek in guter Ordnung zu halten, helfe ihr, die Bücher abzustauben. Ich zerreiße meine Handschuhe, damit sie sie wieder nähen kann. Ich küsse ihr die Hand. Ich sage ihr, wie schön ich sie finde. Sie hat völliges Vertrauen in mich und fürchtet keine böse Absicht von mir; und sie ist klug genug, um nicht auf die Idee zu kommen, sie könnte mich zum Ehemann haben(…)«
Die Verliebten tauschen Briefe aus - sie kann also schreiben -, außerdem hat sie viel gelesen, denn Boswell lieh ihr ständig Bücher aus: »Kurz, sie ist besser als jede Dame, die ich kenne. Was soll ich tun, Temple?« Fliehen. Drei Wochen später »ist das schöne Zimmermädchen schon wie ein Traum aus der Vergangenheit«, und ein Jahr später beschreibt er in einem Brief an Temple seine Heilung mit den derben Worten: »Sie zündet [das] Feuer an und leert [den] Nachttopf wie jede andere Dienerin auch.« Da er seine Macht nicht mißbrauchte und sie sich ihrerseits keine Illusionen machte über eine eventuelle Heirat, kam die Tochter des Gärtners noch einmal glimpflich davon. Was Boswell betrifft, so fand er bald darauf eine andere verwandte Seele, und da er sich der Heftigkeit seiner Gefühlsaufwallungen bewußt war, versprach er Temple, nie ohne dessen Billigung zu heiraten. Die verwandte Seele hat einen Körper, über den er nach Belieben verfügen kann (»im Bett ist sie phantastisch«): Es ist Mrs. Dodds, eine junge Frau, die von ihrem Mann infolge eines Skandals getrennt lebt (er behielt die Kinder). Ihre Liaison mit Boswell, die geprägt ist von Streitereien, Trennungen, Versöhnungen, einer Schwangerschaft und der Geburt einer Tochter, Sally, dauert zwei Jahre. Er besorgt seiner Geliebten eine Wohnung und eine Dienerin und kommt für den Unterhalt des Kindes auf (das anscheinend jung gestorben ist). Freunde und Verwandte suchten ihn davon zu überzeugen, daß er mit dieser verheirateten Frau brechen müsse, die eine gefährliche Zauberin (eine Luis, eine Circe) sei, deren frühere Verfehlungen man ihm in allen Einzelheiten schilderte. Mit ihr zusammenzubleiben bedeutete in den Augen der Gesellschaft, von ihr an der Nase herumgeführt zu werden oder ein Sklave seiner Leidenschaft zu sein. Kurze Begegnungen waren erlaubt (die Natur muß zu ihrem Recht kommen), aber »wenn das Bedürfnis befriedigt ist. muß der Gegenstand vergessen werden«. Boswell selbst gibt zu, daß es ihr an Erziehung und feinen Manieren fehle, sie sei aber schön, freundlich, großherzig und bereit, ihn nachts jederzeit zu empfangen. Von einem solchen Gegenstand löste man sich nicht so leicht. Kummer, Gewissensbisse, Trennungsversuche und Versöhnungen wechselten einander ab, bis es schließlich zum endgültigen Bruch kam. Zwei Jahre später heiratete Boswell seine Cousine Margaret Montgomery. Das Paar verbrachte zusammen einige glückliche Jahre, danach trieben die Depression und Trunksucht Boswells und die Krankheit und Einsamkeit seiner Frau die Ehe auseinander.
Es bleibt Boswells Werk, die eiserne Bestandsaufnahme seines (und teilweise auch Johnsons) täglichen Lebens. Boswell besaß ein geschärftes Bewußtsein für die Ohnmacht der Worte: »Ich beobachte ständig, wie unvollkommen die Worte unsere Gedanken zumeist wiedergeben.« Nichtsdestotrotz berichtet er weiterhin seine unbedeutendsten Taten wie in Erwartung des Jüngsten Gerichts. Boswell interessiert sich nicht für Geschichte, er ist lediglich darum bemüht, die winzige Spur seines eigenen Daseins in der Geschichte zu bewahren. Seine nichts auslassende Berichterstattung informiert uns fast unabsichtlich über die Stellung, die Frauen in einem Leben wie dem seinigen und daher auch in der Gesellschaft, in der er lebte, einnahmen. Frauen gab es in den Herbergen, in denen er aß und übernachtete, nicht aber an den Orten, wo er arbeitete (Gerichte, Gefängnisse). Sie waren beim Mittagessen im Hause der Familie, bei der er gerade zu Gast war, anwesend oder empfingen ihn zum Tee in ihrem Salon. Bei den Abendessen unter Männern, die mit viel Alkohol begossen wurden und meistens im Wirtshaus stattfanden - nicht, wie in Frankreich, bei einem der Teilnehmer — waren sie allerdings nicht dabei. Er trifft sie auf nächtlichen Straßen, wo er sich, mehr oder weniger angetrunken, eine aussucht, ehe er im Morgengrauen nach Hause geht. Der Typ Frau, dem er begegnete, wechselte demnach je nach Ort und Stunde. Aus Boswells täglichen Aufzeichungen wird ihre Trennung in nicht miteinander zu vereinbarende Kategorien deutlich: Wirtshauskellnerinnen und Zimmermädchen, Gattinnen von Freunden und Bekannten, Damen der guten Gesellschaft aus Edinburgh oder London, ausgehaltene Frauen und einfache Prostituierte. Der einzige gemeinsame Nenner all dieser Frauen ist Boswell selbst, der sich frei unter ihnen bewegt. Alle diese Frauen kennen einen Aspekt seiner Persönlichkeit (und schließen vielleicht auf den Rest). Aber ist es ein Zufall, daß Boswell, der jedes noch so triviale Wort von Johnson oder anderen glanzvollen Freunden aufschreibt, fast nie seine Teegespräche bei eleganten Damen wiedergibt? Hatten diese nichts zu sagen? Oder hatte er ihnen nichts zu sagen? Boswell schien sich nur bei Prostituierten wohl zu fühlen, bei denen es kein Zeremoniell, keine Tabus, keine Zwänge gab; fast war es wie bei seinen Freunden aus der Kindheit, allerdings gab es die (oft berechtigte) Angst vor Geschlechtskrankheiten. Er zeigt ihnen gegenüber weder Mitgefühl noch Verachtung, sondern echte Herzlichkeit: »Ich fühle mich glücklich mit Jeanie Kinnaird (...). Sie schien so gesund und ehrlich zu sein, daß ich nichts fürchtete.« Freundschaftlich verabschiedete er sich kurz vor seiner Hochzeit von Miss Reynolds und versuchte sie dazu zu überreden, das Gewerbe zu wechseln:
- Ihr habt nicht die Eigenschaften, die man dafür braucht, außer daß Ihr wirklich sehr hübsch und angenehm seid. Ihr habt nicht die Habgier und die Falschheit, die dafür erforderlich sind. Ich möchte Euch hier heraushelfen können. Sie versprach mir, den Beruf der Modistin auszuüben und sich anständig zu verhalten (. . .). >Mein Herr, ich wünsche Euch viel Glück in Eurem neuen Stand.«
Lassen wir Boswell mit diesem leichten Mädchen allein, wie sie sich gegenseitig, beflügelt vom Alkohol und in der rührseligen Stimmung einer letzten Begegnung, ein nicht eben wahrscheinliches Glück wünschen. Boswell war ein Wüstling mit Hang zur Melancholie, so wie Casanova der Lebenslust zugeneigt war. Aber verleiht nicht beider Zeugnis all diesen Frauen am Rande der Gesellschaft oder in zerrütteten Verhältnissen, deren Leben sie für einen Augenblick teilten, ein gewisses Maß an Menschenwürde, eben jene Würde, die man ihnen so lange schon abgesprochen hatte?
Literatur und Körpersprache: der Tanz
Ich habe mich in diesem Aufsatz vom Literarischen eher ferngehalten und versucht, die Frauen nicht im Text zu situieren, sondern in ihrem Verhältnis zum Text. Somit blieb unter anderem auch der Aspekt der Körperlichkeit ausgespart.
»Ich habe endlich die arme Caderousse gesehen: sie ist blaß und verliert ihr Blut und ihr Leben.«[73] In dem Maße wie der kranke Körper, die Heilmittel und deren Wirkung in Briefen und Memoiren ständig präsent sind, bleibt der gesunde Körper unerwähnt. Wenn ein gesunder Körper in fiktionalen Werken auftauchte, wurde er mit so konventionellen Worten beschrieben, daß sie nichts mehr bedeuteten: »Die schönste Taille der Welt, die schönste Brust der Welt« usw. Aber auf einem Gebiet geben sowohl der Roman als auch authentische Berichte ihre Zurückhaltung auf und lassen stereotype Beschreibungen hinter sich: auf dem Gebiet des Tanzes. Brantome brachte häufig seine Faszination zum Ausdruck, die er mit dem ganzen Hof teilte: »Aller Augen im Saal konnten sich nicht daran sattsehen«, wie Heinrich III. und seine Schwester Margarete von Navarra miteinander tanzten.[74] Auch Ronsard sah ihnen zu: »(. . .) sie ging nicht wie eine Frau/sie schwebte wie eine Göttin einher/ihre Füße im Takt gleitend (…).«
Neben dem Reiten, das die jungen Mädchen des Adels praktizierten, war der Tanz die einzige Körpersprache, die der Frau erlaubte, sich auf die gleiche Weise wie der Mann auszudrücken, in vollkommener wechselseitiger Übereinstimmung, denn der erzwungene Müßiggang der vornehmen Damen schloß alle sonstigen körperlichen Übungen aus, die die Männer praktizierten. Es fiel den Frauen zu, daneben zu sitzen und zuzuschauen. Ein Ball bot daher eine einzigartige Gelegenheit zu zeigen, daß auch sie sich anmutig, lebhaft, schwungvoll oder hingerissen bewegen konnten. Die Ankündigung eines Balls versetzte die unscheinbaren Dorfmädchen ebenso wie die stolzen Geschöpfe aus der höfischen Umgebung in fieberhafte Erregung. Es ist daher kein Zufall, daß der Herzog von Nemours und die Prinzessin von Cleves, die sich nie zuvor gesehen haben, sich zum ersten Mal auf einem Ball begegnen, wo beide im Glanze ihrer Schönheit auftreten. »Sie begannen zu tanzen, während sich im Saal ein Flüstern des Beifalls erhob.«[75] Schon bald wird der Herzog von Nemours, der sich Sorgen macht wegen eines bevorstehenden Balls, zu dem sie gehen wird und bei dem er nicht anwesend sein wird, voller Verdruß sagen, »es gäbe keine Frau, die die Sorge um ihren Putz nicht davon abhielte, an ihren Geliebten zu denken, (. . .) der Eifer, sich zu schmücken, gelte jedermann und nicht nur dem Liebhaber, denn sie wolle ja auf dem Ball allen gefallen, die sie betrachteten...«[76] Man kann das mit dieser raffinierten Form des Exhibitionismus einhergehende Hochgefühl, sich inmitten eines Publikums von Kennern zu bewegen, nicht besser beschreiben und wie sehr der Wunsch, aus Liebe einem einzigen zu gefallen, davon abweicht. Im Tanz erreicht das Glücksgefühl des sepavaner (des feierlichen Einherschreitens), einer Kreuzung aus sepaonner (sich wie ein Pfau aufspreizen) und pavane (ein aus Padua stammender langsamer und feierlicher Tanz), seinen Höhepunkt.
Madame de Sevigne erwähnt sowohl die bretonischen Bauern, »die man in einer wohlgeordneten Republik daran hindern würde zu tanzen«[77] als auch die Landadligen, »die mit Feingefühl und zauberhafter Genauigkeit Zigeunertänze und bretonische Tänze aufführen«.[78] Als eine tanzende junge Zigeunerin sie an ihre Tochter erinnerte, war sie von deren Anblick so gerührt, daß sie dem Befehlshaber über die Galeeren in Marseille schrieb und ihn bat, dem Großvater der Tänzerin, einem Galeerensträfling, sein Schicksal zu erleichtern.[79] Und ein andermal war sie entzückt darüber, wie vollkommen ein jungverheiratetes Paar, vor allem der Mann, vor ihren Augen tanzte: »Madame de Chaulnes, die zu ihrer Zeit gut getanzt hatte, war außer sich und sagte, nichts dergleichen je gesehen zu haben.«[80] Eine bezeichnende Wortwahl, denn die Gesellschaft des Ancien Regime war für jedermann voller Zwänge. Man entfloh ihnen, so gut man konnte: die Männer flüchteten in die Gewalt (in den Krieg oder die Jagd), in die Arbeit, ins Studium, ins Spiel und in Ausschweifungen, die Frauen in die Beschäftigung mit häuslichen Angelegenheiten, in Geselligkeit, in die Galanterie und Intrige. Ihren Geist konnten Frauen lediglich mittels Lektüre von Romanen oder durch Frömmigkeit befreien und ihren Körper nur durch den Tanz. Restif de la Bretonne zum Beispiel wußte, daß die jungen Mädchen auf dem Land »sich alles gönnen, solange sie frei sind, da sie wissen, daß sie auf alle Vergnügungen verzichten müssen, wenn sie erst einmal verheiratet sind (...) Diejenigen, die heute tanzen und lustig sind, werden eines Tages ohne Bedauern arbeitsame Mütter.« Hingegen »kann man sehen, wie diejenigen, die von ihren Müttern oder dummen Pfarrern daran gehindert wurden zu tanzen, es ihr Leben lang bedauern«[81] - so wichtig war diese kurze Befreiung, die Jugend und Glück bedeutete, für ihr späteres Leben. Durch diesen einzigartigen Autor lernen wir die Welt der Bauern kennen, die bis dahin als der literarischen Erwähnung nicht würdig befunden worden war und die selbst kaum Zugang zur Literatur hatte, da besonders die Frauen Analphabetinnen waren. Somit wurde der Tanz zum bevorzugten Mittel, um der belastenden Wirklichkeit des Alltags zu entfliehen.
Wievielen Frauengestalten sind wir von Ronsard bis Restif begegnet! Ist es illusorisch, anhand so weniger Zeugnisse einerseits ihre spezifische (für die Männer undurchsichtige) Sphäre und andererseits den allmählichen Autonomiegewinn der Frauen gegenüber den Männern erkannt haben zu wollen? Diese den Frauen der Aristokratie oder den reichen Witwen und einigen wenigen Kurtisanen des 16. Jahrhunderts vorbehaltene Autonomie, die zuerst im Rahmen einer vor allem durch den Roman verkörperten »Gegenkultur« erträumt wurde, gewann nach und nach an Boden. Sie faßte langsam Fuß und verbürgerlichte sich im 17. und 18. Jahrhundert mit der Urbanisierung, der Wissensverbreitung, der Nachahmung höfischer Sitten, der Entstehung einer Freizeitkultur und der Schaffung von Berufen, die es den Frauen erlaubten, ohne männliche Hilfe zu überleben (aber auch ohne Kinder, wenn sie diese nicht einer Amme übergeben konnten). So gab es vor allem Näherinnen und Händlerinnen, in den Städten auch schon einige Geschäftsfrauen, zu einem Zeitpunkt also, als Restif nur Bäuerinnen kennt, die »von der Last des Haushaltes oder von den Schlägen brutaler Ehemänner gebeugt« sind.
Wie in dem bekannten Märchen bekommt jede Frau eines Tages, wenn sie in den Spiegel schaut, zu hören, daß sie nicht mehr die schönste sei (und jeder Mann, daß er alt geworden sei). Im Spiegel der Literatur konnte eine jede sich ihren Träumen hingeben und zugleich etwas erfahren über die Macht ihrer Reize, aber auch über deren Vergänglichkeit, über die Unbeständigkeit der Männer und über die Vorteile der Ehe, über die Notwendigkeit, tugendhaft zu sein (oder zu scheinen), und über die sündige Wollust. Frauen lernten anscheinend, mit diesen Widersprüchen zu leben, indem sie sowohl das taten, was sie tun sollten, als auch das, was sie nicht tun sollten, und sowohl unbefangen freizügig als auch gewissenhaft fromm waren und umgekehrt. Könnte die Literatur für Frauen der Weg zur Erkenntnis gewesen sein? Die Frage ist nicht einfach und keineswegs abschließend beantwortet. Schriftsteller beschrieben auch diejenigen Frauen, die nicht lasen und sich damit begnügen mußten zu tanzen, wie die Zikaden in der bekannten Fabel. Wenn eine ganze Gesellschaft, die durchdrungen war von Literatur, von Musik und Tanz, besonders die Oper so kultisch feierte, konnte dann nicht ein jeder sich in der Oper, wo Romanhelden sangen und tanzten, im irdischen (das Adjektiv ist wichtig) Paradies wähnen? Jede Gesellschaft braucht ihre Träume, nicht nur die Frauen, sondern sicherlich auch die Männer. Cosi fan tutte, cosi fan tutti.
Aus dem Französischen von Roswitha Schmid