1990 jährte sich Agatha Christies Geburtstag zum hundertsten Mal, und dieses Ereignis gab Anlaß für zahlreiche Gedenkveranstaltungen. Unter anderem boten Reisebüros Fahrten zu den Schauplätzen der Christie-Krimis an, wobei die teuerste natürlich eine Reise mit dem Orientexpreß war. Wer Miss Marples Heimatort St. Mary Mead besuchen wollte, konnte ihn wohl am ehesten in den Dörfern der Grafschaften um London entdecken, die an Orte erinnern, wie Agatha Christie sie in ihrer Kindheit kannte. Einige von ihnen haben sich mit großem Kostenaufwand und gegen einigen Widerstand der Einheimischen ihre ländliche Atmosphäre der Jahrhundertwende bewahrt. Noch 1975 erklärte Agatha Christie, daß Miss Marples Dorf »für mich der Wirklichkeit so nahe kommt, wie es nur irgend geht - und sogar jetzt gibt es noch Dörfer dieser Art«. Auch Miss Marple selbst, oder zumindest eine Dame, die ihr bemerkenswert ähnlich ist, läßt sich in manchen dieser Dörfer finden, denn sie verkörpert einen offenbar unverwüstlichen Charakter, die englische »alte Jungfer«. Ihr Name, im Englischen eine Quelle für komische Wortspiele, die fast von Oscar Wilde stammen könnten - »ich habe den Tisch ein bißchen aufgemarpelt«* (* I have been doing a spot of Marpling ist natürlich im Deutschen nicht adäquat wiederzugeben, weil in Marple der marplot, der Quertreiber, Störenfried, Spielverderber steckt, den Miss Marple so erfolgreich spielt, indem sie den Mörderinnen das Handwerk legt.) - geht auf Marple Hall zurück, ein altes und sehr englisches Landhaus in Cheshire, das vor dem Abriß stand. Agatha Christie besuchte es, um Möbel zu kaufen, und neben anderen Überbleibseln aus diesem Monument einer vergangenen Epoche rettete sie einen Namen:
»Es gab dort eine sehr gute Auswahl schöner alter Möbel aus der Zeit Elisabeths und Jakobs I., ich kaufte zwei Eichenstühle, die ich noch immer besitze - und da ich gerade einen Namen für meine 'alte Jungfer' suchte, nannte ich sie Jane Marple« (J. Morgan: Agatha Christie, S.176).
Obwohl Miss Marple viele literarische Vorgängerinnen hat, entspringen einige ihrer Charakterzüge Agatha Christies persönlicher Erfahrung, den Erinnerungen an ihre Großmutter in Ealing - 'Tantchen Oma' - und an die Freundinnen ihrer Großmutter: ... einer alten Dame von der Art, wie meine Großmutter in Ealing sie zu Busenfreundinnen gehabt hatte und wie ich sie als kleines Mädchen an vielen Orten kennengelernt habe. Nicht, daß Miss Marple ein Abbild meiner Großmutter gewesen wäre -sie war viel umständlicher und altjüngferlicher als meine Großmutter. Nur eines hatte sie mit ihr gemeinsam: so heiter und aufgeschlossen sie auch war, erwartete sie doch von ihren Mitmenschen immer nur das Schlechteste - und behielt gewöhnlich mit ihren düsteren Voraussagen recht. ... Jedenfalls stattete ich Miss Marple mit Omas prophetischen Gaben aus. Es fehlte Miss Marple nicht an Güte, aber sie traute den Menschen nicht. (Meine gute alte Zeit, S.439f.)
Bevor 1930 der erste Miss Marple-Roman, Mord im Pfarrhaus, erschien, hatte Agatha Christie bereits neun Kriminalromane geschrieben und mehrere andere Detektivgestalten geschaffen: Hercule Poirot, Tommy und Tuppence Beresford und Superintendent Battle. Insgesamt sollte sie schließlich mehr als siebzig Detektivromane (und eine Handvoll »richtiger« Romane) schreiben, von denen siebzehn Miss Marple-Krimis sind. Miss Marple blieb Agatha Christies Lieblingsdetektivgestalt, während Poirot ihr irgendwann langweilig wurde und sie mehrmals versuchte, ihn umzubringen. Sie wehrte sich gegen den Vorschlag, Poirot und Miss Marple miteinander bekanntzumachen:
... warum sollte ich? Ich bin ganz sicher, die beiden würden das gar nicht zu schätzen wissen. Hercule Poirot, ein Egoist reinsten Wassers, würde es sich verbitten, von einer alten Dame belehrt zu werden. Er war ein berufsmäßiger Detektiv und würde sich in Miss Marples Welt bestimmt nicht wohl fühlen. (Meine gute alte Zeit, S.437)
Die Gestalt von Miss Marple war für Agatha Christie und ihre Leserinnen auch deshalb so anziehend, weil sie - im Gegensatz zu Poirot, der ein Außenseiter und in der Regel nur Gast in der Welt des Verbrechens ist - selbst dieser kriminellen Gesellschaft angehört, die in ihrem Fall auf den Mikrokosmos eines Dorfes beschränkt ist. Ausschlaggebend für ihren Amateurstatus ist, daß Miss Marple der Gemeinschaft angehört, in der sie ihre Ermittlungen durchführt. Im Gegensatz zu den Berufsdetektiven muß sie nicht von außen »hereingerufen« werden. Über Miss Sheppard, Miss Marples Vorgängerin in Alibi, sagt Agatha Christie: »Mir gefiel die Rolle, die sie im Leben des Dorfes spielte: und mir gefiel der Gedanke, das Geschehen im Dorf auf den Arzt und seine herrische Schwester zu projizieren.« (Meine gute alte Zeit, S.448) Miss Marples Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft verleiht ihr eine moralische Kraft, die sie nicht besäße, wenn sie zur Aufklärung des Verbrechens von außen käme. Denn damit ist nicht nur der Verbrecher einer von uns (bei Agatha Christie kommt es selten vor, daß der Mord von einem oder einer Fremden begangen wird), sondern auch die Detektivin, und ihre ständige Anwesenheit erinnert uns an die Nähe und Unausweichlichkeit der Strafe. Wenn Poirot als Detektiv ein Deus ex machina ist, so stellt Miss Marple so etwas wie ein soziales Gewissen dar, das zwar meist im Verborgenen schlummert, doch jederzeit zum Leben zu erwecken ist. Daß Agatha Christie ihre Detektivgeschichten in diesen moralischen Kategorien betrachtete, wird in der Autobiographie deutlich:
»Die Detektivgeschichte war die Geschichte einer Jagd, und sie hatte auch eine Moral; sie war tatsächlich nichts anderes als die klassische Jedermann-Moralität, die Niederlage des Bösen und der Sieg des Guten. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs war der Übeltäter kein Held - damals aalten wir uns noch nicht in psychologischen Erklärungen. Wie alle, die Bücher schrieben oder Bücher lasen, war auch ich gegen den Verbrecher und ftr das unschuldige Opfer.« (Meine gute alte Zeit, S.441)
Dann stellt sie die Formen der Detektivgeschichte vor, die eine Autorin wählen kann - den heiteren Thriller beispielsweise, oder die raffiniert ausgeklügelte Detektivgeschichte mit einer komplizierten Handlung -, und erwähnt auch noch eine dritte Art, die sie offenbar sehr schätzt, nämlich die »Detektivgeschichten, die von einer Art Leidenschaft geprägt sind - von dem leidenschaftlichen Verlangen, dem Unschuldigen zur Seite zu stehen. Denn auf die Unschuldigen, nicht auf die Schuldigen, kommt es an.« (Meine gute alte Zeit, S.442)
Diese Äußerungen schrieb Christie im hohen Alter. Sie genießen den Vorzug eines Rückblicks und sind außerdem Teil einer Tirade gegen die Schlechtigkeit und die moderne Nachsicht ihr gegenüber. Die Marple-Krimis können noch mehr als die Poirot-Romane als moralische Erzählungen* (* Morality Tales im strengen Sinne hängen mit den Moralities oder Moralitäten zusammen, christlich-allegorischen Schauspielen des vierzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts, in denen das Widerspiel von Lastern und Tugenden dargestellt wurde).in diesem Sinne gesehen werden. Außerdem wird eine Entwicklung erkennbar, die von der Heiterkeit der frühen Romane wie Mord im Pfarrhaus über komplizierte Handlungsstränge wie in Ein Mord wird angekündigt bis zu den späteren, düstereren Detektivromanen führt, »die von einer Art Leidenschaft geprägt sind«. Das Schicksal in Person und Ruhe unsanft, in denen es jeweils darum geht, fälschlich Angeklagte zu entlasten, sind Beispiele für diese »leidenschaftliche« Seite in Agatha Christies Werk.
Entsprechend entwickelt sich Jane Marple im Lauf der Romane von einer eher komischen, klatschsüchtigen älteren Dame zu einer sehr viel eindrucksvolleren Gestalt, einer Schicksalsgöttin, Rächerin der Unschuldigen und Agatha Christies Werkzeug der Gerechtigkeit im Detektivroman der Leidenschaft. Sie hätte kaum eine bessere Figur zur Verteidigung der Unschuldigen erfinden können, als diese mahnende Gestalt aus der Kinderzeit, aus Märchen und moralischen Erzählungen: die unverheiratete Tante, die altjüngferliche Lehrerin, die weise Frau des Dorfes. Unbelastet von Sexualität und nicht abgelenkt durch enge emotionale Bindungen ist eine solche Gestalt dazu prädestiniert, die Dinge klar zu erkennen und als Vertreterin der Moral unvoreingenommen zu handeln.
Die Jahre zwischen den Weltkriegen bildeten die Blütezeit der alten Jungfer, und sie waren auch, wie Agatha Christie feststellt, eine günstige Zeit für Detektivliteratur. Der Kriminalroman ging auf kontrollierte, saubere und intellektuelle Art mit Gewalt um, brachte das Böse zur Strecke, verstieß den Verbrecher aus der menschlichen Gemeinschaft, machte einfache moralische Urteile und Charakterbewertungen zu Bestandteilen des Spiels. Mit all dem vermittelte dies Genre einer Gesellschaft, die in den Jahren zwischen 1914 und 1918 zu viele wirkliche Todesfälle und ein bisher ungeahntes Ausmaß an Gewalt erlebt hatte, ein Gefühl von Macht und Sicherheit. Zudem war diese Zeit offenbar besonders günstig für Autorinnen von Kriminalromanen - ermutigt durch die Erfahrungen der Kriegszeit und die neugewonnenen Frauenrechte kultivierten Frauen das Genre des Detektivromans und machten es zu einem Vehikel für ihr eigenes logisches Denkvermögen und ihre moralische Urteilsfähigkeit. Agatha Christies spezifischer Beitrag zu dieser weiblichen Aneignung des Genres war ihre Schilderung eines scheinbar normalen Milieus, der kleinen, untadeligen Gemeinschaft, die dennoch einen Mörder beherbergt. In dieser Hinsicht sind die Miss Marple-Krimis mit ihren dörflichen Schauplätzen, dem Klatsch auf den Tee-Partys und anderen altjüngferlichen Beschäftigungen die charakteristischsten Romane, die Agatha Christie geschrieben hat.
Eine ganz normale Welt, die durch einen Mörder aufgeschreckt wird, den die Beteiligten in manchen Fällen sogar kennen - diese Vorstellung findet sich bei Agatha Christie bereits in einem immer wiederkehrenden Alptraum, unter dem sie als Kind litt. Der Gedanke liegt nahe, den Ursprung all ihrer Kriminalromane in der Notwendigkeit zu sehen, den Alptraum über den »Pistolenmann« auszutreiben, den sie in Das unvollendete Bildnis wie auch in ihrer Autobiographie beschreibt. Dieser Alptraum besitzt ein psychologisches Schema, das einem typischen Christie-Roman und insbesondere einer Miss Marple-Geschichte ähnelt:
»Ich nannte ihn Pistolenmann, weil er mit einer Pistole bewaffnet war, nicht, weil ich Angst hatte, daß er auf mich schießen würde. Die Pistole gehörte einfach zu seiner Erscheinung, der eines Franzosen in graublauer Uniform ... Die Pistole war eigentlich mehr eine Muskete. Seine bloße Anwesenheit war erschreckend. Die Träume fingen ganz normal an: eine Teegesellschaft oder eine Promenade mit verschiedenen Leuten, für gewöhnlich irgendeine bescheidene Festlichkeit. Dann überkam mich plötzlich Unbehagen: es war jemand da, der nicht hierhergehörte. Angst stieg in mir auf. Dann sah ich ihn - er saß am Teetisch, spazierte den Strand entlang, nahm an einem Spiel teil. Seine blaßblauen Augen begegneten den meinen, und ich erwachte schreiend. ... Später veränderte sich der Traum, in dem Maß, wie der Pistolenmann sich veränderte: Wir saßen manchmal um einen Teetisch, und ich richtete meine Blicke auf eine Freundin oder auch ein Mitglied der Familie, als mir plötzlich klarwurde, daß es nicht Dorothy war oder Phyllis oder Monty oder Mutter oder wer immer. Die blaßblauen Augen in dem vertrauten Gesicht begegneten den meinen, und ich wußte: in Wirklichkeit war es der Pistolenmann! (Meine gute alte Zeit, S.33-34)«
Eine »bescheidene Festlichkeit« ist die günstige Gelegenheit für viele von Agatha Christies Morden. Das gewisse Prickeln, das ihre Romane erzeugen, stammt aus der Einsicht, daß die Gefahr nicht unbedingt von außen kommt, sondern Teil des Alltags ist: Der Mörder ist einer von uns. Im Kriminalroman wird der Alptraum spielerisch heraufbeschworen und dann durch die Entdeckung und Gefangennahme des Verbrechers verscheucht. Diese beruhigende Auflösung kann süchtig machen, wie die riesigen Verkaufserfolge von Agatha Christies Romanen zeigen. Zudem ist die Auflösung ausgesprochen konservativ, denn in der nach Aufklärung des Verbrechens wiederhergestellten Welt herrschen im allgemeinen unveränderliche und idealisierte Verhältnisse, die traditionellen Klassen- und Geschlechtertrennungen werden aufrechterhalten und privates Eigentum wird seinen rechtmäßigen Erben zurückgegeben. Wie Cora Kaplan feststellt, verbreiten Agatha Christie und die anderen Königinnen des Kriminalromans in der Zeit zwischen den Weltkriegen die Botschaft der Nostalgie. In ihren Romanen verteidigen sie oft eine soziale Ordnung, »die eindeutig dem Untergang geweiht ist, falls sie nicht schon seit einigen Jahrzehnten aus der wirklichen Welt verschwunden ist« (C. Kaplan: An Unsuitable Genre for a Feminist, S.18f.).
Bestimmt vermittelt die Detektivgeschichte Nostalgie und Sicherheit, aber sie besitzt eine zusätzliche Anziehungskraft, die vielleicht noch grundlegender ist und mit dem Akt des Lesens selbst zusammenhängt. Und zwar handelt es sich um ein Element, das sich auch der Überraschungsbestseller der letzten Jahre, Umberto Ecos Der Name der Rose, zunutze macht. Dieser Roman spielt in einer Bibliothek; der Detektiv Bruder William besitzt als einziges Hilfsmittel eine Brille, und die Morde drehen sich um einen verlorenen Aristoteles-Text. Mit anderen Worten, das Buch ist ein (Detektiv-) Roman über das Lesen und Schreiben, der in einer höchst selbstbewußten Art zeigt, daß Lesen ein detektivischer Vorgang ist. Die Detektivgeschichte ist also Lesen in seiner grundlegendsten Form, ein Paradigma dessen, was passiert, wenn wir ein Buch vorne aufschlagen und bis zur schließlichen Auflösung durchlesen. Zumindest soweit es den traditionellen Roman betrifft, bedeutet Lesen, daß wir einer Handlung folgen wie ein Detektiv den Spuren des Verbrechers: Zeichen müssen gedeutet, Indizien erfaßt und im Gedächtnis behalten, die handelnden Figuren eingeschätzt und auf der Basis des Beweismaterials beurteilt werden. In einem »gewöhnlichen« Roman werden diese Tätigkeiten durch den Realismus des Textes überlagert, aber sie sind dennoch vorhanden, denn ohne diese Funktionen des Lesens wären wir nicht in der Lage, den Sinn einer Geschichte zu verstehen und ihr Geheimnis zu lüften. Im Detektivroman wird diese grundlegende Funktion des Lesens zum wesentlichen Kennzeichen, und der Detektiv eine Art Ersatzautor, der uns (nicht immer ganz zuverlässig) durch die erzählte Landschaft führt.
Dazu kommt, daß im Detektivroman eine übertriebene, wenn auch rudimentäre aristotelische (ohne Ecos Roman zu nahetreten zu wollen) Katharsis stattfindet, in deren Verlauf die Leserinnen durch Mitleid und Schrecken geläutert werden, und die sich auch im Erzählmodell von Krise und Lösung zeigt. Ein derartiges Modell findet sich zwar auch in der Komödie und in der Tragödie, aber im Detektivroman wird es so offensichtlich herausgearbeitet, daß es eine eigentümliche Befriedigung bietet. Wie beim Betrachten von Schattenspielen oder Kasperletheater gefallen uns nicht Aufbau, Dichte oder Komplexität, sondern die knappe Definition von Gefühl und Handlung; hier wird menschliches Leben in seiner elementarsten und schlichtesten Form anschaulich gemacht. Und der erzählerische Rahmen einer Detektivgeschichte besitzt, trotz aller kunstvoll ausgearbeiteten Indizien und Nebenhandlungen, eine ähnlich befriedigende, archetypische Einfachheit.
Weil der Akt des Lesens im Dektektivroman so sehr an der Oberfläche stattfindet, beschäftigen sich die Leserinnen direkt und aktiv mit dem Text. Detektivromane - und das gilt besonders für die Romane von Agatha Christie - sind oft einfach geschrieben, haben kurze Kapitel und wenig atmosphärische Hintergrundbeschreibung, und die Figuren sind stereotyp charakterisiert. Das soll nicht unbedingt heißen, daß Krimis einfach zu lesen sind - häufig verlangen sie eine scharfsinnige und konzentrierte Aufmerksamkeit auf das Detail -, doch Vorrang hat die Handlung, in der eine Folge von Ereignissen konstruiert wird, die die Katastrophe, den Mord, erklären. Die Leserinnen werden fest ebensosehr wie der Detektiv in diese Konstruktion der Handlung eingebunden, sie können sich darauf konzentrieren, ohne sich allzusehr um andere Erzählelemente wie komplexe Figurenpsychologie oder sozialen Realismus kümmern zu müssen, die die Lektüre gewöhnlicher Romane erschweren. Wie wir im ersten Kapitel zeigen werden, vertritt der Detektivroman eine ausgesprochen individualistische Ideologie, nicht zuletzt deshalb, weil die Leserinnen beim Versuch, zusammen mit dem Detektiv den Fall zu lösen, in eine Art Do-it-yourself-Handlung einbezogen und aktiv am Prozeß des Erzählens selbst beteiligt sind.
Vielleicht erklärt dies, warum Kriminalromane süchtig machen können und warum sie Wegwerfartikel sind. Auf jedem Flohmarkt finden sich (neben anderen Genreformen wie dem Liebesroman und dem Western) Berge von ausrangierten Krimis, aus denen sich Süchtige gierig ihre Lieblingsautorinnen heraussuchen, um sie später auf dem nächsten Flohmarkt weiterzuverkaufen. W.H. Auden beschreibt die suchterzeugende wie zugleich flüchtige Natur des Genres, wenn er erzählt, daß er, sobald er einen Detektivroman begonnen hat, »weder arbeiten noch schlafen kann, ehe ich ihn zu Ende gelesen habe, [aber] ich vergesse die Geschichte, sobald ich sie beendet habe, und verspüre nicht den Wunsch, sie noch einmal zu lesen« (W.H. Auden: The Guilty Vicarage, S.146). Ebenso ist es möglich, daß wir uns nicht mehr daran erinnern können, wer der Mörder ist; wir kennen zwar die Abfolge der Ereignisse und das Verbrechen selbst, aber nach einer Weile ist die entscheidende Gestalt des Mörders aus dem Gedächtnis entschwunden, der Pistolenmann hat sich ins Unbewußte zurückgezogen, um den nächsten Alptraum abzuwarten. Vielleicht vergessen wir den Mörder und sogar die ganze Geschichte, weil wir nicht wollen, daß sie jemals endet - es soll, ähnlich wie in Tausend und eine Nacht, immer wieder die gleiche Geschichte von Verfolgung und Gefangennahme erzählt (und natürlich auch variiert) werden, bei der wir angenehm erschauern, weil uns ja in Wirklichkeit nichts passieren kann.
In Miss Marple finden all diese seelischen Bedürfnisse der Lesenden - Beruhigung, Sicherheit, Eigenständigkeit - eine Idealgestalt. Als alte Jungfer, eine verachtete und beiseitegeschobene Gestalt der patriarchalen Gesellschaft, ist sie eine bescheidene Amateurdetektivin, mit der wir uns leicht identifizieren oder der wir uns sogar überlegen fühlen können: Bestimmt könnten auch wir ohne weiteres das tun, was sie tut, könnten wir selbst die Detektivin sein und Ordnung in eine Welt bringen, die sich zeitweise im Chaos aufzulösen droht. Zudem repräsentiert Miss Marple eine stabile Welt, deren Schutz sie gewährleistet und die wir, wie trügerisch sie auch sein mag, bewahrt und wiederhergestellt wissen wollen. Sie ist Tantchen Oma, die uns die Behaglichkeit von Melissengeist und Kamillentee bietet. Sie verkörpert die Tante-Emma-Läden, in denen uns stets dieselbe Verkäuferin persönlich bedient. Sie verspricht ein strenges, aber freundliches Regiment. Offenbar repräsentiert sie auch eine nostalgische, ländliche Welt mit vertrauten Menschentypen und feststehenden Hierarchien, in der es viel freie Zeit, keine wirkliche Not, wenig Arbeit (außer für Pfarrer, Ärzte und Dienstboten) und die Geselligkeit einer engen (wenn auch klatschsüchtigen) Dorfgemeinschaft gibt. Es ist interessant, daß die jüngste Miss Marple-Renaissance, insbesondere im Fernsehen,, während des Jahrzehnts der Thatcher-Regierung eingesetzt hat. Sind es nicht genau jene von Miss Marple offensichtlich hochgehaltenen viktorianischen Werte, die uns nun wieder anempfohlen wurden? Und der Individualismus, der die wesentliche Ideologie des klassischen Detektivromans bildet, ist das nicht die Philosophie der Unternehmenskultur? Vielleicht ist es gar nicht so weit hergeholt, in den konservativen Überzeugungen Miss Marples etwas von Mrs. Thatcher zu sehen. Eine Nation, die sich für die eine begeistern konnte, begeisterte sich auch für die andere.