Abschließend sollen noch einige wesentliche Problembereiche zur Sprache kommen. Neben den allgemeinen, eher methodisch interessanten Konsequenzen unserer Ergebnisse für die Dunkelfeldforschung wollen wir hier umreißen, inwieweit die vorgelegten Informationen den Bereich abweichenden Verhaltens von Mädchen erhellen und welche Schlußfolgerungen daraus zu ziehen sind.
Konsequenzen für die Dunkelfeldforschung
Die aufgetauchten Zweifel bezüglich der Gültigkeit der Erfassung selbstberichteter Delinquenz als Indikator für tatsächliche Delinquenz (Formulierung des Delinquenzfragebogens, Diskrepanz zwischen selbstberichteter und polizeilich registrierter Delinquenz) behalten ihre Berechtigung insofern, als eine Bestätigung der Hypothesen anhand der selbstberichteten Delinquenz nicht möglich war. Allerdings zeigen sich Tendenzen zur Verifikation der angeführten Hypothesen, wenn man die erste Gruppe mit selbstberichteter Delinquenz (vorwiegend unerlaubter Lokalbesuch und Alkoholgenuß), von der anzunehmen war, daß sie am ehesten unwahre Angaben bezüglich ihrer Delinquenz macht (4.4), außer acht läßt.
Daraus, sowie aus dem Zusammenhang zwischen Selbstangabe und Registrierung, und aus der Tatsache, daß Mädchen mit emanzipatorischem Leitbild »ehrlicher« sind, lassen sich drei Konsequenzen für die Dunkelfeldforschung bzw. die Feststellung von Delinquenzbelastung allgemein ableiten:
- Die sozial negative Bewertung von Delikten spielt bei einer Selbstberichtung abweichenden Verhaltens eine größere Rolle als bislang angenommen.
- Neben der sozial negativen Bewertung von Delikten wird eine Selbstangabe abweichenden Verhaltens dadurch beeinflußt, ob erfragte Delikte bei der Polizei registriert sind oder nicht.
- Bezüglich einer Selbstberichtung von Delikten sind darüber hinaus noch eigene Situationsdefinitionen der Befragten zu berücksichtigen, da damit die Art des abweichenden Verhaltens wie auch die Tendenz zur Selbstberichtung zusammenhängen.
Vermutliche Delinquenzbelastung von Mädchen
Der von uns in These 10 formulierte Zusammenhang, daß Frauen zum Teil deswegen einen schwierigeren Zugang zu illegitimen Mitteln haben, weil allgemein abweichendes Verhalten von Frauen negativer beurteilt wird als das von Männern, muß nach unseren Ergebnissen angezweifelt werden. Von Frauen begangene Delikte werden zwar negativer bewertet, doch ist daraus nur eine geringere Tendenz zur Selbstberichtung dieser Delikte abzuleiten, zumal dann, wenn sie polizeilich registriert sind. Es läßt sich durch unser Material nicht nachweisen, daß sozial negativ bewertete Delikte um so weniger begangen werden, je negativer sie bewertet werden. Das heißt, daß die negative Bewertung keinen Einfluß auf die Begehung oder Nichtbegehung eines Deliktes hat, sondern allenfalls das Risiko seiner Entdeckung.
Daher — und bei Beachtung einer allgemeinen Delinquenzbelastung auch von Mädchen — muß die in The»e 10 gemachte Aussage, daß Mädchen in geringerem Maße abweichendes Verhalten zeigen als Jungen, weil ihnen legitime Mittel zur Erreichung ihrer Ziele leichter und illegitime Mittel schwerer zugänglich seien, eingeschränkt werden. Unsere Ergebnisse legen die Vermutung nahe, daß die vorzugsweise von Mädchen begangenen Delikte — wie Eigentumsdelikte im sozialen Nahraum und Kaufhausdiebstähle — wesentlich häufiger begangen werden, als überhaupt bekannt wird.
Kompensatorisches abweichendes Verhalten, das die Delikte im sozialen Nahraum beinhaltet, tritt in unserer Untersuchung am häufigsten auf, obwohl gerade bei diesen Delikten die Neigung zur Selbstberichtung gering und das Dunkelfeld riesig sein müssen. Denn einerseits ist fraglich, ob bei Delikten im sozialen Nahraum den Betroffenen eine Schädigung in jedem Falle bewußt wird. Andererseits ist das Bekanntwerden von solchen Delikten besonders stark von der Anzeigebereitschaft der Opfer abhängig, die wahrscheinlich dann von einer Anzeige absehen, wenn damit das soziale Ansehen des Nahraums (z.B. der Familie) gesichert werden kann. Spielt dies — wie vielleicht bei ohnehin gestörten Familienverhältnissen — keine Rolle, so erfolgt eine Anzeige leichter, zumal wenn enttäuschte elterliche Autorität hilflos nach der Macht staatlicher Instanzen ruft. In solchen Fällen setzt der Anzeigeerstatter oft erstmals eine öffentliche Strafverfolgung in Gang, die —
insbesondere für Jugendliche — häufig weitreichende unwiderrufliche Konsequenzen für den weiteren Lebensweg nach sich zieht.
Die zweitgrößte Gruppe in unserer Stichprobe sind die Mädchen mit rollenstützendem abweichenden Verhalten (nach Selbstberichtung ist es sogar die größte Gruppe), das vor allem den Kaufhausdiebstahl beinhaltet. Diese Art abweichenden Verhaltens zeigte sich vor allem bei Mädchen mit traditionellem Leitbild. Jedoch begehen, wie wir festgestellt haben, auch Mädchen mit emanzipatorischem Leitbild Kaufhausdiebstähle. Die starke Konsumorientierung der befragten Mädchen (s. 5.8) mit der Betonung vorteilhaften Herausstellens des eigenen Aussehens läßt den Schluß zu, daß der Erwerb von Attributen zur Ausstattung der eigenen Person nicht nur für das traditionelle Ziel der Partnersuche, sondern ebenso für den beruflichen Erfolg als wichtig angesehen wird. Daraus folgt, daß ein illegitimes Mittel wie der Kaufhausdiebstahl nicht nur bei Orientierung an traditionellen Leitbildern, sondern auch bei Vorliegen eines emanzipatorischen Leitbildes als rollenstützend gelten kann. Kaufhausdiebstahl ist zudem ein besonders leicht zugängliches illegitimes Mittel.
Der gesamte Aufwand verkaufsfördernder Maßnahmen (Werbung, Warenanordnung usw.) zielt ja unmittelbar auf die Ausschaltung aller kaufhemmenden Faktoren; das förmliche »Sichaufdrängen« von Konsumartikeln aller Art kommt somit den aufgewiesenen Bedürfnishaltungen entgegen. Die resultierende situationsspezifische Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren wird jedoch im Falle des Diebstahls einseitig als abweichendes Verhalten des Konsumenten definiert. Damit wird beispielhaft deutlich, wie der Zugang zu illegitimen Mitteln durch sozialstrukturelle Bedingungen — zum Teil systematisch — erleichtert wird.
Das Dunkelfeld abweichenden Verhaltens von Mädchen erweitert sich außerdem noch durch die ganz selten zur Anzeige gebrachten Hehler- und Begünstigungstätigkeiten, an denen Mädchen und Frauen vermutlich erheblich beteiligt sind (s. Brauneck 1974, S. 57).
All diese empirisch belegten Indizien für die Ubiquität von Delinquenz bei Mädchen (vgl. auch Kaiser 1973, s. 152) widersprechen der Annahme, daß Mädchen sich in wesentlich geringerem Umfang abweichend verhalten als Jungen. Über das genauere Verhältnis der Delinquenzbelastung von Mädchen zu der von Jungen müßten gezielter angelegte Untersuchungen Antwort geben können. Als gesichert kann jedoch gelten, daß Mädchen sich anders abweichend verhalten als Jungen, weil sie aufgrund ihrer spezifischen Sozialisation Rollenleitbilder internalisiert haben, die unterschiedliche Problemlösungsmuster bedingen.
Mädchenkriminalität und soziale Selektion
Die Frage, warum aber relativ wenige Mädchen und Frauen offiziell als »kriminell« bezeichnet werden, hängt eng mit der folgenden Frage zusammen, die sich aus unseren Ergebnissen herleitet. Warum unterscheiden sich die Mädchen aus der Auffälligen- und der Kontrollgruppe lediglich dadurch, daß bei der Polizei registrierte Mädchen eher der Unterschicht angehören als nichtregistrierte Mädchen? Annahmen über ein wesentlich stärkeres Ausmaß abweichenden Verhaltens bei Mädchen aus der Unterschicht müssen wir aufgrund unserer Untersuchungsergebnisse verwerfen.
Auf dem Hintergrund unserer Ergebnisse können wir zwei wichtige Aussagen machen:
- Mädchen aus der Mittelschicht können gleichermaßen als delinquenzbelastet gelten wie Mädchen aus der Unterschicht, jedoch werden Mädchen aus der Unterschicht mit größerer Wahrscheinlichkeit von offiziellen Sanktionsinstanzen registriert.
- Mädchen insgesamt sind wahrscheinlich nicht viel weniger delinquenzbelastet als Jungen — wenngleich in anderer Form; sie haben jedoch eine wesentlich geringere Chance, von offiziellen Sanktionsinstanzen registriert zu werden.
Bei der angezeigten Ubiquität abweichenden Verhaltens wird deutlich, daß soziale Kontrollinstanzen längst nicht alle devianten Akte erfassen und sanktionieren, sondern notgedrungen selegieren müssen (vgl. auch Kaiser 1973, S. 152). Diese Selektion geschieht offensichtlich nicht zufällig, sondern nach bestimmten Kriterien, wobei wechselseitig die Einschätzung von sozialem Status und Geschlecht auf der einen und die Bewertung bestimmter Deliktformen auf der anderen Seite ausschlaggebend zu sein scheinen.
Es liegt nahe, hier die Annahmen des Labeling Ansatzes (u.a. Becker 1963; Rubington/Weinberg 1968; Sack 1972) zur Erklärung heranzuziehen. Diese besagen, auf das Wesentlichste verkürzt, daß solche Verhaltensweisen und Einstellungen die Zuordnung des Etiketts (label) »kriminell« durch Kontrollinstanzen steuern, die den sozialen Status oder sonstige Gruppenzugehörigkeiten (wie Geschlecht) kennzeichnen. Die Auswahl solcher und die Vernachlässigung anderer Entscheidungskriterien durch die Sanktionsorgane ergibt eine spezifische Verteilung des Status »kriminell«. Die Tatsache, daß diese Zuordnung nach Positionen geringer sozialer Wertschätzung und damit verknüpfter Verhaltensmuster geschieht, weist auf die Funktion eines solchen Zuschreibungsvorgangs hin: er soll in indirekter Form die vorliegende soziale Ordnung legitimieren.
Die Orientierung des Zuschreibungsprozesses am geringeren Sozialstatus der Betroffenen kann aus dem vorliegenden Material zusätzlich durch folgende Beobachtung belegt werden: Bei den Mädchen der Auffälligengruppe, die eher der Unterschicht angehören, war in über der Hälfte der Fälle der Anlaß des ersten Polizeikontakts keine strafbare Handlung. Mädchen aus der Kontrollgruppe hingegen, in der die Mittelschicht überrepräsentiert ist, wurden in keinem Fall wegen ähnlicher, nicht strafbarer Handlungen bei der Polizei bekannt (s. 4.1).
Sanktionsinstanzen definieren als ihr Ziel die Einschränkung abweichenden Verhaltens und damit der Verfügbarkeit illegitimer Mittel. Auf der einen Seite treffen sie jedoch nur eine relativ geringe, aber spezifische Auswahl von »Tätern«. Auf der anderen Seite wird durch den umrissenen Zuschreibungsprozeß in jedem Falle die Verfügbarkeit legitimer Mittel eingeschränkt und damit zugleich ein vermehrter Druck auf abweichendes Verhalten hin ausgeübt. Das heißt, Sanktionsinstanzen sind an der Entstehung delinquenter Verhaltensweisen zumindest mitbeteiligt.
Von daher sind alle »Resozialisierungsmaßnahmen« wegen ihres stigmatisierenden Charakters von vornherein fragwürdig, wie uns das Franz von Liszt bereits 1900 zur Kenntnis gebracht hat. »Wenn ein Jugendlicher... ein Verbrechen begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestrafen« (zit. nach Kaiser 1973, S. 108)
Auch dies bestätigt die Entstehung von Devianz als einen Prozeß, in dem Interaktionen zwischen einem Handelnden und seiner sozialen Umwelt aufeinanderfolgen. Die Art abweichenden Verhaltens wird dabei entscheidend von der eigenen Situationsdefinition des Handelnden bestimmt, was in dieser Untersuchung empirisch aufgezeigt werden konnte.