3. Jason Gilbert, Jr.

Freude war sein Lied, Freude so rein,
Das Herz eines Sterns er hätte lenken können,
Und jetzt so rein und jetzt so, ja,
Der junge Tag an seiner Statt voll Jubel war.

Sein Fleisch war Fleisch, sein Blut war Blut,
Kein Hungriger, der ihm nicht Nahrung wünschte,
Kein Krüppel, der nicht eine Meile kröche,
Bergauf, um ihn zu sehen, nur sein Lächeln.
E. E. Cummings, Jahrgang 1915

Er war der Goldjunge. Ein großer und blonder Apoll mit einer Anziehungskraft, die Frauen lieben und Männer bewundern. In jeder Sportart, die er betrieb, war er hervorragend. Seine Lehrer beteten ihn an, denn obwohl er bei allen äußerst beliebt war, sprach er leise und war sehr respektvoll. Kurz gesagt, er war einer dieser seltenen jungen Männer, wie sie sich Eltern als Sohn und Frauen als Liebhaber erträumen.

Man ist versucht, Jason Gilbert, Jr. als die Verkörperung des amerikanischen Traums zu bezeichnen. Für viele Leute war er das sicherlich. Aber hinter seinem blendenden Äußeren verbarg sich ein innerer Makel. Ein tragischer Fehler, der ihm über Generationen von Vorfahren vererbt worden war. Jason Gilbert war als Jude geboren worden. Sein Vater hatte hart daran gearbeitet, diese Tatsache zu verdecken. Jason Gilbert, Sr. hatte während seiner Kindheit in Brooklyn genügend Demütigungen erfahren, um zu wissen was für ein Nachteil es war, Jude zu sein. Es war wie ein Schatten, der auf der Seele lag. Das Leben wäre viel besser, wenn alle einfach Amerikaner sein könnten.
Er hatte schon lange erwogen, sich von der Last seines Namens zu befreien. An einem Herbstnachmittag 1933 schließlich schenkte der zuständige Bezirksrichter Jacob Gruenwald ein neues Leben als Jason Gilbert. Zwei Jahre später traf er auf dem Frühlingsfest des Country-Club die blonde, kleine, sommersprossige Betsy Newman. Sie hatten viele gemeinsame Interessen: das Theater, sie tanzten gern und liebten Sport in der freien Natur. Und nicht zuletzt war ihnen beiden die Religion ihrer Vorfahren vollkommen gleichgültig.
Um von ihren mehr religiösen Verwandten nicht zu einer richtigen Trauung gezwungen zu werden, beschlossen sie durchzubrennen. Ihre Ehe war glücklich, und das Glück wurde noch größer, als Betsy einen Sohn zur Welt brachte, den sie Jason, Jr. nannten.
In dem Moment, als er im verrauchten Wartezimmer die wunderbare Nachricht von der Geburt bekam, schwor sich Gilbert Sr., sein neugeborener Sohn solle nicht im geringsten darunter leiden müssen, von jüdischen Eltern abzustammen.
Nein dieser Junge sollte ein Amerikaner aller ersten Ranges werden.
Der alte Gilbert war damals stellvertretender Vorsitzender der stark expandierenden National Communication Cooperation. Er und Betsy besaßen eine herrschaftliche Villa auf einem 3000 Quadratmeter großen, üppig grünen Grundstück in einer - nicht ghettoisierten — Wohngegend in Syosset, Long Island.
Drei Jahre später stellte sich Juliet, das Schwesterchen, ein. Wie ihr Bruder hatte sie die blauen Augen und das blonde Haar ihrer Mutter, aber nur Julie hatte auch die Sommersprossen geerbt.
Sie hatten eine idyllische Kindheit. Beiden Kindern schien die Art Erziehung und Ausbildung, die ihr Vater geplant hatte, ganz prächtig zu bekommen. Es fing mit Schwimmen an, später kamen dann Reit- und Tennisstunden hinzu. Und natürlich wurde im Winterurlaub Ski gefahren.
Liebevoll, aber streng wurde der junge Jason darauf vorbereitet, ein noch nie dagewesener Tennis-Champion zu werden. Zunächst bekam er Stunden in einem nahe gelegenen Tennisclub. Aber als er dann, wie es sein Vater erwartet hatte, sehr schnell Fortschritte machte, fuhr Gilbert, Sr. den künftigen Champion nach Forest Hills zum Training mit Ricardo Lopez, einem früheren Wimbledon-Sieger und US- Meister. Der Vater verpaßte keine Minute des Trainings, ermutigte Jason mit Zurufen und freute sich über seine Fortschritte.
Die Gilberts hatten ihre Kinder ganz ohne Religion aufziehen wollen. Aber bald merkten sie, daß es sogar im leichtlebigen Syosset unmöglich war, in einer Art religionslosem Raum zu leben. Das war schlimmer als... ein Mensch zweiter Ordnung zu sein.
Aber das Schicksal meinte es weiter gut mit ihnen, denn in ihrer Nähe wurde eine Unitarische Kirche errichtet. Man nahm sie herzlich als Gemeindemitglied auf, auch wenn sie, um es milde auszudrücken, nur sporadisch in die Kirche gingen. Sonntags eigentlich nie. Weihnachten waren sie beim Skifahren und Ostern am Meer. Aber zumindest gehörten sie dazu.
Beide Eltern waren klug genug, um zu wissen, daß ihre Kinder letztendlich nur psychologische Probleme haben würden, wenn man sie so erzöge, als gehörten sie zur weißen protestantischen Oberschicht Neuenglands, deren Vorfahren mit der >May Flower< nach Amerika gekommen waren. Sie erklärten ihrem Sohn und ihrer Tochter, ihre jüdische Herkunft sei wie ein schmales Rinnsal aus dem Land ihrer Väter, das sich in dem mächtigen Strom der amerikanischen Gesellschaft verlöre.
Julie kam ins Internat, Jason aber wollte zu Hause bleiben und ging auf die Hawkins-Atwell-Academy. Er mochte Syosset und wollte vor allem wegen der Mädchen nicht weg. Sie waren, neben Tennis, sein liebster Sport. Und bei ihnen war er genauso erfolgreich.
Zugegeben, er war nicht gerade eine Leuchte in der Schule. Doch reichten jedenfalls seine Noten immer aus, auch wenn sie noch keine Garantie dafür boten, von der Universität akzeptiert zu werden, von der er und ebenfalls sein Vater träumten: Yale. Ein Yale-Student schien in dreifacher Hinsicht aristokratisch zu sein: als Gentleman, als Akademiker und als Sportler. Und Jason sah einfach wie ein geborener Yale-Student aus.

Der Brief, der am Morgen des 12. Mai eintraf, war verdächtig leicht und ließ eine kurze Nachricht befürchten. Und sie war schmerzlich. Yale hatte ihn abgelehnt.
Die Bestürzung der Gilberts wurde zu Wut, denn Yale hatte Tony Rawson akzeptiert, dessen Noten sicherlich nicht besser als die von Jason waren und dessen Rückhand eindeutig schlechter war.
Vater Gilbert bestand auf einem sofortigen Termin bei Jasons Schuldirektor, der selbst früher in Yale gewesen war. »Mr. Trumbull«, drängte er, »können Sie mir erklären, wieso mein Sohn abgelehnt und der junge Rawson akzeptiert worden ist?«
Der Lehrer mit den grauen Schläfen zog an seiner Pfeife und antwortete: »Sie müssen das so sehen, Mr. Gilbert. Rawson stammt aus einer Yale-Familie. Sein Vater und sein Großvater waren beide in Yale, und das zählt dort. Man hat besonders viel für Tradition übrig.«
»Na schön«, antwortete Gilbert Sr., »aber können Sie mir einen plausiblen Grund dafür nennen, warum so jemand wie Jason, ein wirklicher Gentleman, ein großer Sportler...«
»Bitte, Vater«, unterbrach ihn Jason, dem das zunehmend unangenehm wurde. Aber sein Vater blieb hartnäckig.
»Können Sie mir sagen, warum Ihre Alma mater einen Jungen seines Kalibers nicht akzeptiert?«
Trumbull lehnte sich im Stuhl zurück und antwortete:
»Also, Mr. Gilbert, ich bin in die Auswahlkriterien des Aufnahmeausschusses von Yale im einzelnen nicht eingeweiht. Aber immerhin weiß ich, daß man in New Haven Ausgewogenheit innerhalb eines Jahrgangs anstrebt.«
»Ausgewogenheit?«
»Ja, wissen Sie«, erklärte der Direktor sachlich, »da ist einmal die Frage der Bundesstaaten, dann sind die Söhne von Ehemaligen zu berücksichtigen - wie bei Tony. Dann wird auf das Verhältnis von High-School- zu Privatschulabsolventen geachtet, dann gibt es einen bestimmten Anteil von Musikern, von Sportlern ...«
Da begriff Jasons Vater, was Mr. Trumbull meinte. »Mr. Trumbull«, fragte er mit größtmöglicher Zurückhaltung, »die Ausgewogenheit, auf die Sie anspielen, umfaßt die auch die Religionszugehörigkeit? «
»Ja richtig, so ist es«, antwortete der Direktor freundlich. »In  Yale gibt es keine festgesetzten Quoten. Aber die Zahl der jüdischen Studenten, die aufgenommen werden, ist begrenzt.« »Das widerspricht der Verfassung!« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Mr. Trumbull, »welchen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung machen die Juden aus? Zweieinhalb Prozent etwa, nicht wahr? Ich wette, Yale nimmt mindestens viermal so viele auf.«
Gilbert, Sr. hatte nicht vor zu wetten. Denn er vermutete, daß der Direktor ganz genau wußte, welchen Prozentsatz Juden seine Alma mater jährlich akzeptierte. Jason befürchtete, die ganze Sache würde nur noch schlimmer werden, und wollte das unter allen Umständen verhindern. »Vater, ich möchte nicht auf ein College, das mich nicht will. Was mich angeht, kann Yale zum Teufel gehen.« Dann wandte er sich zum Direktor und sagte entschuldigend: »Verzeihen Sie bitte.«
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Trumbull, »eine sehr verständliche Reaktion. Aber lassen Sie uns jetzt mal positiv an die Sache herangehen. Deine zweite Wahl ist schließlich auch ein sehr gutes College. Manche Leute halten Harvard sogar für das beste College in diesem Land.«