Der Partei »Proletariat« zum Gedächtnis

I

Schon seit vielen Jahren finden am Jahrestag des Heldentodes von Kunicki, Bardowski, Ossowski und Pietrusinski an den Gräbern derer, die für den internationalen Sozialismus gefallen sind, sozial-patriotische Plänkeleien statt, die das Andenken der Gründer der ersten sozialistischen Partei in Polen verletzen. Wir denken hier an die alljährlichen Festlichkeiten, die besonders im Ausland durch die »Polnische Sozialistische Partei« veranstaltet werden. Ihr Ziel ist es, die Vergangenheit der polnischen Arbeiterbewegung zugunsten des heutigen Nationalismus, der sich unter der Tarnkappe des Sozialismus verbirgt, zu usurpieren. Wir denken an die aufdringlichen Huldigungen jener politischen Richtung, für deren Programm und politische Ethik Leben und Tätigkeit der Gefallenen nur verdammenswert waren. Menschen, die auf einem so hohen geistigen Niveau standen wie jene vier, die mit hocherhobenem Haupt für eine Idee in den Tod gingen und die sterbend noch die zurückbleibenden Freunde ermutigten und anfeuerten, sind zweifelsohne nicht das ausschließliche Eigentum irgendeiner bestimmten Partei, Gruppe oder Sekte. Sie gehören in das Pantheon der ganzen Menschheit und jeder, dem die Idee der Freiheit mit welchem Inhalt und in welcher Form auch immer wirklich teuer ist, darf ihnen als verwandten Geistern huldigen und ihr Andenken ehren. Wenn besonders die polnische akademische jugend an den Festlichkeiten zum Andenken des »Proletariat« zahlreich teilnimmt, begrüßen wir das mit aufrichtiger Freude als Symptom des Idealismus und vielversprechender revolutionärer Neigungen in den Kreisen unserer Intelligenz. Wir wollen das Andenken der Helden des »Proletariat« weder monopolisieren noch in engem partellichem Interesse darum kämpfen wie um den Leichnam des Patrokles. Aber wenn die Ehrung des Andenkens der Gehenkten zu einem gedankenlosen und lauten Sport wird, wenn sie zur gewöhnlichen Reklame erniedrigt wird, zum Aushängeschild einer politischen Gruppe, mehr noch, wenn zu diesem niedrigen Zweck die eigenen Ideen und Taten der »Proletarier«, für die sie in den Tod gegangen sind, vor den Augen des Volkes mißbraucht und mißdeutet werden, dann ist es einfach die Pflicht derer, die dem Geiste ihrer Grundsätze nach die direkten Erben der revolutionären Trachtion des »Proletariat« sind, laut zu protestieren. Wir sind keine Freunde jener regelmäßigen alljährlichen Feierlichkeiten zum Andenken revolutionärer Trachtionen, die schon durch ihre mechanische Regelmäßigkeit alltäglich werden und, wie alles, was trachtionell ist ziemlich banal. Wir sind jedoch der Meinung, daß zur Zeit die am 28. Januar Gefallenen am besten gefeiert werden, wenn man beweist, daß ihre Gräber nicht der richtige Ort sind für sozial-patriotische Kapriolen oder das Exerzieren von Zinnsoldaten für den »nationalen Aufstand«. Darüber hinaus sind die Trachtionen der sozialistischen Bewegung in unserem Lande der gegenwärtigen Generation polnischer Revolutionäre leider so wenig bekannt, daß es unserer Meinung nach an der Zeit ist, die Erinnerungen an unseren vergangenen Kampf aufzufrischen, an einen Kampf, der in den heutigen Zeiten eine reiche Quelle moralischer Stärkung und politischer Belehrung sein kann. Es ist vor allem höchste Zeit, das geistige Gesicht der ersten, organisatorisch starken und einflußreichen sozialistischen Partei in Polen, des »Proletariats«, zu zeigen, und es anhand seiner Worte und Taten im Lichte der historischen Wahrheit darzustellen. Wer die politischen Ideen der Partei »Proletariat« richtig verstehen und einschätzen will, muß von der Voraussetzung ausgehen, daß diese Partei ihrem Programm nach nicht einheitlich war, daß ihr Programm und ihre Richtung vielmehr von zwei verschiedenen Elementen beeinflußt wurde. vom Westen und von Rußland, von der Marxschen Theorie und von der Praxis der »Narodnaja Wolja«. Die gesellschaftlichen Bedingungen Kongreßpolens in den achtziger Jahren waren durchaus eine geeignete Grundlage für eine Arbeiterbewegung im europäischen Sinne des Wortes. Die Entwicklung der Industrie nach dem Zusammenbruch des letzten Aufstandes und nach der Bodenreform vollendete den endgültigen Triumph des Kapitalismus sowohl in der Stadt wie auch teilweise auf dem Lande. Die positivistische Theorie der organischen Arbeit [1] fegte die letzten Überreste der adlig-nationalen Ideologie aus der Gesellschaft und legte damit die Grundlage der gesellschaftlichen und intellektuellen Herrschaft der Bourgeoisie in einer so nackten Form wie in keinem anderen Land. Der moderne Klassenantagonismus, die wirtschaftliche Lage und die gesellschaftliche Bedeutung des Industrieproletariats traten deutlich sichtbar hervor. Damit waren die objektiven Bedingungen, die die Grundlage der Marxschen Lehre bilden, in Kongreßpolen in hohem Grade erfüllt, und das »Proletariat« stand mit der ganzen Begründung seines sozialistischen Strebens folgerichtig auf dem Boden des Marxismus. Bewußt und deutlich wird dieser Gedanke ausgesprochen im zweiten Kapitel des Aufrufs des Arbeiterkomitees der sozial-revolutionären Partei »Proletariat« vom Jahre 1882: »Unser Land stellt in der allgemeinen Entwicklung der europäischen Gesellschaft keine Ausnahme dar: seine vergangene und gegenwärtige Verfassung, gegründet auf Ausbeutung und Unterdrückung, bietet unserem Arbeiter nichts als Elend und Erniedrigung. Unsere Gesellschaft zeigt heute alle Merkmale einer bürgerlich-kapitalistischen Verfassung, wenn auch der Mangel an politischer Freiheit ihr ein abgezehrtes und kränkliches Aussehen gibt. Das ändert jedoch nicht den Kern der Sache.« [2]
Der Sozialismus hat auch hier eine klassenmäßige, moderne Grundlage: »Die Interessen der Ausgebeuteten lassen sich nicht mit den Interessen der Ausbeuter in Einklang bringen. Sie können nicht gemeinsam vorwärtsschreiten im Namen einer fiktiven nationalen Einheit; wenn man gleichzeitig berücksichtigt, daß das Interesse der Arbeiter in der Stadt und der Werktätigeti auf dem Lande gleich ist, so stellt man fest: Das polnische Proletariat unterscheidet sich grundsätzlich von den privilegierten Klassen und nimmt den Kampf mit ihnen als selbständige Klasse auf, deren ökonomische, politische und moralische Tendenzen vollkommen andere sind.« [3] Der »Aufruf« bezeichnet von vornherein den Charakter des sozialistischen Klassenkampfes als einen rein internationalen und betont, daß »die ökonomischen Bedingungen die Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse sind; alle anderen Erscheinungen sind also diesen Bedingungen untergeordnet.« [4] Dadurch erkennt der »Aufruf« formal den historischen Materialismus als Grundlage seiner Weltanschauung an.
Insoweit verpflanzten die Anschauungen des »Proletariat« in allen entscheidenden Punkten die Ideen des »Manifests der Kommunistischen Partei« von Marx und Engels auf polnischen Boden.
Diese allgemeine Kritik des Kapitalismus legt jedoch noch nicht die Art der unmittelbaren Aktion der Partei, ihr politisches Programm und ihre Taktik fest. Zwischen der Anerkennung der allgemeinen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus und ihren Konsequenzen für die Tätigkeit und die Aufgaben der Partei zwischen der Theorie des »Manifests der Kommunistischen Partei« und dem direkten Programm und der Praxis der Sozialdemokratie liegt eine gewaltige Kluft. Die politischen Anschauungen des »Proletariat« aber wurden in starkem Maße von der russischen »Narodnaja Wolja« beeinflußt. Diese Organisation war ihrer ganzen Gestalt nach von vollkommen anderen gesellschaftlichen Bedingungen geprägt. Sie wuchs auf dem Boden einer schwach entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, in der das soziale Leben noch überwiegend durch die Landwirtschaft und die Überbleibsel des uralten russischen Gemeindeeigentums bestimmt wurde. Die sozialistische Theorie der »Narodnaja Wolja« fußt nicht auf dem städtischen Proletariat, sondern auf dem Eigentümer - der Bauerngemeinde. Sie strebte nicht nach der Verwirklichung und Überwindung des Kapitalismus, sondern nach der Verhinderung dieser Entwicklung. Sie suchte ihre Erfolge nicht im Klassenkampf, sondern im Versuch einer mutigen Minderheit, an das Steuer des Staates zu gelangen. Berücksichtigen wir den subjektiven Idealismus als Grundlage der historischen Ansichten der »Narodnaja Wolja«, dann erhalten wir als Ergebnis eine Theorie, die sich in allen Zügen von den Grundsätzen des »Proletariat« unterscheidet. Die »Narodnaja Wolja« war zwar auch kein vollkommen einheitliches Gebilde; die Anfänge der marxistischen Theorie sowie Einflüsse des Westens lassen sich auch hier in manchem Punkt feststellen. Auch ist das politische Programm der »Narodnaja Wolja« nicht leicht zu bestimmen. Man kann sich also erst nach ernstem Nachdenken und aufgrund einer Analyse der periodischen Veröffentlichungen dieser Partei zu einer klaren Antwort auf die Frage entschließen, wie eigentlich die politische Aktion der »Narodnaja Wolja« zu verstehen ist. Beabsichtigte sie, die Selbstherrschaft zu stürzen und den »Zemskij Sobor« einzuberufen, um sofort Übergangsmaßnahmen im sozialistischen Sinne zu ergreifen, die vor allem das System des Gemeindeeigentums als künftige Grundlage der sozialistischen Gesellschaftsordnung stärken sollten? Oder wollte sie zuerst einmal gewöhnliche konstitutionelle Redite durchsetzen? Seinerzeit gab es, wie wir sehen werden, auch Stimmen, die die Ziele der »Narodnaja Wolja« in diesem Sinne interpretierten. Zweifellos läßt sich jedoch die politische Taktik der »Narodnaja Wolja«, wenn man schon ein entsprediendes Etikett aus der Geschichte des westeuropäischen Sozialismus gebraudien will, am besten durch den Begriff des »Blanquismus« bestimmen, einer Taktik, die einerseits darauf abgestellt ist, das Vertrauen der Volksmassen zu gewinnen, andererseits darauf, die Macht durch eine Verschwörerpartei zu ergreifen, die, um sich auf die Massen stützen zu können, aus dem sozialistischen Programm das durchführt, »was sich machen läßt«. Genau diese Beurteilung erfährt sie durch die russische Sozial.demokratie, deren programmatische Veröffentlichungen eine breite und erschöpfende Kritik der historischen Weltanschauung und der ökonomischen Theorien der »Narodnaja Wolja« und ihrer politischen Methoden enthalten. Angesichts so gegensätzlicher Anschauungen scheint der Einfluß der »Narodnaja Wolja« auf das »Proletariat« auf den ersten Blick unverständlich, und die Vereinigung so unterschiedlicher Elemente zu einem Ganzen eine schwer lösbare Aufgabe. Während das Proletariat« sich in seinen Grundanschauungen auf allgemein-europäische, internationale Grundlagen stützte, war die »Narodnaja Wolja« ein rein russisches, einheimisches Gebilde. Wie und warum trotzdem die Vereinigung dieser zwei vollkommen verschiedenen Elemente erfolgte - das ist das Problem, dessen richtige Erklärung deshalb so wichtig ist, weil es in der Geschichte und beim Ende des »Proletariat« eine entscheidende Rolle gespielt hat.

II

In der geistigen Entwicklung der Schöpfer der Partei »Proletariat« kann man drei Phasen unterscheiden, deren mittlere das Programm am stärksten geprägt hat. Sie ist eng verbunden mit der Tätigkeit des hellsten Kopfes und einflußreichsten Führers des damaligen Sozialismus in Polen, mit Ludwik Warynski. Die erste Phase dauerte etwa bis 1880. Sie ist eine Zeit des theoretischen Gärungsprozesses, der sich vor allem unter den sozialistischen Emigranten in der Schweiz abspielte. Sein literarisches Organ war die Genfer »Równosc« (Gleichheit - TK). Die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, sowohl seine Okonomie als auch seine Gesamtkritik der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, findet hier zwar schon eine teilweise Anerkennung: in der praktischen Anwendung dieser Theorie, dem Programm der unmittelbaren Tätigkeit, ist der Standpunkt der »Równosc« jedoch noch vollkommen unklar. Ihr Programm ist das sogenannte Brüsseler Programm, das im Jahre 1878 entstand. Nachdem dieses Programm in den ersten vier Punkten die ökonomischen und sozialen Grundlagen der sozialistischen Gesellschaftsordnung dargestellt hat, verkündet es, daß die Verwirklichung dieser Grundsätze die Aufgabe einer »allgemeinen und internationalen Revolution« sein soll. Auf dieser Grundlage fordert das Programm etwas unklar einen »föderativen Bund mit den Sozialisten aller Länder«. Hinsichtlich der praktischen Tätigkeit enthält das Programm nur eine ziemlich geheimnisvolle Erklärung, daß »die Grundlage unserer Tätigkeit die moralische Übereinstimmung der Mittel mit dem angestrebten Ziel« ist. Es nennt ganz allgemein als »Mittel, die zur Entwicklung unserer Partei beitragen«: Organisation der Volkskräfte, mündliche und schriftliche Propaganda der Grundlagen des Sozialismus, und Agitation, »d. h. Proteste, Demonstrationen und überhaupt aktiven Kampf gegen die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung im Sinne unserer Grundsätze«. Schließlich findet sich noch der Hinweis, daß angesichts der Erfolglosigkeit legaler Kampfmittel dieses Programm »nur durch eine soziale Revolution« [5] erreicht werden kann. Politische Forderungen und überhaupt direkte, auf die unmittelbare Aktion abgestellte Forderungen finden wir in diesem Programm nicht. Daher unterscheidet die Gruppe »Równosc« ihrem Programm auch nicht zwischen den drei Teilungsgebieten und wendet ihre Grundsätze und Agitation ebenso in Galizien an wie im Posener Gebiet und in Kongreßpolen. Wenn nämlich die Sozialisten überhaupt kein Programm direkter, an die gegebenen Bedingungen des Landes angepaßter Forderungen aufstellen, sondern nur unbestimmt durch eine »Organisation« der Arbeiter direkt die internationale soziale Revolution anstreben, so spielen natürlich die verschiedenen politischstaatlichen Bedingungen der drei Tellungsgebiete keine Rolle und fordern kein unterschiedliches Vorgehen. Nicht nur das das Programm der » Równosc« konnte genauso gut oder schlecht in den einzelnen Teilungsgebieten Polens angewendet werden wie in England, Frankreich oder Deutschland. Der politische Standpunkt des Sozialismus im damaligen Stadium wird nur in einer Hinsicht ganz deutlich, in seiner Ablehnung des Nationalismus, in seiner streng internationalen Haltung. Unter dem Titel »Patriotismus und Sozialismus« lesen wir im Leitartikel der » Równosc«: »Von den patriotischen Parteien sind nur kleine Gruppen übriggeblieben, die an dem Glauben festhalten, daß sie noch einmal die Fahne für die »Freiheit des Vaterlandes« erheben werden, daß sie sich noch ein letztes Mal in den Kampf mit dem Feind stürzen werden, und daß sie dann das ihnen teure Vaterland wiedersehen werden! Achten wir jedes echte Gefühl dieser Menschen, die gestern für ihr Vaterland alles zu opfern bereit waren und noch heute zu jedem Opfer bereit sind. Aber wir polnischen Sozialisten haben mit ihnen nichts gemein! Patriotismus und Sozialismus, das sind zwei Ideen, die sich auf keine Art und Weise in Einklang bringen lassen.[6]
»Was unsere heutige Versammlung von so vielen vergangenen unterscheidet«, sagt Ludwik Warynski in einer Versammlung im November 1880 in Genf, das ist die Art, in der wir einander gegenüberstehen, wir polnischen Sozialisten und ihr, unsere russischen Genossen. Wir treten nicht als Vorkämpfer des künftigen polnischen Staates vor euch, die unterdrückten Untertanen des russischen Staates, sondern als Vertreter und Verteidiger des polnischen Proletariats vor euch, die Vertreter des russischen Proletariats.« [7] »Fremd sind uns«, schließt Warynski, »die Ideale slawischer Föderationen, von welchen Bakunin träumte. Gleichgültig sind uns diese oder jene Grenzen des polnischen Staates, für die sich unsere Patrioten ereifern. Unser Vaterland ist die ganze Welt. Wir sind keine Verschworer der dreißiger Jahre, die einander suchen, um ihre Zahl zu vergrößern. Wir sind nicht die Kämpfer des Jahres 1863, die einzig und allein der Haß gegen das Zarentum verbindet und die auf dem Feld des nationalen Kampfes ihr Leben lassen. Wir haben keine feindlichen Nationen vor Augen. Wir sind Landsleute, Mitglieder einer großen Nation, die noch unglücklicher als Polen ist, der Nation der Proletarier«. [8] Und noch entschiedener als ihr Vertreter Warynski in der obigen Rede verkündet in der leichen Zeit die »Równosc« in ihrem Leitartikel: »Wir haben ein für allemal mit patriotischen Programmen gebrochen; wir wollen weder ein adliges noch ein demokratisches Polen; und nicht nur, daß wir es nicht wollen, wir sind fest davon überzeugt, daß der Kampf für eine Wiederherstellung Polens durch das Volk heute eine absurde Idee ist.« [9] Außer dieser streng internationalen Haltung, die allerdings unter den besonderen Bedingungen unseres Landes eine positivere politische Bedeutung hatte als in anderen Ländern, verriet der damalige polnische Sozialismus, der den politischen Kampf überhaupt nicht berücksichtigte, eine unbewußte Verwandtschaft mit dem Anarchismus. Wir haben heute keine Möglichkeit, genau festzustellen, inwiefern das auf die mehr oder weniger zahlreichen Mitglieder der Gruppe » Równosc« zutriff. Aber angesicht ihres raschen Übergangs zu reiferen politischen Ansichten kann man vermuten, daß die anfänglichen anarchistischen Schwankungen eher ein Symptom unterschiedlicher Anschauungen innerhalb der Gruppe waren. Charakteristisch ist jedenfalls in dieser Hinsicht die in der » Równosc« vertretene Auffassung, daß die staatlicli-politischen Bedingungen jedes Landes nur ein Hindernis für die internationalen Tendenzen des Sozialismus darstellen. Die Gründung besonderer sozialistischer Parteien sowie der politische Kampf, der diesen besonderen Bedingungen entsprechen muß, werden nur als malum necessarium anerkannt: »Unser Ideal bleibt immer ein internationaler Zusammenschluß, und wenn die gegebenen politischen Bedingungen einer breiten internationalen Organisation keine Steine in den Weg legten, wenn sie nicht einen Teil der sozialistischen Kräfte zum Kampf mit der Regierung absorbierten die Grundlage einer allgemeinen sozialistischen Organisation bestünde allein in den ökonomischen Bedingungen.« [10] Was sich daraus im besten Falle schließen läßt, ist die Tatsache, daß die organische Verbindung der wirtschaftlichen Verhältnisse mit den staatlichen Institutionen damals zumindest für einige Führer der »R6wnosc« ein vollkommenes Geheimnis war, ebenso wie jene grundsätzliche Lehre, daß jeder Klassenkampf der Natur nach ein politischer Kampf ist. Dies steht in Einklang mit der Tatsache, daß die » Równosc«, obwohl sie nach dem »Ideal« eines internationalen Zusammenschlusses strebte, nicht verstand, daß der Zusammenbruch einer solchen Vereinigung und die Entstehung einzelner Arbeiterpartelen in jedem Staate auf einer gewissen Entwicklungsstufe des sozialistischen Kampfes eine notwendige und fortschrittliche Erscheinung ist. Aber, wie wir schon sagten, erfolgte sehr rasch eine entschiedene Wendung in der programmatischen Haltung der polnischen Sozialisten. Den übergang zur zweiten Phase einer deutlichen Herausbildung des Programms unter dem Einfluß von WaryAski sehen wir bereits im Sommer 1881. Das Programm der Arbeiter Galiziens, im ersten Jahrgang der Zeitschrift »Przedswit« (Morgenröte - TK) zeigt uns schon die Ideen der Gründer des »Proletariat« in voller Reife. Indessen tritt der politische Charakter des Programms in aller Deutlichkeit hervor. Einerseits zeigt sich hier der internationale und antinationalistische Standpunkt genauso entschieden wie in der vorigen Phase. Damals, als Warynskis Gruppe anstatt weiterhin eine verschwommene Propaganda des Sozialismus zu betreiben, den Boden praktischer Tätigkeit, nämlich den des politischen Kampfes betritt, erhält sogar ihr Antinationalismus wesentliches Gewicht im Gesamtbild der politischen Anschauungen der Gruppe und nimmt gleichzeitig konkrete, greifbare Formen an. Wenn z. B. in der erwähnten Rede Warynskis die Solidarität mit den russischen Revolutionären und die negative Einschätzung des polnischen Nationalismus nur dem internationalen Charakter des Sozialismus als Endziel zu entspringen scheinen, was noch dem Standpunkt der »Rownosc« entspricht, so sind dieselben Anschauungen im »Przedswit« schon eindeutig vom Standpunkt eines Minimalprogramms aus begründet, genauer: als politische Aktion der Sozialisten. Besonders charakteristisch ist in dieser Hinsicht Warynskis Kritik der damaligen sozialpatriotischen Vereinigung »Lud Polski« (Das polnische Volk - TK), die im August 1881 mit einer programmatischen Proklamation hervortrat. Während andere Sozialisten der Genfer Gruppe, Brzezinski, Jablonski, Padlewski, gegen die erwähnte Proklamation auftraten, unter anderem deshalb, weil »wir die Ziele des Sozialismus nicht als ferne und endgültige Ziele betrachten (wie das die Proklamation des »Lud Polski« tut), sondern als die einzigen«, [11] während also andere Sozialisten der Gruppe sich des Verhältnisses zwischen den endgültigen Zielen und dem unmittelbaren politischen Programm noch gar nicht bewußt waren, schreibt Warynski in derselben Zeit in erstaunlicher Klarheit: »In dem Programm der Proklamation des »Lud Polski« ist das, wovon ich eben schrieb, nichts Zufälliges; es ist nicht einfach eine Ungenauigkeit, sondern es bleibt in enger Verbindung mit den grundsätzlichen Punkten dieses Programms, das, im Unterschied zu allen Programmen der sozialistischen Parteien und im Gegensatz zu den Theorien des modernen Sozialismus, das Problem der politisch-nationalen Befreiung auf eine Ebene mit der allgemein-menschlichen Aufgabe einer ökonomisch-sozialen Befreiung stellt. Eine solche Koexistenz allgemeiner Probleme und Einzelprobleme, die in den ersteren enthalten sind, ist in einem Programm nur dann möglich, wenn die Einzelprobleme als Nahziel hingestellt werden, als Minimalforderungen. Andernfalls ist die Hervorhebung solcher Einzelprobleme wie die Aufhebung der politischnationalen Unterdrückung in den Gebieten Polens ncben der sozialen und ökonomischen Befreiung unverständlich. Mit anderen Worten, es beweist ein mangelndes Verständnis dafür, daß die Befreiung von der ökonomisch-sozialen Knechtschaft gleichzeitig eine Emanzipation des Einzelnen und jeglicher Gruppen von der materiellen und moralischen Unterdrückung bedeutet. Deshalb betrachte ich auch die Aufhebung der politisch-nationalen Unterdrückung im Programm der >Proklamation< als ein unklar aufgestelltes Minimalprogramm und als solches erörtere ich es.« Nachdem Warynski auf diese Weise mit zwei Worten das Programm der nationalen Befreiung als eine Forderung, die dem Endziel des Sozialismus gleichwertig sein soll, zunichte gemacht hat, analysiert er dasselbe Postulat als unmittelbare Aufgabe des Proletariats: ohne zu fragen, warum die Vereinigung »Lud Polski« dieses Minimalprogramm unklar formuliert, ohne zu fragen, warum sie es nicht deutlich hinstellt als unmittelbares Ziel ihres Strebens, meine ich, daß die Aufstellung eines solchen Programms, klar oder unklar, für alle drei Teilungsgebiete, aber auch für jedes einzeln, den Aufgaben schadet, die die Sozialisten in ihrer praktischen Tätigkeit vor Augen haben müssen. Das von den Sozialisten aufgestellte Minimalprogramm geht von der Voraussetzung des täglichen Kampfes mit dem Kapital aus. Ihr Ziel ist nicht eine >nationale Wiedergeburt<, sondern die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats, die Möglichkeit, Massenorganisationen zu bilden für den Kampf mit der Bourgeoisie als einer politischen und gesellschaftlichen Klasse. Desgleichen wurde das Programm der >Arbeiterpartei Galiziens< nicht nur für das polnische Volk geschrieben, sondern auch für die verschiedenen proletarischen Gruppen jener Nationalitäten, die sich in Galizien solidarisch zu einer Partei verbinden. Diese Tatsache soll denienigen als Antwort dienen, die von besonderen Entwicklungsbedingungen unserer Gesellschaft reden wollen. Wir raten auch unseren sozialistischen Wegbereitern, sich über diese Tatsache mehr Gedanken zu machen. Es ist leicht vorauszusehen, daß auch in Posen die sozialistische Bewegung denselben Weg geben wird wie in Galizien. Auch dort werden die polnischen Arbeiter sich mit den deutschen zu einer festen Organisation verbinden, die nicht nur durch äußere Verhältnisse bedingt ist, sondern ihrem Inhalt und ihrem Wesen nach auf den Grundsätzen der internationalen Solidarität gegründet ist ... Wir zweifeln nicht daran, daß auch in Kongreßpolen Menschen, die die Aufgaben des Sozialismus gut verstehen und der Sache des Sozialismus treu ergeben sind, zur Entwicklung der sozialistischen Bewegung in derselben Richtung beitragen werden.«
Wir haben bei diesem ausführlichen Zitat deshalb verweilt, weil es für den Leser, der mit dem Gedankengang der heutigen sozialistischen Richtungen vertraut ist, ein typisches Glaubensbekenntnis der Sozialdemokratie ist. Das, was gerade den sozialdemokratischen Standpunkt im Unterschied zu anderen sozialistischen Strömungen,diarakterisiert, ist vor allem die Auffassung von der Art des übergangs der heutigen Gesellschaft zu einer sozialistischen. Mit anderen Worten: die Auffassung von dem Verhältnis zwisd-len den unmittelbaren Aufgaben und den Endzielen des Sozialismus. Vom Standpunkt der Sozialdemokratie aus, die ihre Anschauungen auf die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus stützt, kann der übergang zur sozialistischen Gesellschaftsordnung nur die Folge einer - kürzeren oder längeren - Entwicklungsphase sein. Diese Entwicklung schließt zwar nicht aus, daß die endgültige Umwandlung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne nur durch einen gewaltsamen politischen Umsturz erfolgen kann, also durch das, was man gewöhnlich Revolution nennt. Aber diese Revolution ist andererseits unmöglich, wenn nicht die bürgerliche Gesellschaft vorher bestimmte Entwicklungsphasen durchlaufen hat. Dies trifft sowohl für den objektiven Faktor beim sozialistischen Umsturz - die kapitalistische Gesellschaft selbst - als auch für den subjektiven Faktor - die Arbeiterklasse zu. Ausgehend von dem Grundsatz des wissenschaftlichen Sozialismus, daß »die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann«, erkennt die Sozialdemokratie, daß nur die Arbeiterklasse als soldie den Umsturz, d. h. die Revolution zwecks Verwirklichung der sozialistischen Umwandlung, durchführen kann. Unter Arbeiterklasse versteht sie die eigentliche breite Masse der Arbeiter, vor allem die Masse des Industrieproletariats. Eine Vorbedingung der sozialistischen Umwandlung muß also die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse sein und die Errichtung der Diktatur des Proletariats, die zur Durchsetzung der übergangsmaßnahmen unbedingt notwendig ist. Um aber diesen Aufgaben gewachsen zu sein, muß sich die Arbeitermasse vor allem ihrer Aufgaben bewußt werden und eine klassenmäßig organisierte Masse werden; andererseits muß die bürgerliche Gesellschaft bereits einen sowohl ökonomischen wie auch politischen Entwicklungsstand erreicht haben, der die Einführung sozialistischer Institutionen ermöglicht. Diese beiden Voraussetzungen sind voneinander abhängig und beeinflussen sich wechselseitig. Die Arbeiterklasse kann keine Organisation und kein Bewußtsein erreichen ohne bestimmte politische Bedingungen, die einen offenen Klassenkampf ermöglichen, d. h. ohne demokratische Institutionen im Rahmen des Staates. Und umgekehrt, das Erreichen demokratischer Institutionen im Staat und ihre Ausdehnung auf die Arbeiterklasse ist von einem bestimmten historischen Moment, von einer bestimmten Phase der Verschärfung des Klassenantagonismus an unmöglich ohne den aktiven Kampf des bewußten und organisierten Proletariats. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs der Aufgaben liegt im dialektischen Prozeß des Klassenkampfes des Proletariats, das für demokratische Bedingungen im Staat kämpft und sich gleichzeitig im Verlauf des Kampfes organisiert und Klassenbewußtsein erwirbt. Indem es dieses Klassenbewußtsein erlangt und sich im Verlauf des Kampfes organisiert, bewirkt es eine Demokratisierung des bürgerlichen Staates und macht ihn in dem Maße, wie es selbst »reift« reif für einen sozialistischen Umsturz.
Auf dieser Auffassung beruhen elementare Grundsätze, auf die sich die praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie stützt: Der sozialistische Kampf muß ein Massenkampf des Proletariats sein, ein täglicher Kampf um die Demokratisierung der staatlichen Institutionen und um die Hebung des geistigen und materiellen Niveaus der Arbeiterklasse und gleichzeitig um die Organisierung der Arbeitermassen zu einer besonderen Politischen Partei, die bewußt der ganzen bürgerlichen GesellschafL ihren Kampf für einen sozialistischen Umsturz entgegensetzt. Die Aneignung und Anwendung dieser Grundsätze in der polnischen sozialistischen Bewegung war eine doppelt wichtige und schwierige Aufgabe. Im Unterschied nämlich zu den Ländern Westeuropas ist die Lage der Sozialisten in Polen einerseits durch dreierlei politische Bedingungen kompliziert, unter welchen das polnische Proletariat lebt. Dies triff[ besonders zu für die spezifischen politischen Bedingungen des wichtigsten Teils Polens - des russischen Teilungsgebietes. Andererseit wird die Lage der Sozialisten in Polen verschärft durch die nationale Frage. Diese wichtige und schwierige Aufgabe wurde in der Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung zum erstenmal, wie schon das angeführte Zitat bewies, durch Ludwig Warynski gelöst, der die sozialdemokratischen Grundsätze von den unmittelbaren Aufgaben des Sozialismus so klar und bewußt ausspricht, wie wir es sonst weder vorher noch zu seiner Zeit von den anderen polnischen Sozialisten hören.
Was die nationale Frage betrifft, weist Warynski den Wiederaufbau Polens mit der gleichen Entschlossenheit zurück, wie es schon die Gruppe »Rownosc"' getan hat. Aber er verlegt die Lösung dieses Problems auf eine ganz andere Ebene. Während die Gruppe »Rownosc« ihre negative Einstellung gegenüber nationalistischen Tendenzen mit deren Widerspruch zu den internationalen Zielen des Sozialismus erklärte sowie mit ihrer Gleichgültigkeit gegenüber politischen Aufgaben überhaupt, [12] verwirft Waryhski das nationale Programm nicht wegen der Endziele des Sozialismus, sondern wegen der unmittelbaren Aufgaben. Er stellt der Politik der Nationalisten die Politik der Arbeiter gegenüber. Da das Ziel der täglichen Aktion des Proletariats die Organisierung und Aufklärung der Arbeiterklasse ist - deduziert Warynski - kann ihr politisches Programm nicht Sturz oder Aufbau von Staaten sein, sondern die Erkämpfung und Erweiterung politischer Rechte, die zur Organisierung der Massen innerhalb dieser bürgerlichen Staaten, in denen sie wirken, unbedingt notwendig sind. Für das polnische Proletariat legt Warynski hiermit zwei Grundsätze des politischen Programms im Sinne der Sozialdemokratie fest: erstens, als Ausgangspunkt der politischen Aktion, die Anerkennung der bestehenden historischen und staatlichen Verhältnisse als gegebene Bedingungen; zweitens, als Ziel dieser Aktion, die Demokratisierung der gegebenen politischen Bedingungen.
Wenn also die negative Schlußfolgerung aus diesen Grundsätzen die Ablehnung des Programms einer Wiedererrichtung des polnischen Staates war, so blieb nur übrig, die positiven Schlußfolgerungen in der Form eines sozialdemokratischen Programms, oder vielmehr von drei Programmen, für das polnische Proletariat zu ziehen. Wenn man nämlich die politischstaatlichen Bedingungen als maßgebend für die Bestimmung der politischen Aufgaben des Proletariats ansieht, dann ergibt sich daraus, daß eine Aktion und ein politisches Programm für die polnische Arbeiterklasse in allen drei Teilungsgebieten unmöglich ist, daß vielmehr die Aktion und das politische Programm in jedem Tellungsgebiet verschieden sein muß, jedoch gemeinsam für das Proletariat der entsprechenden Teilungsmacht ohne Unterschied der Nationalitäten. Für Galizien und das Posener Gebiet spricht Warynski diesen Grundsatz schon klar und deutlich in dem erwähnten Artikel aus. Für das russische Teilungsgebiet wurde dieser Grundsatz in einem etwas späteren Dokument ausgesprochen, das überhaupt die reifste Frucht der Anschauungen von Warynski und seiner Gruppe in jener mittleren Phase, in der Zeit unmittelbar vor der formalen Organisierung der Partei »Proletariat«, ist. Dieses Dokument war der Aufruf einer Gruppe ehemaliger Mitglieder der »Rownosc«« und der Redaktion der sozialistischen Zeitschrift »Przeds'wit« vorn 8. November 1881 an die russischen Sozialisten, der in der 6. und 7. Nummer des »Przedswit« vom 1. Dezember 1881 abgedruckt wurde. Das Ziel dieses Aufrufs war, die russischen Genossen zur Ausarbeitung eines gemeinsamen politischen Programms mit den polnischen Sozialisten zu überreden, also die kühnste politische Konsequenz, die aus jenen Grundsätzen gezogen wurde. Aber nicht nur die Schlußfolgerung, sondern auch die Art ihrer Begründung zeidinen sich in dem erwähnten Dokument durch eine besondere, für Warynski so charakteristische Nachdrücklichkeit und Klarheit der Gedanken aus, so daß wir vor einer Wiedergabe des ganzen Schlußabsatzes des Aufrufs nicht zurückschrecken. Nachdem der Aufruf eine Beurteilung der Bedeutung des politischen Kampfes in Rußland und des historischen Untergangs der polnischen Frage gegeben hat, schließt er mit den Worten: »Wir fassen zusammen, was wir bisher gesagt haben:

  • a) Der Sozialismus ist bei uns, wie überall, ein ökonomisches Problem, das mit dem nationalen Problem nichts gemein hat, und das im praktischen Leben als Klassenkampf erscheint.
  • b) Eine Garantie für den Fortschritt dieses Kampfes und des künftigen Sieges des Proletariats in der sozialen Revolution ist die maximale Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins der Arbeitermasse und ihre Organisierung als Klasse auf der Grundlage ihrer Klasseninteressen.
  • c) Zur Verwirklichung dieser Aufgaben bedarf es politischer Freiheit, deren Fehlen eine Massenorganisation der Werktätigen in Rußland vor unerhörte Schwierigkeiten stellt.«

Weiter heißt es in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der ehemaligen Gruppe »Rownosc«, die nach einer Diskussion mit den russischen Genossen im vorigen Jahr angenommen wurden:

  • a) Den Charakter der sozial-revolutionären Organisation bee>influssen ausschließlich allgemein-ökonomische Interessen und die politischen Verhältnisse,
  • b) die Organisierung der sozialistischen Partei kann durchgeführt werden, einerseits auf Grund der ökonomischen Bedingungen, andererseits auf Grund der wirklich existierenden staatlich-politischen Bedingungen, wobei die Grenzen der Nationalität nicht als Grundlage der Organisierung dienen können.

Infolgedessen kann

  • c) die Sozialistische Partei Polens nicht als homogene Einheit existieren. Es kann nur sozialistische polnische Gruppen in österreich, Deutschland und Rußland geben, die gemeinsam mit den sozialistischen Organisationen anderer Nationalitäten in dem gegebenen Staat organisatorisch einen Verband bilden, was Bündnisse untereinander und mit anderen sozialistischen Organisationen nicht ausschließt.

Als Richtschnur dient uns schließlich folgendes:

  • a) Der Erfolg des terroristischen Kampfes um politische Freiheiten in Rußland ist abhängig von der Zusammenarbeit der solidarisch organisierten Arbeitermassen verschiedener Nationalität innerhalb des russischen Staates.
  • b) Dem Kampf um politische Freiheiten innerhalb des russischen Staates kann die Betonung der polnischen national-politischen Frage nur schaden; sie kann sich infolgedessen auch auf die Interessen der Arbeiterklasse nur nachteilig auswirken.

Wenn wir das bisher Gesagte berücksichtigen, kommen wir zu folgenden Ergebnissen:

  • I. Die Organisierung einer allgemeinen sozialistischen Partei, die die sozialistischen Organisationen der verschiedenen Nationalitäten im russischen Staat umfaßt, ist unbedingt notwendig.
  • II. Durchaus notwendig ist auch eine Verschmelzung der bisher auf ökonomischem und politischem Gebiet getrennt kämpfenden Organisationen, um mit vereinten Kräften den Kampf weiterzuführen.
  • III. Unerläßlich ist die Ausarbeitung eines gemeinsamen politischen Programms für alle Sozialisten, die innerhalb des russischen Staates wirken, eines Programms, welches in jeder Hinsicht den von uns gestellten Forderungen entspricht.«

Es genügt ein Blick auf den zitierten Aufruf, um sich zu vergewissern, daß ein Dokument von außerordentlicher Bedeutung für die Geschichte der sozialistischen Bewegung in Polen vor uns liegt. Ist doch unverkennbar, daß der Aufruf vom Dezember 1881 ein politisches Programm formuliert, das in hödistem Maße sozialdemokratisch und vollkommen identisch ist mit den Auffassungen der heutigen Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen«.
Dies gilt nicht nur für die allgemeinen Grundsätze: die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation für die polnischen Sozialisten aus allen drei Teilungsgebieten und die Unerläßlichkeit eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation der Sozialisten der jeweiligen Teilungsmacht. Es gilt nicht nur für die sich daraus ergebende negative Schlußfolgerung: die entschiedene Ablehnung eines Programms der Unabhängigkeit Polens die hier wiederum mit äußerstem Nachdruck herausgestellt wird. Mehr noch: der Aufruf des »Przedswit« und der ehemaligen Gruppe »Rownosc« formuliert zum erstenmal in der Geschichte des polnischen Sozialismus ein positives Programm der Sozialdemokratie für das russische Teilungsgebiet: die Erkämpfung politischer Freiheiten, also konstitutioneller Formen innerhalb Rußlands.
Aber das ist noch nicht alles. Der aufmerksame Leser wird bemerken, daß der Aufruf von Warynski und seinen Genossen als selbstverständlich voraussetzt, daß die russischen Sozialisten sich die gleiche Aufgabe stellen. Indem der Aufruf deutlich die Tätigkeit der »Narodnaja Wolja« erwähnt, spricht er sogar ohne Bedenken von dem terroristischen Kampf um die politischen Freiheiten in Rußland« und sieht in diesem Terrorismus der russischen Partei einfach eine Taktik im Kampf um den Sturz des Zarismus und die Durd-isetzung demokratischer Freiheiten im europäischen Sinne. Außerdem versucht der Aufruf, diese Taktik soweit wie möglich sozialdemokratisch zu begründen, indem er erklärt, daß der Terrorismus der »Narodnaja Wolja« nur dann politische Bedeutung haben wird, wenn er sich auf eine bewußte Aktion der organisierten Arbeiterklasse im ganzen Staate stützt. Zweifellos wird heute der Terrorismus von der Sozialdemokratie, sowohl von der polnischen wie auch von der russischen, nicht als zweckmäßige und zum Ziel führende Form des Kampfes angesehen. Die Sozialdemokratie, eben um die Erfahrungen des »Proletariat« und der »Narodnaja Wolia« reicher, versteht, daß sich der Terror nicht mit dem Massenkampf der Arbeiterklasse verbinden läßt, sondern daß er ihn erschwert und gefährdet. Aber diese Erfahrungen konnten Warynski und seine Genossen im Jahre 1881 noch nicht haben. Sie mußten vielmehr, indem sie mit ihrem Aufruf gerade in einem Moment auftraten, als die russische Terroristenpartei noch auf dem Höhepunkt ihrer Kraft zu stehen und an den Grundlagen des Zarismus zu rütteln schien, an die Zweckmäßigkeit und Unerläßlichkeit des Terrors in Rußland glauben. Übrigens finden wir genau dieselben Ansichten in den grundlegenden Veröffentlichungen der russischen Sozialdemokratie, die die gesamte programmatische und taktische Grundlage der Narodnaja Wolja« kritisch überprüft haben, vier Jahre nachdem Warynski sie ausgesprochen hatte. Auffallend ist hier also nicht die Anerkennung des Terrors, sondern vielmehr die Tatsache, daß der Aufruf der polnischen Sozialisten bemüht ist, dem Terror sowohl sozialdemokratische Ziele als auch eine breite Grundlage im Klassenkampf zu verleihen. Inwiefern diese Auffassung des damaligen russischen Sozialismus der Wirklichkeit entsprach, werden wir gleich sehen. Hier ist jedoch eine andere Seite der Sache wichtig. Es ist die Tatsache, daß Warynskis Gruppe auf dem Weg der programmatischen Entwicklung zu einem rein sozialdemokratischen Standpunkt gelangte, daß sie von diesem Standpunkt aus als grundlegendes Prinzip die Aktionseinheit und Programmeinheit mit den russischen Sozialisten begründete. Dieser Moment ist der Höhepunkt in der Entwicklung der Gründer des Proletariat« und gleichzeitig ein Wendepunkt in ihrer Geschichte. Nachdem die letzten politischen Konsequenzen gezogen worden sind, gehen Warynski und seine Genossen zu ihrer Anwendung in der Praxis über, zur formalen Organisierung der Partei Proletariat« in der Heimat. Damit beginnt die dritte und gleichzeitig letzte Periode ihrer Entwicklung.

III

Das oben zitierte Dokument, der Aufruf an die russischen Genossen, zeigt uns, daß die polnischen Sozialisten Ende 1881 in zwei wichtigen Punkten zu einem sozialdemokratischen Standpunkt gelangt waren: erstens mit dem allgemeinen Grundsatz, daß das politische Programm des polnischen Proletariats gleich und gemeinsam sein soll dem Programm des Proletariats der Teilungsmächte; zweitens in der Erkenntnis, daß in dem russischen Teilungsgebiet dieses Programm den Sturz der Selbstherrschaft und den Kampf um politische Freiheiten, d. h. um parlamentarischdemokratische Regierungsformen, umfassen sollte. Obwohl diese Schlußfolgerungen zusammengehörten und sich logisch ergänzten, gerieten sie jedoch miteinander in Widerspruch sobald die polnischen Sozialisten versuchten, sie in der Praxis anzuwenden. Der allgemeine sozialdemokratische Grundsatz führte sie zur Gemeinsamkeit von Programm und Aktion mit den russischen Sozialisten. Aber der damalige russische Sozialismus war keine Sozialdemokratie. Warynskis Gruppe stellte zwar als gemeinsames Programm den Kampf um die Verfassung auf, aber dieses Programm war im Grunde genommen nicht das Programm der »Narodnaja Wolja«. Die polnischen Sozialisten hielten den Kampf mit dem Zarismus nur dann für erfolgreich, wenn er durch die organisierten Arbeitermassen geführt würde, aber die russischen Sozialisten führten damals keine Massenagitation durch und stützten sich weder in der Theorie noch in der Praxis auf die Arbeiterklasse. In Wirklichkeit kämpfte die »Narodnaja Wolja« nicht »um die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats« zwecks »Ermöglichung von Massenorganisationen zum Kampf mit der Bourgeoisie«, wie Warynski den Inhalt eines politischen Programms im Geiste der Sozialdemokratie formuliert hatte. Die »Narodnaja Wolja« kämpfte vielmehr um die Machtergreifung«, darum, die Macht zu übernehmen mit dem Ziel der sofortigen Durchführung von Reformen einer übergangsperiode im Geiste eines sozialistischen Umsturzes. Dabei stützte sie sich nicht auf die Aktion klassenbewußter Massen, auf die Organisation und den Kampf des Industrieproletariats, sondern auf die verschwörerischen Umtriebe einer mutigen Minderheit«. So mußten die entscheidenden Grundsätze Warynskis und seiner Genossen bei ihrer Anwendung in der Praxis zu einem Zusammenstoß führen.
Hätte die sozialistische Bewegung in Rußland damals auf sozialdemokratischem Boden gestanden, wie das mit Ausnahme weniger Organisationen heute der Fall ist, so hätten die Prinzipien der Gründer des »Proletariat« einerseits zu einer vollkommen harmonischen Zusammenarbeit zwischen dem russischen und dem polnischen Sozialismus, andererseits schon Anfang der achtziger Jahre zu einer Blütezeit für eine die Massen ergreifende Arbeiterbewegung in Polen mit bewußter und sozialdemokratischer Prägung führen müssen. Da es aber zu der Zeit, als die Partei »Proletariat« sich organisierte, in Rußland keine sozialdemokratische Bewegung sondern nur eine Verschwörerpartei blanquistischer Prägung gab, wurden die polnischen Sozialisten vor ein Dilemma gestellt. Sie konnten entweder, um ihr sozialdemokratisches Programm zu bewahren, auf die Gemeinsamkeit von Programm und Aktion mit den russischen Sozialisten verzichten und selbständig in Polen den Kampf um den Sturz des Zarismus durch Massenagitation und Organisation der polnischen Arbeiter aufnehmen - oder auch, um ihrem grundsätzlichen Prinzip der Gemeinsamkeit der Altion mit dem russischen Sozialismus zu folgen, auf das sozialdemokratische Programm und den Massenkampf verzichten und sich den Kampfmethoden der »Narodnaja Wolja« unterordnen. Die Lösung dieses Problems sollte über das Schicksal des Sozialismus in Polen für fast ein Jahrzehnt entscheiden - und hat dies auch auf verhängnisvolle Weise getan. Wir zögern jedoch nicht anzuerkennen, daß die Wahl des zweiten der beiden Wege unter den damaligen Bedingungen nur allzu natürlich und verständlich war. In Anbetracht dessen, daß im politischen Kampf gegen das in Rußland herrschende System naturgemäß Rußland selbst das entscheidende Terrain sein mußte und daß Kongreßpolen erst an zweiter Stelle in Betracht kam, weiter, daß die damalige »Narodnaja Wolja« an Mitgliederzahl und politischer Bedeutung die polnischen Sozialisten um vieles übertraf und daß sie bereits einen so bedeutenden politischen und moralischen Sieg hinter sich hatte, wie den Anschlag vom 13. März, der in den Augen der ganzen Welt ihr Programm und ihre Taktik zu bestätigen schien, während die Partei Proletariat« sich kaum zu einer Partei formiert hatte, unter all diesen Umständen ist es verständlich, daß die polnische sozialistische Organisation versuchen mußte, sich der russischen Bewegung anzuschließen.
Wie sehr die »Narodnaja Wolja« damals die Gedanken beherrschte und wie große Hoffnungen eines nahen politischen Umsturzes sie zu jener Zeit erweckte, bezeugen die 1894 geschriebenen Worte von Friedrich Engels. Engels sagt über jene Epodie in Rußland: Damals gab es in Rußland zwei Regierungen: die des Zaren und die des geheimen Exekutivkomitees (ispolnitelnyj komitet - F.E.) der terroristischen Verschwörer. Die Macht dieser geheimen Nebenregierung stieg von Tag zu Tag. Der Sturz des Zarismus schien bevorzustehen; eine Revolution in Rußland mußte die gesamte europäische Reaktion ihrer stärksten Stütze, ihrer großen Reservearmee, berauben und dadurch auch der politischen Bewegung des Westens einen neuen gewaltigen Anstoß und obendrein unendlich günstigere Operationsbedingungen gelten.[13] Wenn nüchterne Forscher der sozialen Geschichte wie Engels und Marx - denn die obigen Worte charakterisieren auch die damalige Anschauung und Stimmung von Marx - reich an eigenen Erfahrungen aus der revolutionären Geschichte Europas, uns so entscheidende Hinweise für die Beurteilung der historischen Entwicklungsprozesse gaben, wenn also solche Forscher die Ergebnisse der Tätigkeit der »Narodnaja Wolja« so überschätzen konnten, verwundert es nicht, daß die damaligen polnischen Sozialisten, die mitten in der Arena des Kampfes standen, vom ersten Augenblick ihrer praktischen Tätigkeit an dem ungeheuer starken Einfluß dieser Partei unterliegen mußten. Nachdem also der polnische Sozialismus aus seiner Entwicklung im Geiste der westeuropäischen Sozialdemokratie die politische Konsequenz einer Verbindung mit dem russischen Sozialismus zur gemeinsamen Aktion gezogen hatte, mußte er schließlich unter den gegebenen konkreten Bedingungen allmählich auf blanquistische Wege geraten. Seine Geschichte ist also von dem Moment der formalen Organisierung der Partei im Lande bis zu seinem Niedergang Ende der achtziger Jahre ein stetiges Abweidien in blanquistischer Richtung von dem Standpunkt, der in dem Aufruf an die russischen Sozialisten im Dezember 1881 formuliert worden war. Es wäre natürlich falsch anzunehmen, daß die polnischen Sozialisten in der Lage, in der sie sich befanden, diese oben erwähnte Wahl bewußt vollzogen haben. Wir haben diese Alternativen formuliert, um eine Analyse der realen Situation zu geben; Waryn'skis Gruppe war sich aber dieser Situation keineswegs so kategorisch bewußt. Das liegt einmal daran, daf; das wirkliche Wesen der »Narodnaja Wolja« und ihr Widerspruch zum Standpunkt von Warynski und seinen Genossen damals, im Jahre 1882, noch gar nicht so klar war und sich nicht so leicht feststellen ließ, wie das später auf Grund von Dokumenten und Tatsachen möglich war. Anhand des Aufrufs der Gruppe von Warynski an die Russen haben wir schon bewiesen, daß besonders diese Gruppe sozialdemokratische Illusionen über die Tätigkeit der »Narodnaja Wolja« hatte.13 Darüber hinaus war unter den polnischen Sozialisten, wie eine aufmerksame Lektüre der damaligen sozialistischen Literatur (»Rownosc«, »Przedswit« und Broschüren) ergibt, außer Warynski niemand, der ein so bewußter und erfahrener Sozialdemokrat gewesen wäre, wie der Aufruf vermuten ließe. So vollzog sich die geistige Verbindung des »Proletariat« mit der »Narodnaja Wolia« nach außen nicht als Resultat einer ernsthaften Auseinandersetzung über die sozialistische Idee in Polen, sondern vielmehr als naturwüchsiges Ergebnis der allgemeinen Lage. Da andererseits die Geschichte und Physiognomie einer doch ziemlich kleinen Gruppe, wie es bisher die führende sozialistische Organisation in Polen normalerweise ist, in einem nur wenige Jahre dauernden Zeitabschnitt, nicht nur durch große Leitlinien der logischen Entwicklung bestimmt wird, sondern auch durch zahlreiche zufällige persönliche Elemente, so mußte bei der ungleichmäßigen theoretischen Reife der Gründer des »Proletariat« diese Bewegung desto eher russischen Einflüssen unterliegen. Wenn schon die Veröffentlichungen und die Tätigkeit des »Proletariat« sich von Anfang an nicht durch einen einheitlichen Charakter auszeichneten, so genügte das Verschwinden Warynskis vom Kampfplatz nach seiner Verhaftung im Herbst 1883, um die Bewegung rasch auf die schiefe Ebene aussichtsloser politischer Konspiration abrutschen zu lassen. Wenn wir den Unterschied zwischen dem sogenannten Blanquismus und der Weltanschauung der Sozialdemokratie hervorheben wollen, so müssen wir vor allem feststellen, daß der Blanquismus überhaupt keine eigene Theorie im Sinne der Sozialdemokratie besaß, d. h. eine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung zum Sozialismus. Das ist übrigens kein spezifisches Merkmal dieser Splitterpartei des Sozialismus, da die Theorie von Marx und Engels überhaupt der erste und, fügen wir hinzu, bis jetzt siegreiche Versuch ist, die sozialistischen Tendenzen auf dem Boden einer wissenschaftlichen Konzeption von den Gesetzen der historischen Entwicklung im allgemeinen und der kapitalistischen Gesellschaft im besonderen zu begründen. Die bisherigen utopischen Theorien des Sozialismus, wenn man hier von Theorien reden kann, beschränken sich im wesentlichen auf die Begründung der sozialistischen Bestrebungen mittels einer Analyse der Mängel der bestehenden Gesellschaft sowie des Vergleichs mit der Vollkommenheit und moralischen Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Indem sich der Blanquismus, wie alle diese sozialistischen Schulen, in seinen Anschauungen auf die negative Kritik der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und des Privateigentums stützte, repräsentierte er nur eine Art Taktik des praktischen Handelns. In dieser Hinsicht verriet er seine Herkunft von den radikalen Revolutionären der großen Französischen Revolution und stellte gewissermaßen eine Anwendung der jakobinischen Taktik auf die sozialistischen Bestrebungen dar, deren ersten Versuch wir in der Verschwörung von Babeuf sehen.
Die Leitidee dieser Taktik ist der unbeschränkte Glaube an die Macht der politischen Herrschaft, die fähig ist, zu jedem beliebigen Zeitpunkt jede ökonomische und soziale Veränderung am gesellschaftlichen Organismus durdizuführen, die für gut und nützlich gehalten wird. Zwar sieht auch die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus in der politischen Herrschaft einen Hebel des sozialen Umsturzes. jedoch fällt der politischen Herrschaft in der Konzeption von Marx und Engels in revolutionären Zeiten nur die Rolle eines sozusagen ausführenden Elementes zu, welches die Ergebnisse der inneren Entwicklung der Gesellschaft verwirklicht und seinen politischen Ausdruck im Klassenkampf findet. Nach der bekannten Formel von Karl Marx spielt die politische Herrschaft in revolutionären Zeiten die Rolle einer »Hebamme«, die die Geburt der neuen Gesellschaft, die wie eine reife Frucht in der alten Gesellschaf~ schon enthalten ist, beschleunigt und erleichtert. Daraus ergibt sich bereits von selbst, daß grundsätzliche soziale Veränderungen mittels politischer Herrschaft nur auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zu erzielen sind und daß die politische Herrschafl als Instrument des Umsturzes nur in den Händen einer gesellschaftlichen Klasse funktionieren kann, die in dem gegebenen historischen Zeitabschnitt Sachwalter der Revolution ist, wobei die Reife dieser Klasse für die dauerhafte Übernahme der politischen Herrschaft die einzige Legitimation für die Angemessenheit und Möglichkeit des Umsturzes selbst ist. Indem der Blanquismus diese Theorie nicht anerkennt oder f vielmehr nicht kennt, behandelt er die politische Herrschaft als Werkzeug des gesellschaftlichen Umsturzes ohne Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung oder mit dem Klassenkampf überhaupt. Dieses Werkzeug steht bereit, jedem i zu jeder Zeit zu dienen, der über es verfügt. Von diesem Standpunkt aus sind die einzigen Bedingungen des Umsturzes: der Wille einer entschlossenen Gruppe von Menschen und, im günstigsten Augenblick, eine Verschwörung mit dem Ziel der Machtergreifung. »Blanqui«, sagt Engels in seinem bekannten Artikel im »Volksstaat« im Jahre 1874, ist wesentlich politischer Revolutionär, Sozialist nur dem Gefühl nadi, mit den Leiden des Volkes sympathisierend, aber er hat weder eine sozialistische Theorie noch bestimmte praktische Vorschläge sozialer Abhilfe. In seiner politischen Tätigkeit war er wesentlich Mann der Tat', des Glaubens, daß eine kleine, wohlorganisierte Minderzahl, die im richtigen Moment einen revolutionären Handstreich versucht, durch ein paar erste Erfolge die Volksmasse mit sich fortreißen und so eine siegreiche Revolution machen kann ... Daraus, daß Blanqui jede Revolution als den Handstreidl einer kleinen revolutionären Minderzahl auffaßt, folgt von selbst die Notwendigkeit der Diktatur nach dem Gelingen: der Diktatur, wohlverstanden, nicht der ganzen revolutionären Klasse, des Proletariats, sondern der kleinen Zahl derer, die den Handstreich gemacht haben, und die schon selbst im voraus wieder unter der Diktatur eines oder einiger weniger organisiert sind.« ***170.2.15« Wie wir sehen, ist die Taktik der Blanquisten unmittelbar auf die Durchführung der sozialen Revolution gerichtet, ohne Berücksichtigung irgendwelcher übergangsperioden oder irgendwelcher Entwicklungsetappen. Der Blanquismus war auf diese Weise ein Rezept zur Durchführung der Revolution unter beliebigen Bedingungen und zu jeder Zeit, d. h. er ignorierte alle konkreten historisch-sozialen Bedingungen. Der Blanquismus war demnadi eine universale Taktik, die in jedem Land mit demselben Erfolg angewandt werden konnte. Aber nirgends konnte offensichtlich die Anwendung dieser Aktionsmethode einen so entscheidenden Einfluß auf das Schicksal des Sozialismus ausüben wie unter den besonderen Bedingungen des Zarismus. Die Taktik eines »Sprunges« direkt zur sozialen Revolution mußte vor allem die politische Physiognomie einer Partei, die im Rahmen eines Staates mit absolutistisch-despotischen Regierungsformen wirkte, verhängnisvoll beeinflussen. Deshalb kann man auch den Einfluß des Blanquismus auf die polnischen Sozialisten auf Schritt und Tritt am deutlichsten in der allmählichen Wandlung ihrer politischen Anschauungen verfolgen. Übrigens hat sich schon das im September 1882 veröffentlichte offizielle Programm der Partei »Proletariat« bedeutend vom Standpunkt sowohl des Artikels von Warynski im »Przedswit« Nr. 3-4 wie auch des Aufrufs an die russischen Genossen, entfernt. Im allgemeinen Teil sieht dieses Dokument, wie wir es schon angedeutet haben, die sozialistische Zukunft Polens auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus und fußt auf den Grundsätzen des Klassenkampfes und des historischen Materialismus. Der Charakter des eigentlichen Programms ist gar nicht so leicht zu bestimmen. Wir sehen hier drei parallele Teile, nämlich Forderungen der Partei »auf ökonomischem Gebiet«, »auf politischem Gebiet« und auf dem Gebiet des moralischen Lebens«. [16] Wenn wir den letzten Teil als praktisch unbedeutend weglassen, so fällt in den ersten Teilen einerseits die parallele Formulierung der Forderungen auf, die den Inhalt des sozialistischen Umsturzes bilden: 1) daß der Boden und die Produktionsmittel aus Eigentum des Einzelnen zum gemeinsamen Eigentum der Werktätigen werden, zum Eigentum des sozialistischen Staates, 2) daß die Lohnarbeit in Gemeinschaftsarbeit umgewandelt wird usw.«; andererseits der politischen Forderungen, die auf den ersten Blick den Inhalt parlamentarischdemokratischer, für den bürgerlichen Staat berechneter Institutionen bilden: 1) vollständigeautonomie der politischen Gruppen, 2) die Beteiligung aller Bürger an der Gesetzgebung, 3) Wählbarkeit aller Beamten, 4) vollständige Freiheit des Wortes, der Presse, der Versammlung, der Organisation usw. usw. 1 5) vollständige Gleichberechtigung der Frauen, 6) vollständige Gleichberechtigung der Konfessionen und Nationalitäten, 7) internationale Solidarität als Garantie des allgemeinen Friedens.« Es ist unmöglich, in wenigen Worten zu sagen, in welche Kategorie eigentlich dieses Programm gehört. Bei näherer Betrachtung sind zwei verschiedene Interpretationen möglich. Die hier aufgezählten politischen Forderungen erinnern, mit Ausnahme der ersten, die nicht vollkommen klar ist, an die gewöhnlichen Minimalprogramme der sozialdemokratischen Parteien. Aber eben die Zusammenstellung dieser Forderungen als Koordinate der Forderungen eines sozialistischen Umsturzes erweckt die Vermutung, daß sie nicht auf die aktuelle, bürgerliche Gesellschaftsordnung bezogen waren. Gl~eichzeitig ist zweifelhaft, ob sie die sozialistische Gesellschaft betreffen sollten, da sie zu sehr die aktuelle, auf Ungleichheit der Klassen, Geschlechter und Nationalitäten fußende Gesellschaftsordnung berücksichtigen. Vielleicht haben wir hier also nicht ein Minimalprogramm vor uns, sondern vielmehr ein Programm, das auf die übergangsepodie nach der Ergreifung der Macht durch das Proletariat berechnet ist und welches die Auslösung des sozialistischen Umsturzes zum Ziel hat.
Das Muster eines ähnlichen Programms, das auch politischdemokratische Forderungen und Reformen im Geiste eines sozialistischen Umsturzes auf dieselbe Ebene stellt und auf die übergangsphase unmittelbar nach der Revolution abstellt, finden wir z. B. in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland«, formuliert von der Zentralbehörde des Kommunistischen Bundes in Paris im Jahre 1848, welches u. a. die Unterschriften von Marx und Engels trägt. [17] Man muß jedoch betonen, daß das obige Programm bei den Schöpfern des Kommunistischen Manifestes durchaus keine blanquistische Taktik erkennen läßt, wie das z. B. Eduard Bernstein behauptet. Zum Verständnis dieses Programms genügt es, wenn man berücksichtigt, daß Marx und Engels es unter dem frischen Eindruck der Februarrevolution in Frankreich und des Ausbruches der Märzrevolution in Deutschland formuliert haben. Es ist bekannt, daß beide den revolutionären Schwung der Bourgeoisie überschätzten und damit rechneten, daß die europäische Bourgeoisie, einmal in den Wirbel der revolutionären Bewegung geraten, in einem kurzen oder längeren Zeitabschnitt den ganzen Zyklus ihrer Herrschaft durclilaufen würde, daß sie die politischen Verhältnisse der kapitalistischen Länder »nadi ihrem Ebenbild« verwandelte, worauf dann die Wogen der Revolution von selbst die Kleinbourgeoisie an ihre Stelle tragen würden, und zum Schluß dann das Proletariat, das auf diese Weise unmittelbar an die Ergebnisse der bürgerlichen Revolution anknüpfen könnte, zur Durdiführung eines Umsturzes im Geiste seiner Klassenemanzipation berufen sein werde. Reich an historischer Erfahrung sind wir heute imstande, den ganzen Optimismus dieser Anschauung zu erkennen. Wir wissen, daß die europäische Bourgeoisie gleich nach dem ersten revolutionären Sturm den Rückzug begonnen hat und, nachdem sie ihre eigene Revolution erstickt hatte, die Gesellschaft in »normalen« Gang der Dinge wieder unter ihre Herrschaft brachte. Wir wissen auch, daß die damaligen ökonomischen Bedingungen in Europa von jenem Reifegrad sehr weit entfernt waren, der einen sozialistischen Umsturz ermöglicht hätte. Der Kapitalismus bereitete sich damals nicht auf den Tod, sondern im Gegenteil auf den eigentlichen Beginn seiner Herrschaft vor. Dadurch hat sich auch die Phase, die die Kommunisten von 1848 nur um einige Jahre von der Diktatur des Proletariats zu trennen schien, zu einer ein halbes Jahrhundert währenden Epoche ausgedehnt, die sogar heute noch nicht an ihrem Ende angelangt ist. Der Grund jedoch, der Marx und Engels veranlaßte, schon damals ein Aktionsprogramm aufzustellen, das unmittelbar auf die Revolution der Arbeiter beredinet war, war nicht die Lust oder die Hoffnung, die Phase der bürgerlichen Herrschaft zu »überspringen«, sondern nur die falsche Einschätzung des tatsächlichen Tempos der gesellschaftlichen Entwicklung unter dem Einfluß der Revolution. Bei den Bedingungen der Tätigkeit des »Proletariat« ist es schwer, analoge Umstände zu finden, die das Programm erklären könnten. Wenn wir also seinen Forderungen den Charakter eines der übergangsepoche angepaßten Programms zuschreiben wollten, so bliebe uns nur die Vermutung übrig, daß das »Proletariat« sich wirklich schon in gewissem Maße den blanquistischen Gesichtspunkt zu eigen gemacht hatte. Man muß jedoch feststellen, daß außer dieser Vermengung der Endziele mit den unmittelbaren Zielen das Programm des »Proletariat« als Ganzes vom Geiste der sozialdemokratischen Weltanschauung durchdrungen ist. Dies beweist die starke Betonung des Gedankens, daß der sozialistische Umsturz nur von der Arbeiterklasse vollzogen werden kann, daß nur der Massenkampf, die Organisierung des Proletariats und seine Aufklärung imstande sind, die Bedingungen der künftigen Gesellschaftsordnung vorzubereiten. Die Idee der Agitation und der Organisierung der Massen ist das Leitmotiv des ganzen Programms und macht deutlich, daß die Pa.-tel sich damals auf eine lange Phase der Arbeit auf der Basis der alltäglichen Interessen des Proletariats vorbereitete. Darauf weisen auch einige Abschnitte des Programms hin, in denen das »Proletariat« die politischen Freiheiten als Voraussetzung für Organisierung und Massenkampf ansieht, was hier und da genau an die Formulierungen Warynskis im »Przedswit« aus dem vorigen Jahr erinnert. »Wir mißbilligen entschieden«, lesen wir im Programm, den Mangel an Gewissensfreiheit, Freiheit der Rede, der Versammlung, der Organisation, des Wortes und der Presse - weil all das der Entwicklung des Bewußtseins der Arbeiter große Hindernisse in den Weg legt. Es erweckt entweder religiös-nationalen Haß und Fanatismus oder macht die Propaganda und Massenorganisation unmöglich, die allein den Grundstein zur künftigen Organisierung der sozialistischen Gesellschaftsordnung legen können.« Und etwas weiter: »Gegen die Unterdrückung werden wir weiterhin sowohl defensiv als auch offensiv kämpfen. Defensiv, indem wir keine Veränderung zum Schlechteren zulassen werden; offensiv, indem wir eine Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats im russischen Staat fordern.« Wenn wir trotzdem in dem Programm eine deutliche und kategorische Formulierung des Kampfes gegen den Zarismus um demokratische Freiheiten als unmittelbare Aufgabe nicht finden - es überwiegt eine gewisse Unentschlossenheit und ein Schwanken des politischen Gehalts -, so zeigt jedenfalls dieses Programm und die Begründung seiner positiven Anschauungen durchaus keinen Blanquismus. Die einzige Tatsache, die sich auf Grund dieses Dokumentes feststellen läßt, ist, daß der Standpunkt der polnischen Sozialisten zweifellos schon viel von jener kristallenen Klarheit verloren hat, welche ihn in den von uns analysierten Dokumenteri der Genfer Gruppe kennzeichnete. Man muß jedoch auch berücksichtigen, daß das Programm von 1882 schon das Werk der in der Heimat wirkenden Warschauer Gruppe ist und daß Warynski, nachdem er seine Tätigkeit in das russische Teilungsgebiet verlegt hatte, wahrscheinlidl viel mehr mit den dortigen Genossen rechnen mußte, die stärker unter dem unmittelbaren Einfluß der Russen standen als die polnische Emigration in der Schweiz. Wenn aber der Charakter des offiziellen Programms der Partei »Proletariat« sich durch Unklarheit auszeichnet, so erlauben die weiteren Formen ihrer Tätigkeit keinen Zweifel mehr an den wachsenden Einfluß des Blanquismus. Wenn wir nun die Entwicklung des Proletariat« als Ganzes überblicken, so zögern wir nicht, sein Programm von 1882 als übergangserscheinung zu diarakterisieren, die eben durch ihre Unklarheit den Wendepunkt zwischen der sozialdemokratischen und der blanquistischen Phase in der Entwicklung des polnischen Sozialismus widerspiegelt.

IV

Im vorigen Abschnitt haben wir den Übergang der von Waryaski und seinen Genossen gegründeten Partei vom sozialdemokratischen Standpunkt zum blanquistischen deduktiv erschlossen, als logisches Ergebnis ihres politischen Leitprinzips der gemeinsamen Aktion mit dem russischen Sozialismus, angewandt unter den damaligen Umständen. Diesen Schluß bestätigt auf sehr handgreifliche Weise eine Analyse von Dokumenten aus der Tätigkeit des Proletariat«, die beweisen, wie die polnischen Sozialisten bei jeder Annäherung an die »Narodnaja Wolja« deren Anschauungen und Taktik buchstäblich übernahmen. Das läßt sich in genauer dironologischer Folge beobachten. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht z.B. bereits das früheste Dokument von Anfang 1883, also kaum einige Monate nach dem »Aufruf des Arbeiterkomitees« - dem formalen Programm der Partei »Proletariat«. Wir denken hier an die Resolution, die von dem ,Kongreß der Vertreter einiger sozial-revolutionärer Gruppen«, die den ersten Schritt zu einer gegenseitigen Annäherung und zur Bildung einer straff organisierten sozial-revolutionären Partei gemacht haben, angenommen wurde. Dieses Dokument führt zwar nicht einzeln auf, von welchen sozial-revolutionären Gruppen« die Rede ist, trägt auch nicht die offizielle Unterschrift der Partei Proletariat«, aber schon seine Veröffentlichung im »offiziellen Teil« der Zeitschrift »Przedswit« sowie auch die allgemeine politische Tendenz dieses Dokuments, die mit den Absichten Warynskis und seiner Genossen übereinstimmt, beseitigt jeden Zweifel, daß es sich hier, wenn nicht um den ideologischen Ausdruck der ganzen Partei Proletariat« oder ihrer Führung, so doch um die Anschauungen eines Teils ihrer einflußreichen Aktivisten handelt. Wir betonen die praktische Wichtigkeit dieser Resolutionen hier nicht, obwohl sie in späteren Veröffentlichungen der Partei als Grundlage der bekannten vertraulichen Vereinbarung zwischen dem »Proletariat« und der »Narodnaja Wolja« erscheinen. Wir betrachten sie nur als Symptom der Stimmung der polnischen Sozialisten kurz nach der Gründung der Partei. Die Beschlüsse, deren Leitidee genau wie in dem Aufruf »An die russischen sozialistischen Genossen« die Bildung einer einzigen Partei für den russischen Staat mit einem gemeinsamen Programm ist, beginnen mit der folgenden charakteristischen Fragestellung: Soll eine besondere polnisch-litauisch-weißrussische revolutionäre Partei gebildet werden? Einstimmig: Nein! Dagegen sollen die polnischen, litauischen und weißrussischen Gruppen in eine einheitliche Partei eintreten, die innerhalb der Grenzen des russischen Staates tätig ist. Wie soll die Tätigkeit dieser Partei aussehen? Diese Tätigkeit soll zweierlei umfassen: einerseits sozialrevolutionäre Propaganda und Agitation, andererseits den Kampf mit der russischen Regierung direkt in ihrem Zentrum.«
Wenn schon das Ende des letzten Satzes, der auf die Tätigkeit der »Narodnaja Wolja« berechnet ist, den verschwörerischen Gesichtspunkt des politischen Kampfes verrät, so ist der folgende Abschnitt noch charakteristischer: »Die politische Agitation wird nur insofern als sinnvoll anerkannt, als die Politische Unterdrückung Hand in Hand geht mit der ökonomischen. Wenn die Regierung sich z. B. auf die Seite der besitzenden Klasse stellte, so wäre der Kampf mit den letzteren gleichzeitig ein Kampf mit der Regierung. Wenn sich dagegen die Regierung auf keine gesellschaftliche Klasse stützt und durch ihren Druck die Tätigkeit der sozial-revolutionären Partei lähmt, so sollte sie - und dies ist auch leicht möglich - durch eine Verschwörung gestürzt werden. Dabei ist der enge Zusammenschluß der Volksmassen auf der Basis des Antagonismus ihrer Interessen und der Interessen der besitzenden Klassen eine unerläßliche Bedingung weiterer Fortschritte der Revolution.« [18] Jeder, dem die Theorien des russischen Sozialismus bekannt sind, erkennt hier sofort einen Widerhall der Anschauungen der Narodnaja Wolia«, die sie ihrerseits von den Bakunisten geerbt hat. Schon der Herausgeber des »Nabat«, Tkatschoff, einer der ältesten russischen Blanquisten, formulierte im Jahre 1874 in seinem »Offenen Brief an Herrn Friedrich Engels«, der in deutscher Sprache in Zürich erschien, die Theorie, daß die zaristische Regierung sich auf keine gesellschaftliche Klasse stützt« und daß sie deshalb gestürzt werden »kann und soll«. Dieser Staat, verkündet Tkatschoff, »erscheint nur von weitem als Macht ... Er hat keine Wurzeln im ökonomischen Leben des Volks, er verkörpert in sich nicht die Interessen irgendeines Standes ... Bei Ihnen (in Deutschland, im Westen - RL) ist der Staat keine scheinbare Macht. Er steht mit beiden Füßen auf dem Boden des Kapitals und verkörpert in sich gewisse ökonomische Interessen ... Bei uns (in Rußland - RL) ist es gerade umgekehrt, unsere Gesellschaftsform hat ihre Existenz dem Staat zu verdanken... der mit der bestehenden sozialen Ordnung nichts gemeinsam hat, der seine Wurzeln nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit hat.« [19] In den Anschauungen der russischen Sozialisten der siebziger und achtziger Jahre bildete diese Theorie von dem »in der Luft hängenden« russischen Staat nur einen Teil der Theorie von der »eigenständigen« Entwicklung Rußlands. Auf dem Gebiet der Okonomie entsprach ihr die Betrachtung des Kapitalismus in Rußland als einer »künstlichen Pflanze«, die von der russischen Regierung auf russischen Boden »verpflanzt« wurde, und die Betrachtung des ländlichen Gemeindeeigentums als der eigentlichen Form der russischen Volkswirtschaft. Natürlich war die Beziehung zwischen den ökonomischen Verhältnissen der Gesellschaft und ihrem politischen System so vollkommen durcheinander geraten. Die ökonomischen Verhältnisse, soweit von ihnen in ihrer kapitalistischen Form die Rede war, wurden nämlicl1 von dieser Theorie als willkürliches Produkt der politischen Macht angesehen. Andererseits stand der Zarismus nach der Theorie der »Narodnaja Wolja« in entschiedenem Gegensatz zum ländlichen Gemeindeeigentum, dieser natürlichen Form der Volkswirtschaft. Logisch also war auf die Frage: Worauf stützt eigentlich die politische Herrschaft in Rußland ihre Existenz? nur die eine Antwort möglich: daß der Staat in Rußland »in der Luft hängt« oder, wie es das Programm des Exekutivkomitees der »Narodnaja Wolja« noch genauer formuliert hatte: »Dieser staatlich-bourgeoise Auswuchs hält sich nur mittels nackter Gewalt«.[20] Wenn auf diese Weise das ganze existierende politische System Rußlands auf die politische Gewalt zurückgeführt wurde, so war es nur noch eine logische Schlußfolgerung, daß auch die Beseitigung dieses Systems nur eine Frage der Anwendung von Gewalt sein kohnte, und man beschloß: Die allmächtige Regierung »kann und soll durch eine Verschwörung« leicht gestürzt werden«. Schon Friedrich Engels hat im Jahre 1874 diesen Gedankengang widerlegt, indem er sofort mit erstaunlicher gedanklicher Tiefe auf die schwachen Seiten der Theorie der russischen Narodniki hinwies. Er stellte fest, daß der russische Staat durchaus nicht »in der Luft hängt«, sondern daß er sich sehr stark auf die Klasse der adeligen Grundbesitzer und gleichzeitig auf die entstehende Klasse der Bourgeoisie stützt, daß also vielmehr diejenigen russischen Sozialisten in der Luft hängen, die diese materiellen Grundlagen der zaristischen Regierung nicht erkennen. Weiter weist Engels nach, daß die russische Obschtschina, die von den »eigenständigen« russischen Sozialisten als Basis der nahen sozialistischen Zukunft Rußlands betrachtet wurde, ein geeignetes Fundament war, allerdings nicht für die sozialistische Gesellschaftsordnung, sondern gerade für den orientalischen Despotismus des russischen Zarismus. Er verfolgte auch die Auflösungserscheinungen innerhalb dieser Obschtschina und prophezeite ihre weitere Auflösung unter dem Einfluß der Entwicklung der Bourgeosie, falls diese sich selbst überlassen würde. Mit einem Wort, obzwar Engels nicht auf die positiven Aufgaben der russischen Sozialisten hingewiesen und namentlich die künftige Aktion des Industrieproletariats in Rußland nicht berücksichtigt hatte, zerstörte er doch den phantastisdchen, »in die Luft« gebauten, »eigenständigen« Weg Rußlands zum Sozialismus, und erklärte gleichzeitig, daß Menschen, die, wie Tkatschoff und andere Sozialisten-Narodniki, auf Grund der Tatsache, daß Rußland »zwar« keine Proletariat, aber »dafür« auch keine Bourgeoisie besitzt, sich dem Sozialismus näher wähnen als die westeuropäischen Länder, »erst vom Sozialismus noch das Abc zu lernen haben«.[21]
In der Tat lehrt das Abc des Sozialismus, nämlich des marxistischen, daß die sozialistische Gesellschaftsordnung nicht irgendein im voraus erdichtetes Ideal einer Gesellschaft ist, welches auf verschiedenen Wegen und auf verschiedene, mehr oder weniger geistreiche Weise erreichbar ist, sondern daß sie einfach die historische Tendenz des Klassenkampfes des Proletariats im Kapitalismus gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie ist. Außerhalb dieses Klassenkampfes zweier ganz bestimmter gesellschaftlicher Klassen ist der Sozialismus nicht realisierbar, weder durch die Propaganda des genialsten Schöpfers einer sozialistischen Utopie noch durch Bauernkriege oder revolutionäre Verschwörungen. Die polnischen Sozialisten gingen, wie wir sahen, formal in ihrem Programm gerade von diesen Grundsätzen aus und wollten ihre Tätigkeit auf den Klassenkampf des Proletariats stützen. Im Grunde genommen versündigten sie sich aber schon in dem zitierten Dokument nicht weniger als die russischen Narodniki am »Abc des Sozialismus«. Indem nämlich unsere Revolutionäre von den russischen Narodniki die Auffassung des russischen Staates als eines mit keiner gesellschaftlichen Klasse verbundenen und »in der Luft hängenden« Staates überiiommen haben und an den leichten »Sturz« dieses Staates durch eine Verschwörung glaubten, trennten sie auch künstlich den politischen Kampf von ihrer übrigen sozialistischen Tätigkeit, trennten den Kampf mit der Regierung, den sie der Verschwörerpartei als Sonderaufgabe zuwiesen, von der sozialistischen Agitation und dem Klassenkampf, den sie doch in Polen als Aufgabe der Arbeiterklasse betrachteten. Dieser Auffassung entspricht auch die kategorische Zweiteilung der Aufgaben der Partei im ersten Punkt der zitierten »Beschlüsse« in die »Propaganda und sozial-revolutionäre Agitation« einerseits und den »Kampf mit der Regierung direkt in ihrem Zentrum« andererseits. Wir sagten oben, daß es ein charakteristisches Merkmal des Blanquismus sei, daß er »die politische Macht als Mittel zum sozialen Umsturz betrachtet, unabhängig sowohl von der gesellschafllichen Entwicklung als auch vom Klassenkampf«. Obwohl die polnischen Sozialisten diese Theorie in ihrer allgemeinen Form durchaus nicht anerkannten, vielmehr, wie wir sahen, bewußt und mit voller Überzeugung davon ausgingen, daß »die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann«, stellten sie sich doch schon durch die Übernahme der Narodniki-Anschauungen über den russischen Staat unbewußt aber faktisch, auf den oben formulierten blanquistischen Standpunkt. Die Hoffnung auf die Möglichkeit, direkt und unter Umgehung der parlamentarisch-bürgerlichen Phase einen sozialistischen Umsturz durchführen zu können, mußte sich daraus als logische Schlußfolgerung ergeben.
Tatsächlich zeigen uns die Veröffentlichungen der Partei schon sehr früh diese Entwicklung ihrer Anschauungen. In der im Lande erscheinenden Zeitschrift »Proletariat«, von der fünf Nummern in einer geheimen Druckerei vom September 1883 bis zum Mai 1884 hergestellt wurden, fällt schon eine ironische Verhöhnung der »bürgerlichen Freiheit« des Liberalismus auf, die so charakteristisch ist für den Verschwörersozialismus und den Anardiismus. Während die 2. Nummer der Zeitschrift »Proletariat« das satirische Gedicht »Eine liberale Hymne auf das Jahr 1880 in Erwartung einer Verfassung« enthält, finden wir in dem Leitartikel derselben Nummer bei der Behandlung der Vorteile, die die von der Partei aufgenommene »neue Parole« des sozialistischen Kampfes bringt, den folgenden originellen Gesichtspunkt: »Noch einen dritten Vorteil hat der schon begonnene Kampf: Er wirft die bürgerliche Gesellschaft in die Arme der Regierung, mit deren allmächtiger Unterstützung sie sich vor dem neuen Feind zu retten hofft, der es auf ihre Vorrechte abgesehen hat; der Kampf schweißt diese beiden Elemente immer enger zusammen und macht sie zu einem hinter keiner Maske leerer Phrasen verborgenen Feind der Arbeiterklasse.« Auf den ersten Blick erscheint es rätselhaft, wie man in der Anfangsphase der sozialistischen Bewegung, wo es an den elementarsten demokratischen Freiheiten fehlt, die wachsende Reaktion der bürgerlichen Klassen als positive Erscheinung auffassen kann. Indem sich die Bourgeoisie dem Zarismus in die Arme wirft, verlängert sie natürlich dessen Existenz und befestigt gleichzeitig all das, was nach den eigenen Worten des Programms der Partei »Proletariat« der Entwicklung des Bewußtseins der Arbeiter große Schwierigkeiten bereitet. Sie macht die Propaganda und die Massenorganisationen unmöglich, die allein in der Lage sind, den Grundstein zum künftigen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu legen«. Aber der im Programm von 1882 ausgedrückte Standpunkt war, wie wir sehen, nicht mehr der Standpunkt der Partei aus dem Jahre 1883, und der Gesichtspunkt, von dem aus die Partei die polltischen Erscheinungen einschätzte, war schon ein durchaus anderer: »Das (die bürgerliche Reaktion - RL) erschwert zwar, hören wir jetzt, den Kampf in den Anfängen, indem es weite Kreise Neutraler und sogar mit der Regierung Unzufriedener fernhält, es schafft aber desto festere Grundlagen für den Kampf, gibt dem Kampf eine Richtung und erschwert damit die bis zum Ausbruch des Kampfes mögliche oder längst praktizierte Verführung der Massen durch die herrschenden Klassen und verhindert eine Verfälschung der revolutionären Bewegung.« Der Maßstab für die Einschätzung der politischen Bedingungen der Aktion ist also hier nicht mehr die Unerläßlich keit der allmählichen Organisierung der Massen, d. h. das Erfordernis des täglichen Kampfes, sondern der Ausblick auf den Moment des »Ausbruchs«, die unmittelbare Vorbereitung auf die soziale Revolution. Diese Anschauung von der Situation des Sozialismus in Polen wird harmonisch ergänzt durch die Anschauung, die das »Proletariat« zur gleichen Zeit von der Lage in Rußland und der Tätigkeit der »Narodnaja Wolja« hat. Infolge der terroristischen Anschläge der letzteren »entsteht im Volk eine hohe Einschätzung der Kraft der Revolutionäre, und es drängt sich dem Volk allmählich die Frage auf, ob es nicht besser- sei, sich auf ihre Seite zu stellen, ob sie ihm nicht den Boden, die Wälder und die Weiden zurückgäben. Es hängt von den Revolutionären ab, zu dem Volk >ja< zu sagen, und das Schicksal der Revolution ist entschieden.« [22] Fürwahr, leichter und angenehmer kann man sich eine Revolution gar nicht vorstellen, könnte man hier mit Engels sagen.
Von der Vorbereitungsarbeit, der Aufklärung und Organisation der Arbeiterklasse ist nicht mehr die Rede, man vermutet vielmehr, daß die Volksmassen den Hang zur Veränderung der Gesellschaftsordnung in sich tragen, und von diesem Gesichtspunkt aus erscheinen partielle Veränderungen innerhalb des existierenden Regierungssystems, wie die Demokratisierung des Staates, natürlich nur als unbedeutende Kleinigkeiten und als Zeitverlust.In der 3. Nummer vom 20. Okt. 1883 lesen wir auch im Artikel »Wir und die Bourgeoisie« die eindeutige Erklärung »Die Masse (des arbeitenden Volkes) erkennt ihre Unfähigkeit zur Durchführung eines Umsturzes an - sie sucht Menschen, denen sie vertrauen, denen sie die Führung überlassen kann, und bis dahin schweigt sie. Wer, wenn nicht wir, könnte und sollte dieses Vertrauen gewinnen! Um es aber zu gewinnen, muß man mit Taten beweisen, daß wir die Feinde ihrer Tyrannen sind, daß wir vor dem Kampf nicht zurückschrecken, den wir heute in ihrem Interesse führen, daß wir bemüht sind, der Masse das zu geben, was ihr gehört, und nur deshalb lehnen wir das Turnier der bürgerlichen Parlamente ab, in denen eine unaufgeklärte Mehrheit die Entscheidung über den Umsturz ihren Feinden in die Hand gibt. Deshalb scheint uns eine energische, nur aus Sozialisten zusammengestellte provisorische Regierung die beste Gewähr für eine möglichst umfassende Obergabe des Eigentums an die arbeitende Klasse zu sein.« Das ist ein klassisches Glaubensbekenntnis im blanquistischen Geiste: die Gegenüberstellung einer »provisorischen Regierung von Sozialisten« und eines »Turniers bürgerlicher Parlamente«, wobei das politische Programm in seiner aktuellen Bedeutung vollkommen untergeht. »Wir sind Kommunisten«, verkündet genauso das Manifest der französischen Blanquisten, 1874 in London veröffentlicht, »weil wir bei unserm Ziel ankommen wollen, ohne uns an Zwischenstationen aufzuhalten, an Kompromissen, die nur den Sieg vertagen und die Sklaverei verlängern... ***170.2.23 »Die deutschen Kommunisten«, antwortet Friedrich Engels in seiner Kritik des obigen Manifestes (welches die Unterschriften von 33 Blanquisten trägt), »die deutschen Kommunisten sind Kommunisten, weil sie durch alle Zwischenstationen und Kompromisse, die nicht von ihnen, sondern von der geschichtlichen Entwicklung geschaffen werden, das Endziel klar hindurchsehen und verfolgen: die Abschaffung der Klassen, die Errichtung einer GesellschafL, worin kein Privateigentum an der Erde und an den Produktionsmitteln mehr existiert. Diese Dreiunddreißig sind Kommunisten, weil sie sich einbildensobald sie nur den guten Willen haben, die Zwischenstationen und Kompromisse zu überspringen, sei die Sache abgemacht, und wenn es, wie ja feststeht, dieser Tage >losgeht< und sie nur ans Ruder kommen, so sei übermorgen >der Kommunismus eingeführt<. Wenn das nicht sofort möglich ist, sind sie also auch keine Kommunisten. Kindliche Naivität, die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen!«
Die 4. Nummer des »Proletariat« zeigt zwar wieder bestimmte Schwankungen hinsichtlich der Rückkehr zu sozialdemokratischen Anschauungen. In dem Artikel »Wir und die Regierung« lesen wir: »Bis zur Phase des Endkampfes wird aber unsere Bewegung verschiedene Stadien durchlaufen müssen. Eine der Hauptaufgaben der Vorbereitungsarbeit ist der Kampf gegen die Angriffe der Regierungen, die uns verfolgen und die Interessen des Bürgertums vertreten, die Verteidigung der politischen Freiheit vor dieser niederträchtigen Verschwörung gegen die Forderungen des Volkes. Die politische Freiheit hat das Volk nicht vor sozialer Unterdrückung bewahrt, wir schätzen sie aus einem anderen Grund: Unsere Tätigkeit braudit, um erfolgreich zu sein, das Tageslicht, bei dem sie sich breit und frei entwickeln kann, und nur unter Zwang geht sie zur geheimen Konspiration über. Unter den Bedingungen politischer Freiheit wird die Wirkung auf die Massen erleichtert, wird ihr Bewußtsein rascher geweckt, sammeln sie sich schneller um die Fahne der sozialen Idee, wird ihre Organisierung in großem Maßstab möglich. Der Kampf mit den politischen Schwierigkeiten, die die Regierungen unserer Tätigkeit bereiten, muß dort besonders hartnäckig sein, wo die politische Unterdrückung in ihrer ursprünglichen schamlosen Form herrscht, wo unbeschränkte Willkür obwaltet, wo die primitivsten Menschenrechte nicht geachtet werden. Hier sollte der Sturz der Regierung einer der Hauptpunkte des sozialistischen Aktionsprogramms sein.« Auf Grund der zitierten Sätze könnte es scheinen, daß das »Proletariat« doch die Notwendigkeit verstand, politische Freiheiten noch vor dem »Ausbruch« zu erkämpfen, um so Agitation und Organisation in großem Ausmaß zu ermöglichen. Aber auch hier springt die stark einseitige und flache, formalistische Einschätzung-der politischen Freiheiten in die Augen, die nur als technische Erleichterungen für die Tätigkeit der Sozialisten gelten. Die objektive, historische Seite der parlamentarisch-bürgerlichen Regierungsformen als unerläßliche Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst, wird hier überhaupt nicht berücksichtigt. Da man andererseits die parlamentarische Demokratie nur als äußeres, die Vorbereitung des »Ausbruches« erleichterndes Mittel betrachtet, kommt man natürlich nicht zu dem logischen Schluß, daß der Kampf um die Realisierung demokratischer Formen eine notwendige und erste Aufgabe der Arbeiterklasse ist, sondern man bleibt dabei stehen, daß ihre Erlangung eine angenehme Eventualität ist, die zwar nicht zu verwerfen wäre, auf die man jedoch, falls notwendig, auch verzichten kann. Dies sind im Grunde genommen die Schlußfolgerungen, die das »Proletariat« im zweiten Teil des Artikels Wir und die Regierung« in der fünften und letzten Nummer seiner Warschauer Zeitschrift zieht: »Mag sich«, lesen wir dort, die Regierung, über die Fortschritte unserer revolutionären Arbeit erschreckt, unserer mehr oder weniger patriotischen Bourgeoisie nähern und ihr einige politisch-nationale Zugeständnisse machen, um sie zum gemeinsamen Kampf gegen uns aufzufordern - bitte schön. Wir werden gegen solche Zugeständnisse bestimmt nicht protestieren und werden uns bemühen, all das, was für die Bourgeoisie gemacht wurde, gegen sie auszunützen, gegen die Regierung zu richten.« Eine noch deutlichere Betonung dieser rein blanquistischen Auffassung der politischen Freiheiten offenbart das Schlußkapitel des Artikels, das aus den beiden grundlegenden Artikeln die Konsequenz zieht: Wir ziehen die Schlußfolgerung: Eine wesentliche und grundlegende Bedeutung hat für uns der heutige Staat. Indem der Staat seine Existenz eng mit der Aufrechterhaltung des gegebenen ökonomischen Systems verbindet, verteidigt er die privilegierten Klassen, unterdrückt und verfolgt er die Parteien, die eine soziale Befreiung anstreben. Den Regierungsapparat zerschlagen, das heißt das organisierte Hindernis stürzen, das unseren Zielen im Weg steht.« Schließlich ist also nicht mehr von der despotischen Regierung die Rede, sondern von dem »heutigen Staat«; damit wird die besondere russische Form der Regierung mit der Institution des Klassenstaates schlechthin identifiziert. Demnach besteht auch die Aufgabe der sozialistischen Partei in erster Linie nicht in einer fortschrittlichen Reformierung der staatlichen Institutionen, sondern in der Zerschlagung des Regierungsapparates«, also im unmittelbaren Sturz der auf der Klassenherrschaft beruhenden Regierung als einer Festung des bürgerlichen Herrschaftssystems. Endlich erscheint die besprochene Entwicklung der politischen Anschauungen in voller Pracht in dem wichtigsten Dokument aus der Geschichte der Partei, in dem formellen Vertrag mit der Partei »Narodnaja Wolja« Anfang 1884, also erst, nachdem Ludwik Warynski verhaftet und vom Kampffeld verschwunden war. Dieser Vertrag, der, wie üblich, die Verbindung der polnischen und russischen sozialistischen Bewegung viel später offiziell zur Kenntnis nimmt, als sie wirklich stattgefunden hat, ist ein ausgezeichnetes Pendant zu dem uns bereits bekannten Aufruf »An die russischen Genossen«. Er zeigt, welchen langen Weg politischer Wandlungen der polnische Sozialismus in dem kurzen Zeitabschnitt von Ende 1881 bis Anfang 1884 zurückgelegt hat. In dem an das Exekutivkomitee der »Narodnaja Wolja« gerichteten Bericht des Zentralkomitees des »Proletariat« finden wir die Erklärung, daß »die im Kampf geübten und organisierten Kampfgruppen (der Partei »Proletariat« - RL) im entspredienden Moment eingesetzt werden sollen als Hilfsabteilung zum Sturz der bestehenden Regierung und zur Ergreifung der Macht durch das Zentralkomitee. Das Zentralkomitee wird sich auf die Massen stützen, da es die einzige wirkliche Vertreterin ihrer Interessen sein wird, und eine Reihe von ökonomischen und politischen Reformen durchführen, durch die die bestehenden Eigentumsvorstellungen endgültig diskreditiert werden. Das Zentralkomitee wird den Teil des sozialistischen Programms verwirklichen, dessen Verwirklichung im Moment des Umsturzes möglich sein wird. [24] Hier ist der Sturz der »bestehenden Regierung« (prawitelstwo), also des Zarismus, schon deutlich als unmittelbare Einleitung zur sozialen Revolution aufgefaßt; der Kampf gegen den Despotismus verliert vollkommen den Charakter des täglichen Kampfes auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung; der Abstand zwischen den Minimalforderungen und dem Endziel, zwischen dem politischen Programm und dem Programm des sozialistischen Umsturzes schwindet, und die tägliche Aktion verwandelt sich unmittelbar in Spekulation über den »Ausbruch«, der sofort den sozialen Umsturz einleiten soll. Dementsprechend bespricht das Zentralkomitee im weiteren alle Einzelheiten des »Ausbruchs«, verspricht, den »staatlichen Umsturz« (gosudarstwiennyj pereworot) nicht früher zu beginnen als auf ein von dem Exekutivkomitee der »Narodnaja Wolja« gegebenes Signal, bedingt sich nadi dem Umsturz Selbständigkeit »in seinen schöpferischen Arbeiten« (sozidatjelnych rabotach) aus usw. Kurz und gut, wir haben hier trotz der an anderen Stellen im Dokument betonten Gesichtspunkte des Klassenkampfes, der Massenaktion usw. ein typisch blanquistisches Programm. Damit ist das Dokument, das die praktische Verwirklichung jener Idee krönt, die in dem Aufruf »An die russischen Genossen« ausgedrückt wurde, zugleich der Schlußpunkt einer Reihe allmählicher Wandlungen des polnischen Sozialismus.

V

Die Wandlungen der politischen Anschauungen der Partei mußten sich natürlich in ihrer praktischen Tätigkeit widerspiegeln. Das zeigte sich in zwei grundlegenden Punkten: im Schwund der Massenagitation und im Schwund der politischen Aktion überhaupt. Theoretisch stützte sich die Partei »Proletariat« gemäß den Grundsätzen ihres Programms noch auf den Klassenkampf und legte bis zum Ende starken Nachdruck auf die Bedeutung des Massenkampfes und der Agitation auf dem Boden der täglichen Interessen. [25] Aber nachdem sie einmal den Weg zum direkten sozialistischen Umsturz durch eine Verschwörung einer »mutigen Minderheit« eingeschla-en hatte, verlor sie den eigentlichen Leitfaden des Massenkampfes. Schon in der Auffassung der Taktik, wie sie z. B. der von uns zitierte Artikel »Wir und die Bourgeoisie« in der dritten Nummer der Zeitschrift »Proletariat« formuliert, ist den Volksmassen bis zum Augenblick des sozialen Umsturzes eine ganz passive Rolle zugedacht. »Die Masse erkennt ihre Unfähigkeit bei der Durchführung eines Umsturzes an, sie sucht Menschen, denen sie vertrauen, denen sie die Führung überlassen kann, und bis dahin schweigt sie.« Die revolutionäre Rollenverteilung in dieser Theorie entspricht also der antiken griechischen Tragödie. Einzelne wirken und die Masse bildet den Chor, den passiven Widerhall ihrer Taten. Die blanquistische Taktik verwandelt demnach eigentlich den Grundsatz: die Befreiung der Arbeiter soll das Werk der Arbeiter selbst sein, in den Grundsatz: die Befreiung der Arbeiter soll das Werk einer Handvoll von Verschwörern sein. Außerdem schließt die Technik des Verschwörerkampfes selbst eine Massentätigkeit aus. Die Verschwörung, mit welchem Programm auch immer verbunden, war nie und kann von Natur aus nicht Aufgabe der Massen sein, sondern nur einer kleinen Gruppe einzelner, ebensowenig wie der Terrorismus, wenn er als die wesentlichste Kampfmethode auf die Dauer praktiziert wird. Dementsprechend mußte die von »Proletariat« verkündete Mass~enagitation ein Grundsatz bleiben, der keine Anwendung fand. Es werden zwar als Beweis für die Massenagitation des »Proletariat« gewöhnlich zwei bekannte Tatsadien aus seiner Tätigkeit angeführt: die Aktion gegen die Verordnung des Warschauer Oberpolizeimeisters im Februar 1883, welche eine sanitäre Untersuchung der Arbeiterinnen betraf, und die Demonstration der Entlassenen auf dem Schloßplatz in Warschau im März 1885. Aber die angeführten Beispiele können nicht im geringsten die These stützen, daß das Proletariat wirklich in Polen eine Massenbewegung hat oder dazu fähig war. In beiden Fällen hat die Partei zwar bewiesen, daß sie die Notwendigkeit verstand, sich an die Massen zu wenden und sie in Ausnahmefällen zu verteidigen, in Situationen, die unabhängig von ihrem Willen und ihrer Initiative entstanden. Im ersten Fall hat die Partei geschickt eine Einzelverordnung der Behörden ausgenützt, um einen kühnen Appell an die Massen zu richten und zu verlangen, daß diese Anordnung zurückgenommen wird. Im zweiten Fall, vor die Tatsache einer stürmischen Demonstration einer ihrer Klassenlage nach unbewußten und nicht organisierten Arbeitermenge gestellt, richtete sie an die Menge einen Aufruf und rief sie unter ihre Fahne. Aber beide Fälle beweisen gleichzeitig, daß die Partei »Proletariat« von ihrem taktischen Standpunkt aus durchaus nicht fähig war, die vorhandenen Gelegenheiten auszunützen, um eine dauerhafte Massenagitation zu beginnen. Um das zu vollbringen, hätte die Partei es verstehen müssen, den empörten Arbeitermassen irgendeine unmittelbare greifbare Aufgabe zu zeigen, eine unmittelbar für sie verständliche Aktion. Das wäre geschehen, wenn man den beleidigten Arbeiterinnen und den entlassenen Arbeitern den Hinweis gegeben hätte, daß die despotische Regierung, daß die politische Rechtlosigkeit der Arbeiter das größte Hindernis ist auf dem Wege zur Besserung ihrer materiellen und sozialen Lage, wenn man ihnen die Unerläßlichkeit der Organisierung zum täglichen Kampf erklärt hätte, zum Kampf sowohl gegen die Ausbeutung durch einzelne Kapitalisten wie auch zum Kampf um die politische Freiheit gegen die zaristische Regierung. Mit einem Wort, die Partei hätte eine dauernde Massenagitation nur dann beginnen können, wenn sie von vornherein ein Programm des Tageskampfes - des ökonomischen und des politischen - gehabt hätte, ein Programm, das eben auf eine Massenaktion berechnet gewesen wäre. Indem aber die Partei direkt nach der sozialistischen Revolution strebte und das auf eigene Faust, wobei sie der Arbeiterklasse bis zum Augenblick des Umsturzes die Rolle eines passiven Zuschauers zuwies, wußte sie nicht, worauf sie die Einpörung der Massen, die für sie eine überraschung war, lenken sollte und worin sie sich verwirklichen sollte. Gleichzeitig beweisen diese beiden Beispiele anhand des zwischen ihnen bemerkbaren Unterschiedes, wie die Partei sich allmählich vorn sozialdemokratischen Standpunkt entfernte und damit auch den Kontakt mit den Massen immer mehr verlieren mußte. Im ersten Fall, in dem Aufruf an die Arbeiterinnen aus dem Jahre 1883, finden wir zwar nicht die geringsten politischen Schlüsse aus einem so dankbaren Objekt, wie es die betreffende Anordnung der Behörden der zaristischen Regierung war, aber wir finden wenigstens noch einen greifbaren Hinweis auf die praktische Tätigkeit, nämlich eine Aufforderung zur Bildung von Betriebsgewerkschaften und Streikkassen. [26] Im zweiten Aufruf zur Demonstration 1885 auf dem Schloßplatz finden wir überhaupt kein näheres und praktischeres Ziel mehr; die Partei fordert die aus der Arbeit Entlassenen, auf den Straßen Warschaus nach Brot und Arbeit Rufenden auf, die sozialistische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen natürlich hier in der gröbsten und demagogischsten Form. [27] Auf diese Weise schied die Partei auf dem politischen und ökonomischen Gebiet die Massen selbst aus dem unmittelbaren Kampfe aus, indem sie die Vollmacht zum Handeln für sie und in ihrem Namen übernahm. Notwendigerweise beschränkte sich das »Proletariat«, indem es ununterbrochen Massenagitationen verkündete, immer mehr auf Propaganda im kleinen Kreis, und im besten Falle auf das Herausfischen von Einzelnen aus der Masse, um sie in die geheime Parteiorganisation aufzunehmen. Als aber auf diese Weise der politische Kampf des »Proletariat« auf Spekulationen über den »Ausbruch« zusammenschrumpfte und seine Agitation sich auf die Mitgliedergruppen beschränkte, da war der vollkommene Untergang des politischen Kampfes nach einiger Zeit unvermeidlich.
Das Schicksal des »Proletariat« wurde noch besonders durch einen Umstand beeinflußt. Die Verschwörertätigkeit, die auf den Sturz der Regierung und die Ergreifung der Macht gerichtet ist, wird dadurch charakterisiert, daß sie überhaupt nur dort angewandt werden kann, wo sich die Zentralbehörden des Staates, die wichtigsten Organe der Regierung, befinden. »Machtergreifung« kann man sich im besten Falle in Petersburg vorstellen, aber nicht in Warschau angesichts dessen untergeordneter, provinzieller Rolle im Staatsapparat Rußlands. Wenn bei so einer Aktion die Provinz während des »Ausbruchs« eine Hilfsrolle spielen sollte, dann schrumpfte diese Rolle jedenfalls bis zum Moment des«,Ausbrudis« auf passives Abwarten und Agitation innerhalb der Gruppen zusammen. Auch der systematische Terror, der die Hauptform der Tätigkeit der »Narodnaja Wolja« war und die Desorganisierung der Regierung bezweckte, konnte natürlich nur gegenüber den wichtigsten Vertretern der Zentralmacht angewandt werden, also in der Hauptstadt, und nicht gegenüber zweit- und drittrangigen provinziellen Satrapen - wenn es sich nicht um eine Bestrafung besonderer Vergehen handelte. Die Sache ist aber vollkommen anders, wenn wir auf dem Standpunkt des Massenkampfes gegen den Zarismus um demokratische Freiheiten stehen, wie ihn die Sozialdemokratie versteht. Zweifelsohne spielt auch hier vor allem das eigentliche Rußland eine entscheidende und einflußreiche Rolle. Da aber von diesem Standpunkt aus nur eine unmittelbare Aktion der Arbeiterklasse selbst den Zarismus stürzen kann, so ist eben der Kampf des Proletariats auf dem ganzen Gebiet des russischen Staates die unerläßliche Bedingung eines dauerhaften Sieges. Da die Arbeiterklasse selbst, und nicht eine Handvoll sozialistischer Führer-Verschwörer die Ergebnisse des Sieges über den Zarismus realisieren, die demokratische Freiheit verwirklichen soll, so ist auch die Höchstentwicklung des politischen Klassenbewußtseins in allen Kreisen und Gruppen des Proletariats in Rußland unbedingt notwendig. Dabei waren die polnischen Sozialisten vom Standpunkt der Verschwörung aus von vornherein gezwungen, passiv zu bleiben, die Rolle der stummen Zeugen zu übernehmen, die Knechte der russischen »Narodnaja Wolja« zu sein. Man muß aber hinzufügen, daß auch die »Narodnaja Wolja« in dem Zeitabschnitt, wo die Partei »Proletariat« sich mit ihr zum gemeinsamen Kampf fest und förmlich verband, sich schon auf einer schiefen Ebene befand. Seit dem Anschlag auf Alexander II. ist ihre Geschichte die eines fortschreitenden Verfalls. Seit der Mitte der achtziger Jahre macht sich in der russischen Bewegung der zersetzende Einfluß der unvermeidlichen Schwierigkeiten bemerkbar, in die eine Verschwörerpartei gerät, die keine Kraft hat, terroristische Anschläge durchzuführen, und daher anfängt davon zu leben, daß sie von Anschlägen redet oder versucht, sie unter ungünstigen Bedingungen durchzuführen. Als also in Rußland, wo allein die Aktion stattfinden konnte, eine Stockung eintrat, mußte es in Polen naturgemäß sehr rasch mit der Bewegung abwärts gehen. Und wirklich übte das »Proletariat« überhaupt keinen Terror aus, von dem in seiner Agitation in den letzten Jahren so viel die Rede war. Die einzigen terroristischen Akte waren zwei Anschläge auf den Verräter Sremski und die Tötung der Verräter Helszer und Skrzypczynski. Aber die Beseitigung von Spionen und Verrätern im Notfall und wenn es möglich ist, ist ein Akt der Selbstverteidigung unter den politischen Bedingungen des Zarismus und hat mit dem eigentlichen Programm und der terroristischen Taktik nichts gemeinsam. [28] In Wirklichkeit blieb der Terrorismus in der Geschichte des »Proletariat« nur eine Absicht und wurde nie zur politischen Aktion.

VI

Wir betrachteten bisher die Tätigkeit des »Proletariat« von zwei Seiten - der des politischen Programms, wie es sich in kurzer Zeit unter dem Einfluß der russischen »Narodnaja Wolja« gestaltet hat, und der praktischen Arbeit in der Form, die das politische Programm vorsah. Außer der Taktik unterschied sich, wie wir wissen, die Partei ,Proletariat« von ihrer russischen Schwester dadurch, daß sie die Theorie von Marx und Engels entschieden anerkannte, und dieser Unterschied zeigte sich schon in ihrem Programm von 1882 wie auch in ihrem Vertrag mit der »Narodnaja Wolja« von 1884 und schließlich in ihrer Propagandatätigkeit bis zu ihrem Ende. In der allgemeinen Begründung des Sozialismus blieb das »Proletariat« bis zum letzten Augenblick formell ein Adept der westeuropäischen, genauer der deutschen Sozialdemokratie. An sich widersprach die Tatsache dem verschwörerischen Charakter des Proletariat« durchaus nicht. Der Blanquismus, der eigentlich keine Theorie war und keine eigene Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung hatte, ließ sich mit jeder sozialistischen Theorie in etwa in Übereinstimmung bringen. Es ist z. B. eine äußerst interessante Tatsache, daß, wie bereits Friedrich Engels feststellte, das erste Manifest, in dem die französischen Arbeiter den »deutschen Kommunismus« als die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus anerkannten, eben das oben erwähnte Programm der französischen Blanquisten aus dem Jahre 1874 war.[29]
Obzwar anfangs die Grundanschauungen des »deutschen Kommunismus«: der historische Materialismus, die Theorie des Klassenkampfes und die Theorie der allmählichen Entwicklung der Gesellschaft, mit der Taktik der beliebigen »Durchführung« der Revolution und dem Glauben an die Allmacht der politischen Macht wenig harmonierten, so war doch diese Verbindung für den französischen Sozialismus ein gewaltiger Fortschritt, der eine neue Epodie in der Geschichte dieser einflußreichen Fraktion der Arbeiterbewegung Frankreichs einleitete. Von jenem Moment an näherten sich nämlich die französisehen Blanquisten nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Auffassung der unmittelbaren Aufgaben immer mehr der Sozialdemokratie. Schon in den neunziger Jahren war die Partei des Edouard Vaillant nur noch dem Namen nach eine »blanquistische« und im Grunde genommen eine vollkommen sozialdemokratische. Die unlängst vollzogene vollständige Vereinigung dieser Organisation mit der Partei der französischen Marxisten krönte die natürliche Entwicklung, deren Weg die Blanquisten bereits in den siebziger Jahren beschritten hatten. Für den polnischen Sozialismus jedoch, dessen AusgangsPunkt der »deutsche Kommunismus« Anfang der achtziger Jahre war, war die Verbindung der marxistischen Theorie mit der blanquistischen Taktik der »Narodnaja Wolja« kein Schritt nach vorn in seiner eigenen Entwicklung, wie sie ihm auch nicht die Oberhand über den damaligen russischen Sozialismus gab. Vielmehr hatte der polnische Sozialismus im Vergleich zum russischen viel an innerer Einheitlichkeit und Konsequenz eingebüßt. In der Tat, wenn es, wie wir sagten, zutrifft, daß sich der Blanquismus in seiner eigenen Heimat, in Frankreich, zu keiner eigenen Gesellschaftstheorie aufgeschwungen hat, ein Mangel, der ihn zwang, fremde und sogar seinem Wesen widersprediende Theorien zu übernehmen, so bildet die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht eben der - russische Sozialismus. Hier fand durch ein Zusammentreffen von besonderen Umständen eine blanquistische Taktik das erste und einzige Mal in ihrer Geschichte eine spezifische Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung, die ihr - scheinbar wenigstens - eine bestimmte materielle Grundlage gab, eine Art abgeschlossener historischer und sozialer Weltanschauung. Diese Grundlage war eben die Theorie des »Narodnitschestwo«. Der Blanquismus stützte sich, wie wir wissen, auf die Vermutung, daß ein Sturz des bestehenden Regierungssystems und die Einführung des Sozialismus nadi Belieben möglich ist, konnte sich aber dabei auf keine andere Legitimation berufen als auf die entscheidende Macht der politischen Gewalt. Die Theorie des »Narodnitschestwo« füllte glücklicherweise diese Lücke, wenn nicht durch eine allgemeine Gesellschaftstheorie, so doch wenigstens durch eine spezifisch russische Theorie der »Obschtschina«. Indem die Narodniki in den Überresten des russischen Gemeindeeigentums, die, nota bene, wie es wissenschaftliche Forschungen schon lange bewiesen haben, ein rein staatliches, fiskalisches, mit der Leibeigenschaft verbundenes Gebilde ist, indem also die Narodniki in diesen überresten die natürliche Grundlage der Wirtschaft und der Seele der russischen Bauernschaft sahen, meinten sie, daß in den Oberbleibseln der »Obschtschina« den archimedischen Punkt für die unmittelbare Einführung des Sozialismus in Rußland gefunden zu haben. Die Umgehung aller Entwicklungsphasen im Geiste der blanquistischen Aktion fand also hier ihre scheinbare Begründung in der besonderen Gestaltung der russischen Landwirtschaft, für die die Entwicklung der kapitalistischen Produktion und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung fast eine Abweichung vom unmittelbarsten und kürzesten Weg zum Sozialismus zu sein schien. Nachdem die »Narodnaja Wolja« diese Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklung Rußlands von den Narodniki übernommen hatte, stand ihre Auffassung von der unmittelbaren Aktion und von den Aufgaben des Sozialismus sozusagen auf festem Boden. Inwiefern die Theorie des eigenständigen historischen Weges Rußlands falsch war, wissen wir bereits auf Grund einer vielseitigen Analyse in den Veröffentlichungen der russischen Gruppe »Oswoboshdenije«. Aber hier geht es nicht um die Richtigkeit oder Falschheit dieser Anschauungen, sondern um ihre Übereinstimmung mit der besonderen Taktik der russischen Terroristen. In der Tat, wenn die ökonomische und soziale Grundlage für die Verwirklichung des sozialistischen Ideals schon - in der Form der »Obschtschina« - im Rahmen der russischen Gesellschaft gegeben und fertig war, so brauchte man natürlich nur die staatliche Maschinerie zu beherrschen und das Hindernis für die spontane Entwicklung des Sozialismus, d. h. die Selbstherrschaft, zu beseitigen. Wenn andererseits das kommunistische Ideal schon als angeborener natürlicher Instinkt in Geist und Seele des Volkes steckte, dann blieb der sozialistischen Partei nur die Aufgabe übrig, das Volk zur Macht und zu Entscheidungen aufzurufen; eine besondere Agitation zur Aufklärung und Organisierung der Massen war überflüssig. So bildete die Taktik der »Narodnaja Wolja« mit ihrer grundlegenden Theorie von der besonderen historischen Entwicklung Rußlands gewissermaßen eine geschlossene Einheit. Völlig anders war es in der Partei »Proletariat«. Hier stand die Taktik auf Schritt und Tritt in Widerspruch zu den allgemeinen Grundsätzen des Sozialismus, die von der Partei angenommen und propagiert wurden. Wenn die russischen Sozialisten den Sozialismus durch die »Obschtschina« erreichen wollten unter Übergehung des ganzen Zeitabschnitts der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, so wollten die polnischen Sozialisten, die ihrerseits ihre Daseinsberechtigung von dem kapitalistischen System der ökonomisch-sozialen Verhältnisse in Kongreßpolen ableiteten, die Phase der bürgerlich-parlamentarischen Regierung überspringen, die doch die natürliche Konsequenz und das politische Korrelat der entwickelten kapitalistischen Wirtschaft bilden. Während die »Narodnaja Wolja« auf die angeborenen kommunistischen Anschauungen der russischen Bauernschaft spekulierte, verwarf das »Proletariat«, das doch auf die Ausbildung eines sozialistischen Bewußtseins im polnischen Industrieproletariat zählte, gleichzeitig jene politischen Bedingungen, unter denen sich allein dieses Bewußtsein im Klassenkampf richtig entwickeln konnte. Auf diese Weise brachte die marxistische Weltanschauung, statt die Überlegenheit des polnischen Sozialismus über den »eingeborenen« Sozialismus Rußlands zu beweisen, in ihm nur eine Reihe von inneren Widersprüchen hervor. Andererseits mußte dieser Widerspruch, der sich durch die Verbindung der blanquistischen Taktik mit der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus ergab, angesichts der besonderen politischen Formen des Zarismus, unter denen das »Proletariat« wirkte, ganz entgegengesetzte Resultate zeitigen als in Frankreich. Hier, wo das Wirkungsgebiet des Sozialismus in den siebziger Jahren und später die Dritte Republik, also eine bürgerliche Formation in ihrer hödisten politischen Entwicklung, war, mußte die blanquistische Verachtung der parlamentarischen Turniere« und ähnlicher »Kompromisse« angesichts der Existenz aller Bedingungen des breiten täglichen Klassenkampfes eine mehr oder weniger unschädliche Phrase bleiben. Hier mußte die Theorie, zu der die Sozialisten unbewußt auf Schritt und Tritt durch die Praxis des politischen Lebens und den sich immer stärker entwickelnden, stürmischen Klassenkampf geführt wurden, nach einiger Zeit siegen und die ihr widersprechende Taktik beseitigen. Das ist, wie wir bereits gesagt haben, auch wirklich geschehen. In Kongreßpolen dagegen, unter den Bedingungen der absolutistischen Regierung des Zaren, war die Verachtung des ,bürgerlichen Liberalismus« nicht der Ausdruck der Enttäuschung, genauer des mangelnden Verständnisses für den historischen Wert der schon erreichten demokratischen Formen, sondern Ausdruck der Gleichgültigkeit, sie überhaupt zu erreichen. Angesichts der Tatsache aber, daß eben die Beseitigung des Zarismus und die Erkämpfung demokratischer Formen eine Lebensfrage für die sozialistische Bewegung innerhalb des russischen Staates ist, mußte die Taktik des »Proletariats«, die verhängnisvollerweise diese Lebensfrage zur Seite schob, einen entscheidenden Einfluß ausüben. Anders als in der Geschichte der französischen Blanquisten, mußte hier die Taktik die praktische Bedeutung der ihr widersprechenden propagierten Idee zunichte madien oder, um es genauer zu sagen, sie mußte alle Begriffe der Theorie nach ihrem Modell umgestalten. Die Aufgabe des Historikers und Kritikers sozialer Theorien wäre im Grunde genommen eine sehr flache und einfache Angelegenheit, wenn die Worte und Begriffe immer denselben Ideeninhalt enthielten, sozusagen in geronnenem Zustande, wenn sie Zahlungsmittel für immer gleiche gedankliche Werte wären. In Wirklichkeit verhält es sich gerade umgekehrt, und man kann gewissermaßen sagen, obzwar das paradox klingt, daß nichts ein ungenaueres Bild von dem geistigen Gehalt der Vergangenheit einer Partei gibt als ihre eigenen Worte. Wenn irgend jemand die Partei »Proletariat« nur auf Grund der von ihr in ihren Veröffentlichungen ausgesprochenen Anschauungen über die Grundlagen und Aufgaben des Sozialismus beurteilen wollte, wäre er erstaunt über den Nachdruck, mit welchem sie bis zum Ende Formulierungen aus dem theoretischen Wortschatz des Marxismus wiederholte. Da wir aber schon wissen, auf welche konkrete Weise das »Proletariat« seine allgemeinen Grundsätze anwandte, und die Schlußfolgerungen kennen, die es daraus für seine Tätigkeit zog, wissen wir, daß es mit der Zeit nur noch die Spradie des Marxismus war, mit deren Hilfe die Partei vollkommen unmarxistische Inhalte ausdrückte. Das »Proletariat« erkannte ganz im Geiste des Kommunistischen Manifests, daß die eigentliche Grundlage für die sozialistische Bewegung und für die Verwirklichung des Sozialismus die bürgerliche Gesellschaftsordnung« ist. Aber es verstand darunter nur die ökonomische Seite - die kapitalistische Produktionsform, und nicht auch die politische - die unmittelbare Herrschaft der Bourgeoisie in der Regierung und Gesetzgebung. Gleichzeitig sah es die Existenz der kapitalistischen Wirtschaft in bestimmtem Umfang, nicht jedoch ihre Entwicklung als Grundlage des Sozialimus an. Es betrachtete den Kapitalismus als Zustand, nicht als Prozeß. Weiter erkannte das »Proletariat« die Organisierung der Arbeiterklasse als Garantie der Verwirklichung des sozialistischen Umsturzes an. Aber es verstand darunter die Vereinigung der Arbeitermassen nur für den Augenblick des sozialen Umsturzes, nicht für den täglichen Kampf mit den herrschenden Klassen. Es hielt die Organisierung der Massen durch die Propagierung der Auffassung von der Unausweidilichkeit der Revolution für möglich, nicht eine allmähliche Organisierung während des Kampfes um die alltäglichen Interessen. Mit einem Wort, es faßte die Organisierung der Arbeiterklasse als künstliches Produkt der sozialistischen Agitation auf und nicht als natürliches, geschichtliches Produkt des Klassenkampfes, dem die sozialistische Agitation nur das Bewußtsein hinzufügt. Das »Proletariat« erkannte zwar den »Klassenkampf« als Alpha und Omega des Sozialismus an, aber verstand darunter hauptsächlich den Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie in der Form einer Revolution, und hielt auf diese Weise einen Moment des geschichtlichen Prozesses für den ganzen Prozeß. Angesichts all dieser Wandlungen in den Begriffen drückte auch die »soziale Revolution« für das »Proletariat« etwas völlig anderes aus als für die Sozialdemokratie. Sie bedeutete nicht das politische Resultat der Reife der Produktivkräfte zur Sprengung der Fesseln des Kapitalismus, sondern nur das Resultat einer beliebigen Anwendung von politischer Gewalt von seiten einer kleinen Minderheit von Sozialisten, die das Volk auf Grund seiner Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung und seiner Sehnsucht nach einer Veränderung zum Besseren mit sich reißen. Auf diese Weise wurden in Verlauf der allmählichen geistigen Wandlung der polnischen Sozialisten ihre ursprünglichen theoretischen Anschauungen zu einer Denkweise, aus der der eigentliche Inhalt vollkommen verschwunden war und die mit blanquistischem Inhalt aufgefüllt wurde.

VII

Wie in solchen Fällen üblich, je weniger die durch das »Proletariat« aufgegriffenen taktischen Anschauungen auf günstigen Boden fielen und gute Anwendungsmöglichkeiten fanden, desto schärfer und lauter drückten sie sich in den von der Partei verbreiteten Losungen aus. Besonders als die ältere Generation der Aktivsten des »Proletariat« mit der Zeit infolge der polizeilichen Verfolgung vom Schauplatz verschwand, als die Parteiagitation im Lande schwächer wurde und trotz der Aufopferung aller Kräfte von mutigen Einzelnen, die sich bis zum Ende um die Fahne des »Proletariat« scharten, notwendigerweise zu unfruchtbarer Kleinarbeit zusammenschrumpfte - da machte sich rasch in der Parteiliteratur die vulgäre »revolutionäre« Phrase breit, jeglicher tieferer theoretischer Überlegungen entkleidet. Schon der »Przedswit« aus dem Jahre 1885 betreibt eine vollkommen gedankenlose Apotheose der Gewalt, indem er z. B. auf neun langen Spalten die Frage des Königsmordes untersucht und mit vollem Ernst das Problem erörtert, ob man die Herrscher erst nach Beginn der Revolution auf Grund eines Volksurteils töten soll oder ob es nicht praktischer wäre, die Revolution gleich mit der Hinrichtung der Herrscher zu beginnen. [30] Zweifellos gibt sich kein Sozialist heute, Phantasten Bernsteinschen Schlages ausgenommen, der Illusion hin, daß irgendein ernst zu nehmender politischer Umsturz, und erst recht kein sozialistischer Umsturz, auf »legalem« friedlichem Wege möglich ist, ohne Gebrauch von Gewalt zum Sturz der konterrevolutionären Mächte. Niemand wird auch verneinen, daß sich in revolutionären Zeiten die Notwendigkeit ergeben kann, einen gekrönten Kopf zu beseitigen, wie es bei Ludwig XVI. der Fall war, der als Hochverräter mit dem äußeren Feind des Landes konspirierte, dadurch zum Stützpunkt der konterrevolutionären Partei wurde und eine ernste Gefahr für das Schicksal der Revolution bildete. Aber das »Schafott für die herrschenden Dynastien« von vornherein als unumgängliches und wichtiges Attribut jeder Volksrevolution anzusehen, ist zweifellos eine originelle Idee. Unwillkürlich denkt man an die Worte von Engels, die er einmal anläßlich ähnlicher revolutionärer Exzesse der französischen Blanquisten geäußert hat: »Zu solchen Kindereien kommt es, wenn im Grund genommen gutmütige Menschen ein notwendiges Bedürfnis fühlen, als schrecklich zu gelten«. Aber die »Kinderei« der polnischen Revolutionäre in der Emigration hatte doch einen besseren Grund. Durch diese abschreckenden »revolutionären« Ideen brach doch das Licht der Hoffnung auf den sehr nahen »Ausbruch« der sozialen Revolution durch (im russischen Zarismus!) und mehr noch, der sichtbare Glaube daran, daf~ vor allem eine reichliche und richtige Anwendung von Gewalt die Gewähr für das Gelingen eines Umsturzes biete. Die Einzelheiten der Anwendung von physischer Gewalt in der künftigen Revolution, die vom Standpunkt des Fortschrittes zum Sozialismus aus vorläufig noch eine ziemlich gleichgültige Frage darstellen und in der Tat heute für die Erwachsenen überhaupt kein Forschungsproblem mehr darstellen, diese Einzelheiten spielten nun für die Verschwörer die wichtigste Rolle. Der Glaube an die Allgewalt des politischen Elements, der der Ausgangspunkt des Blanquismus ist, erhält bei einer vulgarisierten Agitation die Form des Glaubens an die Allgewalt der nackten physischen Übermacht - der Barrikaden, Blutgerüste«, »Sensen und Dreschflegel«. Ein nicht weniger charakteristisches Symptom ist auch z. B. die zweite Idee des »Przedswit« aus jener Zeit, nämlich seine Agitation für die Fachausbildung« der Arbeiter, um sie für die Organisierung der Produktion »am nächsten Morgen nach der Revolution« fähig zu machen. [31] Die Theoretiker des »Przedswit« verstanden nicht, daß die sozialistische Produktion von der technischen Seite her schon innerhalb des Kapitalismus reift, daß infolgedessen das Siegreiche Proletariat ihre Organisation schon in fertiger Form von der bürgerlichen Gesellschaft übernimmt, um auf der geschichtlich gegebenen Grundlage weiterzubauen, die Eigentumsverhältnisse zu reformieren usw. Deshalb vermuteten sie wahrscheinlich, daß die Wirtschaft »nach der Revolution« sozusagen eine tabula rasa sein würde, auf deren Boden man erst eine neue Produktion organisieren müsse, nach dem ausgedachten »besten« Plan, mit vereinten Kräften - der heutigen Schuster, Tischler, Schlosser usw. Die rein mechanische Auffassung des sozialistischen Umsturzes und der künstlichen »Durchführung« der Revolution ist hier aus der politischen Sphäre in die ökonomische übertragen. Und man weiß nicht, was den gänzlichen Bruch mit der Theorie der sozialen Entwicklung und mit dem historischen Materialismus krasser anzeigt: die Annahme, daß die »Revolution« und der Sieg des Proletariats überhaupt möglich sind, bevor der Produktionsprozeß nicht schon so weit vergesellschaftet ist und die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, daß ein politischer Akt der Revolution nur die sie bindenden Fesseln der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sprengt, oder die Annahme, daß man den »Plan« dieser sozialistischen Organisation der Produktion schon jetzt in jedem Augenblick ausdenken kann und das für jedes Arbeitsgebiet gesondert. Die Sorge um die rechtzeitige Vorbereitung von Technikern für die künftige Gesellschaftsordnung ist die logische Vollendung der Sorge um »Schafotts« für die heutigen herrschenden Dynastien; alles in allem ist es das Bild einer völligen Verflachung der sozialistischen Theorie bis zu den Niederungen der Vulgarität. Nach 1886 beginnt die im Ausland tätige Gruppe der Herausgeber des »Przedswit« und der »Walka klas«, ihrem eigenen Los überlassen wie ein Schwungrad, das sich von seinem Mechanismus gelöst hat, über Höhen und Tiefen der verschiedensten theoretischen Anschauungen zu springen, watet unterwegs - z. B. in der Broschüre »An die Offiziere der russischen Armee« - kurze Zeit sogar im Sumpf des gewöhnlichen Panslawismus, wirbelt dann immer rascher, stürzt schließlich in reihenweise Veränderungen der politischen Überzeugungen, bis sie endlich in vollem Schwung aus dem alten Gleis gerät, einen gewaltigen Bogen in der Luft macht und tief im Sumpf des Nationalismus stecken bleibt. Aber das Schicksal des »Przedswit« nach dem Jahr 1886-1887 gehört nicht mehr zur eigentlichen Geschichte der polnischen sozialistischen Bewegung, sondern vielmehr zur Geschichte der sozialistischen Emigrationsmakulatur. Die ideologische Entwicklung des polnischen Sozialismus in der ersten Periode endet eigentlich schon mit dem Jahre 1884, d. h. im Moment, als die Wandlungen der Partei »Proletariat« in blanquistischer Richtung alle Konsequenzen zeigten. Der letzte Lichtstrahl, der auf das Bild der geistigen Geschichte der Partei »Proletariat« fällt und an die anfängliche Blütezeit der theoretischen Entwicklung des polnischen Sozialismus erinnert, sind die Worte von Warynski, die er nicht mehr während seiner fieberhaften Tätigkeit in einer Parteizeitschrift oder auf einer Versammlung von Revolutionären aussprach, sondern nach 28 Monate langem Aufenthalt im Gefängnis, umgeben von einem Gendarmen- und Spionenmob, im Gerichtssaal im Dezember 1885. Aus dieser Rede scheint sich mit Gewißheit zu ergeben, daß wenigstens dieser hervorragendste Vertreter des sozialistischen Denkens in Polen persönlich keine so radikale Veränderung in seinen Anschauungen durchmachte, wie man das in der polnischen sozialistischen Bewegung jener Epodie feststellen kann. Es fehlt uns leider an Hinweisen, die klar das eigene Denken und die Tätigkeit Warynskis von der kollektiven Tätigkeit seiner Gruppe zu trennen erlaubten, so daß wir seinen Standpunkt gegenüber der deutlich blanquistischen Entwicklung, die sich während seiner Freiheit im Jahre 1883 bemerkbar gemacht hatte, nicht genau erläutern können. Unwahrscheinlich erscheint uns auch die Vermutung, daß sich Warynski angesichts solcher Erscheinungen vollkommen von den Einflüssen der »Narodnaja Wolja« hätte fernhalten können. In den Dokumenten des Prozesses der »Proletarier« sind uns nämlich seine damaligen Anschauungen über die politischen Aufgaben der Sozialisten nicht erhalten geblieben. Aber aus der Zusammenfassung seiner Rede, die sich in diesen Dokumenten findet, ergibt sich mit voller Sicherheit, daß Warynski sich gänzlich davor bewahrt hat, die sozialistische Theorie in ihren entscheidenden Grundzügen zu vulgarisieren, daß die Grundlagen seiner Weltanschauung bis zum letzten Augenblick die allgemeinen Anschauungen der marxistischen Theorie - in ihrer eigentlichen Tiefe und ihrem theoretischen Ernst - geblieben sind. Und so springt in Warynskis Rede vor allem die charakteristische Betonung der aktiven Rolle der Arbeiterklasse in der sozialistischen Bewegung in die Augen, die Betonung des täglichen Klassenkampfes.
»Wenn die Arbeiterklasse die politische Arena betritt«, sagt Warynski, »sollte sie Organisation gegen Organisation stellen und den Kampf für bestimmte Ideale mit der gegebenen Gesellschaftsordnung führen. Dies ist die Aufgabe der unter der Fahne des Sozialismus kämpfenden Arbeiterklasse. Sie bildet das Gegenstück zu anderen gesellschaftlichen Klassen und hemmt die reaktionären Tendenzen. Die Arbeiterpartei strebt nach einer radikalen Veränderung der Gesellschaftsordnung und führt gegenwärtig die Vorbereitungsarbeiten dazu durch. Ihre Aufgabe besteht darin, die Arbeiter zu bewußter Wahrnehmung ihrer Interessen zu bringen und sie zu beharrlicher Verteidigung ihrer Rechte aufzurufen. Die Arbeiterpartei weckt die Disziplin der Arbeiterklasse, organisiert sie und führt sie zum Kampf mit der Regierung und den privilegierten Klassen.«
Es ist charakteristisch, daß Warynski vom Terror nur als von einem Hilfsmittel im täglichen Kampf spricht im Kampf für die Erringung freierer Bedingungen der Organisation und der Massenaktion. Die Rolle des Terrors als eines Mittels zur Verwirklichung des sozialen Umsturzes verneint er dagegen deutlich: 1.Durch Gewalt wirken zu müssen«, sagt er, »ist eine traurige, aber unvermeidliche Folge der heutigen fehlerhaften Gesellschaftsordnung. Der ökonomische Terror ist durchaus kein Mittel zur Erreichung unserer gesellschaftlichen Aufgaben; aber unter bestimmten Bedingungen ist er das einzige Mittel des Kampfes mit dem Bösen, das in dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem verwurzelt ist.« Obzwar diese Betrachtung der Taktik des ökonomischen Kampfes vollkommen falsch war, unterliegt es keinem Zweifel, daß auch in diesem Punkt die Illusionen Warynskis über die positiven Ergebnisse des Terrorismus nicht dadurch verursacht waren, daß er den sozialistischen Kampf mit den Augen eines Verschwörers betrachtete, sondern sie entstanden aufgrund einer falschen Einschätzung der praktischen Methoden des Klassenkampfes. Als Beweis kann die Tatsache dienen, daß Warynski die ursprüngliche Taktik der englischen Gewerkschaften Anfang des vorigen Jahrhunderts zitiert. Diese Taktik war das Ergebnis der damaligen politischen Bedingungen in England, die eine offene Orgatiisation und einen gewerkschaftlichen Kampf unmöglich machten. Und zugleich war diese Taktik eine Methode zur Erringung der für diesen Kampf notwendigen Freiheiten. Vor allem aber ist die Betonung wichtig, welche Warynski in seiner Rede auf die Rolle der objektiven Elemente der eigenständigen gesellschaftlichen Entwicklung legt. Angesichts dieser Entwicklung wird der sozialistischen Partei vor allem die Rolle eines Aufklärers über die historische Richtung des Klassenkampfes der Arbeiterklasse zuteil. »Wir wissen«, sagte er, »daß die wachsenden gesellschaftlichen Antagonismen und die am sozialen Körper anschwellenden Pestbeulen unvermeidlich zu einem Ausbruch führen werden. Wir wissen auch, welch schreckliche Verwüstungen es gibt, wenn die Armut die Volksmassen an die äußersten Grenzen der Verzweiflung treibt und die wilden Elemente sich mit ungeheurer Kraft auf die bestehende Ordnung werfen. Eben deshalb ist es unsere Aufgabe, die Arbeiterklasse auf die Revolution vorzubereiten, ihre Bewegung bewußt zu machen, in den Rahmen der Parteidisziplin zu zwängen und ein bestimmtes Programm von Zielen und Mitteln aufzustellen.« »Wir stehen nicht über der Geschichte, wir unterliegen ihren Gesetzen. Den Umsturz, den wir anstreben, betrachten wir als Resultat der historischen Entwicklung und der sozialen Bedingungen. Wir sehen ihn voraus und bemühen uns, daß er uns nicht unvorbereitet trifft.« Ganz kategorisch lehnt schließlich Warynski die Taktik der unmittelbaren Vorbereitung der sozialen Revolution, des »Ausbruchs« ab. »Wir haben«, sagte er, die Arbeiterklasse zum Kampf mit der jetzigen Gesellschaftsordnung organisiert. Wir haben keinen Umsturz organisiert, sondern wir haben für den Umsturz organisiert.« »Kann man«, ruft Warynski, nachdem er Ziele und Grundsätze der Partei »Proletariat« charakterisiert hat, »kann man unsere Tätigkeit eine Verschwörung nennen, die mit dem Ziel eines gewaltsamen Sturzes der existierenden staatlichen, ökonomischen und sozialen Ordnung angezettelt wurde?« Auf Grund unserer Analyse wissen wir bereits, daß im Augenblick, als Warynski diese Worte ausrief, seine Partei sehr weit entfernt war von den von ihm dargelegten Anschauungen. Die Leitidee der Tätigkeit Warynskis: die geistige Vereinigung des polnischen Sozialismus mit dem russischen, führte, nachdem sie sich nadi der Gründung der Partei Proletariat« verwirklicht hatte, zu Konsequenzen, die schon zu seinen Zeiten sichtbar wurden. Warynski aber sah sie weder voraus, noch war er sich ihrer bewußt. Wenn wir uns jedoch heute die Geschichte der Partei Proletariat« im ganzen vor Augen halten, dann erkennen wir eine vollkommen logische Entwicklung. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Polens, durch den stark entwickelten Kapitalismus und westeuropäische Einflüsse geformt, führten den polnischen Sozialismus bereits im Jahre 1881 zu einem sozialdemokratischen Standpunkt. Der aus diesem Standpunkt folgende Grundsatz eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Aktion mit dem russischen Sozialismus lieferte den polnischen Sozialismus in den achtziger Jahren den Einflüssen der »Narodnaja Wolja« aus. Dieser Einfluß aber brachte ihn in blanquistische Bahnen, auf denen er nach wenigen Jahren zusammen mit der russischen Bewegung untergehen mußte. Damit schließt das erste Kapitel der Geschichte der sozialistischen Ideologie in Polen; die Schlüsse, die man daraus a priori mit voller Gewißheit ziehen kann, sind folgende: falls der polnische Sozialismus wieder freie Hand gewinnen könnte, um nur den eigenen Tendenzen seiner inneren Entwicklung zu folgen, die den gesellschaftlichen Verhältnissen in Kongreßpolen entsprechen, muß er zum sozialdemokratischen Standpunkt zurückkehren. Andererseits wird die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in Kongreßpolen erst dann für immer gesichert sein, wenn der russische Sozialismus ebenfalls auf dem Boden der Sozialdemokratie stehen wird. Die erste dieser Bedingungen hat die Zeit der Stagnation in der sozialistischen Bewegung erfüllt, die nach der Auflösung der »Narodnaja Wolja« eintrat, als der polnische Sozialismus, von den Einflüssen der eigenständigen« russischen Theorien befreit, schon Anfang der neunziger Jahre zu einer Massenbewegung in Kongreßpolen wurde, und zuerst faktisch, bald (im Jahre 1893) auch formal zur Organisierung der Sozialdemokratie des Königreiches Polen gelangte. Die zweite Bedingung wurde durch die Massenbewegung des Industrieproletariats in Rußland verwirklicht, das, Mitte der neunziger Jahre entstanden, ein für allemal den »heimischen« Theorien des Sozialismus den materiellen Boden entzogen hat, Theorien, die schon seit langem durch die Kritik russischer Marxisten widerlegt worden waren. Das Industrieproletariat hat einer sozialistischen Partei Rußlands eine feste Grundlage gegeben.

Aus dem Polnischen von Tadeusz Kachlak
Die Überarbeitung der Übersetzung besorgten
Bernhard Blanke und Viktoria Vierheller

 

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