I
Rosa Luxemburg wurde am 5. März 1871 (dem Geburtsjahr Liebknechts) in Zamosc in Russisch-Polen als Tochter eines emanzipierten jüdischen Kaufmanns geboren. [1] Sie trat schon ganz früh einem polnischen illegalen revolutionären Zirkel bei und floh - noch nicht achtzehnjährig - über die Grenze. Nach dem Abschluß ihres Studiums lebte sie seit 1896 in Deutschland - vor der Ausweisung geschützt durch die mittels einer Scheinehe mit Gustav Lübeck erworbene deutsche Staatsangehörigkeit. Mit ihrer ganzen Kraft sturzte sie sich alsbald in die Arbeit der deutschen Sozialdemokratie. Auch als theoretische Wortführerin der deutschen Marxisten, blieb sie zugleich Internationalistin und Weltbürgerin. Nach dem Ausbruch der ersten russischen Revolution 1905 ging sie illegal nach Warschau, wo sie 1906 zusammen mit ihrem Lebensgefährten Leo Jogiches verhaftet wurde. Nach Stellung einer Kaution freigekommen, kehrte sie nach Deutschland zurück. Seit 1907 wirkte sie als Dozentin an der zentralen Parteischule der SPD. Aus dieser Arbeit erwuchs die erst nach ihrem Tode veröffentlichte »Einführung in die Nationalökonomie« sowie ihr theoretisches Hauptwerk »Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus« (1913). Für die Humanistin und Kriegsgegnerin, die schon 1900 auf dem Pariser Kongreß der II. Internationale vorhergesagt hatte, der Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung werde »durch eine durch die Weltpolitik herbeigeführte Krisis erfolgen«, und die auf den Kongressen der Internationale 1907 in Stuttgart und 1912 in Basel den Kampf gegen Krieg und Militarismus zu steigern versucht hatte, wirkten der Ausbruch des Weltkrieges und die Kriegspolitik der SPD als furchtbare persönliche Schicksalsschläge. Zusammen mit Karl Liebknecht sudite sie mühselig das kleine Häuflein kompromißloser Kriegsgegner in der SPD zu sammeln und zu organisieren - erst in der »Gruppe Internationale«, dann im »Spartakusbund«. Doch schon am 18. Februar 1915 wurde sie zur Abbüßung einer einjährigen Gefängnisstrafe festgesetzt. Am 22. Januar 1916 war sie wieder frei - doch schon am 10. Juli 1916 wurde die »Schutzhaft« über sie verhängt. Erst am 9. November 1918 öffneten sich die Gefängnistore auch für Rosa Luxemburg. Sie verzehrte sich nun im Kampf gegen die neue Ebert-Scheidemann-Regierung für die Weiterführung der Revolution, der auch die Gründung der KPD (Spartakusbund) dienen sollte. Nachdem ein Aufstand, den Rosa abgelehnt hatte, fehlgeschlagen war, wurde sie am 15. Januar 1919 zusammen mit Karl Liebknecht von Regierungstruppen festgenommen und brutal ermordet. Ihre Leiche wurde erst nach Monaten aus dem Landwehrkanal geborgen. Die Mörder wurden freigesprochen - der damalige Hauptmann Pabst lebt heute noch bei bester Gesundheit.
II
Die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts steht im Zeichen einer eigenartigen Tragik. Bei den großen Völkern des Westens war die nationale Frage schon relativ früh in einer Synthese von nationaler Einheit und bürgerlicher Freiheit gelöst worden. In Deutschland wurde die Nation erst spät - zu spät? - mit Hilfe von »Blut und Eisen« geeint. Der aus Bismarcks »Revolution von oben« resultierende typisch deutsche Konstitutionalismus begründete ein Herrschaftssystem, das vor allem auf Kosten der politischen Freiheit, die nur eine Scheinexistenz führte, funktionierte. Auch nach 1871 hatte der imperialistische Kampf gegen die »feindliche« Umwelt - ein Kampf unter autoritärer Führung und im reaktionären Geiste - das Primat. Der Schwäche der freiheitlich-revolutionär-demokratischen Kräfte entspradch die außerordentliche Stärke autoritärer-reaktionär-bürokratischer Institutionen, Kräfte und Verhaltensweisen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein überdauerte der Militär- und Polizeistaat; er war das Gegenstück einer Obrigkeitsgesellschaft und einer Untertanen-Mentalität. War dieser Staat auch kein totalitärer Staat, so war er doch ein »Überstaat«, der mit seinen Eingriffen ordnend, schützend oder unterdrüc,kend weit in die verschiedenen Lebensbereiche der Gesellschaft hineinreichte. Heinrich Manns »Der Untertan« wie auch der »Hauptmann von Köpenick« sagen über diese Seite der deutschen Wirklichkeit mehr aus als alle gelehrten Abhandlungen. Diesem historisch-sozialen Milieu ist auch die Sozialdemokratie stets verhaftet geblieben, die ja erst nach der schweren Niederlage der achtundvierziger Demokratie, also in einer restaurativen Epoche, entstanden ist. Zwar berief sie sich lange Zeit mit Stolz nicht nur auf Lassalle, sondern auch auf Marx und Engels. Sowohl die Einstellung der Mehrheit ihrer Anhänger wie auch die von ihr schon vor 1914 wirklich verfolgte Politik waren jedoch nicht die einer marxistischen Arbeiterpartei. ja, man kann sich fragen, inwiefern sie als sozialistische oder auch nur als radikal-demokratische Partei operierte. Der Aufstieg der Arbeiterbewegung fiel in eine Epoche des wirtschaftlichen Aufschwungs, der im neuen Reich besonders zu spüren war. So läßt sich eine, wenn auch noch so bescheidene, wirtschaftliche Verbesserung der Lage eines nicht unbeträchtlichen Teils der Arbeiterschaft kaum bestreiten. Vom Beginn der sechziger Jahre bis zur Jahrhundertwende waren, natürlich zum Teil auch als Folge der gewerkschaftlichen Kämpfe, die Reallöhne um nahezu ein Drittel gestiegen; danach waren sie allerdings, infolge des Ansteigens der Lebenshaltungskosten, stabil geblieben. Nicht ohne Wirkung war auch die Verkürzung des Arbeitstages vom Zwölfstundentag in den siebziger Jahren zum Zehnstundentag 1914, die Leistungen der Sozialversicherung, die Verbesserung des Arbeitsschutzes geblieben. Dem standen allerdings das anhaltende Wohnungselend sowie die zunehmende Differenzierung der Arbeiterklasse in eine Oberschicht mit kleinbürgerlichem Lebenszuschnitt, eine breite Mittelschicht und eine verelendete Unterschicht gegenüber. Im Kaiserreich sind die Institutionen und Organisationen der Arbeiterbewegung außerordentlich rasch erstarkt. Hierfür nur wenige Zahlen:
Das Vermögen der Freien Gewerkschaften stieg zwischen 1890 und 1914 von 425 845 Mark auf über 88 Millionen. Die Zahl ihrer Mitglieder wuchs im selben Zeitraum von weniger als 300 000 auf über 2,5 Millionen. Viel stärker vergrößerte sich noch der Kreis der festangestellten Funktionäre: Waren es 1900 bei den Zentralverbänden 269 gewesen, so erreichten sie bei Kriegsausbruch die stattliche Zahl von 2867. 1900 kamen also auf je 10 000 Mitglieder nur 4 hauptamtliche Funktionäre, 1914 dagegen mindestens 11. Die Gesamteinnahmen des Parteivorstandes stiegen von 232 000 Mark 1891/92 auf 1 358 000 Mark 1910/11, das Vermögen von etwa 172 000 Mark 1890 auf etwa 2 335 000 Mark. Die Parteipresse - 1912 gab es 90 Tageszeitungen! - beschäftigte 267 Redakteure, 89 Geschäftsführer, 413 Angestellte als kaufmännisches und Verwaltungspersonal, 2646 als technisches Personal und 7589 Zeitungsausträgerinnen; der Literaturumsatz der Buchhandlung »Vorwärts« belief sich 1911/12 auf 790 000 Mark. Die Partei hatte 1913/14 915 Vertreter in Landgemeinden, 2753 Stadtverordnete, 320 Mitglieder von Gemeindevorständen und Magistraten. Sie verfügte über 231 Landtagsmandate. Als Kuriosum sei erwähnt, daß sie in Schwarzburg-Rudolstadt die absolute Mehrheit im Parlament erringen konnte (9:7). Im Preußischen Abgeordnetenhaus blieb sie eine verschwindende Minderheit (10 von 443 Mandaten). In den Vertretungs- und Verwaltungskörperschaften der Arbeiterversicherung, in den Gewerbe- und Kaufmannsgerichten und den kommunalen Arbeitsnachweisen saßen bereits 1910 fast 100 000 Sozialdemokraten. Die Mitgliederzahl der SPD hatte sich in weniger als einem Jahrzehnt verdreifacht (1906: 384 000; 1914: 1 086 000). Ihre Erfolge bei den Reichstagswahlen sind geradezu sensationell: Stimmten 1871 weniger als 3% aller - natürlich nur männlichen! - Wähler für sie, so waren es 1912 34,8%. Die Zahl ihrer Stimmen vervierzigfachte sich von 1871 (124 655) bis 1912 (4 250 399), die ihrer Mandate wuchs in diesen vier Jahrzehnten noch mehr - von 2 auf 110 (von diesen Abgeordneten waren 36 Gewerkschaftsführer). Wie breit war nun die soziale Basis der sozialistischen Organisationen? Vor 1914 war nur eine Minderheit der Arbeitnehmerschaft gewerkschaftlich organisiert, die Arbeitnehmer der staatlichen Betriebe und Verwaltungen sowie die Landarbeiter überhaupt nicht, die Gemeindearbeiter und Frauen nur schwach. Die Organisation der Angestellten war noch wenig fortgeschritten. Das Schwergewicht der Gewerkschaften lag bei den Arbeitern in Industrie, Handwerk, Handel und Verkehr. Von diesen hatten sich 1907 etwa 24% den Freien Gewerkschaften angeschlossen. Am stärksten organisiert waren die gelernten Arbeiter in den Betrieben mit 10 bis 1 000 Arbeitern, d. h. also die der kleinen und mittleren Betriebe. Aber auch innerhalb der eigentlichen gewerblichen Arbeiterklasse waren die mehr handwerklich geprägten, klein- und mittelbetrieblich bestimmten Industriezweige am stärksten durchorganisiert. An der Spitze standen die konservativen Buchdrucker. Schwächer waren die Gewerkschaften in der Großindustrie, am schwächsten in der Schwerindustrie. Im Bergbau waren sie ohne großen praktischen Einfluß, in der großen Eisen- und Stahlindustrie hatten sie überhaupt noch nicht Fuß fassen können. Vor dem Ersten Weltkrieg war die SPD aber nicht nur die stärkste Partei in der Zweiten Internationale, die Freien Gewerkschaften die größten Gewerkschaften der Welt (der britische Trade Union Congress hatte 1913 2,2 Millionen Mitglieder, die amerikanische Federation of Labor nicht ganz 2 Millionen). Daneben hatte sich die deutsche Arbeiterbewegung in einer ganzen Reihe von Neben- und Hilfsorganisationen organisiert, die wie ein dichtes Netz die SPD umgaben. Hierfür nur einige ganz wenige Bespiele: 1913/14 wurden 49 Gesellschaftsreisen für Arbeiter veranstaltet; es gab 147 Arbeiterbibliotheken; es fanden 769 Volksvorstellungen und 38 Kindervorstellungen statt. Dieses organisatorische Geflecht reichte in der Tat vom »Konsum« bis zum Bestattungsverein, vom Kegelklub bis zur Parteihochschule. Der weitgehenden Verstoßung des Proletariats von oben entsprach eine zeitweilige, mehr oder weniger unfreiwillige »secessio plebis« von unten. In der zerspaltenen, partikularistischen deutschen Gesellschaft lebte das Proletariat im 19. Jahrhundert in der Tat in einem Leerraum. Das Verlangen dieser vom wilhelminischen Obrigkeitsstaat und von der noch halbfeudal-militaristischen Gesellschaft nicht akzeptierten deutschen Industriearbeiterschaft nach einer neuen Heimat fand seine Erfüllung in einer eigenen Welt von Organisationen und Institutionen, in der der Genosse »von der Wiege bis zum Grabe« (oder bis zum Ausschluß!) zu leben vermochte. Hier konnte sich auch im besten Falle ein Gefühl von Würde und Kraft entfalten, das gelegentlich bis zu einem ausgesprochenen Sendungsbewußtsein reichen konnte. Dieses suchte sich in einem stark fatalistisd-ireligiös gefärbten Vulgärmarxismus zu artikulieren, wie er gegen Ende des Jahrhunderts herrschend wurde. Wie P. v. Oertzen ausführt, nahmen die Arbeiter, soweit sie die »marxistische Lehre« akzeptierten, sie nicht als Arbeiter, als Produzenten auf, sondern als Mitglieder ihrer Parteiorganisation. Sie bezogen sie also nicht auf ihre konkrete Lage in der Wirtschaft und im Betrieb, sondern auf ihre Tätigkeit als politisch organisierte Parteimitglieder. Die von der SPD erfaßten Massen der Arbeiter hatten aber nur eine begrenzte Möglichkeit der Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Der sozialdemokratische Wahlverein operierte ohne Beziehung zu der Wirtschaft und den konkreten sozialistischen Zukunftsaufgaben. Insofern kann man also fast von einer Schizophrenie des klassenbewußten Proletariers sprechen: »Auf der einen Seite stand der berufsstolze, dem Verband unverbrüchlich treue Gewerkschaftsgenosse, auf der anderen Seite das radikal-demokratische, auf das allgemeine Wahlrecht und die politische Aufklärung der Massen vertrauende Parteirnitglied.« Während die Gewerksenaften weder über eine ausgesprochene Arbeiterintelligenzschicht noch über eine eigene Theorie verfügten, besaß die Sozialdemokratie beides. Soweit die Partei an der Entwicklung eines eigenen, neuen sozialistischen Menschentypus arbeitete und sich nicht auf den Ausbau der Organisation konzentrierte, kämpfte sie vor allem für ein demokratisches - allgemeines - Wahlrecht und - zusammen mit den Gewerkschaften - für den Acht-Stunden-Tag und andere sozialpolitische Verbesserungen. Sie verzichtete aber weitgehend auf jedes aktiv-revolutionäre Eingreifen in die große Politik, das den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu sprengen gedroht hätte. Man glaubte uni so mehr, den Anbruch des Sozialismus passiv abwarten zu können, da man davon überzeugt war, daß dieser mit dem unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus naturnotwendig kommen würde. Eine reformistische Tagespolitik drückte der Partei ihren Stempel auf, je mehr es ihr und den Gewerkschaften gelang, in die Bereiche der Sozialpolitik, der Kommunalpolitik, ja sogar auch der Landespolitik - im Süden, nicht in Norddeutschland! - einzudringen. Nicht die marxistischen oder revisionistischen Theoretiker, sondern die Gewerkschaftssekretäre, Parteibeamten und Kommunalpolitiker bestimmten immer stärker den Charakter der Partei. So übertrieb Rosa Luxemburg vielleicht gar nicht so sehr, wenn sie den sozialdemokratischen Parteitag als eine Versamtnlung von Bonzen und Budikern attackierte. War die Sozialdemokratie ausgezogen, die bestehende Gesellschaft zu verändern, so hatte diese schon vor 1914 jener ihren Stempel aufzudrücken vermocht. Man kann aber nicht nur allgemein eine Verbürgerlichung und Bürokratisierung der Sozialdemokratie feststellen, sondern auch eine Anpassung an spezifisch »Wilhelminische« Wesenszüge. Der Kampf mit der wilhelminischen Autokratie führte dazu, daß die SPD gerade im Verlauf dieses Prozesses selber immer autoritärer wurde. Robert Michels hat in seinen Untersuchungen darauf hingewiesen, welche Rolle bereits vor 1914 die kriegerische Terminologie und die militärischen Begriffe gerade auch bei der deutschen Sozialdemokratie gespielt haben. Er hat dann ja auch aus seinen Erfahrungen vor allem auch'mit der SPD sein ehernes Gesetz von der Oligarchie in allen demokratischen Organisationen ableiten zu können geglaubt. Wie es nun damit auch bestellt sein mag, um dem äußerst straff organisierten und disziplinierten Gegner selber schlagkräftig entgegentreten zu können, glaubte die SPD schon bald, das Prinzip der Organisationsdziplin ganz groß schreiben zu müssen. Die autoritären Tendenzen innerhalb der Partei fanden aber zudem einen besonders nahrhaften Boden, da ja auch die Menschen, die sich in der Sozialdemokratie zusammenschlossen, trotz allem sicherlich vorhandenen Freiheitswillen doch in ihrer Charakterstruktur vorgeformt waren durch die Persönlichkeitsbildung in der deutschen Gesellschaft. Hatte man ihnen in der patriarchalischen Familie, in der traditionalen Schule, in der hierarchischen Staatskirche, im autokratischen Heere, in der autoritär organisierten Fabrik tagein, tagaus beigebracht, daß es auf Gehorsam und Ordnung ankomme, so konnten sie gar nicht anders, als sich auch in ihrer eigenen Partei ähnlich zu verhalten. Nichts natürlicher, als daß die große Mehrheit nur allzu bereit war, sich einer neuen Führung gegenüber, die neben oder an die Stelle der alten wilhelminischen Obrigkeit trat, ähnlich zu verhalten wie den alten Gewalten gegenüber. Der Glaube an eine revolutionäre Umwälzung, sei es auch nur nach dem Vorbild der großen Französischen Revolution, war angesichts des Fehlens einer nonkonformistischen Widerstandstradition, des Scheiterns der letzten demokratischen Revolution von 1848 sowie der letzten bürgerlichen Opposition in den sechziger Jahren von Generation zu Generation schwächer geworden. Nach dem Tode von Engels und Wilhelm Liebknedit war wohl schon die Generation von Bebel und Kautsky kaum noch imstande, sich die Zukunft im Zeichen von Revolution, Aufstand und Bürgerkrieg vorzustellen. Das materielle und ideelle Erstarken Preußens und Deutschlands im Rahmen der raschen Entwicklung des Hochkapitalismus schien doch ein für allemal zu beweisen, daß die Weiterentwicklung nur auf dem Wege einer mehr oder weniger weitgehenden Anpassung an die bestehenden Mächte möglich war. Gerade für den Deutschen mußten Aufstand und Rebellion zu Chaos und Anarchie führen, durften Reform und Kompromiß nie die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gefährden. Wilhelm II. hatte daher wohl nicht so unrecht, wenn er - nach der Bekundung Eduard Davids - nach Ausbruch des Krieges bemerkte, der rote Lack sei von den Sozialdemokraten abgesprungen und die guten Deutschen seien zum Vorschein gekommen! Freilich war die »Integrierung« der deutschen Arbeiterbewegung in das Gefüge des Deutschen Reiches stets viel weniger lückenlos und durchgängig als in Westeuropa. Anders als im »bürgerlichen« Frankreich der Dritten Republik oder in dem sich verbürgerlichenden England - oder auch dem »liberalen Musterländle« Baden! - waren die monarchistisc.hen, bürokratischen und aristokratischen Elemente in Preußen-Deutschland nach wie vor noch so stark, daß hier alle Akkomodationsbestrebungen der SPD immer wieder auf halbem Wege stecken blieben. Stellte der übermächtige Gegner, mit dem es die SPD vor allem in Preußen zu tun hatte, sie auch nie vor die klare Alternative: »Revolutionärer Kampf oder Untergang!«, so hielt er sie doch durch eine Politik der Nadelstiche in der Opposition. Für Wilhelm II. blieb die SPD bis 1914 die Partei der »vaterlandslosen Gesellen«; kein Sozialdemokrat konnte in seinem Machtbereich Dozent oder auch nur Briefträger werden. Insofern hat Paul Frölich recht, wenn er ironisch bemerkt, »daß die recht relative Tugend der Partei in der Vergangenheit wesentlich im Mangel an Gelegenheit zur Sünde ihren Grund hatte«. Wie C. F. Schorske betont hat, verstärkten sch die reaktionären und autoritären Tendenzen wieder nach der Jahrhundertwende. Hatte die SPD auch nach dem Sturz Bismarcks stets unter der Drohung neuer Ausnahmegesetze und des Staatsstreiches gelebt, so schien immerhin damals die Verwirklichung liberaler Reformen näherzurücken. Mit der Entfaltung des Imperialismus polarisierte sich die Gesellschaft erneut: Kapitalkonzentration, Fusion des Industrie- und Bankkapitals zum Finanzkapital, Monopole, Kapitalexport gaben die wirtschaftliche Grundlage für einen forcierten Kolonialismus, Militarismus und Nationalismus ab. In dem Maße, in dem eine Außenpolitik gesteigerten Wettrüstens und drohender Kriege in den Vordergrund rückte, verengte sich der Spielraum für innerpolitische Reformen. Im Lande der unvollendeten bürgerlichen Revolution schien jeder Weg zur Macht in eine Sackgasse zu münden: Bei den Reichstagswahlen konnte man zwar siegen, das Parlament selber aber blieb doch ein Schattenparlament. Hatte der Wahlsieg von 1912 neue Hoffnungen erweckt, so hielt doch die Bastion der Reaktion - Preußen allen Angriffen stand. Die maßvolle Politik, die die SPD treiben mußte, um das liberale Bürgertum als Bundesgenossen gegen die preußischen junker zu gewinnen, war zu schwächlich, um von diesen Konzessionen zu erzwingen. Die Bündnispolitik von 1912 zahlte sich nicht aus. Trotz Reichstagsmandaten und Massenorganisationen litt die SPD stärker denn je unter dem Gefühl der Ohnmacht. Sogar die Organisation begann nun zu stagnieren: Im Gegschäftsjahr 1912/13 stieg die Parteimitgliedschaft nur noch um 1,3%. So wurde parallel zur »Reichsverdrossenheit« eine wachsende »Parteiverdrossenheit« spürbar. Die Zukunft erschien in umso düstererem Lichte, als auch die inneren Spannungen zunahmen und die Parteieinheit zu bedrohen schienen. Trotz aller nach außen so imposant wirkenden organisatorischen Geschlossenheit hatte innerhalb der Partei längst ein Differenzierungsprozeß eingesetzt. Schon um 1900 standen sich die »Revisionisten«, denen Bernstein 1899 in seinem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« ein vollständiges Programm gegeben hatte, und die geistig von Kautsky gefiihrten »Orthodoxen Marxisten« gegenüber. Im Gefolge der Russischen Revolution von 1905 begannen sich die letzteren weiter zu differenzieren: Von dem weit zahlreicheren »Marxistischen Zentrum« um Kautsky und um den Parteivorstand spaltete sich in den nächsten Jahren die zahlenmäßig kleine, aber theoretisch sehr rührige »Radikale Linke« ab.
Bernsteins Revisionismus verdankte seine Entstehung sowohl der Prosperität der neunziger Jahre wie auch den neuen Möglichkeiten, die sich nach dem Fall des Sozialistengesetzes jedenfalls außerhalb Preußens in der Politik zu eröffnen schienen. Allerdings wirkte die Parteitradition sowie die anhaltende Diskriminierung der Partei vor allem in Preußen noch so stark nach, daß sich die Führer und die Masse der Funktionäre gegen Bernstein wandten. Mit überwältigenden Mehrheiten - 216:21 und 288:11 Stimmen! - wurden seine Anschauungen auf den Parteitagen zu Hannover (1899) und Dresden (1903) verdammt. Freilich war diese Mehrheit alles andere als »radikalmarxistisch« - viele sogenannte Marxisten handelten nur nach dem Rat Ignaz Auers, der Bernstein geschrieben hatte: »Ede, Du bist ein Esel, so was sagt man nicht, so etwas tut man!« Bis 1914 stützte diese Mehrheit meist das marxistische Zentrum - zumindest ideologisch und phraseologisch. Die Bemühungen des Zentrums, die bescheiden-reformistische Praxis des »Alltags« mit der Weihe des radikal-revolutionären »Sonntags« zu verklären, enthüllen sich heute als eine typische »Integrations«-Ideologie, die in der Phase des Wachstums und der Konsolidierung der proletarischen Organisationen insofern angemessen war, als sie die Stärke und Einheit der Parteiorganisation als solche symbolisierte und verabsolutierte. Später hatte sie auch noch zusätzlich die Funktion der innerparteilichen Versöhnung von Bernsteirischem Revisionismus und Luxemburgischem Radikalismus im Rahmen einer einzigen Partei. Auch für die konservative Bürokratie der Arbeiterorganisationen war sie bis 1914 insoweit nützlich, als sie deren Interesse an der Organisation als solcher begründete. Sie entsprach der eigenartigen, aus der besonderen Lage des Vorkriegs-Deutschland erklärlichen Zwischenstellung der SPD: konnte man sich doch weder wie in Westeuropa als vollreformistische Partei in eine entwickelte bürgerliche Demokratie offen einordnen, noch wie in Rußland als revolutionäre Vorkämpferin der ganzen Gesellschaft gegen den Staat permanent revolutionär handeln. Indem diese einheitliche Ideologie die gerade für Deutschland so typische Vielfalt und Tiefe der Probleme und Spannungen verhüllte, erleichterte sie es der konservativen Parteiführung, an den alten Formen und Formeln festzuhalten. Bei einer katastrophalen Zuspitzung der objektiven Lage mußte diese Ideologie versagen, ihre Träger, soweit sie an ihr festhalten wollten, gegenüber den beiden Flügeln der Partei ins Hintertreffen geraten. Die Position des marxistischen Zentrums wurde in dem Jahrzehnt zwischen 1905 und 1914 durch die Herausbildung der radikal-marxistischen Linken geschwächt. Während Rosa Luxemburg die Aktivierung des Klassenkampfes mittels des politischen Massenstreiks verlangte, drangen auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 praktisch schon die Gewerkschaften mit ihrer Forderung nach einem Vetorecht gegen sie betreffende Parteibeschlüsse durch.
Das stärkte die Parteiführung und die Reformisten und erbitterte die Radikalen. In ihren Augen hatte die Parteiführung die Aura der Unfehlbarkeit verloren. Nach den Wahlen von 1907 wuchsen angesichts der Zuspitzung der weltpolitischen Lage und des drohenden Krieges die Gegensätze in der Partei. Während Liebknedit und Eisner eine entschiedenere Politik gegen den Krieg zu verlangen begannen, traten für den Vorschlag, im Falle eines deutschen Interventionskrieges gegen Rußland den Massenstreik zu proklarnieren, nur die späteren Spartakisten ein. So gerieten nun Liebknecht, Rosa Luxemburg und Hermann Duncker auch gegen Bebel in Opposition. Auf dem Stuttgarter Kongreß der Zweiten Internationale 1907 gehörte die SPD zum konservativen Lager, das eine radikalere antimilitaristische Politik bekämpfte - nur der Einfluß der anderen Parteien verhinderte eine weitere Anpassung der SPD an den Militarismus und die sich daraus möglicherweise ergebende Spaltung. Die Periode revolutionärer Erwartungen, die 1905 eingesetzt hatte, endete mit einem großen Katzenjammer. Erst die Auflösung des Bülow-Blocks - wir folgen immer noch Schorske - führte 1909 zu einer schärferen Profilierung der radikalen Linken - In dem Maße, in dem die Hoffnung der Revisionisten auf Zusammenarbeit mit den Liberalen wuchs, nahmen die Befürchtungen der Radikalen zu: Sie sahen in diesem Zusammengehen nur die Gefahr einer Kapitulatiol-i vor dem Imperialismus und dem Kriege. Das Ergebnis war ein klarer Bruch zwischen dem Kautskyschen Zentrum und der marxistischen Linken: Während jenes an der alten Strategie des passiven Abwartens der Revolution festhalten und so auch einen Kompromiß zwischen den Revisionisten und Gewerkschaftern einerseits, den Linken andererseits ermöglichen wollte, spürten diese immer stärker, daß die Verschärfung der inneren und äußeren Widersprüche eine entschiedenere und revolutionärere Politik unerläßlich machte. Die Partei schien sich so in drei Lager zu spalten. Kautsky hat das topographisch wie folgt veranschaulicht: von Trier, der Geburtsstadt von Karl Marx, komme man in einer scharfen Rechtswendung nach dem Großherzogtum Baden, dem Hauptsitz der Revisionisten. Gehe man dagegen nach links, so gelange man nach »Luxemburg«. Die Stellungnahme zum Kriege und zur Armee ließ auf .den beiden Parteitagen in Chemnitz 1912 und in Jena 1913 sogar vier Strömungen deutlich werden: Auf der äußersten Rechten die sogenannten Revisionisten, in der Mitte den Parteivorstand und die Masse der Funktionäre, links davon das marxistische Zentrum, das jetzt wieder nach links rückte, auf der äußersten Linken die Gruppe um Rosa Luxemburg, Mehring, Liebknecht. Die Revisionisten und die Parteimehrheit waren jetzt bereit, einer Heeresvermehrung zuzustimmen, falls diese aus direkten Steuern finanziert würde. In der Reichstagsfraktion war das Stimmenverhältnis 52:37 bei 7 Stimmenthaltungen. Das Zentrum schloß sich jetzt auch in der Frage des Massenstreiks mit der Linken gegen den Parteivorstand zusammen. Für sie ging es jetzt nicht nur um die Aufrechterhaltung alter Prinzipien, sondern auch um eine Revolutionierung der Taktik. In jena zeigte sich, daß etwa 30% der Parteitagsdelegierten für eine offensive Taktik und gegen die Haltung der Parteimehrheit in der Steuerfrage waren. Die Übereinstimmung zwischen diesem Abstimmungsverhältnis und dem späteren Kräfteverhältnis SPD-USPD ist überraschend. Je größer die Gefahr des Auseinanderfallens der Partei wurde, um so dringender wurde das Verlangen nach Stärkung der innerparteilichen Disziplin. Die Verschärfung der Parteidisziplin wurde ihrerseits jedoch wieder zum Anlaß für die Radikalen, ihre Opposition gegen die Parteiführung zu steigern und ihre eigene Sonderorganisation auszubauen. Seit dem Mannheimer Parteitag hatte sich das Schwergewicht von der Mitgliedschaft und dem Parteitag weiter weg zum Parteivorstand verlagert, der auf die Zustimmung der Gewerkschaftsführer angewiesen war. Damit verbunden war eine Einbuße an taktischer Manövrierfähigkeit. Immer stärker wurde die Parteiorganisation zum Gefangenen der herrschenden Richtung. Mit dem Eintritt neuer Persönlichkeiten in die Parteiführung wurde der Apparat noch konservativer: Nachdem Wilhelm Liebknecht bereits 1900 verschieden war, starben nun in rascher Folge Singer und Bebel. Ein neuer Typ von Arbeiterführer, den so gut wie nichts mit der heroisch-revolutionären Vergangenheit der Bewegung verband und der ganz farbloser, kühler, fleißiger, eminent praktischer Organisator, Verwaltungsmann oder Parlamentarier war, kam nach oben: Scheidemann, Braun, vor allem aber Ebert erscheinen als Prototypen dieses neuen Führers. Schorske spricht in diesem Zusammenhang von reformistischen Routiniers, die äußerstenfalls an eine friedliche Weiterentwid,lung des Status quo glaubten. Ihnen gegenüber konnten sich die wenigen radikaleren Mitglieder des Vorstandes wie Haase als Nachfolger Singers sowie Luise Zietz nicht durchsetzen. Im neuen Vorstand war auch das bürokratische Element mit zwei zusätzlichen Sekretären stärker vertreten. Die Kontrollkommission, die große Befugnisse hatte, war überwiegend zentralistisch orientiert: Von den Linksradikalen gehörte nur Clara Zetkin ihr an. Alle radikalen Versuche, die Parteiführung zu reformieren, waren gescheitert. Der Parteivorstand ließ nun bei der Anwendung der Statuten auf die Rechten Milde walten, während er gegen die Linken streng durchgriff. Diese schlugen zurück: Auf beiden Seiten wurde der Kampf schärfer und skrupelloser. An eine Spaltung der Partei dachte allerdings niemand auf der Linken - dafür war sie in sich schon zu uneinheitlich. Es kam nicht einmal zur Gründung einer eigenen Zeitschrift; im Dezember 1913 begannen allerdings Rosa Luxemburg, Mehring und Karski ihre »Sozialdemokratische Korrespondenz« herauszugeben. Wie schwach die Linke war, sollte sich schon ein Jahr spater zeigen. Nun wurde plötzlich deutlich, daß für die große Mehrheit die pseudomarxistische Sprache und Phraseologie nur die wahre Natur ihrer Politik verhüllt hatte. Wie breit schon vor 1914 nicht nur in den Gewerkschaften, sondern auch in der Partei die Schicht geworden war, die primär sozialpolitisch orientiert, verfassungs- und gesellschaftspolitisch aber weitgehend indifferent oder konformistisch, jedenfalls aber nicht gewillt war, die jeweilige Verfassungswirklichkeit radikal in Frage zu stellen, wurde wie auf einen Schlag offenbar, als am 4. August 1914 der Kaiser sein Wort von den »vaterlandslosen Gesellen« zurücknahm. Das Gros der Partei unter Führung von Ebert und Scheidemann trat nun offen auf den Boden des Status quo. Es war jetzt bereit, sich mit einem »sozialen Kaiserturn« abzufinden, falls nur einige »Schönheitsfehler«, wie das preußische Dreiklassenwahlrecht, korrigiert würden.
Nach den Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts ist es heute klar, daß die Entscheidung der SPD vom 4. August 1914 zu den verhängnisvollsten weltgeschichtlichen Wendepunkten der Neuzeit gehört. Theoretisch standen der führenden Partei der Zweiten Internationale drei erfolgversprechende Wege offen:
- 1. Verschärfung des Klassenkampfes gegen die eigene Regierung bis zu deren Kapitulation oder Niederlage, dann Machtübernahme und Friedensschluß. Diesen Weg ging Lenin in Rußland - Liebknecht forderte ihn für Deutschland. Die Ablehnung aller Kriegskredite wäre der selbstverständliche erste Schritt gewesen.
- 2. Klare, aber möglicherweise mehr oder weniger legale Opposition gegen die imperialistisch-bellizistischen Tendenzen der Regierungspolitik mit dem Ziel eines sofortigen Frieden, - koste es, was es wolle. Eine solche pazifistische Linie wurde später z. T. von der USPD vertreten sie hätte 1914 zumindest Stimmenthaltung und Freigabe der Abstimmung und spätestens 1917 nach der Russischen Revolution Ablehnung aller Kredite erfordert.
- 3. Am schwierigsten wäre eine Politik durchzuführen gewesen, die von vornherein den Krieg in einen nationalen und sozialen Kampf der unterdrückten Völker und Klassen gegen den Weltimperialismus hätte verwandeln wollen. Dies hätte revolutionäre Mobilisierung aller Völker (der Iren, Inder, vor allem aber auch der Polen, Elsässer usw.) gegen alle reaktionären Regierungen bedeutet - in Fortführung der Tradition von 1848.
Selbst wenn die SPD zunächst für die Kriegskredite gestimmt hätte, hätte sie auch dann von vornherein die Kriegführung der eigenen Regierung als reaktionär-imperialistisch kritisieren müssen. In jedem Falle hätte die SPD, auch wenn sie den zweiten oder dritten Weg gewählt hätte, von vornherein - zumindest seit der Marneschlacht! - ernsthaft die Niederlage Deutschlands einkalkulieren und sich für diesen Fall auf die Machtübernahme vorbereiten müssen. Nichts von all dem ist geschehen. Die SPD ging den Weg des geringsten Widerstandes, der Identifizierung mit der Politik der reaktionären herrschenden Kreise und Klassen, der Illusion eines Sieges der Wilhelm und Bethmann, der Hindenburg und Ludendorff. Das war nicht nur ein »Verrat« an Revolution und Sozialismus - es war ein für die Politik der Deutschen im 20. Jahrhundert typischer Mangel an Realitätssinn, ja, ein stupender Illusionismus. Mit ihrer Entscheidung vorn 4. 8. und der diese fortführenden und steigernden Politik des »Burgfriedens« und des »Durchhaltens bis zum bitteren Ende« trug die SPD entscheidend dazu bei, nicht nur die Chancen des demokratischen Sozialismus in Europa zu zerstören, sondern auch die der Einheit und Freiheit der deutschen Nation und der Entwicklung eines europäischen und weltweiten friedlichen Staatensystems. Schon die unmittelbaren Folgen waren beispiellos: Die Zerstörung der Parteieinheit und die Polarisierung der Extreme, der Bruch mit den Bolschewiki und anderen Radikalen im Osten, der Antagonismus zu allen sozialistischen, demokratischen und progressiven Richtungen in Westeuropa, den USA usw. Die weiteren Auswirkungen sind nur als fatal zu bezeichnen: die Isolierung Deutschlands, die Zerstörung der Linken in Deutschland, die Feindschaft des Weltkommunismus, die Unmöglichkeit einer Vermeidung oder Überwindung der Weltwirtschaftskrise, die Vorbereitung des Bodens für das Dritte Reich und damit für den zweiten Weltkrieg, die Niederlage von 1945 usw.
Das Festhalten am Burgfrieden und an einer eisernen Parteidisziplin beschleunigten die Spaltung der SPD. Nachdem Karl Liebknecht als einziger schon am 2. 12. 1914 gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, folgten ein Jahr später 20 Abgeordnete seinem Beispiel, während weitere 22 den Saal verließen. Die aus der Fraktion ausgeschlossenen Parlamentarier schlossen sich im März 1916 zu einer »Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft« zusammen. Diese war der Vorläufer der USPD, die im April 1917 in Gotha begründet wurde. Obwohl die Spartakusgruppe um Liebknecht und Luxemburg der neuen Partei kritisch gegenüberstand, schloß sie sich zunächst dieser an. Erst nach der Novemberrevolution erfolgte die endgültige und totale Trennung. Auf einer Reichskonferenz im Dezember 1918 wurde gegen drei Stimmen die Gründung einer eigenen Partei beschlossen. Am 30. 12. 1918 trat der Gründungsparteitag zusammen. Die neue Partei nannte sich KPD (Spartakusbund) - bereits im März 1918 hatte sich die russische SAPR (Bolschewiki) in Kommunistische Partei Rußlands umbenannt. Man wollte so den Bruch mit den Sozialdemokratien der 2. Internationale und die Renaissance des revolutionären Marxismus der vierziger Jahre schon in der Namengebung signalisieren.
III
Rosa Luxemburgs Schrift »Sozialreform oder Revolution?« ist ihre Antwort auf eine Aufsatzreihe und ein Buch Eduard Bernsteins, des Begründers und Wortführers des Revisionismus. Aus dem Ausbleiben der Wirtschaftskrisen, dem überleben des Mittelstandes, der angeblichen Liberalisierung und Demokratisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, der Verbesserung der Stellung des Proletariats und dem Vormarsch der Arbeiterbewegung hatte Bernstein geschlossen, daß die revolutionäre Strategie Marxens überholt sei und durch eine Taktik der schrittweisen Reformen und des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus zu ersetzen sei. Gegen Bernsteins »Opportunismus« verweist R. Luxemburg auf die Dialektik von Sozialreform und -revolution, auf den unzertrennlichen Zusammenhang von Reform als Mittel und Revolution als Zweck. »Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der großen Weltreform, das ist das große Problem der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgange zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Aufgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, zwischen Anarchismus und Opportunismus vorwärts arbeiten muß.« Nehme man dagegen mit Bernstein an, der Kapitalismus sei nicht zum Zusammenbruch verurteilt, so höre der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein. R. Luxemburg sucht dann die ökonomischen Argumente Bernsteins zu widerlegen. Weder der Kredit noch die Unternehmenszusammenschlüsse, weder die Zähigkeit der Mittelbetriebe noch das Vordringen der Aktiengesellschaften könnten die Konflikte im Kapitalismus lösen. »In letzter Linie« müßten sie den Widerspruch zwischen Produktions-, Austausch- und Aneignungsweise nur verschärfen. Auch das Ausbleiben der periodischen Handelskrisen gelte nur für eine übergangsperiode - wir näherten uns aber dem Anfang von ihrem Ende.
Im Rückblick erscheint uns heute diese Kontroverse unschlüssig - beide Seiten haben recht und unrecht. Sicherlich erwies sich der Glaube Bernsteins, der Kapitalismus werde seine Schranken Schritt für Schritt abbauen, als falsch. Wie R. Luxemburg richtig geahnt hatte, kam eine Zeit, in der sich eine katastrophale Entwicklung des Kapitalismus abzeichnete. Die große Wirtschaftskrise von 1929 konnte zumindest für Deutschland und Amerika als Zusammenbruch des Wirtschaftssystems erscheinen. Da diese Katastrophe aber nicht die von R. Luxemburg vorausgesagten sozialen und politischen Wirkungen hatte, vermochte der Kapitalismus von innen heraus seine Krise zu überwinden. Und nun sollten in der Tat neue Entwi&Iungen und Kräfte, die Bernstein mehr oder weniger korrekt vorausgesehen hatte, eine neue Wachstumsphase einleiten, in der wir uns heute noch befinden und von der wir nicht wissen, wo, wie und wann sie zu Ende gehen wird. Der Kapitalismus hat nun einmal eine Zäh- und Langlebigkeit bewiesen, die Rosa Luxemburg nie geahnt hat - die Menschheit hat allerdings für sein überleben und seine Veriungung einen Preis entrichten müssen, den Bernstein auch nicht ahnen konnte: Depressionen wie die von 1929, Massenschlächtereien wie die beiden Weltkriege, Rückfälle in die Barbarei wie das Dritte Reich, Wettrüsten im Krieg und im Frieden, individuelle Verschwendungen, soziale Verzerrungen und kulturelle Verwüstungen kann sich das System leisten, solange es nur die Produktivkräfte immer stärker zu steigern und die Massen an ihren Produkten teilhaben zu lassen vermag. Rein ökonomische Schranken scheint das System also nicht zu kennen - untergehen könnte es höchstens an seinen gesellschaftlich-politischen Widersprüchen. Und damit wären wir bei Rosa Luxemburgs Polemik gegen Bernsteins politische Theorie und Praxis. Dieser erhoff te sich den übergang zum Sozialismus von den Gewerkschaften und Genossenschaften, von Sozialreform und gesellschaftlicher Kontrolle sowie von der politischen Demokratisierung. Demgegenüber sieht R. Luxemburg nur allzu deutlich die Grenzen der Reform und die Schranken der Demokratie im Kapitalismus. Während die Genossenschaften die kapitalistische Großproduktion nicht umzugestalten vermögen, bleiben die Gewerkschaften Defensivorganisationen, die den relativen Anteil des Arbeiters am gesellschaftlichen Reichtum nicht entscheidend vergrößern können. Und was den Staat und die Demokratie anlangt, so besteht nach R. Luxemburg kein absoluter Zusammenhang zwischen dieser und der kapitalistischen Entwicklung. Einerseits finde sich die Demokratie in den verschiedensten Gesellschaften, angefangen vom Urkommunismus bis zu den mittelalterlichen Kommunen. Andererseits vertrage sich der Kapitalismus auch mit absoluter oder konstitutioneller Monarchie, Republik und sogar orientalischem Despotismus. Heute bewege sich die bürgerliche Demokratie sogar rückläufig. Der Staat werde - ebenso wie die Eigentumsverhältnisse! - immer kapitalistischer und verliere mehr und mehr seinen gesamtgesellschaftlichen Charakter. Zwar wüchsen - das muß die Verfasserin zugeben! - die allgemeinen Staatsfunktionen; zugleich zwinge ihn jedoch sein Klassencharakter immer mehr dazu, sich ganz auf die nur für die Bourgeoisie nützliche Zoll- und Kolonialpolitik, den Militarismus und Marinismus zu verlegen. Die spezifische Bedeutung des heutigen Militarismus verrate »erstens sein allgemeines Wachstum in allen Ländern um die Wette, sozusagen durch eigene, innere, mechanische Triebkraft, eine Erscheinung, die noch vor ein paar Jahrzehnten ganz unbekannt war, ferner die Unvermeidlichkeit, das Fatale der herannahenden Explosion bei gleichzeitiger völliger Unbestimmtheit des Anlasses, der zunächst interessierten Staaten, des Streitgegenstandes und aller näheren Umstände. Aus einer Triebkraft der kapitalistischen Entwicklung ist auch der Militarismus zur kapitalistischen Krankheit geworden.« Führt der Militarismus - das Werkzeug einer imperialistischen Weltpolitik - zur Schwächung der Demokratie, so wird diese durch den Aufstieg der Sozialdemokratie gestärkt. Die sozialistische Arbeiterbewegung ist heute »die einzige Stütze der Demokratie«. Diese ist für die Arbeiterklasse notwendig und unentbehrlich, »weil nur in ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zum Bewußtsein seiner Klassenin teressen und seiner geschichtlichen Aufgabe kommen kann.
Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht weil sie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat überflüssig, sondern umgekehrt, weil sie diese Machtergreifung ebenso notwendig, wie auch einzig möglich macht.« Der Klassenkampf für Reformen und Demokratisierung hebt das Klassenbewußtsein des Proletariats; er bereitet es so für die revolutionäre Machteroberung vor. Marx habe nicht die Ersetzung der proletarischen Diktatur durch Sozialreformen für möglich gehalten, sondern nur »die friedliche Ausübung der proletarischen Diktatur.« Dabei sei auch eine verfrühte Revolution unvermeidlich, da erst sie »die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft, indem das Proletariat erst im Laufe jener politischen Krise, die seine Machtergreifung begleiten wird, erst im Feuer langer und hartnäckiger Kämpfe den erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endgültigen großen Umwälzung befähigen wird«. Sozialreform und Demokratie machen die Wand zwischen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaft nicht durchlässiger, sondern starrer - nur »der Hammerschlag der Revolution« kann sie niederreißen.
Wir sehen hier deutlich, wie viel Rosa Luxemburg von der Revolutionierung der Arbeiterklasse erhofft hat. Sie sieht die Gefahr des Abgleitens in den Opportunismus, der Anpassung an den Status quo, der Integration des Proletariats in die bürgerliche GesellschafL gerade auch als Ergebnis einer sogenannten realistischen »Kompensations- und Kuhhandelspolitik«. Deshalb der immer dringlichere Ruf nach der Mobilisierung und Aktivierung der Massen, der auf ihrem unerschütterlichen Glauben an die Produktivität und Spontaneität des arbeitenden Menschen beruht. Dieser Glaube veranlaßte sie nicht, an der Notwendigkeit des großen revolutionären Umbruches zu zweifeln - er brachte sie allerdings dazu, in der Revolution, an deren Notwendigkeit ihr keine Zweifel kamen, doch mehr die humane Befreiungstat denn die brutale Terrorherrschaft zu sehen. Unter dem Eindruck der großen Streikbewegungen vor und während der russischen Revolution von 1905 analysierte R. Luxemburg eingehend das Kampfmittel des Massenstreiks. Ermuntert durch die ungeahnte Weite und Tiefe der proletarischen Streikaktionen im angeblich so rückständigen Zarenreich, glaubte sie an ähnliche Möglichkeiten im adi so fortgeschrittenen Deutschland. Während man auf den Parteitagen der SPD und den Kongressen der Freien Gewerkschaften um die Formulierung von Resolutionen stritt, die den politischen Streik mit allen möglichen Kautelen umgeben sollten, wollte Rosa »nicht durch abstrakte Spekulationen, also über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massenstreiks, sondern durch die Erforschung derjenigen Momente und derjenigen sozialen Verhältnisse, aus denen der Massenstreik in der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst«, zur Lösung des Problems beitragen. Unermüdlich erinnert sie an die Bedeutung der Mitwirkung der breitesten Massen der Unorganisierten. Zum kläglichen Fiasko verurteilt sei eine Strategie des Klassenkampfes, »die bloß auf die hübsch ausgeführten Märsche des kasernierten kleinen Teils des Proletariats zugeschnitten wäre«. Die Verselbständigung der beiden Säulen der Arbeiterbewegung, der Partei und der Gewerkschaflen, müsse überwunden werden. Der Kampfstreik könne nicht von oben dekretiert werden, die Aufgabe der Sozialdemokratie liege daher auch nicht so sehr in der »technischen Vorbereitung und Leitung des Massenstreiks«, als vielmehr »in der politischen Führung der ganzen Bewegung«. Sie müsse die revolutionäre Entwicklung dadurch zu beschleunigen suchen, »daß sie den breitesten proletarischen Schichten den unvermeidlichen Eintritt dieser revolutionären Periode, die dazu führenden inneren sozialen Momente und die politischen Konsequenzen klarmacht. Sollen breiteste proletarische Schichten für eine politische Massenaktion der Sozialdemokratie gewonnen werden, und soll umgekehrt die Sozialdemokratie bei einer Massenbewegung die wirkliche Leitung ergreifen und behalten, der ganzen Bewegung im politischen Sinne Herr werden, dann muß sie mit voller Klarheit, Konsequenz und Entschlossenheit die Taktik, die Ziele dem deutschen Proletariat in der Periode der kommenden Kämpfe zu stecken wissen.« So würden die Massen zum »handelnden Chorus«, die »Leitungen nur die sprechenden Personen, die Dolmetscher des Massenwillens«. In einer Revolutionsperiode dürfe sich die SPD nie auf eine bloß parlamentarische Defensive beschränken. Als letztes geschichtlich notwendiges Ziel gehe es um die Diktatur des Proletariats und um die Revolution. Während aber das Polizeigehirn Revolution mit Straßenkrawall und Unordnung identifiziere, sehe der Sozialist in ihr vor allem die tiefgreifende Umwälzung der sozialen Verhältnisse und der Klassenbeziehungen. Die Barrikadenschlacht sei nicht mehr ihre Hauptform, sondern nur noch »ein äußerster Punkt, nur ein Moment in dem ganzen Prozeß des proletarischen Massenkampfes«. Die Geschichte habe in dieser »neuen Form der Revolution« einen Weg zur »Zivilisierung und Milderung« der Klassenkämpfe gefunden. R. Luxemburg versucht so einen dritten Weg zu finden zwischen dem Terrorismus der bürgerlichen Revolution und dem Opportunismus der Revisionisten, einen Weg, der vielleicht schon als Vorwegnahme von Laskis »Revolution by Consent« wie aber auch der revolutionären gewaltlosen Aktion von heute angesehen werden sollte (Schon bei ihrer Behandlung der Generalstreiks in Kiew im Juli 1903 hatte R. Luxemburg geschildert, wie die Streikenden sich mit Weib und Kind auf den Schienenstrang gesetzt und den Gewehrsalven ihre entblößte Brust geboten hatten). Heute erkennen wir unschwer, wie viele Illusionen sich Rosa Luxemburg über die revolutionären Möglichkeiten in Deutschland gemacht hat. Zwar sollte es auch hier zu großen Massenstreiks kommen - erwähnt seien nur der Ausstand im Januar 1918, die Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch 1920 und gegen Cuno im August 1923, jedesmal zeigten sich aber Obrigkeit und Bürgertum als dem zerspaltenen und führerlosen Proletariat weit überlegen. War in Rußland 1917 mit dem Verfall des Staatsapparates ein gesellschaftliches Vakuum entstanden, so erwies sich in Deutschland sogar auch beim Zusammenbruch der Regierungsgewalt 1918 die bürgerliche Gesellschaftsordnung doch als so fest fundiert und flexibel, daß die proletarischen Gegenkräfte weiter den bürgerlichen Einflüssen und Traditionen verhaftet blieben. Diese Stärke der etablierten Gewalten spiegelte sich auch darin, daß sich hier weder eine revolutionäre Elite wie die Bolschewiki herausbilden konnte, noch revolutionäre Führer wie Lenin und Trotzki die Gunst des Augenblicks zu nutzen verstanden.
Zu den ersten, die die welthistorische Bedeutung der Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 erkannten, gehörte Rosa Luxemburg. Im April 1915 schrieb sie im Berliner »Weibergefängnis« die Abhandlung, die nur unter dem Pseudonym Junius in Zürich 1916 erscheinen konnte. Junius Brutus war das Pseudonym gewesen, unter dem 1579 die »Vindiciae contra tyrannos« veröffentlicht worden war. In dieser Streitschrift war das Volk aufgefordert worden, sich den ungerechten Herrschern zu widersetzen und sie mit Waffengewalt zu besiegen. Ich will »meinen Zorn über sie ausschütten wie eine Wasserflut«, ist dort zu lesen. Bekannt sind auch die Junius-Briefe, die 1769-1772 in London erschienen und die Regierung scharf attackierten. Auch Rosa Luxemburg schrieb ihre Anklage gegen den Krieg und seine Verteidiger mit ihrem Herzblut. Selten ist ein Massenverbrechen so klar gezeichnet, sind seine Folgen so prophetisch verkündet worden. So hat uns Rosa Luxemburg mit ihrer Junius-Broschüre eines der bleibenden Dokumente unseres Jahrhunderts, wenn nicht der Weltliteratur, hinterlassen. Die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie sei eine Katastrophe, der Fall des sozialistischen Proletariats ein Unglück für die Menschheit, der Weltkrieg eine Weltwende. Hatte Rosa Luxemburg bis 1914 an das naturnotwendige Kommen des Sozialismus geglaubt, so sah sie nun deutlich die Alternative: Sozialismus oder Barbarei! Wenn das Proletariat nicht sein revolutionäres Kampfschwert in die Waagschale wirft, wird der Sieg des Imperialismus den »Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom«, mit sich bringen. Die militärische Unentschiedenheit führt zur Beendigung des Krieges durch allseitige Erschöpfung, der der wirtschaftliche Ruin aller Länder folgt. Der Weltkrieg ist aber vor allem »ein Aderlaß, an dem die europäische Arbeiterbewegu.ng zu verbluten droht«. Mit jedem geschulten, klassenbewußten Proletarier »sinkt ein Kämpfer der Zukunft, ein Soldat der Revolution, ein Retter der Menschheit vom Joch des Kapitalismus ins Grab«. »Noch ein solcher Weltkrieg, und die Aussichten des Sozialismus sind unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern begraben.« Ja, schon wird der Zweite Weltkrieg als Resultat neuer Rüstungen, der Herrschaft des Militarismus und der Reaktion antizipiert - gerade auch im Falle der Niederlage Deutschlands. Mit großen Strichen zeichnet Rosa Luxemburg Entstehung und Charakter des Ersten Weltkrieges- Die Annexion Elsaß-Lothringens hatte das französisch-russische Bündnis, die Zweiteilung Europas und das Wettrüsten zur Folge; hinzu trat aber die imperialistische Entwicklung seit i 89o. Der zuspätgekommene deutsche Imperialismus ist besonders aggressiv und unberechenbar. Indem R. Luxemburg die Legende von der Einkreisung Deutschlands und der russischen Gefahr, von der Vaterlandsverteidigung und vom nationalen Befreiungskrieg zerfetzt, zeigt sie die Schuld der preußischen und deutschen Machthaber an dem Ausbruch der Kriege von 1866, 1870 und 1914; sie verschweigt aber auch nicht die Mitverantwortung Frankreichs und Englands, »denn was sie >verteidigen<, ist ... ihr von den Anschlägen des deutschen Emporkömmlings bedrohter alter imperialistischer Besitzstand«. Erst der Sozialismus wird das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sichern. Lange vor Fritz Fischers »Griff nach der Weltmacht« wird hier so das Verhältnis Deutschlands zu den anderen Weltmächten treffend aufgedeckt. Der einseitige Verzicht der SPD auf den Klassenkampf muß die Volksmassen - die einzige Stütze der »kürnrnerlichen deutschen Freiheit« - entmutigen, die Reaktion dagegen ermutigen. Erfolg. Stärkung des Annexionismus und Verlängerung des Krieges! Dagegen muß die Sozialdemokratie selbständig Klassenpolitik betreiben und die nationale Verteidi gung als revolutionären Hebel gegen den Krieg wenden. Erste Schritte hierzu: Miliz, Volksentscheid über Krieg und Frieden, Aufhebung des Belagerungszustandes, größte politische Freiheit, Losung der großen deutschen Republik. So wäre zumindest die SPD »in dem allgemeinen Strudel, Zerfall und Zusammenbruch wie ein Fels im brausenden Meer der hohe Leuchtturm der Internationale geblieben, nach dem sich bald alle anderen Arbeiterparteien orientiert hätten. Die enorme moralische Autorität, welche die deutsche Sozialdemokratie bis zum 4. August '914 in der ganzen proletarischen Welt genoß, hätte ohne jeden Zweifel auch in dieser allgemeinen Verwirrung in kurzer Frist einen Wandel herbeigeführt. Damit wäre die Friedensstimmung und der Druck der Volksmassen zum Frieden in allen Ländern gesteigert, die Beendigung des Massenmordes beschleunigt, die Zahl seiner Opfer verringert worden. Das deutsche Proletariat wäre der Turmwächter des Sozialismus und der Befreiung der Menschheit geblieben - und dies ist wohl ein patriotisches Werk, das der Jünger von Marx, Engels und Lassalle nicht unwürdig war. « »Die schleunigste Erzwingung des Friedens durch die internationale Kampfaktion des Proletariats«, heißt es an anderer Stelle, »die praktische Verwirklichung der alten Losung >Krieg dem Kriege< sind der einzige Sieg, an dem das internationale Proletariat interessiert sein kann«. In den von R. Luxemburg entworfenen Leitsätzen heißt es, angesichts des Verrats der offiziellen Parteiführ~ung sei » eine neue Arbeiter-Internationale zu schaffen, welche die Leitung und Zusammenfassung des revolutionären Klassenkampfes gegen den Imperialismus in allen Ländern übernimmt«. Nur so kann die Arbeiterklasse der historischen Notwendigkeit der imperialistischen Weltherrschaft die des Sozialismus entgegensetzen - »und die unsrige ... hat einen längeren Atem«. Bereits am 14. Dezember 1918 hatte Rosa Luxemburg in der »Roten Fahne« das von ihr stammende Programm des Spartakusbundes veröffentlicht. Wieder geht sie davon aus, daß der Weltkrieg die Gesellschaft vor die Alternative gestellt habe: Untergang im Chaos und in der Anarchie oder Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung. Sozialismus sei die einzige Rettung der Menschheit. Sie zitiert dann vermeintlich aus dem Kommunistischen Manifest: »Sozialismus oder Untergang in der Barbarei! « Rosa Luxemburg ist hier einem eigenartigen, vielleicht nicht zufälligen Irrtum erlegen. Weder die Worte noch der Gedankengang finden sich im Manifest. Der Gedanke taucht bei ihr zum ersten Mal in der Junius-Broschüre auf. Er wird hier dem alten Engels zugeschrieben, der in den achtziger und neunziger Jahren wiederholt von der Möglichkeit eines Weltkrieges gesprochen hat, der in einem Chaos enden und einen Rückschlag der Arbeiterbewegung, aber doch nur temporär, zur Folge haben könnte. Engels unterstreicht dann aber immer wieder. »Nur ein Resultat ist absolut sicher: ... die Herstellung des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse. « Mir ist nur ein Brief von Engels an Lafargue vom 25. 3. 1889 bekannt, wo jener von » le peu de chances qu'il y a que de cette guerre acharnée résulte une révolution ... surtout pour notre mouvement en Allemagne qui serait terrassé, ecrasé, éteint, par la force ... « spricht. Im Manifest erwähnen zwar Marx und Engels abstrakt die Möglichkeit »des gemeinsamen Unterganges der kämpfenden Klassen« in der Vergangenheit für die Zukunft sind aber der »Untergang (der Bourgeoisie) und der Sieg des Proletariats gleich unvermeidlich«. In Wirklichkeit sieht erst R. Luxemburg unter dem Eindruck des Weltkrieges die Zukunft als etwas, dessen Ausgang durchaus offen bleibt. Erst jetzt unterscheidet sie sich von dem deterministischen Optimismus der sonstigen Marxisten bis einschließlich Lenin und Lukács (aus einem Gefühl für Qualität zögert man, Stalin in einem Atemzug mit jenen zu nennen). Stärker als Lenin betont sie auch wieder die Schöpferkraft und Würde der Masse. Im Sozialismus wird diese »das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst leben und in bewußter freier Selbstbestimmung lenken. Da die sozialistische Revolution die erste ist, die im Interesse der großen Mehrheit und durch die große Mehrheit siegt, bedarf sie keines Terrors - sie haßt und verabscheut den Menschenmord.« Was den Spartakusbund anlangt, so wird dieser »nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewußten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des SpartakusBundes«. Sein Sieg steht daher erst am Ende der Revolution. Andererseits betont R. Luxemburg, daß der Widerstand der imperialistischen Kapitalistenklasse, die die »Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger überbietet«, nur »mit eiserner Faust, rucksichtsloser Energie« gebrochen werden kann. Im gewaltigsten Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte je gesehen, muß das Proletariat die ganze Staatsgewalt den herrschenden Klassen »wie der Gott Thor seinen Hammer« aufs Haupt schmettern. Hier »gilt dem Feinde das Wort.- Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust! « In ihrer großen Rede auf dem Gründungsparteitag der KPD geht sie davon aus, daß man zum Kommunistischen Manifest zurückkehren und den »Nur-Parlamentarismus«, wie er in der Arbeiterbewegung schon Jahrzehnte vor dem 4. August Raum gewonnen habe, revidieren müsse. Es gebe kein Minimal- und Maximalprogramm mehr das Minimum sei die Verwirklichung des Sozialismus. Sie kritisiert dann die Schwächen des g. November. Sie erkennt klar, daß die Revolution »zu drei Vierteln mehr Zu sammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prinzips« gewesen sei. Die Revolution müsse sterben oder weitergetrieben werden. Liest man dann weiter, die Ebert-Scheidemann würden weichen müssen vor einer ausgesprochenen Militärdiktatur unter Hindenburg oder anderen konterrevolutionären Mächten, so wird man an 1932/1933 erinnert. R. Luxemburg polemisiert gegen die Entscheidung der Parteitagsmehrheit, die Wahlen zur Nationalversammlung zu boykottieren, denn diese könne doch eine neue Schule der Erziehung für die Arbeiter werden. Vor allem setzt sie aber auf die Arbeiter- und Soldatenräte, die die ganze Staatsmacht in ihren Händen vereinigen müssen. Nur so werde der Frieden gesichert werden, denn »Friede bedeutet Weltrevolution des Proletariats«. Rosa Luxemburg wagt nicht zu prophezeien, wieviel Zeit dieser Prozeß brauchen wird. »Wer rechnet von uns, wen kümmert das, wenn nur unser Leben dazu ausreicht, es dahin zu bringen!« Ihr letzter Artikel in der »Roten Fahne«, »Die Ordnung herrscht in Berlin«, ist zum Vermächtnis der Todgeweihten geworden - der Januar-Aufstand war gescheitert, der weiße Terror tobte. Sie zieht den Vergleich zwischen Berlin 1919, Warschau 1831 und Paris 1871. Alle Verzagtheit weit von sich weisend, bekennt sie, daß der Weg des Sozialismus voller Niederlagen sei. Im Gegensatz zu den parlamentarischen Kämpfen sind jedoch gewisse Niederlagen der Revolution Unterpfand des künftigen Endsieges. Allerdings war die Niederlage in Berlin zwiespältig: Die Führung hat versagt, aber sie wird korrigiert werden. »Die Massen ... sind der Fels, auf dem der Endsieg der Revolution errichtet wird. Die Massen waren auf der Höhe, sie haben diese >Niederlage< zu einem Glied jener historischen Niederlagen gestaltet, die der Stolz und die Kraft des internationalen Sozialismus sind. Und darum wird aus dieser >Niederlage< der künftige Sieg erblühen ... Die Revolution wird sich morgen schon >rasselnd wieder in die Höh' richten< und zu eurem Schrecken mit Posaunen verkünden: >Ich war, ich bin, ich werde sein!<« Rosa Luxemburgs Glaube an die Masse scheint in der Tat unbesiegbar zu sein - ähnlich wie das blinde Vertrauen ihres Kampf- und Leidensgefährten Liebknecht, dessen letzter Leitartikel in der »Roten Fahne« an das unterirdische Grollen des Vulkans erinnert, der die Fluchbeladenen in glühender Asche und Lavaströmen begraben wird, denn, »Spartakus - das heißt Feuer und Geist, das heißt Seele und Herz, das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats. Und Spartakus - das heißt alle Not und Glückssehnsucht, alle Kampfentschlosseiiheit des klassenbewußten Proletariats. Denn Spartakus, das heißt Sozialismus und Weltrevolution!«
IV
Es ist nichts Ungewöhnliches, daß in der historischen Perspektive eines halben Jahrhunderts das Charakterbild einer Persönlichkeit neue Gestalt annimmt. Rosa Luxemburgs Statur hat seit ihrem Ende von Mörderhand an Größe fast ständig zugenommen. Die »blutige Rosa«, einst der Schrecken der Philister und Bonzen, ist heute so gut wie vergessen - in der Verfasserin der »Briefe aus dem Gefängnis« und der »Briefe an Freunde« will man jetzt oft nichts als die gütig-zarte Frau sehen. Dabei hat sich Rosa Luxemburg selber einmal mit Penthesilea verglichen (wobei allerdings selbst noch in ihrer tiefsten Verachtung der männlichen Memmen und in ihrem heiligsten Zorn über die feigen Opportunisten der Unterton echter Menschenliebe mitschwingt). Stets verband sich in diesem so vielseitigen Menschen die musische Innerlichkeit mit dem ethischen und politischen Engagement nach außen. Das Wort der hinreißenden Rednerin ist verklungen ihr großartiger Gedankenbau fasziniert nach wie vor den Leser. Die Lektüre der Schriften der Agitatorin und Theoretikerin, die als eines der nicht sehr häufigen Originalgenies des deutschen Marxismus weiterleben wird, lohnt sich immer noch. Ahnlich wie Karl Liebknecht gehört sie zu den wenigen Menschen, deren körperliche Tapferkeit ihrem geistigen Mut die Waage halten. Bei dieser kleinen, körperlich behinderten Frau wird man unwillkürlich an den »Ritter ohne Furcht und Tadel« erinnert - trotz all ihren Schwächen.
Sie blieb ihr allzu kurzes Leben lang ein »Mensch mit seinem Widerspruch«. Wie sie zwischen den Zeiten lebte und wirkte, so spiegelte sie den Widerspruch der Epochen wider das Gegeneinander von Reform und Revolution, von Krieg und Frieden, von Gewalt und Humanität. Stets erneut rang sie um deren Synthese - eine glatte Lösung sollte ihr nicht beschieden sein. In ihrer Opposition gegen Revisionismus und Opportunismus, Imperialismus und Militarismus, Krieg und Terror scheute sie sich nie, die Gefahren der Anpassung, der Kapitulation, des Verrats deutlich auszusprechen. Wie sollte sie da nicht über das Ziel hinausschießen? Angesichts des Massenmords des Weltkrieges - in jenen Tagen, da sie erklärte, sie sei »hart geworden wie geschliffener Stahl« - fand sie sich bereit, der Gewalt des Kapitalismus die überlegene Gewalt des Proletariats entgegenzusetzen. Der Krieg bestätigte ihr, daß audi der Arbeiter sein Ziel nicht auf friedlichem Wege erreichen kann. Zwarzeigte dieRussischeRevolution dieGefahrenderDiktatur, des Terrors, der Manipulierung der Masse durch unfehlbare Führer - aber waren das nicht doch nur Begleiterscheinungen des Kampfes und Sieges, die gerade in Deutschland zurücktreten würden? Rosa Luxemburg zelebrierte als eine der ersten den revolutionären Elan der russischen Massen, der so deutlich mit der philiströsen Enge der deutschen Bewegung kontrastierte - aber war nicht Deutschland industriell so außerordentlich hoch entwickelt, hatte es nicht ein geschultes Proletariat, befand es sich nicht igi8/ig in einer totalen Krise, die einfach zur Revolution führen mußte, sollte nicht Europa im Chaos versinken? Sie proklamierte selber die Rückkehr zum revolutionaren Urkommunismus des Manifestes und der Revolution von 1848. So übernahm sie zugleich auch alle Illusionen jenes Marx, der schon 1844 in der »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« glaubte beweisen zu können, daß in Deutschland »die teilweise, die nur politische Revolution, die Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehen läßt«, »ein utopischer Traum« sei, daß hier jedem Stande »jene revolutionäre Kühnheit fehlt, welche dem Gegner die trotzige Parole zuschleudert.- Ich bin nichts und ich müßte alles sein!«. daß den »Hauptstock deutscher Moral und Ehrlichkeit ... jener bescheidene Egoismus bildet, welcher seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich geltend macht«, daß hier, »wo das praktische Leben ebenso geistlos, als das geistige Leben unpraktisch ist, keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation hat bis ... « Nun, bis das Proletariat »die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehen wird!«. Wir wissen heute, wie wenig sich jene Heilserwartung des jungen Marx bestätigt hat - gerade auch für sein deutsches Land! - wie die Entmenschung des Deutschen so gar nicht in die deutsche Menschlichkeit dialektisch umschlagen, sondern die Antithese ihre Zuspitzung in einer Perfektion der Entfremdung und Unmenschlichkeit, des Sadismus und Nihilismus durch den Nationalsozialismus erfahren sollte. Vergessen wir aber nicht, wie leicht die bescheidenen Erfolge der deutschen Arbeiterbewegung in der Zeit von 1848 bis 1914 Anhänger wie Gegner über alle bedeutsamen Rückschläge hinwegtäuschten und so den Glauben an die Sendung des deutschen Proletariers immer erneut nährten. Mochte der alte Marx etwas skeptischer geworden sein, selbst ein Engels lebte in einer Welt der Einbildungen. Es genügte ein Wahlerfolg der SPD, auf daß der Alte in den Optimismus seiner Jugend zurückverfiel. Wie auch Bebel erwartete er den Endsieg noch vor der Jahrhundertwende. Dabei warnte er immer wieder vor unbedachten Aktionen, da diese von den Machthabern zum Anlaß genommen werden könnten, die SPD zu vernichten, während diese bei friedlicher Entwicklung baldigst siegen werde. Paradoxerweise sollte also eine und dieselbe Partei gleichzeitig so schwach sein, daß der Gegner sie ohne weiteres dezimieren konnte, und doch auch wieder so stark, daß sie in ein paar Jahren den Sozialismus zu erzwingen imstande war. Keiner wurde sich damals dieses eklatanten Widersprudies bewußt. Der für die deutsche Politik so typische Mangel an Realitätssinn ist also weder auf die Gegenwart noch auf die tonangebenden Kreise beschränkt, man stößt :immer und überall auf ihn, auch bei Engels und den revolutionären Marxisten. Ahnlich wie die Revisionisten den Willen und die Macht der beati possedentes, einer friedlich-evolutionären Demokratisierung zu widerstehen, übersahen, so überschätzten R. Luxemburg und die radikale Linke die revolutionäre Konsequenz und konstruktive Kraft der ausgebeuteten Schichten. Wie sehr R. Luxemburg auf den Endsieg vertraute, ersieht man aus jeder Zeile ihres Werkes. Ihr unerschütterlicher Glaube findet eine besonders konzise und klare Formulierung in einer Fragment gebliebenen Schrift, einer ihrer letzten Arbeiten überhaupt. Darin heißt es- »Die objektive Unlösbarkeit der Aufgaben, vor die sich die bürgerliche Gesellschaft gestellt sieht, diese ist es, die den Sozialismus zur historischen Notwendigkeit und die Weltrevolution unvermeidlich macht. Wie lange diese letzte Periode dauern, welche Formen sie annehmen wird, kann niemand voraussehen. Die Geschichte hat das ausgefahrene Geleise und den gemütlichen Trott verlassen, und jeder neue Schritt, jede neue Wendung des Weges eröffnen neue Perspektiven und eine neue Szenerie. Worauf es ankommt, ist, das eigentliche Problem dieser Periode zu begreifen. Dieses Problem heißt: die Diktatur des Proletariats, Verwirklichung des Sozialismus. Die Schwierigkeiten der Aufgabe liegen nicht in der Stärke des Gegners, der Widerstände der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre ultima ratio: das Heer, ist durch den Krieg zur Niederhaltung des Proletariats unbrauchbar, selbst revolutionär geworden. Ihre materielle Daseinsbasis: die Erhaltung der Gesellschaft, ist durch den Krieg zerrüttet. Ihre moralische Daseinsbasis: die Tradition, der Schlendrian, die Autorität sind in alle Winde verweht. Das ganze Gefüge ist aufgelockert, flüssig und beweglich geworden. Die Bedingunge.i des Kampfes um die Madit sind so günstig wie noch für keine aufstrebende Klasse in der Weltgeschichte. Sie kann wie eine reife Frucht dem Proletariat in den Schoß fallen. Die Schwierigkeit liegt im Proletariat selbst, in seiner Unreife, vielmehr in der Unreife seiner Führer, der sozialistischen Parteien. Die Arbeiterklasse sträubt sich, sie schreckt immer wieder vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer Aufgabe zurück. Aber sie muß, sie muß. Die Geschichte schneidet ihr alle Ausflüchte ab - um aus Nacht und Graus die geschundene Menschheit ins Licht der Befreiung zu führen.« Hier ahnt R. Luxemburg, welche Bedeutung Reife und Unreife des Proletariats und seiner Organisationen haben. Wann und wie kann aber die Unreife der Massen und der Führer überwunden werden? Arthur Rosenberg sieht drei Entwicklungsphasen der Herausbildung des Klassenbewußtseins in der Arbeiterbewegung: Die erste war die der Organisierung der Arbeiter unter Führung einer Elite von Berufsrevolutionären aus der radikalen Intelligenz (Typus Marx-Engels und Bolschewiki). Für die zweite waren die sozialdemokratischen Massenparteien typisch, die das proletarische Los innerhalb des Kapitalismus lindern und verbessern wollten (II. Internationale). Die dritte Phase wäre durch eine ganz klassenbewußte, sich selbst bestimmende Arbeiterschaft diarakterisiert, die selbständig nach eigener Einsicht mittels der sozialistischen Revolution die Macht erlangt und das bürgerliche Privateigentum vergesellschaftet. Da das Gros der europäischen Arbeiterschaft die dritte Etappe noch nicht erreicht habe, hätten Theoretiker dieser dritten Stufe wie Rosa Luxemburg nur wenige Anhänger haben können. Dennoch vertreten just sie »in der Gegenwart des Proletariats schon seine Zukunft«. Wird das Proletariat als ganzes je dieses dritte Stadium erreichen? Hat Rosa Luxemburg hieran nie verzweifelt, so läßt sich nach den Geschehnissen unseres Jahrhunderts ein ungebrochener Optimismus immer schwerer aufrechterhalten. Rosenberg selber verweist darauf, daß diese Etappe zur Voraussetzung hat »eine außerordentlich weite Vorwärtsentwicklung des Kapitalismus, eine Zertrümmerung der Mittelschichten, die zwisd-ien Bourgeoisie und Proletariat stehen, so daß jede Bündnistaktik des Proletariats auf nationaldemokratischer Basis überflüssig wird, und nur noch die ungeheure Mehrheit der proletarischen Ausgebeuteten der ungeheuren Minderheit der kapitalistischen Ausbeuter gegenübersteht. Ferner erfordert diese dritte Stufe eine hervorragende Schulung des Proletariats, das durch Intelligenz und Selbstdisziplin fähig sein muß, aus eigener Kraft eine neue Welt aufzubauen.« Hinzutreten müßte aber wohl noch die totale Durchindustriallsierung und Modernisierung der ganzen »Dritten Welt« und die Erfassung der Menschheit in einer überwiegend genossenschaftlich-föderativ-funktionalen Weltorganisation, die stark genug sein müßte, den Frieden zu sichern. R. Luxemburg ahnte wohl richtig, daß die auf der Erschließung vorkapitalistischer Räume beruhende kapitalistische Dynamik des 19. Jahrhunderts in einer vollindustrialisierten Welt zum Erliegen kommen müsse; daß aber, wie sie annahm, eine humane, sozialistische, klassenlose Gesellschaft unbedingt die Nachfolge antreten müßte, ist schon fraglicher. Jedenfalls wäre hierfür erforderlich ein außerordentliches Maß an Sicherheit und Bildung, Kultur und Charakterreife, was wohl wieder eine Bevölkerungsstabilisierung oder zumindest eine Verlangsamung der Bevölkerungszunahme voraussetzen würde wie auch die Beschränkung oder zumindest stärkste Konzentrierung der Bemühungen der Menschheit auf die Kultivierung dieses unseres Planeten. Nun gehen tatsächlich einige Trends in diese Richtung. Werden sie sich aber 21. Jahrhundert oder auch nur im dritten Millennium voll auswirken können angesichts der schon heute wahrnehmbaren starken Gegentendenzen? Selbst wenn wir vor totalen und lethalen Katastrophen bewahrt bleiben sollen, werden die wachsende Bürokratisierung und Standardisierung, die immer neue Formen annehmende Entpersönlichung und Entfremdung, die zunächst jedenfalls die »modernen Industriegesellschaften« in West und Ost, Nord und Süd charakterisieren, wohl kaum über Nacht verschwinden. Der tertibre Sektor der z. T. parasitären Dienstleistungen wird wohl auf Kosten des primären und sekundären weiterwachsen, die Zahl der Industriearbeiter - u. a. als Ergebnis der Rationalisierung und Autoniation - zugunsten der der Angestellten zurückgehen. Wir wissen nicht, wie in dieser Zukunftsgesellschaft das Bewußtsein der Arbeiter und der anderen Schichten (Angestellte, Bürokratie und Technokratie, Bauern, soweit sie doch noch überleben) geprägt sein wird. Werden sie saturiert und angepaßt eine Gesellschaft und Kultur im Stile von Huxleys »Schöner Neuer Welt« hinnehmen, oder wird der uralte Traum von einer besseren Zukunft zur Veränderung der Welt und des Menschen treiben? Wenden wir uns noch einmal Marx zu. Sein Glaube an den radikalen Umschlag des Kapitalismus in den Sozialismus, der bürgerlichen Gesellschaft in eine klassenlose Gesellschaft, der Entfremdung des Menschen in seine Verwirklichung beruht auf dem Modell der revolutionären Emanzipation der Bourgeoisie sowie auf dem Prozeß der radikalen Zuspitzung des dialektischen Widerspruches. Bei nüchternerer Betrachtung zeigt sich dagegen, daß schon die bürgerliche Emanzipation außerhalb Frankreichs erheblich langsamer und bruchstückhafter, evolutionärer und gradueller verlaufen ist (man denke nicht nur an Deutschland, sondern auch an Italien, England usw.) und daß sogar der Sieg der Bourgeoisie letztlich nicht ganz ohne Kompromiß mit dem ancien regime erfolgt ist - gerade auch in England, dem Lande des klassischen Kapitalismus. Wie Rathenau richtig sah, entsprach der Ideologie der Französischen Revolution (Freiheit und Gleichheit sowie Befreiung des Kleinbürgers) noch am ehesten die Realitat der »Verdrängung der feudalen Vorherrschaft durch die kapitalistische Bourgeoisie unter der Staatsform des plutokratischkonstitutionellen Regiments«. Manches spricht nun dafür, daß der Aufstieg des Proletariats noch widersprüchlicher, vielschichtiger und fragmentarischer verlaufen wird als der des Bürgertums. Gerade als viel stärker niedergehaltene Klasse weist das Proletariat möglicherweise nicht mehr, sondern weniger revolutionäre Potenz auf als die Bourgeoisie. Viel eher und leichter wird es sich - ähnlich wie z. B. die Bauern - domestizieren und differenzieren. Indem es sich mit Teilkonzessionen und -erfolgen begnügt, prägt es der neuen Gesellschaft und Kultur noch weniger seinen Stempel auf, als das das machtvolle Bürgertum getan hat. Die neue Geschichtsepoche mag nicht so sehr eine proletarisch-sozialistische, als eine solche der Widersprüche und Übergänge, der Mischformen und Synkretismen werden. Innerhalb der Arbeiterschaft wie innerhalb des Bürgertums entstehen neue Schichten: Angestellte, Bürokratie, Technokratie usw. Diese bestimmen stärker das Gesicht der Welt von morgen. Sie sind auch das Bindeglied zwischen dem Arbeiter und dem Bürger, zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Beide Paare (Arbeiter-Sozialismus und Bürger-Kapitalismus) verkörpern die neue industrielle Revolution und Gesellschaft - vielleicht ist ihr Gegensatz, so ernst er ist, doch geringer, als der zwischen der »modernen« dynamisch-industriellen und der »traditionalen« statisch-agraren Phase. Sollte wirklich im dritten Millennium eine radikal neue, wirklich klassen- und herrschaftlose Weltkultur und -gesellschaft ins Leben treten, so mag diese nicht so sehr von dem Mann der Arbeit, als von dem über Roboter und Komputer verfügenden neuen Menschen der Muße getragen werden. Wie dem auch sei, in unserem Jahrhundert dürfte der Kampf um die Position des Industriearbeiters in »Spätka pitalismus« und »moderner Industriegesellschaft« in sich stets ändernder Form durchaus weitergehen. Er hat gerade in einigen führenden Industriestaaten des Westens, wie in den USA und der Bundesrepublik, zunädist zu einer weitgreifenden Akkomodation mit dem bestehenden Sozial- und Rüstungskapitalismus geführt, die sich in einer »Ideologie der Ideologielosigkeit« widerspiegelt. Im Zeichen der »Konsumentendemokratie« des manipulierten Kulturbetriebes, des apolitischen Menschen scheinen sich hier auf einer höheren Stufe Bewußtseinsverlust und Orientlerungslosigkeit gerade auch für die Massen, die so zu gefugigen, Befehlsempfängern und unproduktiven Reklameadressaten herabsinken, durchzusetzen. Hier erinnert trotz allen materiellen Fortschritten diese Phase des Spätkapitalismus an den Frühkapitalismus vor der Entstehung einer oppositionellen Arbeiterbewegung. In Ländern wie Italien oder auch Frankreich und England hat sich hingegen typisch sozialistisch-proletarisches Klassenbewußtsein stärker erhalten. Dort bleibt der Kampf um »Strukturreformen« auf der Tagesordnung. Mit der möglichen weiteren Demokratisierung der kommunistischen Bewegung mögen sich neue Kampfformen der Massenaktion bilden, die auf friedlich-evolutionär-gesetzlichem Wege zur Entfaltungder Planwirtschaft und Nationalisierung, zu Mitbestimmung und Demokratisierung der Bildung führen. Solche Strukturreformen werden vielleicht im Endergebnis einer weiteren Etappe jener »sozialen Revolution« gleichkommen, die Rosa Luxemburg erhoffte und erwartete. Ob allerdings so schon eine wirklich neue sozialistisch-solidarische Gesellschaft und Kultur Gestalt annehmen werden, muß man bezweifeln. Der Vormarsch der Massen in dieser Richtung mag, selbst wenn er zunächst als ein Durchbruch durch die kapitalistischen Sozialstrukturen erscheint, doch auch zu einer neuen Integration in ein noch so modifiziertes System tradierter Herrschaftsinstitutionen und Repressionsprozesse führen. Klarer als zur Zeit Rosa Luxemburgs erkennen wir heute, daß die Humanisierung und Harmonisierung der Gesellschaft und Kultur wohl stets eher Aufgabe als Gegebenheiten bleiben wird. Insofern hatte der Gegenspieler Bernstein nicht so ganz unrecht, wenn er auf die Bedeutung des evolutionären Weges hinwies - eines Weges, der allerdings auf ein Ziel ausgerichtet bleiben muß. Das dialektische Mit- und Gegeneinander von Weg und Ziel kann man auch am Verhalten R. Luxemburgs gegenüber Georg Lukács verdeutlichen. Stärker als sie ist Lukács durch den jungen Marx und durch Hegel geprägt - so steht er Lenin näher als R. Luxemburg. Nicht zufällig kritisierte Lukacs R. Luxemburg wegen ihrer Unterschätzung der Partei, um zugleich die Parteikonzeption Lenins zu glorifizieren. Als Hegelianer glaubten Lenin wie Lukács an die Rolle einer Vorhut des Weltgeistes, die sich in der Partei verkörpert. Dieser »fällt die erhabene Rolle zu: Trägerin des Klassenbewußtseins des Proletariats, Gewissen seiner geschichtlichen Sendung zu sein«. Allein die Parteiorganisation kann Theorie und Praxis vermitteln, kann die Totalität der Geschichte erkennen und gestalten, nur sie die Menschheit ins Reich der Freiheit führen. Nur in der Partei kann der Mensch »durch Einsatz der Gesamtpersönlichkeit« die Trennungen der bürgerlichen Gesellschaft hinter sich lassen. Die »Disziplin der kommunistischen Partei, das bedingungslose Aufgehen der Gesamtpersönlichkeit eines jeden Mitgliedes in der Praxis der Bewegung (ist) der einzig mögliche Weg zur Verwirklichung der echten Freiheit«. Lukács bejahte daher nicht zufällig schon 1922 auch die »Säuberungen«, die freilich damals noch nicht mit Folter und Tod identisch waren. Es war wohl auch nicht einfacher Opportunismus, wenn Lukacs später ein Bewunderer von Stalin und von dessen »Stil«, die Partei zu führen, wurde und lange Zeit blieb. Auch Rosa Luxemburg glaubte an Sinn und Totalität der Geschichte, an die Aufhebung der Entfremdung, an das Proletariat und dessen Organisationen - die Hurnanistin in ihr hätte aber wohl nie auch nur einen Augenblick lang die Unmenschlichkeiten Stalins und der Stalinisten hingenommen. Allein schon das Wort »Säuberung« hätte ihr das Blut gerinnen lassen. In ihrer Auseinandersetzung mit Lenin und den Bolschewiki hat Rosa Luxemburg die humanistisch-demokratisch-libertären Momente im Sozialismus betont. In ihrem Kampf gegen die deutsche Sozialden-iokratie sah sie sich gedrängt, die positive Rolle der revolutionären Führung und der konsequenten Gewalt hervorzuheben. An beiden Fronten standen ihr ernst zu nehmende Gegner gegenüber. Haben später die Thälmann und Ulbricht, die Stalin und Slndanow aus dem »Luxemburgismus« einen Popanz gemacht, um ihren Herrschafts- und Unfehlbarkeitsansprudi zu untermauern, so stehen diese Attacken auf R. Luxemburg ebenso unter jeder sachlichen Kritik wie die Anfeindungen eines Noske oder Hitler. Vor und während des Ersten Weltkrieges reflektierte dagegen der Kampf Luxemburgs mit Lenin und Ebert den welthistorischen Antagonismus zwischen einem zukunftsorlentierten Voluntarismus, einem gegenwartsgetränkten »Realismus« und einem vergangenheitsbetonten Fatalismus.
In Ebert verkörperten sich die Interessen und Ideologien einer aufstrebenden, stark kleinbürgerlich geprägten deutschen Unterschicht, die ihren Frieden mit den Gewalten von gestern machen zu müssen und zu können glaubte. Lenin symbolisierte die Kräfte, die das zurückgebliebene Rußland auf den Stand der gegenwärtigen modernen Industriewelt bringen wollten - koste es, was es wolle.
Rosa Luxemburg vertrat als Weltbürgerin, als Bürgerin »derer, die da kommen werden«, die Zukunft einer emanzipierten Menschheit. Diese Perspektive verlangt in letzter Konsequenz nach der Oberwindung der entmenschenden Gewaltsamkeit durch die revolutionäre »gewaltlose« Aktion. Es war aber ihr Schicksal, in einer Zeit und in einem Lande zu leben, wo die Gewalt zwar schon - auf längere Sicht gesehen - antiquiert war, die Menschen und die Verhältnisse aber doch noch nicht reif zu sein schienen für den Übergang zu den so anspruchsvollen Methoden der gewaltarmen Aktion. Ahnte aber Rosa Luxemburg nicht bereits die Problematik der Gewaltsamkeit? War sie insofern nicht in der Tat eine Vorkämpferin des heutigen »Revisionismus«, wie er etwa von einem Kolakowski vertreten wird? Dieser glaubt, daß man zu Zeiten inkonsequent handeln müsse, da die Welt so widerspruchsvoll ist, daß diese Widersprüche immer nur temporär überwunden werden können. Zugleich kennt er aber den Bereich der »elementaren Situationen«, wo man nicht mehr inkonsequent sein darf, wo man »absolute Konsequenz fordern« muß: »Wenn ein Mensch vor Hunger stirbt und man kann ihm zu essen geben, dann gibt es kein Zusammentreffen von Umständen, unter denen es richtig wäre zu sagen: >Es ist taktisch besser, ihn sterben zu lassen<, oder (wenn ich ihm nicht helfen kann) >taktisch ist es besser, seinen Hungertod zu verschweigen<. Offenbare Angriffskriege, Mord, Folter, Mißhandlungen Wehrloser - das alles sind elementare Situationen. In ihnen hören die Werte der Inkonsequenz auf, eine Rolle zu spielen.« Hier geht es eindeutig um Wert und Unwert, um Tat und Untat, um Mensch und Unmensch. Zu dieser letzten Konsequenz der Inkonsequenz hat sich Rosa Luxemburg allerdings nicht durchgerungen.
Und doch blieb die Identifizierung mit Gewalt und Bürgerkrieg für sie ein Problem. Die »Penthesilea« hat sich wohl kaum so weit diszipliniert, daß sie die Stimme des Herzens ganz verstummen lassen konnte, ist doch wohl nicht »hart geworden wie geschliffener Stahl«. Ein Stalin hatte es da leichter: Herz und Kopf waren bei ihm stets unterentwickelt im Vergleich zu Hand und Faust. Während die tragische Größe Lenins darin bestand, daß es ihm gelungen ist, ganz bewußt auf Kosten seines Herzens eine seltene Synthese von Kopf und Hand zu verwirklichen, hat Rosa Luxemburgs Herz nie aufgehört, laut zu schlagen. Noch kurz vor ihrem Tode soll sie gefragt haben, wieso Dshershinski, der Chef der Tscheka, so grausam sein könne! Das waren kaum die Charaktereigenschaften für eine Führerin, die das deutsche Proletariat in den »gewaltigsten Bürgerkrieg« führen wollte, »den die Weltgeschichte gesehen«. In der Tat, ihr Tod mag auch die Folge ihres Abscheus vor dem Blut und Schmutz eines solchen Krieges gewesen sein. Es gibt doch wohl zu denken, daß sich Machtmenschen und Kriegsstrategen wie Lenin und Stalin wie die Generale der Gegenseite stets adäquat zu schützen wußten, während sich Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht immer wieder ganz der Gewalt des Feindes aussetzten, ohne im geringsten an ihre eigene Sicherheit zu denken. Rosa Luxemburgs Biograph Paul Frölich, der darauf hinweist, daß sie in den letzten Tagen körperlich versagt habe, fragt dann: »Reichten zu dieser Aufgabe die physischen Kräfte nicht mehr aus, oder mangelte dieser großen Führerin, die als Theoretikerin, als Strategin des Klassenkampfes mit so unerschütterlicher innerer Festigkeit voranschritt, jene letzte Vollendung des Heerführers, der unbekümmert um alle Stimmungsmomente im kritischen Augenblick realistisch zu entscheiden und seine Entschlüsse durchzusetzen weiß - jene Vollendung des revolutionären Heerführers, die in Lenin Fleisch und Leben geworden ist? Die Frage ist nicht zu lösen ... « Frölich zitiert dann Goethes Egmont mit seinem: »Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten ... Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen - da liege ich mit vielen Tausenden.« Hat auch Rosa Luxemburg ihren Schicksalswagen nicht mehr zu lenken vermocht, da das Schicksal so Unmenschliches von ihr verlangte? Wir wissen es nicht - wie es auch müßig ist, darüber zu spekulieren, ob nicht ihr Überleben den deutschen Kommunismus vor der Stalinisierung und damit vielleicht die Welt vor dem Sieg des Nationalsozialismus und der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hätte bewahren können. Was auch immer Sinn und Unsinn ihres Todes sein mögen, ganz ausgelöscht hat er sie nicht. Solange der Mord von Soldaten an Frauen und Kindern, Männern und Greisen im Namen von Frieden und Freiheit, von Demokratie und Sozialismus immer noch als »Verteidigungskrieg«, »gerechter Krieg«, »Polizeiaktion« usw. hingenommen wird und seinen Niederschlag in Kursnotierungen findet, wird Rosa Luxemburgs Wort von den Dividenden, die steigen, und den Proletariern, die fallen, seine blutige Aktualität bewahren. Mag noch so viel von ihren Erkenntnissen überholt sein, ihr Weitblick und ihr Glaube werden so fortleben wie ihr Mut und ihre Selbstlosigkeit. Wo immer neue Bewegungen an die Traditionen des Nonkonformismus, des Pazifismus, des Sozialismus anknüpfen werden, werden sie bei einem Dietrich Bonhoeffer, einem Carl v. Ossietzky und einer Rosa Luxemburg - jenen anderen Deutschen! - Ideale und Ideen suchen und finden.
Ossip K. Flechtheim